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Hans Fallada

Kleiner Mann – was nun?

Überarbeitete und kommentierte Ausgabe

Hans Fallada

Kleiner Mann – was nun?

Überarbeitete und kommentierte Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Rowohlt Verlag, Berlin, 1932 (363 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962813-29-1

null-papier.de/571

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Die Sorg­lo­sen

1. Pin­ne­berg er­fährt et­was Neu­es über Lämm­chen und fasst einen großen Ent­schluss

2. Mut­ter Mör­schel, Herr Mör­schel, Karl Mör­schel: Pin­ne­berg ge­rät in die Mör­sche­lei

3. Ge­schwätz in der Nacht von Lie­be und Geld

Ers­ter Teil – Die klei­ne Stadt

4. Die Ehe fängt ganz rich­tig mit ei­ner Hoch­zeits­rei­se an, aber – brau­chen wir einen Schmor­topf?

5. Pin­ne­berg wird mys­tisch, und Lämm­chen be­kommt Rät­sel zu ra­ten

6. Pin­ne­bergs ma­chen einen An­tritts­be­such, es wird ge­weint, und die Ver­lo­bungs­uhr schlägt im­mer­zu

7. Der Schlei­er der Mys­tik hebt sich. Berg­mann und Klein­holz. Wa­rum Pin­ne­berg nicht ver­hei­ra­tet sein kann

8. Was sol­len wir es­sen? Und mit wem dür­fen wir tan­zen? Müs­sen wir jetzt hei­ra­ten?

9. Das Zwie­beln be­ginnt. Der Nazi Lau­ter­bach, der dä­mo­ni­sche Schulz und der heim­li­che Ehe­mann sind in Not

10. Erb­sen­sup­pe wird an­ge­setzt und ein Brief ge­schrie­ben, aber das Was­ser ist zu dünn

11. Klein­holz stän­kert, Kube stän­kert und die An­ge­stell­ten knei­fen. Erb­sen gibt es noch im­mer nicht

12. Pin­ne­berg hat ja doch nichts vor, macht aber einen Aus­flug, auf dem Au­gen ge­macht wer­den

13. Wie Pin­ne­berg mit dem En­gel und Ma­rie­chen Klein­holz ringt, und wie es doch zu spät ist

14. Herr Fried­richs, der Lachs und Herr Berg­mann, aber al­les ist um­sonst: Es gibt nichts für Pin­ne­bergs

15. Ein Brief kommt, und Lämm­chen läuft in der Schür­ze durch die Stadt, um bei Klein­holz zu heu­len

Zwei­ter Teil – Ber­lin

16. Frau Mia Pin­ne­berg als Ver­kehrs­hin­der­nis. Sie ge­fällt Lämm­chen, miss­fällt ih­rem Sohn und er­zählt, wer Jach­mann ist

17. Ein echt fran­zö­si­sches Fürs­ten­bett, aber zu teu­er. Jach­mann weiß von kei­ner Stel­lung, und Lämm­chen lernt bit­ten

18. Jach­mann lügt, Fräu­lein Semm­ler lügt, Herr Leh­mann lügt und Pin­ne­berg lügt auch, aber je­den­falls be­kommt er eine Stel­lung und einen Va­ter oben­drein

19. Pin­ne­berg geht durch den Klei­nen Tier­gar­ten, hat Angst und kann sich nicht freu­en

20. Was Keß­ler für ein Mann ist, wie Pin­ne­berg kei­ne Plei­ten schiebt und Heil­butt einen Tip­pel ret­tet

21. Von den drei Ar­ten Ver­käu­fern, und wel­che Art Herr Sub­sti­tut Jäne­cke liebt. Ein­la­dung zu ei­nem But­ter­brot

22. Pin­ne­berg er­hält Ge­halt, be­han­delt Ver­käu­fer schlecht und wird Be­sit­zer ei­ner Fri­sier­toi­let­te

23. Lämm­chen be­kommt Be­such und sieht sich im Spie­gel. Am gan­zen Abend wird nicht von Geld ge­spro­chen

24. Ehe­li­che Ge­wohn­hei­ten bei Pin­ne­bergs. Mut­ter und Sohn. Jach­mann im­mer der Ret­ter

25. Keß­ler ent­hüllt und wird geohr­feigt. Aber Pin­ne­bergs müs­sen doch aus­zie­hen

26. Lämm­chen sucht, kein Mensch will Kin­der, und sie wird ohn­mäch­tig, aber es lohnt sich

27. Woh­nung wie noch nie. Herr Putt­bree­se zieht, und Herr Jach­mann hilft

28. Ein Etat ist auf­ge­stellt, und das Fleisch wird knapp. Pin­ne­berg fin­det sein Lämm­chen ko­misch

29. Der par­fü­mier­te Tan­nen­baum und die Mut­ter zwei­er Kin­der. Heil­butt meint: Ihr habt Mut. Ha­ben wir Mut?

30. Der Jun­ge muss sein Mit­tag ha­ben, und Frie­da sich ein Bei­spiel neh­men. Wenn ich sie nun nie wie­der­se­he?

31. Viel zu­we­nig Ab­wasch! Die Er­schaf­fung des Mur­kel. Auch Lämm­chen wird schrei­en

32. Pin­ne­berg macht einen Be­such und lässt sich zur Nackt­heit ver­füh­ren

33. Wie Pin­ne­berg über Frei­kör­per­kul­tur denkt, und was Frau No­th­na­gel dazu meint

34. Pin­ne­berg be­kommt eine Mol­le ge­schenkt, geht Blu­men steh­len und be­lügt am Ende sein Lämm­chen

35. Die Her­ren der Schöp­fung krie­gen Kin­der, und Lämm­chen um­armt Putt­bree­se

36. Der Kin­der­wa­gen und die bei­den feind­li­chen Brü­der. Wann müs­sen Still­gel­der ge­zahlt wer­den?

37. April schickt in die Angst, aber Heil­butt hilft. Wo ist Heil­butt? Heil­butt ist futsch

38. Pin­ne­berg wird ver­haf­tet, und Jach­mann sieht Ge­s­pens­ter. Rum ohne Tee

39. Lo­gier­be­such wi­der Wil­len. Jach­mann ent­deckt die gu­ten, nahr­haf­ten Din­ge

40. Jach­mann als Er­fin­der und der Klei­ne Mann als Kö­nig. Wir sind ja zu­sam­men!

41. Kin­topp und Le­ben. On­kel Knil­li ent­führt Herrn Jach­mann

42. Der Mur­kel ist krank. Jun­ger Va­ter, was ist denn?

43. Ge­huppt wie ge­sprun­gen. Die In­qui­si­to­ren und Fräu­lein Fi­scher. Noch eine Gal­gen­frist, Pin­ne­berg!

44. Noch ein­mal Frau Mia. Das sind mei­ne Kof­fer! Kommt die Po­li­zei?

45. Der Schau­spie­ler Schlü­ter und der jun­ge Mann aus der Acker­stra­ße. Al­les ist zu Ende

Nach­spiel – Al­les geht wei­ter

46. Soll man Holz steh­len? Lämm­chen ver­dient groß und gibt ih­rem Jun­gen Be­schäf­ti­gung

47. Der Mann als Frau. Das gute Was­ser und der blin­de Mur­kel. Streit um sechs Mark

48. Wa­rum Pin­ne­bergs nicht woh­nen, wo sie woh­nen. Bil­der­zen­tra­le Joa­chim Heil­butt. Leh­mann ist ab­ge­sägt!

49. Pin­ne­berg als Stein des An­sto­ßes. Die ver­ges­se­ne But­ter und der Schu­po. Kei­ne Nacht ist schwarz ge­nug

50. Au­to­be­such in der Sied­lung. Zwei war­ten in der Nacht. Lämm­chen kommt wirk­lich nicht in Fra­ge

51. Busch zwi­schen Bü­schen. Und die alte Lie­be

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Die Sorglosen

1. Pinneberg erfährt etwas Neues über Lämmchen und fasst einen großen Entschluss

Es ist fünf Mi­nu­ten nach vier. Pin­ne­berg hat das eben fest­ge­stellt. Er steht, ein nett aus­se­hen­der, blon­der jun­ger Mann, vor dem Hau­se Ro­then­baum­stra­ße 24 und war­tet.

Es ist also fünf Mi­nu­ten nach vier, und auf drei vier­tel vier ist Pin­ne­berg mit Lämm­chen ver­ab­re­det. Pin­ne­berg hat die Uhr wie­der ein­ge­steckt und sieht ernst auf ein Schild, das am Ein­gang des Hau­ses Ro­then­baum­stra­ße 24 an­ge­macht ist. Er liest:

Dr. Se­sam
Frau­en­arzt
Sprech­stun­den 9–12 und 4–6

Eben! Und nun ist es doch wie­der fünf Mi­nu­ten nach vier. Wenn ich mir noch eine Zi­ga­ret­te an­bren­ne, kommt Lämm­chen na­tür­lich so­fort um die Ecke. Lass ich es also. Heu­te wird es schon wie­der teu­er ge­nug.

Er sieht von dem Schild fort. Die Ro­then­baum­stra­ße hat nur eine Häu­ser­rei­he, jen­seits des Fahr­damms, jen­seits ei­nes Grün­strei­fens, jen­seits des Kais fließt die Stre­la, hier schon hübsch breit, kurz vor ih­rer Ein­mün­dung in die Ost­see. Ein fri­scher Wind weht her­über, die Bü­sche ni­cken mit ih­ren Zwei­gen, die Bäu­me rau­schen ein we­nig.

So müss­te man woh­nen kön­nen, denkt Pin­ne­berg. Si­cher hat die­ser Se­sam sie­ben Zim­mer. Muss ein klot­zi­ges Geld ver­die­nen. Er wird Mie­te zah­len … zwei­hun­dert Mark? Drei­hun­dert Mark? Ach was, ich habe kei­ne Ah­nung. – Zehn Mi­nu­ten nach vier!

Pin­ne­berg greift in die Ta­sche, holt aus dem Etui eine Zi­ga­ret­te und brennt sie an.

Um die Ecke weht Lämm­chen, im plis­sier­ten wei­ßen Rock, der Roh­sei­den­blu­se, ohne Hut, die blon­den Haa­re ver­weht.

»Tag, Jun­ge. Es ging wirk­lich nicht eher. Böse?«

»Kei­ne Spur. Nur, wir wer­den end­los sit­zen müs­sen. Es sind min­des­tens drei­ßig Leu­te rein­ge­gan­gen, seit ich war­te.«

»Sie wer­den ja nicht alle zum Dok­tor ge­gan­gen sein. Und dann sind wir ja an­ge­mel­det.«

»Siehst du, dass es rich­tig war, dass wir uns an­ge­mel­det ha­ben!«

»Na­tür­lich war es rich­tig. Du hast ja im­mer recht, Jun­ge!« Und auf der Trep­pe nimmt sie sei­nen Kopf zwi­schen die Hän­de und küsst ihn stür­misch. »O Gott, bin ich glück­lich, dass ich dich mal wie­der­ha­be, Jun­ge. Den­ke doch, bei­na­he vier­zehn Tage!«

»Ja, Lämm­chen«, ant­wor­tet er. »Ich bin auch nicht mehr brum­mig.«

Die Tür geht auf, und im halb­dunklen Flur steht ein wei­ßer Sche­men vor ih­nen, bellt: »Die Kran­ken­schei­ne!«

»Las­sen Sie einen doch erst mal rein«, sagt Pin­ne­berg und schiebt Lämm­chen vor sich her. »Üb­ri­gens sind wir pri­vat. Ich bin an­ge­mel­det. Pin­ne­berg ist mein Name.«

Auf das Wort »pri­vat« hin hebt der Sche­men die Hand und schal­tet das Licht auf dem Flur ein. »Herr Dok­tor kommt so­fort. Ei­nen Au­gen­blick, bit­te. Bit­te, dort hin­ein.«

Sie ge­hen auf die Tür zu und kom­men an ei­ner an­de­ren, halb of­fen­ste­hen­den vor­bei. Das ist wohl das ge­wöhn­li­che War­te­zim­mer, und in ihm schei­nen die drei­ßig zu sit­zen, die Pin­ne­berg an sich vor­bei­kom­men sah. Al­les schaut auf die bei­den, und ein Stim­men­ge­wirr er­hebt sich: »So was gib­t’s nicht!« – »Wir war­ten schon län­ger!« – »Wozu zah­len wir un­se­re Kas­sen­bei­trä­ge?!« – »Die fei­nen Pin­kels sind auch nicht mehr wie wir.«

Die Schwes­ter tritt in die Tür: »Sei­en Sie man bloß ru­hig! Herr Dok­tor wird ja ge­stört! Was Sie den­ken, ist nicht. Das ist der Schwie­ger­sohn von Herrn Dok­tor mit sei­ner Frau. Nicht wahr?«

Pin­ne­berg lä­chelt ge­schmei­chelt, Lämm­chen strebt der an­de­ren Tür zu. Ei­nen Au­gen­blick ist Stil­le.

»Nu bloß schnell!« flüs­tert die Schwes­ter und schiebt Pin­ne­berg vor sich her. »Die­se Kas­sen­pa­ti­en­ten sind zu ge­wöhn­lich. Was die Leu­te sich ein­bil­den für das biss­chen Geld, das die Kas­se zahlt …«

Die Tür fällt zu, der Jun­ge und Lämm­chen sind im ro­ten Plüsch.

»Das ist si­cher sein Pri­vat­sa­lon«, sagt Pin­ne­berg. »Wie ge­fällt dir das? Schreck­lich alt­mo­disch, fin­de ich.«

»Mir war es gräss­lich«, sagt Lämm­chen. »Wir sind doch sonst auch Kas­sen­pa­ti­en­ten. Da hört man mal, wie die beim Arzt über uns re­den.«

»Wa­rum regst du dich auf?« fragt er. »Das ist doch so. Mit uns klei­nen Leu­ten ma­chen sie, was sie wol­len …«

»Es regt mich aber auf …«

Die Tür öff­net sich, eine an­de­re Schwes­ter kommt: »Herr und Frau Pin­ne­berg bit­te? Herr Dok­tor lässt um einen Au­gen­blick Ge­duld bit­ten. Wenn ich un­ter­des die Per­so­na­li­en auf­neh­men dürf­te?«

»Bit­te«, sagt Pin­ne­berg und wird gleich ge­fragt: »Wie alt?«

»Drei­und­zwan­zig.«

»Vor­na­me: Jo­han­nes.«

Nach ei­nem Sto­cken: »Buch­hal­ter.«

Und glat­ter: »Im­mer ge­sund ge­we­sen. Die üb­li­chen Kin­der­krank­hei­ten, sonst nichts. – So­viel ich weiß, bei­de ge­sund.«

Wie­der sto­ckend: »Ja, die Mut­ter lebt noch. Der Va­ter nicht mehr, nein. Kann ich nicht sa­gen, wor­an er ge­stor­ben ist.«

Und Lämm­chen: »Zwei­und­zwan­zig. – Emma.«

Jetzt zö­gert sie: »Ge­bo­re­ne Mör­schel. – Stets ge­sund. Bei­de El­tern am Le­ben, bei­de ge­sund.«

»Also einen Au­gen­blick noch. Herr Dok­tor ist so­fort frei.«

»Wozu das al­les nö­tig ist«, brummt er, nach­dem die Tür wie­der zu­fiel. »Wo wir doch nur …«

»Ger­ne hast du es nicht ge­sagt: Buch­hal­ter.«

»Und du nicht das mit der ge­bo­re­nen Mör­schel!« Er lacht. »Emma Pin­ne­berg, ge­nannt Lämm­chen, ge­bo­re­ne Mör­schel. Emma Pin­ne…«

»Bist du stil­le! O Gott, Jun­ge, ich müss­te noch ein­mal ganz un­be­dingt. Hast du eine Ah­nung, wo das hier ist?«

»Also, das ist doch im­mer die­sel­be Ge­schich­te mit dir …! Statt dass du vor­her …«

»Aber ich bin, Jun­ge. Ich bin wirk­lich. Noch auf dem Rat­haus­markt. Für einen gan­zen Gro­schen. Aber wenn ich auf­ge­regt bin …«

»Also Lämm­chen, nimm dich doch einen Au­gen­blick zu­sam­men. Wenn du wirk­lich eben erst …«

»Jun­ge, ich muss …«

»Ich bit­te«, sagt eine Stim­me. In der Tür steht Dok­tor Se­sam, der be­rühm­te Dok­tor Se­sam, von dem die hal­be Stadt und die vier­tel Pro­vinz flüs­tern, dass er ein wei­tes Herz hat, man­che sa­gen auch, ein gu­tes Herz. Je­den­falls hat er eine volks­tüm­li­che Bro­schü­re über se­xu­el­le Pro­ble­me ver­fasst, und dar­um hat Pin­ne­berg den Mut ge­habt, ihm zu schrei­ben und sich und Lämm­chen an­zu­mel­den.

Die­ser Dok­tor Se­sam steht also in der Tür und sagt: »Ich bit­te.«

Dok­tor Se­sam sucht auf sei­nem Schreib­tisch nach dem Brief. »Sie ha­ben mir ge­schrie­ben, Herr Pin­ne­berg. Sie kön­nen noch kei­ne Kin­der brau­chen, weil das Geld nicht reicht.«

»Ja«, sagt Pin­ne­berg und ist schreck­lich ver­le­gen.

»Ma­chen Sie sich im­mer schon ein biss­chen frei«, sagt der Arzt zu Lämm­chen und fährt dann fort: »Und nun möch­ten Sie einen ganz si­che­ren Schutz wis­sen. Ja, einen ganz si­che­ren …«

Er lä­chelt skep­tisch hin­ter sei­ner gol­de­nen Bril­le.

»Ich habe in Ihrem Buch ge­le­sen«, sagt Pin­ne­berg, »die­se Pes­soirs …«

»Die­se Pessa­re«, sagt der Arzt, »ja, aber sie pas­sen nicht für jede Frau. Und dann ist es im­mer et­was um­ständ­lich. Ob Ihre Frau das Ge­schick hat …«

Er sieht zu ihr hoch. Sie hat sich ein biss­chen aus­ge­zo­gen, nur so an­ge­fan­gen, die Blu­se und den Rock. Mit ih­ren schlan­ken Bei­nen steht sie sehr groß da.

»Nun, ge­hen wir ein­mal rü­ber«, sagt der Arzt. »Die Blu­se hät­ten wir nun dazu nicht aus­zu­zie­hen brau­chen, klei­ne jun­ge Frau.«

Lämm­chen wird ganz rot.

»Jetzt las­sen Sie sie schon lie­gen. Kom­men Sie. Ei­nen Au­gen­blick, Herr Pin­ne­berg.«

Die bei­den ge­hen in das Ne­ben­zim­mer. Pin­ne­berg sieht ih­nen nach. Der gan­ze Dok­tor Se­sam reicht der »klei­nen jun­gen Frau« nicht bis an die Schul­tern. Pin­ne­berg fin­det wie­der, sie sieht herr­lich aus, das bes­te Mäd­chen von der Welt, das ein­zi­ge über­haupt. Er ar­bei­tet in Du­che­row und sie hier in Platz, er sieht sie höchs­tens alle vier­zehn Tage, und so ist sein Ent­zücken im­mer frisch und sein Ap­pe­tit über al­les Be­grei­fen.

Ne­ben­an hört er den Arzt ab und zu halb­laut et­was fra­gen, ge­gen einen Scha­len­rand klap­pert ein In­stru­ment, das Geräusch kennt er vom Zahn­arzt, es ist kein an­ge­neh­mes Geräusch.

Nun fährt er zu­sam­men, die­se Stim­me von Lämm­chen kennt er noch nicht – sie sagt ganz laut, fast schrei­end, sehr hell: »Nein, nein, nein!« Und noch ein­mal: »Nein!« Und dann ganz lei­se, aber er hört es doch: »O Gott!«

Pin­ne­berg macht drei Schrit­te ge­gen die Tür – was ist das? Was kann da sein? Man hat schon ge­hört, dass sol­che Ärz­te schreck­li­che Wüst­lin­ge sind … Aber nun spricht Dok­tor Se­sam wie­der, nichts zu ver­ste­hen, und nun klap­pert wie­der das In­stru­ment.

Und dann lan­ge Stil­le.

Es ist ein Hoch­som­mer­tag, etwa Mit­te Juli, herr­lichs­ter Son­nen­schein. Der Him­mel drau­ßen ist dun­kel­blau, ins Fens­ter rei­chen ein paar Zwei­ge, sie be­we­gen sich im See­wind. Da ist ein al­tes Lied aus Pin­ne­bergs Kin­der­zeit, es fällt ihm eben ein:


»Wehe-Wind, Pus­te-Wind,
Nimm den Hut nicht mei­nem Kind!
Sei ge­lind zu mei­nem Kind,
Wehe-Wind, Pus­te-Wind!«

Die im War­te­zim­mer re­den. De­nen wird die Zeit auch lang. Eure Sor­gen möcht ich ha­ben. Eure Sor­gen …

Die bei­den kom­men wie­der. Pin­ne­berg wirft einen ängst­li­chen Blick auf Lämm­chen, sie hat so große Au­gen, wie von ei­nem Schreck er­wei­tert. Sie ist blass, aber nun lä­chelt sie ihm zu, küm­mer­lich erst, und dann brei­tet sich das Lä­cheln voll aus über das gan­ze Ge­sicht und wird im­mer stär­ker und blüht auf … Der Arzt steht in der Ecke, er wäscht sich die Hän­de. Schräg schaut er hin­über zu Pin­ne­berg. Dann sagt er ei­lig: »Ein biss­chen zu spät, Herr Pin­ne­berg, mit der Ver­hü­tung. Die Tür ist zu. Ich den­ke An­fang des zwei­ten Mo­nats.«

Pin­ne­berg ist ohne Atem. Das war wie ein Schlag. Dann sagt er has­tig: »Herr Dok­tor, es ist doch un­mög­lich! Wir ha­ben so auf­ge­passt! Ganz un­mög­lich ist das. Sag doch selbst, Lämm­chen …«

»Jun­ge!« sagt sie. »Jun­ge …«

»Es ist so«, sagt der Arzt. »Irr­tum aus­ge­schlos­sen. Und glau­ben Sie mir, Herr Pin­ne­berg, ein Kind ist für jede Ehe gut.«

»Herr Dok­tor«, sagt Pin­ne­berg, und sei­ne Lip­pe zit­tert. »Herr Dok­tor, ich ver­die­ne im Mo­nat hun­dert­acht­zig Mark! Ich bit­te Sie, Herr Dok­tor!«

Dok­tor Se­sam sieht schreck­lich müde aus. Was jetzt kommt, das kennt er, das hört er an je­dem Tag drei­ßig­mal.

»Nein«, sagt er. »Nein. Bit­ten Sie mich gar nicht erst dar­um. Kommt über­haupt nicht in Fra­ge. Sie sind bei­de ge­sund. Und Ihr Ein­kom­men ist gar nicht schlecht. Gar – nicht – schlecht.«

»Herr Dok­tor!« sagt Pin­ne­berg fie­ber­haft.

Hin­ter ihm steht Lämm­chen und streicht ihm über die Haa­re: »Lass, Jun­ge, lass! Es wird schon ge­hen.«

»Aber es ist ganz un­mög­lich …«, bricht Pin­ne­berg aus – und wird still. Die Schwes­ter ist her­ein­ge­kom­men.

»Herr Dok­tor wer­den am Ap­pa­rat ver­langt.«

»Sie se­hen«, sagt der Arzt. »Pas­sen Sie auf, Sie freu­en sich noch. Und wenn das Kind da ist, kom­men Sie so­fort zu mir. Dann ma­chen wir das mit der Ver­hü­tung. Ver­las­sen Sie sich nicht aufs Näh­ren. Also denn … Mut, jun­ge Frau!«

Er schüt­telt Lämm­chen die Hand.

»Ich möch­te gleich …«, sagt Pin­ne­berg und zieht sein Por­te­mon­naie.

»Ach ja«, sagt der Arzt, schon in der Tür, und sieht die bei­den noch ein­mal an, schät­zend. »Na, fünf­zehn Mark, Schwes­ter.«

»Fünf­zehn …«, sagt Pin­ne­berg ge­dehnt und sieht die Tür an. Dok­tor Se­sam ist schon fort. Er holt um­ständ­lich einen Zwan­zig­mark­schein her­vor, schaut mit ge­run­zel­ter Stirn zu, wie die Quit­tung aus­ge­schrie­ben wird, und nimmt sie in Empfang.

Sei­ne Stirn hellt sich et­was auf: »Ich be­kom­me das von der Kran­ken­kas­se wie­der, nicht wahr?«

Die Schwes­ter sieht ihn an, dann Lämm­chen. »Schwan­ger­schafts­dia­gno­se, nicht wahr?« Sie war­tet gar nicht erst auf die Ant­wort. »Doch nicht. Das er­set­zen die Kas­sen nicht.«

»Komm, Lämm­chen!« sagt er.

Sie stei­gen lang­sam die Trep­pe hin­un­ter. Auf ei­nem Ab­satz bleibt Lämm­chen ste­hen und nimmt sei­ne Hand zwi­schen die ih­ren. »Sei nicht so trau­rig! Bit­te nicht! Es wird schon ge­hen.«

»Jaja«, sagt er, tief in Ge­dan­ken.

Sie ge­hen ein Stück Ro­then­baum­stra­ße, dann bie­gen sie in die Main­zer Stra­ße ein. Hier sind hohe Häu­ser und vie­le Men­schen, Au­tos fah­ren in Ru­deln, die Abend­zei­tun­gen sind schon da, nie­mand ach­tet auf die bei­den.

»›Gar kein schlech­tes Ein­kom­men‹, sagt der, und nimmt mir fünf­zehn Mark ab von mei­nen hun­dert­acht­zig, solch Räu­ber!«

»Ich schaf­fe es schon«, sagt Lämm­chen. »Ich schaf­fe es schon.«

»Ach du!« sagt er.

Von der Main­zer Stra­ße kom­men sie in den Krüm­per­weg, still ist das plötz­lich hier.

Lämm­chen sagt: »Jetzt ver­steh ich man­ches.«

»Wie­so?« fragt er.

»Ach nichts, nur dass mir mor­gens im­mer schlecht ist. Und es war über­haupt so ko­misch …«

»Aber du musst es doch ge­merkt ha­ben?«

»Ich hab doch im­mer ge­dacht, es kommt noch. Wer denkt denn gleich an so was?«

»Vi­el­leicht hat er sich ge­irrt!«

»Nein. Das glau­be ich nicht. Es stimmt schon.«

»Aber mög­lich ist es doch, dass er sich ge­irrt hat?«

»Nein, ich glau­be …«

»Bit­te! Höre doch ein­mal zu, was ich sage! Mög­lich ist es doch!?«

»Mög­lich? Mög­lich ist al­les!«

»Also, viel­leicht kommt mor­gen schon die Re­gel. Dann schreib ich dem aber einen Brief!« Er ver­sinkt in Ge­dan­ken, er schreibt einen Brief.

Auf den Krüm­per­weg folgt die Heb­bel­stra­ße, die bei­den ge­hen fein be­dacht­sam durch den Som­mer­nach­mit­tag, in die­ser Stra­ße ste­hen schö­ne Ul­men.

»Mei­ne fünf­zehn Mark ver­lan­ge ich dann aber auch zu­rück«, sagt Pin­ne­berg plötz­lich.

Lämm­chen ant­wor­tet nicht. Sie tritt vor­sich­tig auf mit der gan­zen Brei­te des Schuhs, und sie sieht ge­nau, wo­hin sie tritt, es ist al­les so an­ders.

»Wo­hin ge­hen wir ei­gent­lich?« fragt er plötz­lich.

»Ich muss noch mal nach Haus«, sagt Lämm­chen. »Ich hab Mut­ter nichts ge­sagt, dass ich weg­blei­be.«

»Auch das noch!« sagt er.

»Schimpf nicht, Jun­ge«, bit­tet sie. »Aber ich will se­hen, dass ich um halb neun noch mal run­ter­kom­men kann. Mit wel­chem Zug willst du fah­ren?«

»Um halb zehn.«

»Dann bring ich dich zur Bahn.«

»Und sonst nichts«, sagt er. »Sonst wie­der mal nichts. Ein Le­ben ist das.«

Die Lüt­jen­stra­ße ist eine rich­ti­ge Ar­bei­ter­stra­ße, im­mer wim­melt es von Kin­dern da, man kann kei­nen rich­ti­gen Ab­schied neh­men.

»Nimm es nicht so schwer, Jun­ge«, sagt sie und gibt ihm die Hand. »Ich schaff es schon.«

»Jaja«, sagt er und ver­sucht zu lä­cheln. »Du bist Trumpf-Ass, Lämm­chen, und stichst al­les.«

»Und um halb neun bin ich un­ten. Be­stimmt.«

»Und kei­nen Kuss jetzt?«

»Es geht wirk­lich nicht, es wird gleich wei­ter­ge­tratscht. Tap­fer. Tap­fer!«

Sie sieht ihn an.

»Also gut, Lämm­chen«, sagt er. »Nimm du es auch nicht so schwer. Ir­gend­wie wird es ja wer­den.«

»Na­tür­lich«, sagt sie. »Ich ver­lier den Mut schon nicht. Tjüs der­wei­le.«

Sie huscht schnell die dunkle Trep­pe hin­auf, ihr Stadt­köf­fer­chen schlägt ge­gen das Ge­län­der: klapp – klapp – klapp.

Pin­ne­berg sieht den hel­len Bei­nen nach. Hun­dert­tau­send Mal ist ihm Lämm­chen schon die­se gott­ver­damm­te Trep­pe hin­auf ent­schwun­den.

»Lämm­chen!« brüllt er. »Lämm­chen!«

»Ja?« fragt sie von oben und sieht über das Ge­län­der.

»Ei­nen Au­gen­blick!« ruft er. Er stürmt die Trep­pe hin­auf, er steht atem­los vor ihr, er fasst sie bei den Schul­tern. »Lämm­chen!« sagt er und keucht vor Auf­re­gung und Atem­not. »Emma Mör­schel! Wie wär’s, wenn wir uns hei­ra­ten wür­den …?«

2. Mutter Mörschel, Herr Mörschel, Karl Mörschel: Pinneberg gerät in die Mörschelei

Lämm­chen Mör­schel sag­te nichts. Sie mach­te sich von Pin­ne­berg los und setz­te sich sach­te auf eine Trep­pen­stu­fe. Plötz­lich wa­ren ihre Bei­ne weg. Nun saß sie da und sah zu ih­rem Jun­gen hoch. »O Gott!« sag­te sie. »Jun­ge, wenn du das tä­test!«

Ihre Au­gen wur­den ganz hell. Es wa­ren dun­kelblaue Au­gen mit ei­ner Schat­tie­rung ins Grün­li­che; jetzt ström­ten sie ge­ra­de­zu über von strah­len­dem Licht.

Wie wenn alle Weih­nachts­bäu­me ih­res Le­bens auf ein­mal in ihr brenn­ten, dach­te Pin­ne­berg und wur­de ganz ver­le­gen vor Rüh­rung.

»Also, geht in Ord­nung, Lämm­chen«, sag­te er. »Ma­chen wir. Und mög­lichst bald, was?«

»Jun­ge, du brauchst es aber nicht. Ich kom­me auch so zu­recht. Nur, da hast du recht, bes­ser ist es schon, wenn der Mur­kel einen Va­ter hat.«

»Der Mur­kel«, sag­te Jo­han­nes Pin­ne­berg. »Rich­tig, der Mur­kel.«

Er war einen Au­gen­blick still. Er kämpf­te mit sich, ob er Lämm­chen nicht sa­gen soll­te, dass er bei sei­nem Hei­rats­an­trag gar nicht an die­sen Mur­kel ge­dacht hat­te, son­dern nur dar­an, dass es sehr ge­mein war, an die­sem Som­mer­abend drei Stun­den auf sein Mäd­chen in der Stra­ße zu war­ten. Aber er sag­te es nicht. Statt­des­sen bat er: »Steh doch auf, Lämm­chen. Die Trep­pe ist si­cher ganz dre­ckig. Dein gu­ter wei­ßer Rock …«

»Lass den Rock, lass ihn sau­sen! Was küm­mern uns alle Rö­cke von der Welt. Bin ich glück­lich! Han­nes! Jun­ge!« Nun war sie wirk­lich auf ih­ren Bei­nen und fiel ihm wie­der um den Hals. Und das Haus war gü­tig: Von den zwan­zig Par­tei­en, die über die­se Trep­pe aus- und ein­gin­gen, kam nicht eine, nach­mit­tags nach fün­fe in der Lauf­zeit, wo die Er­näh­rer nach Haus kom­men und alle Haus­frau­en schnell noch eine ver­ges­se­ne Zutat fürs Es­sen ho­len. Kei­ner kam.

Bis Pin­ne­berg sich frei mach­te und sag­te: »Aber das kön­nen wir doch si­cher auch oben – als Braut­paar. Ge­hen wir rauf.«

Lämm­chen frag­te be­denk­lich: »Gleich willst du mit? Ist es nicht bes­ser, ich be­rei­te Va­ter und Mut­ter vor, wo sie doch noch gar nichts von dir wis­sen …?«

»Was doch sein muss, tut man am bes­ten gleich«, er­klär­te Pin­ne­berg und woll­te noch im­mer nicht auf die Stra­ße. »Üb­ri­gens wer­den sie sich doch be­stimmt freu­en?«

»Na ja«, mein­te Lämm­chen nach­denk­lich. »Mut­ter sehr. Va­ter, weißt du, da darfst du dich nicht dran sto­ßen. Va­ter flachst ger­ne, der meint das nicht so.«

»Ich werd’s schon rich­tig ver­ste­hen«, sag­te Pin­ne­berg.

Lämm­chen schloss die Tür auf: ein klei­ner Vor­platz. Hin­ter ei­ner an­ge­lehn­ten Tür klang eine Stim­me: »Emma, komm gleich mal her!«

»Ei­nen Au­gen­blick, Mut­ter«, rief Emma Mör­schel. »Ich zieh nur mei­ne Schuh aus.«

Sie nahm Pin­ne­berg bei der Hand und führ­te ihn auf Ze­hen­spit­zen in ein klei­nes Hof­zim­mer, wo zwei Bet­ten stan­den.

»Leg dei­ne Sa­chen da­hin. Ja, das ist mein Bett, da schlaf ich drin. Im an­de­ren Bett schläft Mut­ter. Va­ter und Karl schla­fen drü­ben in der Kam­mer. Nun komm. Halt, dein Haar!« Sie fuhr ihm schnell mit dem Kamm durch die Wirr­nis.

Bei­den klopf­te das Herz. Sie nahm ihn bei der Hand, sie gin­gen über den Vor­platz, sie stie­ßen die Tür zur Kü­che auf. Am Herd stand mit run­dem, krum­mem Rücken eine Frau und briet et­was in ei­ner Pfan­ne. Pin­ne­berg sah ein brau­nes Kleid und eine große blaue Schür­ze.

Die Frau sah nicht hoch. »Lauf schnell mal in den Kel­ler, Emma, und hol Press­koh­len. Ich kann das dem Karl hun­dert­mal sa­gen …«

»Mut­ter«, sag­te Emma, »das ist mein Freund Jo­han­nes Pin­ne­berg aus Du­che­row. Wir wol­len uns hei­ra­ten.«

Die Frau am Herd sah hoch. Es war ein brau­nes Ge­sicht mit ei­nem star­ken Mund, ei­nem schar­fen ge­fähr­li­chen Mund, ein Ge­sicht mit sehr hel­len schar­fen Au­gen und mit zehn­tau­send Fal­ten. Eine alte Ar­bei­ter­frau.

Die Frau sah Pin­ne­berg an, einen Au­gen­blick, scharf, böse. Dann wand­te sie sich wie­der ih­ren Kar­tof­fel­puf­fern zu. »Dumm Tügs«, sag­te sie. »Schleppst du mir jetzt dei­ne Ker­le ins Haus?! Geh und hol Koh­len, ich hab kei­ne Glut.«

»Mut­ter«, sag­te Lämm­chen und ver­such­te zu la­chen, »er will mich wirk­lich hei­ra­ten.«

»Hol Koh­len, sag ich, Deern«, rief die Frau und fuhr­werk­te mit der Ga­bel.

»Mut­ter …!«

Die Frau sah hoch. Sie sag­te lang­sam: »Bist du noch nicht un­ten? Willst du einen Backs?!«

Ganz rasch drück­te Lämm­chen ih­rem Pin­ne­berg die Hand. Dann nahm sie einen Korb, rief, so fröh­lich es ging: »Gleich bin ich wie­der da!« – und die Fl­ur­tür klapp­te.

Pin­ne­berg stand ver­las­sen in der Kü­che. Er sah vor­sich­tig ge­gen Frau Mör­schel hin, als könn­te sein Hin­se­hen sie schon rei­zen, dann ge­gen das Fens­ter. Man sah nur einen blau­en Som­mer­him­mel und ein paar Schorn­stei­ne.

Frau Mör­schel schob die Pfan­ne bei­sei­te und han­tier­te mit den Her­drin­gen. Es klap­per­te und klirr­te sehr. Sie sto­cher­te mit dem Feu­er­ha­ken in der Glut, da­bei murr­te sie vor sich hin. Höf­lich frag­te Pin­ne­berg: »Wie bit­te …?«

Es wa­ren die ers­ten Wor­te, die er bei Mör­schels sag­te.

Er hät­te nichts sa­gen sol­len, denn wie ein Gei­er schoss die Frau auf ihn nie­der. In der einen Hand hielt sie den Ha­ken, in der an­de­ren noch die Ga­bel vom Puf­fer­wen­den, aber das war nicht so schlimm, trotz­dem sie da­mit fuch­tel­te. Schlimm war ihr Ge­sicht, in dem alle Fal­ten zuck­ten und spran­gen, schlim­mer wa­ren ihre grau­sa­men und bö­sen Au­gen.

»Wenn Sie mir mein Mäd­chen in Schan­de brin­gen!« schrie sie au­ßer sich.

Pin­ne­berg trat einen Schritt zu­rück. »Ich will Emma ja hei­ra­ten, Frau Mör­schel!« sag­te er ängst­lich.

»Sie den­ken wohl, ich weiß nicht, was ist«, sag­te die Frau un­be­irrt. »Seit zwei Wo­chen ste­he ich hier und war­te. Ich den­ke, sie sagt mir was, ich den­ke, sie bringt mir den Kerl bald an, ich sit­ze hier und war­te.« Sie hol­te Atem. »Das ist ein gu­tes Mäd­chen, Sie Mann Sie, mei­ne Emma, das ist kein Dreck für Sie. Die ist im­mer fröh­lich ge­we­sen. Die hat mir nie ein bö­ses Wort ge­ge­ben – wol­len Sie sie in Schan­de brin­gen?«

»Nein, nein«, flüs­tert Pin­ne­berg angst­voll.

»Doch! Doch!« schreit Frau Mör­schel. »Doch! Doch! Zwei Wo­chen ste­he ich hier und war­te, dass sie ihre Bin­den zum Wa­schen gibt – nichts! Wie ha­ben Sie das ge­macht, Sie?« Pin­ne­berg kann es nicht sa­gen.

»Wir sind jun­ge Leu­te«, sagt er sanft.

»Ach Sie«, sagt sie noch böse, »dass Sie mein Mäd­chen dazu ge­kriegt ha­ben.« Plötz­lich grollt sie wie­der: »Schwei­ne seid ihr Män­ner, al­les Schwei­ne, pfui!«

»Wir hei­ra­ten, so­bald es mit den Pa­pie­ren geht«, er­klärt Pin­ne­berg.

Frau Mör­schel steht wie­der am Herd. Das Fett brut­zelt, sie fragt: »Was sind Sie denn? Kön­nen Sie denn über­haupt hei­ra­ten?«

»Ich bin Buch­hal­ter. In ei­nem Ge­trei­de­ge­schäft.«

»Also An­ge­stell­ter?«

»Ja.«

»Ar­bei­ter wäre mir lie­ber. – Was ver­die­nen Sie denn?«

»Hun­dert­acht­zig Mark.«

»Mit Ab­zü­gen?«

»Nein, die ge­hen noch ab.«

»Das ist gut«, sagt die Frau, »das ist nicht so viel. Mein Mäd­chen soll ein­fach blei­ben.« Und plötz­lich wie­der ganz böse: »Den­ken Sie nicht, dass sie was mit­be­kommt. Wir sind Pro­le­ta­ri­er. Bei uns gibt es das nicht. Nur das biss­chen Wä­sche, was sie sich selbst ge­kauft hat.«

»Das ist al­les nicht nö­tig«, sagt Pin­ne­berg.

Plötz­lich ist die Frau wie­der böse: »Sie ha­ben doch auch nichts. Sie se­hen doch auch nicht nach Spa­ren aus. Wenn man mit sol­chem An­zug rum­läuft, bleibt nichts üb­rig.«

Pin­ne­berg braucht nicht zu ge­ste­hen, dass sie ziem­lich das Rich­ti­ge ge­trof­fen hat, denn Lämm­chen kommt mit den Koh­len. Sie ist bes­ter Stim­mung. »Hat sie dich auf­ge­fres­sen, ar­mer Jun­ge?« fragt sie. »Mut­ter ist ein rich­ti­ger Tee­kes­sel, sie kocht im­mer gleich über.«

»Sei nicht so frech, Ütz«, schilt die Alte. »Sonst kriegst du doch noch dei­nen Backs. – Geht in die Schlaf­stu­be und schleckt euch ab. Ich will mit Va­ter zu­erst al­lein re­den.«

»Na also«, sagt Lämm­chen. »Hast du mei­nen Bräu­ti­gam auch schon ge­fragt, ob er Kar­tof­fel­puf­fer mag? Heu­te ist un­ser Ver­lo­bungs­tag.«

»Weg mit euch!« sagt Frau Mör­schel. »Und dass ihr mir nicht die Tür ab­schließt, ich sehe ein paar­mal nach, dass ihr kei­ne Dumm­hei­ten macht.«

Sie sit­zen sich an dem klei­nen Tisch auf den wei­ßen Stüh­len ge­gen­über.

»Mut­ter ist ’ne ein­fa­che Ar­bei­te­rin«, sagt Lämm­chen. »Die ist so derb, sie denkt sich nichts da­bei.«

»Oh, sie denkt sich schon was da­bei«, sagt Pin­ne­berg und grinst. »Dei­ne Mut­ter weiß Be­scheid, ver­stehst du, was uns der Dok­tor heu­te ge­sagt hat.«

»Na­tür­lich weiß sie das. Mut­ter weiß im­mer al­les. Ich glaub, du hast ihr gut ge­fal­len.«

»Na, hör mal, so sah es aber nicht aus.«

»Mut­ter ist so. Mut­ter muss im­mer schimp­fen. Ich hör’s schon gar nicht mehr.«

Ei­nen Au­gen­blick ist Stil­le, bei­de sit­zen sich brav ge­gen­über, die Hän­de lie­gen auf dem Tisch­chen.

»Rin­ge müs­sen wir uns auch kau­fen«, sagt Pin­ne­berg ge­dan­ken­voll.

»O Gott, ja«, sagt Lämm­chen rasch. »Sag schnell, wel­che magst du lie­ber, glän­zend oder matt?«

»Matt!« sagt er.

»Ich auch! Ich auch!« ruft sie. »Ich glau­be, wir ha­ben in al­lem den glei­chen Ge­schmack, das ist fein. – Was wer­den die kos­ten?«

»Ich weiß auch nicht. Drei­ßig Mark?«

»So viel?«

»Wenn wir gol­de­ne neh­men?«

»Na­tür­lich neh­men wir gol­de­ne. Lass se­hen, wir wol­len Maß neh­men.«

Er rückt zu ihr. Sie neh­men einen Fa­den von ei­ner Garn­rol­le. Es ist schwie­rig. Ein­mal schnei­det das Garn ein, und ein­mal sitzt es zu lose.

»Hän­de be­se­hen bringt Streit«, sagt Lämm­chen.

»Aber ich be­se­he sie ja gar nicht«, sagt er. »Ich küs­se sie ja. Ich küs­se ja dei­ne Hän­de, Lämm­chen.«

Es klopft mit sehr har­tem Knö­chel ge­gen die Tür. »Rüber­kom­men! Va­ter ist da!«

»Gleich«, sagt Lämm­chen und löst sich aus sei­nem Arm. »Schnell uns ein biss­chen zu­recht­ma­chen. Va­ter flachst ewig.«

»Wie ist er denn, dein Va­ter?«

»Gott, du wirst ja gleich se­hen. Ist ja auch egal. Du hei­ra­test mich, mich, mich, ohne Va­ter und Mut­ter.«

»Aber mit dem Mur­kel.«

»Mit dem Mur­kel, ja. Net­te un­ver­nünf­ti­ge El­tern be­kommt er. Nicht eine Vier­tel­stun­de kön­nen sie ver­nünf­tig sit­zen …«

Am Kü­chen­tisch sitzt ein lan­ger Mann in grau­en Ho­sen, grau­er Wes­te und ei­nem wei­ßen Tri­ko­themd, ohne Ja­cke, ohne Kra­gen. An den Fü­ßen hat er Pan­tof­feln. Ein gel­bes fal­ti­ges Ge­sicht, klei­ne schar­fe Au­gen hin­ter ei­nem hän­gen­den Zwi­cker, ein grau­er Schnurr­bart, ein fast wei­ßer Kinn­bart.

Der Mann liest die »Volks­s­tim­me«, aber nun, da Pin­ne­berg und Emma her­ein­kom­men, lässt er das Blatt sin­ken und be­trach­tet den jun­gen Mann.

»Sie sind also der Jüng­ling, der mei­ne Toch­ter hei­ra­ten will? Sehr er­freut, set­zen Sie sich hin. Üb­ri­gens wer­den Sie es sich noch über­le­gen.«

»Was?« fragt Pin­ne­berg.

Lämm­chen hat sich auch eine Schür­ze um­ge­bun­den und hilft der Mut­ter. Frau Mör­schel sagt är­ger­lich: »Wo der Ben­gel nur wie­der bleibt. Die gan­zen Puf­fer wer­den zäh.«

»Über­stun­den«, sagt Herr Mör­schel la­ko­nisch. Und zu Pin­ne­berg zwin­kernd: »Sie ma­chen auch manch­mal Über­stun­den, nicht wahr?«

»Ja«, sagt Pin­ne­berg. »Ziem­lich oft.«

»Aber ohne Be­zah­lung?«

»Lei­der. Der Chef sagt …«

Herrn Mör­schel in­ter­es­siert nicht, was der Chef sagt. »Se­hen Sie, dar­um wäre mir ein Ar­bei­ter für mei­ne Toch­ter lie­ber; wenn mein Karl Über­stun­den macht, kriegt er sie be­zahlt.«

»Herr Klein­holz sagt …«, be­ginnt Pin­ne­berg von neu­em.

»Was die Ar­beit­ge­ber sa­gen, jun­ger Mann«, er­klärt Herr Mör­schel, »das wis­sen wir lan­ge. Das in­ter­es­siert uns nicht. Was sie tun, das in­ter­es­siert uns. Es gibt doch ’nen Ta­rif­ver­trag bei euch, was?«

»Ich glau­be«, sagt Pin­ne­berg.

»Glau­be ist Re­li­gi­ons­sa­che, da­mit hat’n Ar­bei­ter nischt zu tun. Be­stimmt gibt es ihn. Und da steht drin, dass Über­stun­den be­zahlt wer­den müs­sen. Wa­rum krieg ich ’nen Schwie­ger­sohn, dem sie nicht be­zahlt wer­den?«

Pin­ne­berg zuckt die Ach­seln.

»Weil ihr nicht or­ga­ni­siert seid, ihr An­ge­stell­ten«, er­klärt Herr Mör­schel ihm den Fall. »Weil kein Zu­sam­men­hang ist bei euch, kei­ne So­li­da­ri­tät. Da­rum ma­chen sie mit euch, was sie wol­len.«

»Ich bin or­ga­ni­siert«, sagt Pin­ne­berg mür­risch. »Ich bin in ’ner Ge­werk­schaft.«

»Emma! Mut­ter! Un­ser jun­ger Mann ist in ’ner Ge­werk­schaft? Wer hät­te das ge­dacht! So schnie­ke und Ge­werk­schaft!« Der lan­ge Mör­schel hat den Kopf ganz auf die Sei­te ge­legt und be­sieht sei­nen künf­ti­gen Schwie­ger­sohn mit ein­ge­knif­fe­nen Au­gen. »Und wie nennt sich Ihre Ge­werk­schaft, mein Jun­ge? Nur raus da­mit!«

»Deut­sche An­ge­stell­ten-Ge­werk­schaft«, sagt Pin­ne­berg und är­gert sich im­mer mehr.

Der lan­ge Mann krümmt sich völ­lig zu­sam­men, so stark über­kommt es ihn. »Die DAG! Mut­ter, Emma, hal­tet mich fest, un­ser Jüng­ling ist ein Da­ckel, das nennt er ’ne Ge­werk­schaft! Ein gel­ber Ver­band, zwi­schen zwei Stüh­len. O Gott, Kin­der, so ein Witz …«

»Na, er­lau­ben Sie mal«, sagt Pin­ne­berg wü­tend. »Wir sind kein gel­ber Ver­band! Wir wer­den nicht von den Ar­beit­ge­bern fi­nan­ziert. Wir zah­len un­sern Bun­des­bei­trag sel­ber.«

»Für die Bon­zen! Für die gel­ben Bon­zen! Na, Emma, da hast du dir ja den Rich­ti­gen aus­ge­sucht. Ei­nen DAG-Mann! Ei­nen rich­ti­gen Da­ckel!«

Pin­ne­berg sieht hil­fe­su­chend zu Lämm­chen, aber Lämm­chen sieht nicht her. Vi­el­leicht ist sie es ge­wöhnt, aber wenn sie es ge­wöhnt ist, für ihn ist es doch schlimm.

»An­ge­stell­ter, wenn ich so was schon höre«, sagt Mör­schel. »Ihr denkt, ihr seid was Bes­se­res als wir Ar­bei­ter.«

»Denk ich nicht.«

»Den­ken Sie doch. Und warum den­ken Sie das? Weil Sie Ihrem Ar­beit­ge­ber nicht ’ne Wo­che den Lohn stun­den, son­dern den gan­zen Mo­nat. Weil Sie un­be­zahl­te Über­stun­den ma­chen, weil Sie sich un­ter Ta­rif be­zah­len las­sen, weil Sie nie ’nen Streik ma­chen, weil Sie im­mer die Streik­bre­cher sind …«

»Es geht doch nicht nur ums Geld«, sagt Pin­ne­berg. »Wir den­ken doch auch an­ders als die meis­ten Ar­bei­ter, wir ha­ben doch an­de­re Be­dürf­nis­se …«

»An­ders den­ken«, sagt Mör­schel, »an­ders den­ken! Sie den­ken ge­nau­so wie ein Pro­let …«

»Das glaub ich nicht«, sagt Pin­ne­berg, »ich zum Bei­spiel …«

»Sie zum Bei­spiel«, sagt Mör­schel und kneift die Au­gen ganz ge­mein ein und feixt. »Sie zum Bei­spiel ha­ben sich doch Vor­schuss ge­nom­men?«

»Wie­so?« fragt Pin­ne­berg ver­wirrt. »Vor­schuss …?«

»Na ja, Vor­schuss«, grinst der an­de­re noch mehr. »Vor­schuss, da, bei der Emma. Nicht sehr fein, Herr. Mäch­tig pro­le­ta­ri­sche An­ge­wohn­heit …«

»Ich …«, fängt Pin­ne­berg an und ist sehr rot und hat Lust, die Tü­ren zu don­nern und zu brül­len: Oh, so rutscht mir doch alle …!

Aber Frau Mör­schel sagt scharf: »Ru­hig bist du jetzt, Va­ter, mit dei­nem Flach­sen! Das ist er­le­digt. Das geht dich gar nichts an.«

»Da kommt der Karl«, ruft Lämm­chen, denn drau­ßen klapp­te eine Tür.

»Also her mit dem Es­sen, Frau«, sagt Mör­schel. »Und recht habe ich doch, Schwie­ger­sohn, fra­gen Sie mal Ihren Pas­tor, un­fein ist das …«

Ein jun­ger Mensch kommt her­ein, aber jung ist nur eine Al­ters­be­zeich­nung, er sieht völ­lig un­jung aus, noch gel­ber, noch gal­li­ger als der Alte. Er knurrt: »’n Abend«, nimmt von dem Gast kei­ner­lei No­tiz und zieht Ja­cke und Wes­te aus, dann das Hemd. Pin­ne­berg sieht es mit stei­gen­der Ver­wun­de­rung.

»Über­stun­den ge­macht?« fragt der Alte.

Karl Mör­schel knurrt nur et­was.

»Lass doch jetzt die Scheuerei, Karl«, sagt Frau Mör­schel, »komm es­sen.«

Aber Karl lässt schon das Was­ser am Aus­guss lau­fen und fängt an, sich sehr in­ten­siv zu wa­schen. Bis zu den Hüf­ten ist er nackt, Pin­ne­berg ge­niert sich et­was, Lämm­chens we­gen. Aber die scheint nichts da­bei zu fin­den, es ist ihr wohl selbst­ver­ständ­lich.

Pin­ne­berg ist vie­les nicht selbst­ver­ständ­lich. Die häss­li­chen Stein­gut­tel­ler mit den schwärz­li­chen An­schlag­stel­len, die halb kal­ten Kar­tof­fel­puf­fer, die nach Zwie­beln schme­cken, die sau­re Gur­ke, das laue Fla­schen­bier, das nur für die Män­ner da­steht, dazu die­se trost­lo­se Kü­che, der wa­schen­de Karl …

Karl setzt sich an den Tisch, sagt brum­mig: »Nanu, Bier?«

»Das ist der Bräu­ti­gam von Emma«, er­klärt Frau Mör­schel. »Sie wol­len bald hei­ra­ten.«

»Hat sie doch einen ab­ge­kriegt«, sagt Karl. »Na ja, einen Bour­geois. Ein Pro­let ist ihr nicht fein ge­nug.«

»Siehst du«, sagt Va­ter Mör­schel, sehr be­frie­digt.

»Du zahl man lie­ber dein Kost­geld, eh du hier den Mund auf­rei­ßt«, er­klärt Mut­ter Mör­schel.

»Was heißt ›siehst du‹«, sagt Karl gal­lig zu sei­nem Va­ter. »Ein rich­ti­ger Bour­geois ist mir noch im­mer lie­ber als ihr So­zi­al­fa­schis­ten.«

»So­zi­al­fa­schis­ten«, ant­wor­tet der Alte böse. »Wer wohl Fa­schist ist, du So­wjet­jün­ger!«

»Na klar«, sagt Karl, »ihr Pan­zer­kreuzer­hel­den …«

Pin­ne­berg hört mit ei­ner ge­wis­sen Be­frie­di­gung zu. Was der Alte ihm ge­sagt hat­te, be­kam er jetzt vom Sohn mit Zin­sen.

Nur, die Kar­tof­fel­puf­fer ge­wan­nen nicht sehr da­durch, es war kein net­tes Mit­ta­ges­sen, er hat­te sich sei­ne Ver­lo­bungs­fei­er an­ders ge­dacht.

3. Geschwätz in der Nacht von Liebe und Geld

Pin­ne­berg hat sei­nen Zug sau­sen las­sen, er kann auch mor­gens um vier fah­ren. Dann ist er im­mer noch recht­zei­tig im Ge­schäft.

Die bei­den sit­zen in der dunklen Kü­che. Drin­nen in der einen Stu­be schläft Herr, in der an­de­ren Frau Mör­schel. Karl ist in eine KPD-Ver­samm­lung ge­gan­gen.

Sie ha­ben zwei Kü­chen­stüh­le ne­ben­ein­an­der ge­zo­gen und sit­zen mit dem Rücken nach dem er­kal­te­ten Herd. Die Tür zu dem klei­nen Kü­chen­bal­kon steht of­fen, der Wind be­wegt lei­se den Schal über der Tür. Drau­ßen ist – über ei­nem hei­ßen, ra­diolär­men­den Hof – der Nacht­him­mel, dun­kel, mit sehr blas­sen Ster­nen.

»Ich möch­te«, sagt Pin­ne­berg lei­se und drückt Lämm­chens Hand, »dass wir es ein biss­chen hübsch hät­ten. Weißt du« – er ver­sucht es zu schil­dern –, »es müss­te hell sein bei uns und wei­ße Gar­di­nen und al­les im­mer schreck­lich sau­ber.«

»Ich ver­steh«, sagt Lämm­chen, »ich ver­steh, es muss schlimm sein bei uns für dich, wo du es nicht ge­wöhnt bist.«

»So mei­ne ich es doch nicht, Lämm­chen.«

»Doch. Doch. Wa­rum sollst du es nicht sa­gen, es ist doch schlimm. Dass sich Karl und Va­ter im­mer zan­ken, ist schlimm. Und dass Va­ter und Mut­ter im­mer strei­ten, das ist auch schlimm. Und dass sie Mut­ter im­mer um das Kost­geld be­trü­gen wol­len, und dass Mut­ter sie mit dem Es­sen be­trügt … al­les ist schlimm.«

»Aber warum sind sie so? Bei euch ver­die­nen doch drei, da müss­te es doch gut ge­hen.«

Lämm­chen ant­wor­tet ihm nicht. »Ich ge­hör ja nicht rein hier«, sagt sie statt­des­sen. »Ich bin im­mer das Aschen­put­tel ge­we­sen. Wenn Va­ter und Karl nach Haus kom­men, ha­ben sie Fei­er­abend. Dann fang ich an mit Auf­wa­schen und Plät­ten und Nä­hen und St­rümp­fe­stop­fen. Ach, es ist nicht das«, ruft sie aus, »das täte man ja ger­ne. Aber dass das al­les ganz selbst­ver­ständ­lich ist und dass man da­für ge­schubst wird und ge­k­nufft, dass man nie ein gu­tes Wort be­kommt, und dass der Karl so tut, wie wenn er mich mit er­nährt, weil er mehr Kost­geld zahlt als ich … Ich ver­di­en doch nicht viel – was ver­dient denn heu­te eine Ver­käu­fe­rin?«

»Es ist ja bald vor­bei«, sagt Pin­ne­berg. »Ganz bald.«

»Ach, es ist ja nicht das«, ruft sie ver­zwei­felt, »es ist ja al­les nicht das. Aber, weißt du, Jun­ge, sie ha­ben mich im­mer rich­tig ver­ach­tet, ›du Dum­me‹ sa­gen sie zu mir. Si­cher, ich bin nicht so klug. Ich ver­steh vie­les nicht. Und dann, dass ich nicht hübsch bin …«

»Aber du bist hübsch!«

»Du bist der ers­te, der das sagt. Wenn wir mal zum Tanz ge­gan­gen sind, im­mer bin ich sit­zen­ge­blie­ben. Und wenn dann Mut­ter zum Karl ge­sagt hat, er sol­le sei­ne Freun­de schi­cken, hat er ge­sagt: ›Wer will denn mit so ’ner Zie­ge tan­zen?‹ Wirk­lich, du bist der ers­te …«

Ein un­heim­li­ches Ge­fühl be­schleicht Pin­ne­berg. Wirk­lich, denkt er, sie soll­te mir das nicht so sa­gen. Ich hab im­mer ge­dacht, sie ist hübsch. Und nun ist sie viel­leicht gar nicht hübsch …

Lämm­chen aber re­det wei­ter: »Siehst du, Jung­chen, ich will dir ja nichts vor­jam­mern. Ich will es dir nur die­ses ein­zi­ge Mal sa­gen, dass du weißt, ich ge­hör hier nicht her, ich ge­hör nur zu dir. Zu dir al­lein. Und dass ich dir ganz furcht­bar dank­bar bin, nicht nur we­gen des Mur­kels, son­dern weil du das Aschen­put­tel ge­holt hast …«

»Du«, sagt er. »Du!«

»Nein, jetzt noch nicht. – Und wenn du sagst, wir wol­len es hell und sau­ber ha­ben, du musst ein biss­chen ge­dul­dig sein, ich hab ja nie rich­tig ko­chen ge­lernt. Und wenn ich et­was falsch ma­che, dann sollst du es mir sa­gen, und ich will dich nie, nie be­lü­gen …«

»Nein, Lämm­chen, nein, es ist ja gut.«

»Und wir wol­len uns nie, nie strei­ten. O Gott, Jun­ge, was wol­len wir glück­lich sein, wir bei­de al­lein. Und dann der drit­te, der Mur­kel.«

»Wenn es aber ein Mäd­chen wird?«

»Er ist ein Mur­kel, sage ich dir, ein klei­ner sü­ßer Mur­kel.«

Nach ei­ner Wei­le ste­hen sie auf und tre­ten auf den Bal­kon. Ja, der Him­mel ist da über den Dä­chern und sei­ne Ster­ne in ihm. Sie ste­hen eine Wei­le schwei­gend, je­des die Hand auf der Schul­ter des an­de­ren.

Dann keh­ren sie zu die­ser Erde zu­rück, mit dem en­gen Hof, den vie­len hel­len Fens­ter­qua­dra­ten, dem Jaz­z­ge­quäk.

»Wol­len wir uns auch Ra­dio an­schaf­fen?« fragt er plötz­lich.

»Ja, na­tür­lich. Weißt du, ich bin dann nicht so mut­ter­see­len­al­lein, wenn du im Ge­schäft bist. Aber erst spä­ter. Wir müs­sen uns so furcht­bar viel an­schaf­fen!«

»Ja«, sagt er.

Stil­le.

»Jun­ge«, fängt Lämm­chen sach­te an. »Ich muss dich was fra­gen.«

»Ja?« sagt er un­si­cher.

»Aber sei nicht böse!«

»Nein«, sagt er.

»Hast du was ge­spart?«

Pau­se.

»Ein biss­chen«, sagt er zö­gernd. »Und du?«

»Auch ein biss­chen«, und ganz rasch: »Aber nur ein ganz, ganz, ganz klein biss­chen.«

»Sag du«, sagt er.

»Nein, sag du zu­erst«, sagt sie.

»Ich …«, sagt er und bricht ab. »Sag schon!« bit­tet sie.

»Es ist wirk­lich nur ganz we­nig, viel­leicht noch we­ni­ger als du.«

»Si­cher nicht.«

»Doch. Si­cher.«

Pau­se. Lan­ge Pau­se.

»Frag mich«, bit­tet er.

»Also«, sagt sie und holt tief Atem. »Ist es mehr als …«

Sie macht eine Pau­se.

»Als was?« fragt er.

»I wo«, lacht sie plötz­lich. »Soll ich mich ge­nie­ren! Hun­dert­drei­ßig Mark hab ich auf der Kas­se.«

Er sagt stolz und lang­sam: »Vier­hun­dert­sieb­zig.«

»Au fein!« sagt Lämm­chen. »Das wird ge­ra­de glatt. Sechs­hun­dert Mark. Jun­ge, was ein Hau­fen Geld!«

»Na …«, sagt er. »Viel fin­de ich es ja nicht. Aber man lebt schreck­lich teu­er als Jung­ge­sel­le.«

»Und ich hab von mei­nen hun­dertzwan­zig Mark Ge­halt sieb­zig Mark für Kost und Woh­nung ab­ge­ben müs­sen.«

»Dau­ert lan­ge, bis man so viel zu­sam­men­ge­spart hat«, sagt er.

»Schreck­lich lan­ge«, sagt sie. »Es wird und wird nicht mehr.«

Pau­se.

»Ich glaub nicht, dass wir in Du­che­row gleich ’ne Woh­nung krie­gen«, sagt er.

»Dann müs­sen wir ein mö­blier­tes Zim­mer neh­men.«

»Da kön­nen wir auch für un­se­re Mö­bel mehr spa­ren.«

»Aber ich glau­be, mö­bliert ist schreck­lich teu­er.«

»Also, lass uns mal rech­nen«, schlägt er vor.

»Ja. Wir wol­len mal se­hen, wie wir hin­kom­men. Wir wol­len rech­nen, als ob wir nichts auf der Kas­se hät­ten.«

»Ja, das dür­fen wir nicht an­grei­fen, das soll ja mehr wer­den. Also hun­dert­acht­zig Mark Ge­halt …«

»Als Ver­hei­ra­te­ter kriegst du doch mehr.«

»Ja, weißt du, ich weiß nicht.« Er ist sehr ver­le­gen. »Nach dem Ta­rif­ver­trag viel­leicht, aber mein Chef ist so ko­misch …«

»Da­rauf wür­de ich kei­ne Rück­sicht neh­men, ob er ko­misch ist.«

»Lämm­chen, lass uns erst mal mit hun­dert­acht­zig rech­nen. Wenn’s mehr wird, ist es ja nur schön, aber die ha­ben wir doch erst mal si­cher.«

»Also schön«, stimmt sie zu. »Nun erst mal die Ab­zü­ge.«

»Ja«, sagt er. »An de­nen kann man ja nichts än­dern. Steu­ern sechs Mark und Ar­beits­lo­sen­ver­si­che­rung zwei Mark sieb­zig. Und An­ge­stell­ten­ver­si­che­rung vier Mark. Und Kran­ken­kas­se fünf Mark vier­zig. Und die Ge­werk­schaft vier Mark fünf­zig …«

»Na, dei­ne Ge­werk­schaft, das ist doch über­flüs­sig …«

Pin­ne­berg sagt et­was un­ge­dul­dig: »Das lass man erst. Ich hab von dei­nem Va­ter ge­nug.«

»Schön«, sagt Lämm­chen, »macht zwei­und­zwan­zig Mark sech­zig Ab­zü­ge. Fahr­geld brauchst du nicht?«

»Gott sei Dank nein.«

»Blei­ben also erst mal hun­dert­sie­ben­und­fünf­zig Mark vier­zig. Was macht die Mie­te?«

»Ja, ich weiß doch nicht. Zim­mer und Kü­che, mö­bliert. Si­cher doch vier­zig Mark.«

»Sa­gen wir fünf­und­vier­zig«, meint Lämm­chen. »Blei­ben hun­dertzwölf Mark vier­zig. Was denkst du, brau­chen wir fürs Es­sen?«

»Ja, sag du mal.«

»Mut­ter sagt im­mer, eine Mark fünf­zig braucht sie für je­den am Tag.«

»Das sind neun­zig Mark im Mo­nat«, sagt er.

»Dann blei­ben noch zwei­und­zwan­zig Mark vier­zig«, sagt sie.

Die bei­den se­hen sich an.

Lämm­chen sagt ganz schnell: »Und dann ha­ben wir noch nichts für Feue­rung. Und nichts für Gas. Und nichts für Licht. Und nichts für Por­to. Und nichts für Klei­dung. Und nichts für Wä­sche. Und nichts für Schu­he. Und Ge­schirr muss man sich auch manch­mal kau­fen.«

Und er sagt: »Und man möch­te doch auch mal ins Kino. Und am Sonn­tag ’nen Aus­flug ma­chen. Und ’ne Zi­ga­ret­te rauch ich auch ganz ger­ne.«

»Und spa­ren wol­len wir doch auch was.«

»Min­des­tens zwan­zig Mark im Mo­nat.«

»Drei­ßig.«

»Aber wie?«

»Rech­nen wir noch mal.«

»An den Ab­zü­gen än­dert sich nichts.«

»Und bil­li­ger krie­gen wir kein Zim­mer und Kü­che.«

»Vi­el­leicht fünf Mark bil­li­ger.«

»Na ja, ich will mal se­hen. ’ne Zei­tung möcht man sich aber auch hal­ten.«

»Si­cher. Kön­nen wir nur am Es­sen spa­ren, nun gut, zehn Mark viel­leicht ab.«

Sie se­hen sich wie­der an.

»Dann kom­men wir noch im­mer nicht aus. Und an Spa­ren ist auch nicht zu den­ken.«

»Du«, sagt sie sor­gen­voll, »musst du im­mer Plätt­wä­sche tra­gen? Die kann ich nicht sel­ber plät­ten.«

»Doch, das ver­langt der Chef. Ein Ober­hemd kos­tet sech­zig Pfen­nig plät­ten und ein Kra­gen zehn Pfen­nig.«

»Macht auch wie­der fünf Mark im Mo­nat«, rech­net sie.

»Und Schu­he be­soh­len.«

»Auch das, ja. Das ist auch ge­mein teu­er.«

Pau­se.

»Also, rech­nen wir noch mal.«

Und nach ei­ner Wei­le: »Also strei­chen wir vom Es­sen noch mal zehn Mark ab. Aber bil­li­ger als für sieb­zig kann ich es nicht.«

»Wie ma­chen es denn die an­de­ren?«

»Ja, ich weiß auch nicht. Furcht­bar vie­le ha­ben doch noch ’ne gan­ze Ecke we­ni­ger.«

»Ich ver­steh das nicht.«

»Da muss ir­gend­was nicht rich­tig sein. Lass uns noch mal rech­nen.«

Sie rech­nen und rech­nen, sie kom­men zu kei­nem an­de­ren Er­geb­nis. Sie se­hen sich an. »Weißt du«, sagt Lämm­chen plötz­lich, »wenn ich hei­ra­te, kann ich mir doch mei­ne An­ge­stell­ten­ver­si­che­rung aus­zah­len las­sen?«

»Au fein!« sagt er. »Das gibt si­cher hun­dertzwan­zig Mark.«

»Und dei­ne Mut­ter«, fragt sie. »Du hast mir nie von ihr er­zählt.«

»Da ist auch nichts zu er­zäh­len«, sagt er kurz. »Ich schreib ihr nie.«

»So«, sagt sie. »Ja dann.«

Wie­der Stil­le.

Sie kom­men nicht wei­ter, also ste­hen sie auf und tre­ten auf den Bal­kon. Es ist fast al­les dun­kel ge­wor­den im Hof, auch die Stadt ist still ge­wor­den. In der Fer­ne hört man ein Auto tu­ten.

Er sagt in Ge­dan­ken ver­lo­ren: »Haar­schnei­den kos­tet auch acht­zig Pfen­ni­ge.«

»O du, lass«, bit­tet sie. »Was die an­de­ren kön­nen, wer­den wir auch kön­nen. Es wird schon ge­hen.«

»Hör noch mal zu, Lämm­chen«, sagt er. »Ich will dir auch kein Haus­halts­geld ge­ben. Zu An­fang des Mo­nats tun wir al­les Geld in einen Topf, und je­der nimmt sich im­mer da­von, was er braucht.«

»Ja«, sagt sie. »Ich hab einen hüb­schen Topf da­für, blau­es Stein­gut. Ich zeig ihn dir noch. – Und dann wol­len wir furcht­bar spar­sam sein. Vi­el­leicht ler­ne ich noch Ober­hem­den plät­ten.«

»Fünf-Pfen­nig-Zi­ga­ret­ten sind auch Un­sinn«, sagt er. »Es gibt schon ganz an­stän­di­ge für drei.«

Aber sie stößt einen Schrei aus: »O Gott, Jun­ge, den Mur­kel ha­ben wir doch ganz ver­ges­sen! Der kos­tet ja auch Geld!«

Er über­legt: »Was kos­tet denn solch klei­nes Kind? Und dann gibt es Ent­bin­dungs­geld und Still­geld, und Steu­ern zah­len wir auch we­ni­ger … Ich glaub im­mer, die ers­ten Jah­re kos­tet der gar nichts.«

»Ich weiß nicht«, sagt sie zwei­felnd.

In der Tür steht eine wei­ße Ge­stalt.

»Wollt ihr nicht end­lich ins Bett?« fragt Frau Mör­schel. »Drei Stun­den könnt ihr noch schla­fen.«

»Ja, Mut­ter«, sagt Lämm­chen.

»Es ist schon al­les gleich«, sagt die Alte. »Ich schlaf heu­te bei Va­ter. Der Karl bleibt heu­te Nacht auch weg. Nimm ihn dir mit, dei­nen …« Die Tür schrammt zu, un­ge­sagt bleibt, wel­chen dei­nen …

»Aber ich möch­te wirk­lich nicht«, sagt Pin­ne­berg et­was pi­kiert. »Das ist doch wirk­lich nicht an­ge­nehm hier bei dei­nen El­tern …«

»O Gott, Jun­ge«, lacht sie. »Ich glaub, der Karl hat recht, du bist ein Bour­geois …«

»Aber kei­ne Spur!« pro­tes­tiert er. »Wenn es dei­ne El­tern nicht stört.« Er zö­gert noch ein­mal. »Und wenn Dok­tor Se­sam sich nun ge­irrt hat, ich habe nichts da.«

»Also set­zen wir uns wie­der auf die Kü­chen­stüh­le«, schlägt sie vor. »Mir tut schon al­les weh.«

»Ich komm ja schon, Lämm­chen«, sagt er reu­mü­tig.

»Ja, wenn du nicht willst …?«

»Ich bin ein Schaf, Lämm­chen! Ich bin ein Schaf!«

»Na also«, sagt sie. »Dann pas­sen wir ja zu­ein­an­der.«

»Das wol­len wir gleich se­hen«, sagt er.

Erster Teil – Die kleine Stadt

4. Die Ehe fängt ganz richtig mit einer Hochzeitsreise an, aber – brauchen wir einen Schmortopf?

Der Zug, der um vier­zehn Uhr zehn an die­sem Au­gust-Sonn­abend von Platz nach Du­che­row fährt, be­för­dert in ei­nem Nicht­rau­cher­ab­teil drit­ter Klas­se Herrn und Frau Pin­ne­berg, in sei­nem Pack­wa­­­­­­­­­­­­­