Cover
Univ. Prof. Dr. Heinz Ludwig Richtig leben, länger leben - 5 Dinge, die wir tun können, um gesund zu bleiben - edition a

Univ. Prof. Dr. Heinz Ludwig:
Richtig leben, länger leben

Alle Rechte vorbehalten
© 2017 edition a, Wien
www.edition-a.at

Lektorat: Andreas Görg
Cover: JaeHee Lee
Gestaltung: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-99001-247-5

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim

INHALT

DER FALL MARIA ALWARA

DER FALL ROBERT THUCH

EIN PLAN FÜR DAS LEBEN

LIEBEN

LACHEN

LERNEN

LAUFEN

LEICHTER ESSEN

ES LIEGT AN UNS

DER FALL MARIA ALWARA

Sie wirkte agil und ungeduldig wie schon bei ihrem ersten Besuch bei mir, eine zierliche, vierzig Jahre alte Frau. »Also«, sagte sie, während ich mit ihren Befunden in der Hand auf die Sitzgruppe meiner nahe der Wiener Votivkirche gelegenen Praxis wies. »Was hat die Biopsie ergeben?«

Ich hätte Maria Alwara nicht jünger geschätzt. Sie gehörte allerdings zu den Menschen, die sich mit vierzig ihre jugendliche Energie erhalten haben.

Sie hatte sich in einer Tür der U-Bahn eingeklemmt und die Schmerzen waren danach nicht vergangen. Ihr war eingefallen, dass sie auch davor schon Schmerzen gehabt hatte, die sie ignoriert hatte. Eine ungewöhnlich hartnäckige Grippe war da auch gewesen. Probleme hatten sie zuletzt stärker emotional belastet als sonst und sie war insgesamt labiler gewesen.

Maria Alwara litt an einem Mammakarzinom mit Knochenmetastasen, das stand mit den neuen Befunden fest. Dass ich in meinem Leben schon viele derartige Diagnosen überbracht habe, bedeutet nicht, dass es für mich zur Routine geworden ist.

Manche Patienten haben große Schwierigkeiten mit der Verarbeitung aller Eventualitäten einer gravierenden Diagnose und bevorzugen ein schrittweises Heranführen.

Daher fragte ich sie, wie genau sie ihre Situation besprechen wolle. Ich bot ihr auch an, manche Fragen im Laufe unserer nächsten Termine zu besprechen, um ihr Zeit zur Verarbeitung zu geben. Doch Maria Alwara hielt davon nichts, auch nicht von Umschreibungen. »Ich will es wissen«, sagte sie. »Wie steht es um mich?«

»Ich fürchte, ich habe keine gute Nachricht für Sie«, sagte ich. Sie hatte offenbar schon damit gerechnet. Jedenfalls zeigte sie bis auf ein kurzes Flackern in ihren Augen keine unkontrollierte Regung.

Ich reichte ihr die Befunde und berichtete ihr das Ergebnis der Untersuchungen.

Sie betrachtete die Befunde, offenbar ohne sie zu lesen. Dabei wirkte sie nicht paralysiert, sie schien vielmehr einen konkreten Gedanken zu verfolgen. Schließlich hob sie den Kopf. »Wie lange habe ich noch?«, fragte sie.

Manche Patienten wollen das nicht wissen. Andere denken eine ganze Weile darüber nach, ob sie es wissen wollen oder nicht. Verständlich, denn wer zum Beispiel mit der Information umgehen muss, dass ihm nur noch geschätzte dreißig Monate zu leben bleiben, verliert leicht den Boden unter den Füßen.

Europäische Patienten können in dieser Situation immerhin noch mit mehr Rücksicht rechnen als amerikanische. In den USA bespricht der Arzt die Situation meist mit den Patienten und seinen engsten Angehörigen, indem er ein Tonband einschaltet und juristisch unanfechtbar formuliert. »Ihre mittlere Lebenserwartung beträgt dreißig Monate«, sagt er dann, dokumentiert es mit vorher sortierten Unterlagen und listet trocken die zur Verfügung stehenden Therapien, ihre Vorteile sowie die damit verbundenen Risiken auf. Mit gutem Grund, denn jedes falsch interpretierbare Wort kann ihm bei einem allfälligen Prozess zum Verhängnis werden.

Ich halte bei Krebsdiagnosen nicht viel von konkreten Angaben über die zu erwartende Überlebenszeit. Es sind Durchschnittswerte, die wenig über eine individuelle Situation aussagen. Patienten und Krankheitsverläufe sind immer unterschiedlich. Ich kann aufgrund der Befundkonstellation und der Situation des Patienten einigermaßen abschätzen, ob ein Krankheitsverlauf eher günstig oder eher ungünstig sein wird, aber das ist auch schon alles.

Ich betreue und begleite mehrere Patienten, die aufgrund des statistischen Mittelwerts längst nicht mehr am Leben sein dürften. Selbst Patienten mit schwer zu heilenden Krebsarten wie Bauchspeicheldrüsenkrebs haben noch jahrelang gelebt oder leben noch, obwohl deren geschätzte Lebenserwartung acht bis zwölf Monate beträgt.

Ungewöhnliche Krankheitsverläufe sind niemals auszuschließen, zumal die Medizin rasante Fortschritte macht. Wenn Patienten nicht fragen, nenne ich zum Thema Überlebenszeit deshalb auch keine konkreten Zahlen. Ich erzähle ihnen dann von Fällen, bei denen Menschen besonders gut mit ihrer Erkrankung umgegangen sind. Das macht Hoffnung, und die ist ein starker Antrieb. Wenn sie doch insistieren und eine Antwort auf die Frage haben wollen, zeichne ich eine Überlebenskurve, die zeigt, wie unterschiedlich der Verlauf sein kann. Sie zeigt, dass es einen Durchschnittswert gibt, dass aber manche Patienten sehr früh sterben und andere unerwartet lange überleben.

Doch Maria Alwara wollte nichts von einer Kurve wissen. Sie wollte unbedingt eine Zahl hören. Ich fragte zur Sicherheit noch einmal nach. »Sind Sie sicher? Überlegen Sie bitte noch einmal. Schlafen Sie vielleicht darüber.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss es wissen«, sagte sie. »Meine Tochter geht noch zur Schule und ich bin Alleinerzieherin. Ich muss wissen, was auf sie zukommt.«

Ihre Wangen waren jetzt gerötet. Das war das einzige Anzeichen dafür, dass sie sich gerade in einer Situation befand, die sich bestimmt kein Mensch wünscht. Sie war eine Kämpferin, so viel war klar, und wenn ein Patient oder eine Patientin Klarheit wollen, dann ist es meine Aufgabe als Arzt, sie zu schaffen.

»Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt bei Ihrer Erkrankung in diesem Stadium drei bis vier Jahre«, sagte ich. »Das ist wie gesagt nur ein Durchschnittswert. Es kann weniger sein, aber auch mehr. Durchschnittswerte sind eben nur Durchschnittswerte.«

Wir besprachen die zur Verfügung stehenden Therapien, ihre Vorteile und Nachteile und auch mögliche Nebenwirkungen. Laut histologischer Untersuchung war der Tumor hormonempfindlich, was bedeutete, dass Hormontherapie zum Einsatz kommen und auf eine mit stärkeren Nebenwirkungen verknüpfte Chemotherapie vorerst verzichtet werden konnte.

Maria Alwara hatte sich schon verabschiedet, als sie sich in der Tür meiner Praxis noch einmal umdrehte. »Meine Tochter ist jetzt zwölf«, sagte sie. »Sie hat noch sechs Jahre bis zum Schulabschluss. So lange muss ich durchhalten. Danach schafft sie es auch ohne mich.«

Ich nickte.

Sie sprach gut auf die Therapie an. Immer wieder betonte sie dabei, dass sie unter allen Umständen bis zum Schulabschluss ihrer Tochter durchhalten müsse. Ich wünschte es ihr und ihrer Tochter, und ich hielt es aus medizinischer Sicht für möglich. Sechs Jahre, das waren zwei bis drei Jahre mehr, als der statistische Durchschnittswert in ihrer Situation.

Die Zeit verging. Maria Alwaras Tochter, von der ich inzwischen wusste, dass sie Sophie hieß, war eine leidlich gute Schülerin. Ohne größere Probleme stieg sie in die Oberstufe des Gymnasiums auf, bestand beim Wechsel von der sechsten in die siebte Klasse eine Nachprüfung in Latein und erreichte schließlich die achte.

Etwa zu diesem Zeitpunkt hörte Maria Alwara auf, ihr Lebensziel zu postulieren. Ich bekam mit, dass Sophie den Abschluss auf Anhieb schaffte und danach mit ihrer Klasse nach Gran Canaria fuhr. Ich fragte mich, was dieses Ereignis in Maria Alwara auslöste, doch sie kam zunächst nicht darauf zu sprechen und ich fragte nicht nach.

Erst im Herbst des betreffenden Jahres redeten wir wieder darüber. Maria Alwara erzählte mir, dass Sophie an der Universität Wien Biologie und Umweltkunde sowie Philosophie als Unterrichtsfach studieren wolle. »Ich will noch ihre Sponsion erleben«, sagte sie. »Danach kann ich in Ruhe abtreten.«

Ich lächelte.

»Keine Sorge«, sagte sie. »Sophie wird keine Bummelstudentin sein. Sie ist in den vergangenen beiden Jahren sehr zielstrebig geworden.«

Das hat sie vielleicht von ihrer Mutter, dachte ich.

»Acht Semester«, sagte Maria Alwara. »Das wären dann noch einmal vier Jahre.«

Sie sagte das in scherzhaftem Ton, aber ich konnte in ihren Augen sehen, wie ernst es ihr damit war. Sie fragte mich erst gar nicht, ob ich das für möglich hielt. »Wie war das noch einmal mit den Durchschnittswerten?« Mit einem leisen Schmunzeln beantwortete sie sich diese Frage gleich selbst. »Durchschnittswerte sind nur Durchschnittswerte, richtig?«

Ich weiß nicht, ob Maria Alwara die Jahre zählte, ich tat es nicht. Eines Tages fand ich eine Einladung zu einer Sponsionsfeier in der Post. Sophie Alwara hatte ihr Studium in der Mindeststudienzeit abgeschlossen.

Ich ging zu der Feier und sah Sophie dort zum ersten Mal. Sie war eine junge, den Umständen entsprechend elegant gekleidete Frau, groß gewachsen, und an ihrer Seite hielt sich meist ein noch größer gewachsener junger Mann auf.

Maria Alwara trat neben mich, als ich die beiden gerade beobachtete. »Ein hübsches Paar, nicht wahr?«, sagte sie.

»Ja sehr, sieht nach einer ernsten Sache aus«, sagte ich.

Wir wechselten einen Blick. Ich ahnte, dass Maria Alwara ein neues Lebensziel gefunden hatte. Vermutlich wollte sie durchhalten, bis ihre Tochter verheiratet war. Wir lachten, weil uns klar war, dass wir beide gerade das Gleiche dachten.

»Es kann weniger sein als der Durchschnittswert, aber auch mehr«, sagte sie. »Das haben Sie mir damals bei der Diagnose gesagt. Was genau bedeutet das eigentlich?«

»Dass es viel weniger sein kann«, sagte ich, »aber auch viel mehr.«

Sie lächelte dankbar. Sie war gealtert seit damals, und ihre Krankheit und die Behandlungen hatten wohl einiges dazu beigetragen. Doch etwas von dieser Energie strahlte sie noch immer aus. »Nun, viel weniger geht ja inzwischen nicht mehr«, sagte sie. »Es kann nur noch viel mehr werden.«

Vor einigen Tagen fand ich eine Einladung zur Hochzeit von Sophie Alwara und Klaus Epstein in der Post. Ich werde auch diesmal dabei sein und hoffe, dass das junge Paar bald Nachwuchs haben wird. Dann wird sich Maria Alwara eine Menge neuer Lebensziele setzen können, geprägt von ihrer Liebe und dem starken Gefühl, gebraucht zu werden.

DER FALL ROBERT THUCH

Als ich Robert Thuch zum ersten Mal sah, war er braun gebrannt und elegant gekleidet. Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich, dass er seine noch dichten Haare färbte. Thuch war 18 Jahre davor, mit 49, in die USA ausgewandert und hatte sich in Florida beruflich mit Immobilien beschäftigt, nachdem er dort schon zuvor von Wien aus Geschäfte gemacht hatte. Er schien dabei recht geschickt gewesen zu sein, machte auf mich allerdings den Eindruck, dass er immer eher in einen aufwendigen Lebenswandel als in die Altersvorsorge investiert hatte.

Thuch hatte ein gutes Leben geführt, so viel war sicher, ein beneidenswert freies und an vielen Tagen aufregendes, mit Freunden, die es machten wie er. So erzählte er es mir. Unversehens waren die Jahre vergangen, war seine Jugend vergangen, war der größte Teil seines Lebens vergangen. Wie das eben so ist. Jetzt hatte er ein Dickdarm-Karzinom mit Metastasen in der Leber.

Robert Thuch bereute nichts. Er hatte sein Leben so geführt, wie er es führen wollte, unabhängig, im Bewusstsein dessen, was er tat, und auch, worauf er verzichtete. Er war immer bereit gewesen, seine Entscheidungen klar, nüchtern und ohne Illusionen zu treffen. Das hatte er auch getan, nachdem ihn amerikanische Ärzte über seine Erkrankung informiert hatten. Er war aus den USA zurück in seine alte Heimat Wien gekommen, was viele Patienten, die diese Möglichkeit haben, in seiner Situation tun.

Dies aus pragmatischen Überlegungen. Thuchs amerikanische Krankenversicherung kostete rund 10.000 Dollar im Jahr. Zusätzlich musste er bei allen Behandlungen einen Selbstbehalt von zwanzig Prozent bezahlen. Die für eine Chemo-Immuntherapie nötigen Medikamente kosten etwa 100.000 Dollar im Jahr, womit er alleine damit auf 30.000 Dollar kam, die Kosten für den Aufenthalt im Krankenhaus, die notwendigen Untersuchungen und die Durchführung der Behandlungen noch gar nicht mitgerechnet. Für einen Selbständigen ohne große Rücklagen ist das eine unbehagliche Situation. Ich verstand jedenfalls Thuchs Entscheidung, vor dem amerikanischen Gesundheitssystem nach Wien zu flüchten, wo er nach wie vor sozialversichert war und sich wenigstens des Geldes wegen keine Sorgen machen musste.

Ich vermutete, dass ihn die amerikanischen Ärzte auf ihre nüchterne Art bereits über seine Überlebenschancen und seine Lebenserwartung informiert hatten. Beides war zwischen uns jedenfalls kein Thema und wir begannen umgehend mit der Behandlung. Dazu gehörte eine Chemo-Immuntherapie, die er in dreiwöchigen Intervallen erhielt, damit er zwischenzeitlich in die USA fliegen konnte. Doch die Behandlungen verloren relativ rasch ihre Wirksamkeit. Irgendwann entschied er sich, in Wien zu bleiben, da ihn langsam die Kräfte verließen und er eine Metastase in der Wirbelsäule entwickelt hatte, die nach anfänglich erfolgreicher Strahlenbehandlung wieder zu wachsen und zu schmerzen begann. Wir legten einen Katheter ins Rückenmark, um eine kontinuierliche Opioid-Therapie einzuleiten.

Nach einigen Wochen bat er mich um ein Wort unter vier Augen. »Ganz ehrlich«, sagte er. »Ich würde es gerne beenden.« Für ihn sei jeder weitere Tag nur eine weitere Belastung und es fehle ihm die Perspektive.

Thuch hatte sonst niemanden, mit dem er über diese Dinge sprechen und seine Ängste und Sorgen teilen konnte. Seine amerikanischen Freunde, so sie denn eng genug gewesen wären, kamen nicht zu ihm nach Europa, und wenn sie doch gekommen wären, hätten sie ihm nicht auf Dauer als treue Begleiter zur Seite stehen können. Ab und zu besuchten ihn alte österreichische Freunde, doch sein Kontakt zu ihnen war, soweit ich das mitbekam, abgekühlt.

Ich sagte ihm, das Stationsteam würde ihn aufgrund seiner charmanten Persönlichkeit besonders schätzen, und dass wir uns entsprechend unserem Credo wie bei allen anderen Patienten um das bestmögliche Ergebnis für ihn bemühen würden. Beides stimmte natürlich, doch als Motivation zum Weiterkämpfen war das dünn, das war auch mir klar. Er ließ es dabei bewenden, wohl eher aus Rücksicht auf mich als aus neuem Lebensmut.

Wenige Wochen später sprach er mich noch einmal darauf an. »Die Situation ist für mich extrem belastend, aber ich habe mich damit abgefunden«, sagte er, »ich will die Dinge bloß realistisch betrachten, das habe ich im Leben immer getan.« Trotz all der Schmerzmedikamente habe er dauernd Schmerzen. Außerdem leide er unter den Nebenwirkungen der Schmerztherapie, habe einen trockenen Mund, seine Verdauung funktioniere nur mehr mit einem starken Abführmittel, zudem habe er den Eindruck, dass die Morphintherapie sein Denkvermögen beeinträchtige. »Ich bin nicht mehr der, der ich war. Ich bin allein. Vor mir liegt nichts mehr, auf das ich mich freuen könnte, weder auf einen Besuch morgen, noch auf etwas in fernerer Zukunft, weil ich, so wie sich die Dinge entwickeln, keine fernere Zukunft mehr habe. Weiter zu leben macht für mich objektiv betrachtet keinen Sinn mehr, im Gegenteil. Es ist für mich zu einer schweren Bürde geworden.«

Es wäre Unfug gewesen, ihm neuerlich gut zuzureden. Meine einzige Hoffnung war, ihm mögen trotz aller Beschwerden noch Stunden bleiben, die für ihn wertvoll waren. Das sagte ich ihm. Allerdings war das nicht überzeugend genug, um seine Einstellung noch zu ändern. Doch ich hätte Robert Thuchs Wunsch nach einem vorzeitigen Ende nicht erfüllen können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Die Gesetzgebung verhindert es.

Was das betrifft, leben wir in einer paradoxen Welt. Wir töten Ungeborene, die keine Möglichkeit haben, darüber mitzuentscheiden, und wir zwingen Menschen ohne Chance auf Besserung und ohne jede andere Perspektive, die bei klarem Verstand eine rationale Entscheidung für einen Abgang in Würde treffen wollen, weiter zu leiden.

Das Euthanasieverbot haben in Österreich wahrscheinlich Menschen, die nie die Verzweiflung und Aussichtslosigkeit solcher Patienten gesehen haben, als Gesetz festgeschrieben. In den Niederlanden und der Schweiz gehen die Menschen ehrlicher mit diesem Thema um. Sie lügen sich nicht selbst an. Sie erkennen an, dass es Leid gibt, das sich nicht lindern lässt, und Lebenssituationen, in denen es keine Zukunft gibt.

Alles, was wir für Robert Thuch tun konnten, war die sogenannte palliative Sedierung. Das führte dazu, dass er in seinen letzten Tagen keine Schmerzen mehr ertragen musste.

Zuvor regelte er noch seinen Nachlass. Ein Notar besuchte ihn am Krankenbett. Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, dass er das Geld, das ihm geblieben war, einer karitativen Organisation hinterließ. Seinen Leichnam vermachte er der medizinischen Universität, damit Studenten daran für ihre Zukunft lernen konnten. Zuvor hatte er sich darüber informiert, dass alles, was danach noch von ihm bleiben würde, in ein von der Stadt Wien zu diesem Zweck gestiftetes Grab kommen würde.

Ich bewunderte ihn dafür, mit welcher Nüchternheit er dabei vorging. Das sagte ich ihm bei unserem letzten Gespräch.

Wir redeten auch über den Tod. Ich erzählte ihm von den zahlreichen gleichlautenden Berichten von Personen, die ein Nahtoderlebnis hatten. Dabei handelt es sich um Menschen, die zum Beispiel nach einem Kreislaufstillstand wiederbelebt werden konnten. Während die Betroffenen reanimiert werden, löst sich ihr Ich aus dem Körper und schwebt zum Beispiel über dem Herzalarmteam, das sich um den Körper kümmert. Die Personen erinnern sich an viele Details der Rettungsversuche und berichten fast unisono von einem nie zuvor erlebten Hochgefühl. Zwar kann kein Mensch beweisen, dass dies auch beim tatsächlichen Tod der Fall ist. Aber diese Personen haben den Eindruck, von einem strahlenden Licht durch einen Tunnel in eine Welt des Heils und der Glückseligkeit gezogen zu werden. »Sollte dies der Realität entsprechen«, sagte ich, »dann sollten wir keinen weiteren Tag auf dieser Erde verschwenden, sondern dem gleißenden Licht ins Glück folgen.«

»Das klingt zwar phantastisch. Allein mir fehlt der Glaube«, antwortete er. »Es ist okay für mich, zu gehen. Hilfreich wäre allerdings, wenn es ein paar mehr Menschen gäbe, von denen ich mich jetzt verabschieden könnte. Aber dann wäre das hier vielleicht ohnedies alles anders gelaufen.«

EIN PLAN FÜR DAS LEBEN

Wenn mich Menschen als Onkologen, Krebsforscher und Hämatologen fragen, was sie tun können, um erst gar nicht krank zu werden, um gesund zu bleiben, fallen mir manchmal Maria Alwara und Robert Thuch ein. Ich weiß nicht, ob Maria Alwara ihre Erlebensziele auch ohne die Liebe und die Fürsorge für ihre Tochter erreicht hätte. Ob die Sache mit dem Krebs für Robert Thuch tatsächlich anders gelaufen wäre, hätte es in seinem Leben Freunde und Familienmitglieder gegeben, die zu ihm gestanden wären, ihn unterstützt und liebevoll umsorgt hätten, von denen er sich am Ende verabschieden hätte können, kann ich ebenfalls nicht mit Sicherheit behaupten. Dennoch stehen diese beiden Schicksale für eines der fünf Dinge, die ich allen nenne, die den Fortbestand ihrer Gesundheit selbst in die Hand nehmen und nach Kräften dazu beitragen wollen. Alwara und Thuch sind Beispiele für die Bedeutung unserer Integration in ein soziales Netzwerk, für den Wert enger menschlicher Beziehungen, für die Tragweite des Liebens ebenso wie des Wahrgenommen- und Geliebtwerdens. Unsere diesbezüglichen Erfahrungen können sich nicht nur heilsam auf unseren Geist und unsere Seele auswirken, sondern auch enormen Einfluss auf unseren Körper nehmen.

Gewöhnlich konsultieren mich Patienten erst dann, wenn sie erkrankt sind, und nicht zu einem Zeitpunkt, zu dem sie gesund sind und sie die Frage beschäftigen sollte, wie sie es bleiben können. Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir uns wenig Gedanken über unsere Gesundheit machen, solange wir gesund sind. Die Gedanken an Krankheit schieben wir zur Seite und gehen erst zum Arzt, wenn wir Beschwerden haben. Was negative Konsequenzen haben kann, denn mit der richtigen Prävention ließen sich viele Erkrankungen verhindern, die, einmal ausgebrochen, schwer wieder rückgängig zu machen sind.

Dank der Thematisierung der Möglichkeiten der Vorsorgemedizin in Schulen, Medien, durch die nationalen Gesundheitsbehörden und die Ärzteschaft stellen sich immer mehr Menschen die Frage, wie sie gesund bleiben können. Das Verantwortungsbewusstsein für die eigene Gesundheit steigt langsam, aber doch. Dies ist erfreulich, hat allerdings einen problematischen Aspekt. Es steigt auch die Zahl der sich zum Teil widersprechenden und wissenschaftlich nicht abgesicherten Informationen, die vor allem von den Medien und via Internet in Umlauf gebracht und von der Bevölkerung bereitwillig aufgenommen werden. Wahrscheinlich wird das auch in absehbarer Zukunft so sein. Medien können entweder bewusst oder unbewusst Falsches propagieren, um ihre Auflagen, Zugriffszahlen und Einschaltquoten zu erhöhen. Aber wo steht geschrieben, dass dies so bleiben muss. Die Einforderung eines größeren Verantwortungsbewusstseins und die Verpflichtung zur sorgfältigen Recherche samt entsprechenden Konsequenzen bei Verfehlungen scheint mir kein überzogener Wunsch zu sein.

Gerade an mich als Onkologen wenden sich Menschen auch deshalb, weil sie aus den Angst machenden und oft kontroversen Informationen über Krebs eine steigende Bedrohung heraushören, daran zu erkranken.

Was so nicht stimmt. Das Risiko, an Krebs zu erkranken, ist innerhalb der einzelnen Altersgruppen relativ konstant geblieben. Allerdings steigt die Gesamtzahl an Krebserkrankungen wegen der steigenden Lebenserwartung, da Krebs eine Erkrankung des höheren Lebensalters ist und die Bevölkerung in unserer Gesellschaft insgesamt älter wird1.

Manche Krebserkrankungen, wie Magenkrebs, werden in letzter Zeit viel seltener, während andere, wie Lungenkrebs, häufiger auftreten. Vermutlich hat die Abnahme der Häufigkeit von Magenkrebs mit der verbesserten Qualität der Lebensmittel zu tun. In der Nachkriegszeit war der Luxus, den sich unsere Wegwerfgesellschaft heute leistet, noch kaum denkbar. Viele Menschen aßen damals auch angeschimmeltes oder andersartig verdorbenes Brot, wenn es sein musste. Es war eben sonst nichts da. Auch andere Lebensmittel aßen sie verdorben, schon weil es noch keine Kühlschränke gab. Der Eismann brachte das Eis zum Kühlen in Blöcken und es gab noch längst kein Ablaufdatum auf den Verpackungen. Zum Glück hat sich seit damals viel verändert. Denn der Verzehr von schimmelnden und verdorbenen Lebensmitteln erhöht das Risiko, an Magenkrebs zu erkranken, enorm. Ebenso wie der damals übliche häufige Konsum gepökelten Fleisches.

Lungenkrebs dagegen ist häufiger geworden. Was daran liegt, dass Rauchen bei Frauen erst seit wenigen Jahrzehnten sozial ebenso akzeptiert ist wie bei Männern. Ich verstehe es, wenn zum Beispiel Menschen, die beträchtlichem Stress ausgesetzt sind, sich durch Rauchen Entlastung verschaffen. Denn neben den unzähligen negativen Effekten des Rauchens auf den Körper hat es auch positive. Es reduziert Stressempfinden, verstärkt die Herz-Kreislauf-Aktivität, macht munterer, hebt die Stimmung und fördert die Kommunikation. Wir müssten etwas erfinden, das dieselben positiven Effekte wie das Rauchen hat, ohne den Körper zu schädigen, denn der Zusammenhang zwischen Rauchen und erhöhtem Risiko für Lungenkrebs, aber auch für andere Krebsarten, ist durch die Krebsforschung der vergangenen Jahrzehnte ohne jeden Zweifel bewiesen.

Dennoch sterben viel weniger Menschen an Krebs als an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, was auf das besonders häufige Auftreten von hohem Blutdruck, hohen Blutfetten und Übergewicht zurückzuführen ist. Ein weiterer Grund liegt in den Fortschritten in der Krebsbehandlung. Bei mehreren Krebsformen ist es gelungen, Krebs zu heilen oder von einer tödlichen in eine chronische Erkrankung umzuwandeln. Für die Zukunft sind weitere rasante Fortschritte zu erwarten, zu denen die Korrektur von Defekten in der Steuerzentrale von Krebszellen sowie Immuntherapie und Zelltherapie beitragen werden. Rasante Fortschritte wird auch die neue Qualität der Datenverarbeitung bringen, die unter dem Begriff Big-Data-Mining zusammengefasst werden kann.

Die Frage, was jeder Einzelne von uns tun kann, um sich gesund zu halten, bleibt trotzdem von überragender Bedeutung. Zwar gibt es bei allen Erkrankungen Faktoren, auf die wir keinen oder nur wenig Einfluss haben, wie etwa unsere genetische Ausstattung oder Umwelteinflüsse, auf die ich später noch eingehen werde. Doch es gibt auch Faktoren, die wir beeinflussen können. Wir haben einen Handlungsspielraum und wir tun gut daran, ihn zu nutzen. Es bedrückt mich manchmal, wie Menschen mangels besseren Wissens oder trotz besserem Wissen leichtfertig darauf verzichten.

Über diesen Spielraum nachzudenken, fing ich wegen der häufig von Patienten gestellten Frage an, was sie zusätzlich zum vorgeschlagenen Behandlungskonzept tun können. Dabei wurde mir klar, dass es tatsächlich verschiedene Dinge gibt, die sie tun können, um die medizinische Therapie zu unterstützen und damit ihre Prognose und ihre Lebensqualität zu verbessern. Damals fing ich an, mich für die wissenschaftlichen Grundlagen der verschiedenen im Raum stehenden Aktivitäten zu interessieren.

Ganz oben auf die Liste der sinnvollen Dinge schrieb ich schon damals das Wort »Lieben«. Inspiriert von Fällen wie jenen von Maria Alwara und Robert Thuch meine ich damit nicht nur die Liebe zwischen zwei Menschen, sondern den gesamten Bereich unserer zwischenmenschlichen Beziehungen und unserer sozialen Integration sowie unsere Liebe und Hingabe zu einer Aufgabe, einer beruflichen Tätigkeit oder einem Hobby.

Im Laufe der Zeit ist meine Liste der sinnvollen Aktivitäten gewachsen, ohne jedoch auszuufern. Denn im Grunde lässt sie sich auf fünf Elemente reduzieren, die ich sowohl meinen Patienten besonders ans Herz lege, jedoch auch gesunden Menschen als Lebensmaxime empfehle. Die Dinge, die Patienten tun können, um gesund zu werden oder zumindest ihre Prognose zu verbessern, sind die gleichen, die Gesunde tun können, um gesund zu bleiben.

Diese insgesamt fünf Dinge lassen sich aus vielen teils umfangreichen wissenschaftlichen Studien ableiten, die Ärzte auf der ganzen Welt durchgeführt haben. Deren Ergebnisse decken sich auch mit meinen Beobachtungen und Erkenntnissen. In diesen fünf Dingen spiegeln sich also sowohl der aktuelle Stand der Wissenschaft als auch meine persönlichen Erfahrungen bei der Behandlung von Patienten wider, aus denen ich seit Langem konsequent und kontinuierlich meine Schlüsse ziehe.

Ich habe mir schon immer die Frage gestellt, was uns zu dem macht, was wir sind. Wie groß ist die Bedeutung unseres genetischen Gerüstes, unserer Lebenserfahrungen und unseres Umfeldes?

Als ich studierte, galt die Immunologie als zukunftsträchtiges ärztliches Forschungsgebiet, heute vergleichbar mit der Molekularbiologie oder der modernen Genetik. Damals wollte ich mehr über die biologischen und biochemischen Grundlagen unserer körpereigenen Abwehr von Krankheitserregern wie Bakterien, Viren und Pilzen wissen. Ebenso galt mein besonderes Interesse den sogenannten Autoimmunerkrankungen, bei denen sich unser körpereigenes Abwehrsystem gegen Komponenten unseres Organismus´ wendet. Wie funktioniert dieses System, dessen zentrale Aufgabe es ist, uns gesund zu halten, was stärkt es und was schwächt es?

Damals waren diese Grundlagen noch ein weites und kaum erforschtes Feld. Das kam meinen Ambitionen und meiner Neugier entgegen. Daher bewarb ich mich um eine Ausbildungsstelle am Wiener Institut für Immunologie, das Carl Steffen, ein brillanter Mediziner und Wissenschaftler, erst kurz zuvor als erstes deutschsprachiges Institut dieser Art gegründet hatte.

Ich wurde aufgenommen. Nach Einarbeitung in die wissenschaftliche Methodik konnte ich sehr bald eigene Projekte bearbeiten. Drei Jahre später wollte ich meine klinische Ausbildung im Fach der inneren Medizin beginnen. Damals gab es zwei Universitätskliniken für innere Medizin, die miteinander konkurrierten, was durchaus sinnvoll sein kann, weil Wettbewerb stimulierend wirkt.

Zu dieser Zeit stellte sich die Frage, ob der Typ I Diabetes, also jene Form, die von Anfang an insulinabhängig ist, die Folge einer Virus-Infektion mit nachfolgender Autoimmunreaktion ist. Nachdem ich am Institut für Immunologie verschiedene, damals moderne Forschungstechniken erlernt hatte, war ich für beide Kliniken interessant, weshalb ich mir als damals erst 27-Jähriger aussuchen konnte, auf welche der beiden Kliniken ich gehen wollte.

Eine der beiden Kliniken befand sich im sogenannten neuen Teil des Wiener Allgemeinen Krankenhauses, dessen alter Teil unter Maria Theresias Sohn, Kaiser Josef II, erbaut worden war. »Wie viel Zeit brauchen Sie?«, fragte mich die Sekretärin von dessen Leiter Prof. Erwin Deutsch vor meinem Bewerbungsgespräch. »Fünf Minuten oder zehn?«

Was mich ziemlich irritierte. Bei dem Gespräch selbst gewann ich den Eindruck, dass die gesamte Klinik sehr effizient und professionell arbeitete. Das beeindruckte mich. Doch um einen Vergleich zu haben, bewarb ich mich auch in der zweiten medizinischen Klinik, die Prof. Karl Fellinger leitete. Der dortige Personalverantwortliche Prof. Rudolf Höfer empfing mich mit freundlichen Worten.

Er erklärte mir sein Forschungsgebiet und kurz auch die Organisation der Klinik. Letztendlich widmete er mir eine halbe Stunde seiner Zeit.

Beide Kliniken waren vielversprechend. Meine Wahl traf ich bemerkenswerterweise nicht aufgrund der wissenschaftlichen Aktivitäten und klinischen Leistungen der jeweiligen Klinik, die ich gar nicht im Detail in Erfahrung brachte. Vielmehr, und ohne dieses Thema in jenen Tagen bis zu Ende durchgedacht zu haben, erschien mir das Zwischenmenschliche, um das es in diesem Buch noch ausführlich gehen wird, schon damals von großer Bedeutung zu sein. Deutsch mag der bessere Wissenschaftler gewesen sein, doch das Gespräch mit Höfer, das ich als freundlich, interessiert und angenehm empfunden habe, veranlasste mich, meine klinische Ausbildung an der Klinik Fellinger zu beginnen.

Das war der eigentliche Anfang meiner klinischen Laufbahn, in deren weiterer Folge ich mich auf die Onkologie und Hämatologie sowie Krebsforschung spezialisierte. Seitdem habe ich viele Patienten wie Maria Alwara und Robert Thuch mit Krebs und anderen schweren Erkrankungen begleiten, behandeln und unterstützen können. Ich habe erfahren, wie unterschiedlich Patienten mit der Diagnose Krebs und den damit verbundenen Belastungen umgehen, wie sie um die Wiedererlangung ihrer Gesundheit kämpfen und wie sie daraus geheilt hervorgehen, mit der Erkrankung als chronischer Begleiterin leben, oder den Kampf verlieren und an ihrer Krankheit versterben.

Auf meiner Empfehlungsliste für Patienten standen anfangs vier Dinge, bei denen ich dafür sorgte, dass sie der besseren Merkbarkeit wegen alle wie »Lieben« mit einem »L« anfingen. Dass sie alle auch noch genau gleich viele Buchstaben hatten, war indes Zufall.

Lieben

Lachen

Lernen

Laufen

Die Liste kam schon aufgrund ihres Sprachrhythmus gut an, verkürzte aber die dahinter stehenden Empfehlungen deutlich. Mit »Lieben« meine ich wie gesagt das gesamte Thema der sozialen Integration und die Leidenschaft für eine Aufgabe. Mit »Lachen« meine ich das Feld des Humors, der positiven Lebenseinstellung und der Zufriedenheit. Mit »Lernen« meine ich das bewusste Benutzen und Trainieren unserer kognitiven Fähigkeiten. Und mit »Laufen« körperliche Aktivität insgesamt.

Schließlich kam zu meinen vier L-Begriffen noch ein fünfter hinzu, von dem ich lange angenommen hatte, dass er ohnedies bereits ausreichend in den Köpfen der meisten Menschen verankert ist. Bis ich feststellte, dass es dabei besonders viele Missverständnisse gibt. Es geht um unsere Ernährungsgewohnheiten, und ich musste mich diesmal schon ein wenig anstrengen, um auch diesen Punkt in einen L-Begriff zu kleiden. Er heißt jetzt

Leichter essen.

Lieben, lachen, lernen, laufen und leichter essen also. Das sind die fünf Dinge, die wir tun können, um gesund zu bleiben. Sie sind fundamental menschlich, sie durchdringen unser gesamtes Leben und betreffen sowohl unsere körperliche als auch unsere geistige Gesundheit, wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde.

Ich schreibe diese Kapitel dabei nicht etwa in der Absicht, einen Ratgeber zu schaffen, der jedem, der ihm blind folgt, ein gesundes Leben garantiert. Das geht schon deshalb nicht, weil unser Handlungsspielraum beim Versuch, gesund zu bleiben, wie gesagt begrenzt ist. Außerdem glaube ich, dass der Erfolg solcher Ratgeber ganz wesentlich von ihren Lesern abhängt, von deren Fähigkeit, die jeweiligen Empfehlungen tatsächlich in ihr tägliches Leben zu integrieren.

Ich habe mir selbst einmal einen solchen Ratgeber gekauft. »Don’t say yes, if you want to say no« hieß er. (Sag nicht Ja, wenn du Nein sagen willst). Er war für Menschen wie mich gedacht, die Probleme damit haben, anderen einen Gefallen abzuschlagen. Zum Beispiel fällt es mir sehr schwer, eine Einladung zu einem Vortrag, die ich einmal angenommen habe, wieder abzusagen, selbst wenn etwas Wichtiges dazwischen gekommen ist.

Ich musste mit der Zeit lernen, meinen Eigennutz in Entscheidungen miteinzubeziehen, anstatt nur die Wünsche anderer zu erfüllen. Ich weiß nicht so recht, ob mir das inzwischen wirklich gelingt, und wenn ja, welche Rolle dieser Ratgeber dabei gespielt hat. Ich würde sagen, dass er mir immerhin die Probleme und entsprechende Lösungsmöglichkeiten bewusster gemacht hat.

Sollte es mir mit diesem Buch ebenso gelingen, die Probleme und Lösungsmöglichkeiten in Sachen Gesundheit bewusster zu machen, bin ich für den Anfang schon zufrieden. Denn im Grunde stellen die fünf Dinge, die wir tun können, um gesund zu bleiben, einen Plan für ein erfülltes Leben dar. Einen Plan, den wir zum Teil vielleicht schon im Hinterkopf haben, und von dessen Umsetzung uns allzu oft unsere Gewohnheiten, unser gedankenloses Mitschwimmen mit dem Mainstream gesellschaftlicher Entwicklungen oder schlicht die uns inhärente Trägheit abhalten. Ein Plan aber auch, dem nur ein kleines Stückchen zu folgen, jedem von uns nur gut tun kann.

LIEBEN

Wer das kleine Dorf Roseto im US-Bundesstaat Pennsylvania ohne Kenntnis von dessen Geschichte besuchen würde, könnte vermutlich nicht verstehen, wie es, zumindest in den USA, jemals so bekannt werden konnte. Es erstreckt sich über gerade einmal 140 Hektar, hat rund 1.600 Einwohner, eine Polizeistation sowie eine kleine Kirche und besteht ansonsten vorwiegend aus bescheidenen Einfamilienhäusern.

Auch die Geschichte des Dorfes offenbart auf den ersten Blick noch nichts für amerikanische Verhältnisse Ungewöhnliches. Die Vorfahren der jetzigen Dorfbewohner flüchteten 1882 vor der Armut im süditalienischen Apulien in die USA. Eine ganze Dorfgemeinschaft trat gemeinsam die weite Reise an und fand, was sie gesucht hatte. In ihrer neuen, rund 120 Kilometer westlich von New York City gelegenen Heimat gab es mehr Möglichkeiten, den eigenen Unterhalt zu verdienen. Die Bewohner von Roseto konnten in den nahegelegenen Schieferbrüchen arbeiten und sich so Stück für Stück gemeinsam eine neue Zukunft aufbauen.