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Roman

© Querverlag GmbH, Berlin 2002

Erste Auflage der Printausagebe: Februar 2002

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektro­nischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und graphische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Illustration von David Case/Agentur Schlück

ISBN 978-3-89656-574-7

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Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

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für Vati

Kapitel I

1806

Lautlos betrat der Diener die Bibliothek und stellte ein Tablett mit Brandy vor den beiden jungen Männern ab, die es sich in großen Ledersesseln vor dem Kamin gemütlich gemacht hatten. Es war Sitte auf Schloß Blenfield, vor dem Dinner einen Drink zu servieren.

Kaum waren die beiden wieder alleine, seufzte Wilcox Lord Kellinghurst unwillig. „Ich weiß nicht, was mit mir los ist, Thomas. Auch dieser Tag war langweilig.“

Major Livingston schmunzelte amüsiert. Behaglich lehnte er sich zurück und blickte seinem Gegenüber offen ins Gesicht. Da es für ihn keinen Grund gab, etwas darauf zu erwidern, nahm er einen kräftigen Schluck aus seinem Glas, zündete sich eine Zigarre an und blies genüßlich Rauchwolken in die Luft. „Tja, alter Knabe, ich für meinen Teil kann nicht klagen.“ Wilcox Kellinghurst lachte befreit auf. Sofort nahm sein Gesicht einen heiteren Ausdruck an.

„Du brauchst nur einen Brandy und eine gute Zigarre, und schon ist die Welt für dich in Ordnung.“

Der Major warf seinem Freund einen belustigten Blick zu.

„Ja, du hast recht, Wilcox. Ich erwarte eben nicht, daß jeden Tag aufregende Dinge passieren. Gibt es etwas Schöneres als einen erlesenen Brandy nach einem langen Ausritt?“

Gemeinsam mit dem Waldhüter und den Treibern hatten die beiden Freunde zu Pferd die Jagdroute für die kommende Saison abgesteckt und daraufhin beschlossen, den Abend in Ruhe zu verbringen.

„Ich dachte, für dein Jagdrevier würdest du mehr Interesse aufbringen.“ Der Major blickte seinen Freund aufmunternd an.

Das Jagdrevier um Blenfield Park, dem Sitz der Familie Kellinghurst, galt in der Grafschaft als eines der reichsten. Es zeichnete sich nicht nur durch seine enorme Größe, sondern auch durch seinen überaus gepflegten Zustand aus.

Den glänzenden Mittelpunkt der Ländereien bildete jedoch unumstritten Blenfield Park selbst. Auf einer Anhöhe liegend, von geschmackvollen Gartenanlagen umgeben, ragten die alten Gemäuer weithin sichtbar aus der lieblichen Landschaft Süd­englands empor. Blenfield Park fand das erste Mal im späten Mittelalter Erwähnung, doch trotz seines Alters machte das Schloß einen freundlichen und einladenden Eindruck auf den Betrachter.

„Es ist nicht so, daß ich kein Interesse an der Verwaltung meiner Güter hätte, aber ich bin der Monotonie des Landlebens so entsetzlich überdrüssig.“

Wilcox erhob sich und schritt unruhig im Zimmer auf und ab.

„Und in London ist es auch nicht besser. Mir scheint, die Gesellschaft wird von Jahr zu Jahr uninteressanter. Ein Ball ähnelt dem anderen, und bei jeder Frau, die ich kennenlerne, habe ich das Gefühl, mich nicht mehr für sie begeistern zu können. Früher war alles anders. Früher hatten wir mehr Spaß. Sollten wir tatsächlich durch die Schrecken des Krieges unsere Leichtigkeit verloren haben, Thomas?“

Er ließ sich in seinen Sessel fallen und betrachtete das Feuer, das fröhlich in dem prächtig umfriesten Marmorkamin vor sich hinprasselte. Während ein kühler Frühlingsregen gegen die Fenster trommelte, breitete sich in der Bibliothek eine wohlige Wärme aus, und im Halbdunkel des hinteren Raumes tanzten Schatten auf den ledergebundenen Buchrücken.

Von allen Räumen des Hauses, das man erst vor zwei Generationen im Tudorstil hatte umbauen lassen, war Wilcox die Bibliothek mit ihrer schweren, eichenen Galerie und den griechischen Mamorstatuetten der liebste. Hier hielt er sich auf, wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte oder sich mit seinem besten Freund zurückzog. Schon als Junge war er hergekommen, um in den Sagen der Antike zu lesen, über den kunstvoll gezeichneten Illustrationen zu träumen und den Geruch der alten Folianten einzuatmen.

„Deine Eltern haben dir eines der größten Vermögen Englands hinterlassen, Wilcox. Weißt du, was das bedeutet? Du hast keinen Grund, Trübsal zu blasen“, bemerkte Major Livingston zwischen zwei Schlucken Brandy.

In der Tat durfte der Lord eines der größten Privatvermögen, das in der Bank von England deponiert war, sein eigen nennen. Neben den ausgedehnten Ländereien um Blenfield Park kamen zahlreiche bedeutende Immobilien in London hinzu sowie Plantagen und Weideland in den Kolonien.

Neider behaupteten sogar, Wilcox würde hin und wieder dem Prinzregenten aus der ein oder anderen finanziellen Verlegenheit helfen. Es war ein offenes Geheimnis, daß seine Königliche Hoheit astronomische Summen in seinen liebsten Zeitvertreib, die charmante Lady Fitzherbert, steckte.

„Gehe ich recht in der Annahme“, forschte Livingston, „daß deine schlechte Laune mit dem anstehenden Besuch deiner Verlobten und ihrer reizenden Frau Mama zusammenhängen könnte?“

Wilcox nickte mißmutig. „Ja, du triffst den Nagel auf den Kopf. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob Lady Fairfax und Fiorinda wirklich meinetwegen kommen oder nur wegen meines französischen Kochs. Und im übrigen ist es mir auch egal.“

Der Major quittierte diese Bemerkung, indem er sein Glas erhob. „Auf François! Er ist in der Tat der beste Koch, den Blenfield sich wünschen kann. Es spricht für Lady Fairfax’ ausgezeichneten Geschmack, wenn sie dich seinetwegen zu ihrem Schwiegersohn machen möchte“, fügte er scherzhaft hinzu.

Wilcox blickte in die abendliche Landschaft hinaus. „Ich will nicht ungerecht sein, aber jedesmal, wenn ich den beiden begegne, fühle ich mich unwohl. Fiorinda ist ja noch zu ertragen, obgleich mich ihr banales Geschwätz über Kleider und Schmuck entsetzlich langweilt.“ Er seufzte resigniert. „Es wird mich einige Mühe kosten, den Rest meiner Tage über Gesprächsthemen zu brüten, die ihren Kopf nicht zu sehr beanspruchen.“

„Dafür hast du ja mich, alter Knabe. Ich lasse mir schon etwas einfallen“, erklärte der Major vergnügt.

Wilcox schüttelte den Kopf. „Nein, im Grunde ist es nicht Fiorinda, die mir Kopfzerbrechen bereitet. Es ist ihre Mutter. Der Gedanke, mit Lady Fairfax verwandtschaftlich verbunden zu sein, ist mir einfach zuwider. Erinnere dich nur an den Lunch letzte Woche. Ist dir nicht aufgefallen, mit welch gierigem Blick sie das Tafelsilber musterte? Hinterher hörte ich, wie sie sich bei Stanton nach dem Silbergehalt des Bestecks erkundigte. Nein, Lady Fairfax ist eine berechnende, kalte Frau.“

Der Major stimmte ihm zu, denn was Lady Fairfax betraf, teilte er die Bedenken seines Freundes voll und ganz. Durch die Verlobung ihrer Tochter mit Wilcox war sie zudem ein häufiger Gast auf Blenfield. Der Major hatte öfter, als ihm lieb war, Gelegenheit gehabt, ihren Charakter kennenzulernen. Hinter der Fassade einer scheinbar sittenstrengen Frau verbargen sich Selbstsucht und Habgier.

Plötzlich begann er zu schmunzeln und erwiderte schadenfroh: „Du darfst nicht ungerecht sein, mein Bester. Die Damen geben sich alle erdenkliche Mühe, dich mit ihrem Liebreiz zu unterhalten. Jeder Mann in Stepford würde seine Großmutter zum Teufel schicken, nur um einen Nachmittag mit Fiorinda Fairfax verbringen zu dürfen.“

„Ich überlasse sie ihnen gerne“, antwortete der Lord mißgestimmt. „Sie ist wirklich nicht das, was man eine unterhaltsame Gesellschaft nennt. Wenigstens reitet sie ganz passabel.“

Nachdenklich hielt er inne. „Leider ist mir allzu bewußt, daß Lady Fairfax es lediglich auf mein Geld abgesehen hat, und ich verfluche den Tag, an dem ich meinem Vater auf dem Sterbebett das Versprechen gab, Fiorinda zu heiraten. Bis zuletzt ließ ihn die Sorge nicht los, unser Geschlecht könnte mit mir als seinem einzigen Sohn aussterben.“

„Doch warum muß es ausgerechnet eine Verbindung mit der Familie Fairfax sein?“ fragte der Major.

Unwillig zuckte Wilcox mit den Achseln. „Du weißt doch, mein Vater hegte sein Leben lang eine besondere Vorliebe für hübsche Frauen. Schon damals zeichnete es sich ab, daß Fiorinda zu einer Schönheit erblühen würde. Die Überzeugungskraft von Lady Fairfax tat ihr übriges. Sie hat immer schon ein Händchen dafür besessen, ihren Willen durchzusetzen, um die Erfolge ihrer Familie zu sichern.“

Während sich Wilcox’ Vater unter König Georg III. auf den blutigen Schlachtfeldern des Kontinents einen Namen gemacht hatte, war Cosimo Fairfax nicht minder erfolgreich in diplomatischen Diensten Seiner Majestät tätig gewesen. Sein Eifer und sein Geschick im Ausland hatten ihm frühzeitig eine große Baronie mit dem entsprechenden Landsitz, Morlay Hall, unweit von Blenfield Park, eingebracht. Doch erst nach Fiorindas Geburt ließ sich die Familie endgültig dort nieder und befand sich somit in der unmittelbaren Nachbarschaft der Familie Kellinghurst.

Seither war es Lady Fairfax’ einziges Bestreben, eine Heirat zwischen ihrer Tochter und Wilcox Lord Kellinghurst zustande zu bringen. Sie hoffte, damit eine Verbindung entstehen zu lassen, die ihren Nachfahren die materielle Sicherheit bringen würde, nach der sie selbst zeit ihres Lebens gestrebt hatte. Und tatsächlich gelang es ihr, Wilcox’ gutmütigen Vater für ihr Heiratsprojekt zu gewinnen.

„Fiorinda, mein Liebling“, hatte sie immer gesagt, „keine Verbindung wird dich mehr erfüllen als die, die dir Wohlstand und Prestige einbringt. Also, streng dich an. Wenn ich ein wenig jünger wäre, würde ich die Dinge selbst in die Hand nehmen. Weißt du, der junge Lord Kellinghurst ist nicht nur reich, sondern zu alldem bildhübsch. Wie entzückend würden meine kleinen Enkel aussehen.“

„Ja“, antwortete Fiorinda, „aber was soll ich tun, Mama, solange Wilcox keine Anstalten macht, einen Termin für unsere Vermählung festzusetzen?“

In der Tat hielt sich Wilcox nach dem Tod seines Vaters vor drei Jahren hinsichtlich einer Eheschließung bedeckt. Bis heute hatte er noch nicht offiziell um ihre Hand angehalten. Zwar hatte er dem alten Lord das Versprechen gegeben, Fiorinda zu heiraten, aber auf einen genauen Zeitpunkt wollte er sich nicht festlegen. Lady Fairfax ließ sich jedoch in ihrer Zuversicht nicht beirren. Da sie die ergreifende Abschiedsszene am Sterbelager mit erlebt hatte, hielt sie es für ihr gutes Recht, endlich einen verbindlichen Termin einzufordern. Doch sie spekulierte vor allem auf den Liebreiz ihrer Tochter und auf ihren eigenen Willen.

Als Sir Henry Fairfax kurz nach Fiorindas achtzehntem Geburtstag starb, hatte seine Tochter eine gute Erziehung genossen und war zu Genüge mit allen Talenten begabt, die eine junge Frau einem Mann von Stand angenehm machen. Sie besaß eine hübsche Singstimme, stellte reizende Stickereien her und war eine passable Reiterin. Bedauerlicherweise entsprachen aber ihre Geistesgaben keinesfalls den Erwartungen, die man an die Tochter eines berühmten Diplomaten stellen durfte. Wirklich außergewöhnlich an Fiorinda war jedoch ihre unvergleichliche Schönheit. Keine junge Frau in England konnte sich darin mit ihr messen.

Und so war Fiorinda Fairfax unter den Damen im heiratsfähigen Alter das, was der junge Lord Kellinghurst unter den Junggesellen war: die erste Wahl.

All diese Gedanken gingen Wilcox durch den Kopf, während er versonnen das Glas in seiner Hand betrachtete. „Thomas, ich glaube, du solltest deinem Schöpfer auf Knien danken, daß dein Vater sein ganzes Vermögen verspielt hat. Dadurch bleiben dir Unannehmlichkeiten dieser Art erspart.“

„Du sagst es“, antwortete Livingston im tiefsten Brustton der Überzeugung. Er streckte die Beine aus und zwinkerte seinem Freund verständnisvoll zu.

Schon während ihrer Zeit in Eton waren sie Kameraden gewesen und hatten zur Verzweiflung ihrer Lehrer manchen Streich ausgeheckt. Seit Livingston den Lord jedoch vor einigen Jahren aus dem feindlichen Kugelhagel gerettet hatte, waren die Männer auf das Innigste miteinander verbunden. Aufgrund der schweren Verletzungen, die beide davongetragen hatten, wurden sie nach dieser Schlacht in Ehren aus dem Kriegsdienst entlassen. Seitdem trafen sich die Freunde so oft es ging auf Blenfield und führten ein luxuriöses Junggesellenleben. Thomas, der nicht so gut situiert war wie Wilcox, genoß die Annehmlichkeiten des Herrenhauses in vollen Zügen.

Sehr zum Mißvergnügen von Lady Fairfax, die Blenfield Park bereits als ihre zukünftige Heimat zu betrachten schien. Mehr als einmal hatte sie ihn bei Dinnereinladungen und anderen Anlässen über den Tisch hinweg gefragt, wie lange er noch gedachte, Wohnung auf Blenfield Park zu nehmen. Mit einem gekünstelten Lachen erklärte sie bei solchen Gelegenheiten stets: „Es gibt doch keine größere Seligkeit als die zwischen Mann und Frau, nicht wahr?“

Erst als Wilcox ihr höflich, aber bestimmt klargemacht hatte, daß der Major jederzeit auf Blenfield willkommen sei, unterließ sie es, in der Öffentlichkeit solch peinliche Fragen zu stellen, und Lady Fairfax sah sich gezwungen, ihrer Neugierde, was die Abreise des Majors betraf, Einhalt zu gebieten.

Doch seitdem spürte Livingston, daß sie ihm unwiderruflich zur Feindin geworden war. Heimlich hatte er sich geschworen, ein Auge auf Lady Fairfax zu haben, sobald sie nach der Hochzeit ihrer Tochter auf Blenfield Einzug halten würde.

Wilcox schätzte die aufrichtige Zuneigung, mit welcher der Major an ihm hing, und schenkte ihm daher nicht nur seine Gastfreundschaft, sondern auch sein bedingungsloses Vertrauen. Darüber hinaus hatte das fröhliche und unbekümmerte Wesen des Majors ihm schon manches Mal geholfen, seine Nachdenklichkeit zu vertreiben.

„Komm, Wilcox“, sagte der Major, dem die Unruhe seines Freundes nicht entgangen war, „laß morgen deine feurigsten Hengste satteln. Wir wollen uns etwas Bewegung verschaffen. Dann bleibt dir keine Zeit mehr, deinen trüben Gedanken nachzuhängen.“ Wilcox erhob sich aus seinem Fauteuil und trat ans Fenster. „Ach, Thomas, ich wünschte, wir könnten unsere Sachen packen und wieder ins Feld ziehen.“

„Du vermißt den Krieg, nicht wahr, alter Kumpel?“ Livingston war neben ihn getreten und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter.

„Es ist nicht der Krieg“, räumte Wilcox ein. Er begann nachdenklich im Raum auf und ab zu gehen. „Es ist nur eine Seite davon. Aber nenn es, wie du willst. Denk nur daran, wie eng wir uns damals mit unseren Kameraden verbunden fühlten. Es waren prachtvolle Jungen, und jeder hätte für den anderen mit dem Leben bezahlt. Wir waren immer füreinander da. Die Ehe und das gemütliche Leben hinter dem Ofen scheinen mir ein schlechter Tausch dafür zu sein.“

Während er diese Sätze sagte, bekamen seine Augen jenen unergründlichen, entrückten Ausdruck, den sich der Major trotz der jahrelangen Freundschaft nicht erklären konnte.

„Hast du etwa vergessen, wie sehr wir unter der Kälte des Winters gelitten haben? Wenn wir unter freiem Himmel schliefen, sehnten wir uns zurück nach Hause, nach der Geborgenheit unserer Heimat.“

Wilcox schien über diesen Satz nachzudenken. „Ja“, sagte er, „aber jetzt, da wir zu Hause sind, gedenke ich all der jungen Männer, die heldenhaft ihr Leben ließen. Einige von ihnen kann ich nicht vergessen. Ich sehe ihre Gesichter vor mir und kann mich nach alldem nicht einfach den heimatlichen Freuden hingeben.“

Thomas erwiderte nichts. Er wußte, daß Wilcox trotz der Härte, die er auf dem Feld bewiesen hatte, in seinem Innersten ein empfindsamer Mann war. Gedankenvoll betrachtete er seinen Freund, der wieder zu ihm an den Kamin getreten war. Er konnte gut verstehen, daß der Lord unter Männern und Frauen viele Freunde fand. Aber auch die Herzen seiner Widersacher hatte er oft zu gewinnen vermocht, bewies er doch in jeder Situation nicht nur Mut und Durchsetzungsvermögen, sondern auch Mitleid und Achtung vor dem Feind.

Sanft blickte Thomas zu ihm hinüber: „Du fühlst dich unterfordert, Wilcox. Du scheinst alles zu besitzen, und doch bist du unzufrieden, weil du um nichts mehr kämpfen mußt.“

„Was meinst du damit? Worum sollte ich kämpfen?“ fragte Lord Kellinghurst erstaunt.

„Um das, worüber wir bereits sprachen, mein Freund. Du brauchst Aufregung, ein Abenteuer.“

Wilcox lachte. „Ja … ein Abenteuer.“ Sein Blick schweifte in die Ferne. „Doch der Krieg ist für uns vorüber, und das ist gut. Ich glaube, auf eine bestimmte Art hast du recht. Ich fühle mich unzufrieden, aber es geht mir nicht um die Aufregung des Krieges, sondern darum, meinem Leben einen neuen Sinn zu verleihen.“ Für einen Moment hielt er inne. „Manchmal fühle ich mich wie ein kleiner, belangloser Stern unter abertausend anderen am Abendhimmel.“

Wieder schwiegen die beiden Freunde. Draußen war es mittlerweile vollkommen dunkel geworden, und das Kaminfeuer war langsam heruntergebrannt. „Wilcox, ich fürchte, du bist mir heute zu ernst. Wahrscheinlich werde ich mich nach dem Essen zu den Kutschern zurückziehen müssen, um eine Runde Karten zu spielen. Vielleicht hätten wir doch lieber statt der beiden Fair­fax-Damen ein paar unserer alten Kameraden einladen sollen.“

„Verzeih, Thomas, aber ich bin nun mal in einer verdrießlichen Stimmung.“

Mitfühlend blickte Thomas seinen Freund an. „Schon gut, schon gut. Aber ein kleines Geheimnis mußt du mir noch verraten, Wilcox. Warum hältst du so standhaft an den Heiratsplänen mit Fiorinda fest, wenn dich die Vorstellung, mit ihr eine Familie zu gründen, so unglücklich stimmt?“

Wilcox warf ihm einen verärgerten Blick zu, woraufhin der Major seufzte. Wie oft hatten sie diese Diskussion schon geführt. Thomas konnte nicht begreifen, daß der Lord sich an eine Frau binden wollte, die er nicht liebte, nur um der Tradition genüge zu tun. Doch in diesem Punkt ließ Wilcox einfach nicht mit sich reden. Daher zuckte der Major nur leicht mit den Achseln und fügte hinzu: „Ich sehe schon, ein einmal gegebenes Versprechen willst du auch einhalten. Sprechen wir also nicht mehr über Fiorinda und ihre Mutter.“

Dabei hätte Wilcox genug Gelegenheiten gehabt, sich eine angenehmere Schwiegermutter zu suchen. Auf den Bällen der vergangenen Saison hatte Major Livingston erlebt, wie die jungen Frauen den schmucken Offizier umgarnten, ohne daß dieser etwas davon zu bemerken schien.

So, wie die Gentlemen Pferdewetten abschlossen, wurden in den Londoner Damenzirkeln hohe Summen darauf gesetzt, welcher der ihren die Ehre zuteil werden würde, von Wilcox beglückt zu werden. Je unerreichbarer das Ziel erschien, um so astronomischer wurden die Einsätze. Wilcox’ Liebesleben aber war und blieb stets ein weites Feld für Spekulationen.

Hatte jedoch eine von ihnen seine Aufmerksamkeit erregt, zog der Lord es im letzten Moment vor, keine verbindlichen Kontakte einzugehen. Trotz aller Widerstände ließ sich das schöne Geschlecht nicht davon abhalten, weiter um die Gunst des gutaussehenden Mannes zu werben. Die geflüsterten Beteuerungen der Lady Fairfax, einzig und allein ihre Tochter werde bald als Herrin auf Blenfield Park Einzug halten, schienen die Damen nur noch mehr anzuspornen.

Der sechste Lord Kellinghurst war schlank und gut gewachsen. Seit frühester Jugend an körperliche Ertüchtigung gewöhnt, besaß er den gestählten Körper eines Mannes, dem Trägheit und Völlerei fremd waren. Die Entbehrungen des Krieges hatte er mit vorbildlicher Haltung getragen, was nicht nur seinen stetigen Aufstieg unter dem Banner Seiner Majestät beschleunigte, sondern ihm auch die Bewunderung und Zuneigung aller ihm anvertrauten Matrosen und Soldaten eingebracht hatte.

In einem Alter, in dem junge, adlige Herren gerade aus der Aufsicht des elterlichen Hauses entlassen werden, nahm Lord Kellinghurst bereits den Rang eines Oberstleutnant bei der Infanterie ein. Mit Recht war seine Haltung die eines stolzen Mannes, ohne allerdings überheblich oder arrogant zu wirken.

Er war ein leidenschaftlicher Reiter. Die vielen Stunden, die er in der freien Natur verbrachte, hatten ihm einen frischen Teint verliehen und ließen ihn, trotz seiner dreißig Lenze, jünger erscheinen. Das blonde, dichte Haar umrahmte seine hohe, von Intelligenz zeugende Stirn. Der ausdrucksvolle Mund und das leicht hervorspringende Kinn zeugten von Charakterstärke und Entschlußkraft. In der Tat war seine Lordschaft mit allem ausgestattet, was einen attraktiven Mann ausmachte.

Doch seine wahre Schönheit verdankte er der Unergründlichkeit seiner geheimnisvollen blaugrünen Augen, deren Blick schon einige Damen erlegen waren.

„Heirat hin oder her“, der Major räusperte sich lautstark und kreuzte die Arme hinter seinem Kopf. „Weißt du, Wilcox, ich denke, es ist an der Zeit, dem wunderbaren Kalbsbries zuzusprechen, den François heute für uns zaubern wollte. Laß uns endlich essen. Ich habe einen Bärenhunger.“

Der Lord betätigte die Klingel, und ein Diener trat herein.

„Lassen Sie heute im grünen Eßzimmer auftragen. Wir erwarten keine weiteren Gäste.“

Wenn die beiden Freunde nicht in Gesellschaft waren, ließen sie sich häufig das Essen im angrenzenden Raum servieren, der nicht so prunkvoll ausgestattet war wie der große Speisesaal.

„Zu Diensten, Mylord.“

Ebenso lautlos wie der Diener erschienen war, verschwand er wieder.

„Siehst du, Thomas? Dank François findet dieser Tag einen glänzenden Abschluß. Es hat auch Vorteile, daß so viele Franzosen ihre Heimat verlassen mußten, um sich bei uns, ihrem Erzfeind, niederzulassen. Laß uns dennoch hoffen, daß uns der morgige Tag außer den beiden Damen noch andere Abwechslungen bieten wird.“

„Verflucht, alter Knabe, natürlich werden wir uns morgen wieder richtig amüsieren. Ich kann nicht glauben, daß du weiterklagst, wenn wir erst aufgesattelt haben!“ rief Livingston laut.

Wilcox lachte. Er hatte sich wieder einmal von der guten Laune seines Freundes anstecken lassen.

Gemeinsam begaben sich die beiden Männer in das grüne Eßzimmer, das diesen Namen trug, weil es mit lindgrünen Seidentapeten ausgestattet war.

„Wir können uns wirklich nicht beklagen“, stellte Major Livingston fest. Genußvoll betrachtete er das angerichtete Dinner und grinste seinen Freund breit an.

Wilcox warf ihm einen hämischen Blick zu. „Natürlich können wir uns nicht beklagen, und mit deinem ewigen Frohsinn wirst du es noch schaffen, daß ich mich für meine Unleidlichkeit schämen muß. Nun greif endlich zu!“ Vergnügt zwinkerte er dem Major zu.

Selbst wenn die beiden Männer unterschiedlicher Meinung waren und erhitzte Debatten führten, fanden sie spätestens an der reich gedeckten Tafel stets ein stilles Einvernehmen.

Auch nach dem Abendessen saßen sie noch lange zusammen und besprachen verschiedene Verwaltungsangelegenheiten. Draußen war es unterdessen ungemütlich geworden. Heftige Windböen rauschten durch die Baumkronen, und man konnte hören, wie der Regen stärker wurde.

„Ein scheußliches Wetter da draußen. Man würde keinen Hund vor die Türe jagen“, raunte der Major.

„Ja, du hast recht, Thomas. Unsere Vorfahren hätten in solch einer Nacht gemeint, daß böse Geister ihr Unwesen treiben. Diese alten Gemäuer können einen allerdings auch das Fürchten lehren, und die Phantasie sieht in jedem Winkel dunkle Gestalten.“

Der Wind pfiff heulend unter den Türritzen entlang, und Wilcox klingelte nochmals nach dem Diener, der unbemerkt zwei schwere Holzscheite nachlegte.

Die beiden Männer rückten näher an den Kamin heran, gossen sich einen Brandy ein und sprachen noch einige Zeit über ihre gemeinsamen Abenteuer. Erst lange nachdem die hohe Standuhr Mitternacht geschlagen hatte, zogen sie sich in ihre Schlafgemächer zurück.

Die Diener hatten gerade das Licht im Haus gelöscht, als sich der Wind in einen heftigen Sturm verwandelte und ein starkes Gewitter einsetzte. Das Klappern der Dachpfannen und das Brausen des Windes in den alten Kaminen wurden immer lauter. Unaufhörlich zuckten Blitze auf und tauchten Wilcox’ Gemach für den Bruchteil einer Sekunde in gleißendes Licht.

War es das tobende Unwetter, welches ihn nicht schlafen ließ, oder die Unruhe, die das Gespräch mit dem Major in seinem Innersten ausgelöst hatte?

Regen peitschte durch die Nacht, und der Sturm rüttelte an den Fenstern von Blenfield Park. ‚In Nächten wie diesen‘, dachte er, ‚sollte ein Mann nicht alleine sein.‘ Wilcox wälzte sich unruhig in seinem Bett hin und her. Die Laken hatten sich um seinen nackten Körper gewunden. Dennoch war ihm heiß, und er schob die seidene Bettdecke beiseite.

Dann erhob er sich und trat ans Fenster. Der Mond wurde von schweren Wolken verdeckt, und man konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Er lehnte seine erhitzte Stirn an das kühle Fensterglas und lauschte dem wütenden Unwetter.

Wieder erhellte ein Blitz die Nacht. Gedankenversunken sah er in den Park hinaus. Plötzlich stutzte er. War dort nicht etwas gewesen? Ihm war, als sähe er eine Gestalt geduckt über die Wiese laufen. „Das kann nicht sein“, flüsterte er zu sich selbst. „Mein überhitztes Gemüt läßt mich schon Gespenster sehen.“

Unwirsch wandte er sich vom Fenster ab und griff zu der Karaffe mit Quellwasser, die sein Kammerdiener jede Nacht für ihn bereitstellte. Er trank in durstigen Zügen. Kaum hatte er sich ins Bett gelegt und versuchte, erneut Schlaf zu finden, da hörte er ein zögerliches Klopfen.

Die Tür öffnete sich lautlos, und Stanton, sein Diener, betrat den Raum. „Verzeihen Sie, Mylord, ein junger Mann wünscht Sie zu sprechen.“

„Was, jetzt? Wissen Sie, wie spät es ist?“ Ungläubig erhob sich Wilcox von seinem Lager und griff nach dem kostbaren, mit Zobel verbrämten Morgenrock, einem Geschenk des Prinzregenten, das er dem Lord persönlich in Carlton House überreicht hatte.

„Die Uhr hat gerade die zweite Stunde geschlagen, Mylord, und ich bedauere die Störung außerordentlich, aber der Gentleman besteht darauf, Sie unverzüglich zu sprechen. Er scheint sehr aufgelöst zu sein.“

Verlegen verschränkte der Diener die Hände über der Brust und versuchte so, sein Nachthemd vor den Blicken seines Herrn zu verbergen. Wilcox lachte schallend auf: „Weiß Mrs. Stanton, daß Sie in dieser unpassenden Bekleidung nachts durch das Haus schleichen?“

„Ein Notfall, Mylord“, murmelte der Diener verlegen.

Wer konnte dieser geheimnisvolle Unbekannte sein? Wilcox war neugierig, ihn selbst zu sehen. Mit wenigen Schritten hatte er die Tür erreicht und lief eilig die Galerie entlang, vorbei an den Gemälden seiner Ahnen, die in schweren, goldenen Rahmen von den Wänden hingen. ‚Wenigstens werde ich heute nacht für die Langeweile des Tages entschädigt‘, dachte er bei sich. An der Treppe blieb er stehen und blickte in die Halle.

Stanton hatte vorsorglich Feuer im großen Kamin gemacht. Sichtlich erschöpft, lehnte der nächtliche Eindringling am Sims und hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen. Für einen Augenblick hielt Wilcox inne. Diese Haltung kam ihm vertraut vor. Der Fremde hatte ihm den Rücken zugewandt und ahnte nicht, daß er aufmerksam beobachtet wurde.

Es war etwas an ihm, das Wilcox seltsam rührte. Obwohl er sein Gesicht nicht sehen konnte, wußte er, daß der nächtliche Gast sehr jung sein mußte.

Er trug eine abgewetzte, aber gut sitzende Samtjacke, die vorzüglich seinen wohl proportionierten Oberkörper hervorhob. Er war schlank gewachsen, und alles an seiner Haltung war edel und aristokratisch. Sein Körper ruhte auf kräftigen Schenkeln, die sich nur zu deutlich unter dem Stoff seiner Hose vorteilhaft abzeichneten.

Wilcox erkannte auf den ersten Blick, daß sein Besucher einen langen Ritt hinter sich hatte. Die Stiefel waren kotbespritzt, und er schien im Stehen zu schlafen.

„Was kann ich für Sie tun, junger Freund?“ Langsam schritt Wilcox die Treppe hinunter.

Obwohl die Kellinghursts von jeher bekannt waren für ihre Zurückhaltung, fühlte Wilcox eine unerklärliche Nähe zu dem Unbekannten am Kamin. Der Angesprochene drehte sich um. Überrascht blieb Wilcox stehen. So viel Schönheit auf einmal hatte er noch nie bei einem Menschen gesehen.

Das blasse Gesicht des jungen Mannes war umrahmt von schwarzem, welligem Haar, das ihm sanft auf die Schultern fiel. Er hatte blaue Augen, unter denen ein leichter Schatten lag, und eine gerade, schmale Nase. Sein hervorstechendstes Merkmal waren jedoch die vollen, sinnlichen Lippen. Es bestand kein Zweifel: Er war kein Engländer.

Er blickte Wilcox offen ins Gesicht. „Monsieur, verzeihen Sie mein nächtliches Eindringen. Ich habe eine weite Reise hinter mir und weiß keinen anderen Menschen, an den ich mich wenden kann.“ Hoffnungsvoll machte er einen Schritt auf Wilcox zu. „Sie werden sich meiner kaum erinnern.“

„Sollte ich?“ Wilcox war verwirrt. Wer war dieser Fremde? „Bitte klären Sie mich auf. Ich muß gestehen, Sie haben mich neugierig gemacht.“ Wilcox stand immer noch auf der imposanten Marmortreppe und betrachtete den jungen Mann.

Der geheimnisvolle Gast hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und lächelte zaghaft.

„Mein Name ist Philippe de la Cour. Unsere Mütter waren miteinander befreundet.“

Der Lord überlegte einen Moment, doch dann kam ihm die Erinnerung. „Mein Gott, Philippe!“ Mit zwei Sätzen war er beim Kamin und umfaßte die Schultern des jungen Franzosen. „Aber natürlich erinnere ich mich an dich. Das letzte Mal, als wir uns sahen, hast du versucht, Schmetterlinge zu fangen, um mich zu beeindrucken. Aber es muß mehr als zwölf Jahre her sein. Aus dir ist inzwischen ein Mann geworden.“

Philippe lachte verlegen. „Ja, damals war ich sechs, und ich hatte nur den einen Wunsch, so zu werden wie du.“

Charlotte Anstruther, Philippes Mutter, war mit Lady Kellinghurst aufgewachsen und eng mit ihr befreundet gewesen. Auch nach ihrer Hochzeit mit dem Grafen de la Cour war sie immer wieder nach England zurückgekehrt, um den Sommer mit ihrer Freundin auf Blenfield zu verbringen. Wilcox hatte Philippe das letzte Mal als Jungen gesehen. Damals hatte ihn dieser mit seiner kindlichen Verehrung überschüttet und war ihm überallhin gefolgt. Auch Wilcox hatte den Gefährten sofort in sein Herz geschlossen.

Philippes Mutter pflegte, an Lady Kellinghurst gewandt, zu sagen. „Siehst du, meine Liebe? Unsere innige Freundschaft findet in den Herzen unserer Söhne ihre Fortführung.“

Nach dem Tod der Gräfin war der Kontakt der Familien allerdings abgebrochen, und so hatte er Philippe aus den Augen verloren. Seit Napoleon Europa mit seinen Kriegen unsicher machte und England durch die Kontinentalsperre blockierte, war es außerdem sehr schwer geworden, Post zu versenden oder gar vom Kontinent zu empfangen. Trotzdem hatte er in all den Jahren immer wieder an seinen jungen Freund denken müssen und sich gefragt, was wohl aus ihm geworden war.

„Aber wie bist du hierhergekommen?“ Wilcox war sichtlich erstaunt. „Seit Monaten ist kein Schiff mehr vom Kontinent zu uns durchgedrungen.“

„Ich hatte Glück“, flüsterte Philippe und sank kraftlos in sich zusammen. Wilcox rückte einen Sessel vor das wärmende Kaminfeuer. „Stanton! Brandy!“ Kraftvoll tönte der Befehl durch die Halle.

„Du bist ja vollkommen durchnäßt. Zieh deine Jacke aus!“ Dankbar überließ sich Philippe Wilcox’ Fürsorge, doch immer wieder blickte er gehetzt zur Tür.

Wilcox, dem dies nicht entging, sagte mit beruhigender Stimme: „Sorge dich nicht, Philippe, bei mir bist du sicher. Niemand wird es wagen, dir etwas zuleide zu tun, solange du unter meinem Schutz stehst.“ Dankbar schaute ihn Philippe an, und mit einem erleichterten Seufzen sank er in den Sessel zurück. Die Wärme des Kaminfeuers tat ihm wohl.

Langsam begann er seine Umgebung wahrzunehmen. Die Marmorsäulen leuchteten hell im Schein des Feuers auf, doch trotz der enormen Größe wirkte die Eingangshalle von Blenfield freundlich und einladend.

‚Wie prächtig und gemütlich zugleich dieser Raum doch ist‘, dachte Philippe und nahm den Brandy entgegen, der ihm gereicht wurde. Instinktiv spürte er, daß er hier endlich außer Gefahr war.

Wilcox hatte ihm gegenüber Platz genommen und betrachtete ihn interessiert. „Aber sag mir, Philippe, warum hast du die Gefahr auf dich genommen und bist nach England gekommen? Wenn du den Häschern dieses Schurken Napoleon in die Hände gefallen wärst, hätte er dich einsperren lassen!“

„Ich mußte fliehen, Wilcox.“ Der junge Franzose stöhnte leise auf. „Verzeih, aber die Erinnerung an die letzten Tage quält mich.“ Stockend begann er zu erzählen.

„Mein Vater, der Graf de la Cour, nahm vor wenigen Wochen an einem Bankett teil, das auf einem benachbarten Schloß zu seinen Ehren gegeben wurde. Auch Polizeiminister Fouché war anwesend, obwohl er wußte, daß mein Vater ein erbitterter Gegner der Regierung Napoleons war. Als mein Vater sich nach dem Essen in seine Gemächer zurückzog, überfiel ihn ein heftiges Fieber. Er starb noch in derselben Nacht. Diese grausame Botschaft erreichte mich erst am nächsten Tag.“ Er hielt kurz inne und schaute in das Kaminfeuer. „Sofort bin ich zu dem Ort des Unglücks geeilt, um mich dieser schrecklichen Wahrheit zu vergewissern. Aber schon am Portal des Schlosses erwarteten mich die Soldaten des Ministers, die mich zum Verhör nach Paris bringen sollten. Nur mit knapper Not entkam ich ihnen, und seitdem bin ich auf der Flucht. Mein Vater wurde vergiftet, dessen bin ich gewiß!“ Philippe seufzte leise, und ein Beben erfaßte ihn.

Wilcox hatte stumm zugehört. Nun blickte er auf und sagte entschlossen: „Bei Gott, niemand wird es wagen, dir ein Haar zu krümmen, solange du auf Blenfield bist. Aber wir müssen deine Identität verheimlichen.“

Tatendurstig sprang er auf und begann auf und ab zu gehen. „Ich werde einfach behaupten, du seiest ein entfernter Cousin aus Shropshire. Niemand wird Verdacht schöpfen.“

„Ich weiß, bei dir bin ich sicher. Das spürte ich, als ich dich sah.“ Hilfesuchend ergriff Philippe seine Hand.

Verunsichert sah Wilcox ins Kaminfeuer. Es war offensichtlich, daß der junge Mann vor Erschöpfung außer Fassung geraten war. Sanft löste er sich aus dem Händedruck und sprach beruhigend auf seinen Gast ein. „Du solltest jetzt zu Bett gehen. Morgen, wenn du dich erholt hast, werden wir besprechen, was zu tun ist. Vielleicht hat ja Livingston eine Idee.“

„Wer ist Livingston?“ fragte Philippe mißtrauisch.

Wilcox beruhigte ihn umgehend. „Mach dir wegen Thomas keine Sorgen, der hat für euren Kaiser genausoviel übrig wie die Beduinen für Skorpione. Außerdem ist er mein bester Freund und engster Vertrauter.“

Philippe lächelte verlegen. „Verzeih, ich bin etwas mitgenommen von der Flucht.“

„Und außerdem gehörst du wirklich ins Bett.“ Entschieden erhob sich Wilcox und läutete. „Stanton, begleiten Sie unseren Gast in sein Schlafzimmer, und sorgen Sie dafür, daß es ihm an nichts fehlt.“ Auch Philippe hatte sich erhoben und folgte nun dem Diener zur Treppe. Auf dem Absatz drehte er sich um und sagte schüchtern: „Meine Mutter wollte immer, daß ich mir an dir ein Beispiel nehme. Sie hatte recht.“ Mit diesen Worten überließ er Wilcox, der in der Halle zurückblieb, seinen Gedanken.

Kapitel II

Als Livingston am nächsten Morgen das Speisezimmer betrat, saß Wilcox bereits am Tisch und verschlang mit großem Appetit köstlich duftende Würstchen – eine weitere Spezialität von François. Mit einem leichten Lächeln quittierte der Major dieses ungewöhnliche Verhalten. Normalerweise konnte er seinen Freund morgens kaum zu einer Tasse Tee überreden.

‚Was eine geruhsame Nacht alles vermag‘, dachte der Major bei sich.

Schwungvoll erhob sich Wilcox und trat auf ihn zu.

„Es ist ein wunderbarer Tag heute. Wir haben viel zu erledigen, Thomas!“

Der Major blickte seinen Freund schmunzelnd an. So fröhlich hatte er ihn lange nicht mehr erlebt.

„Siehst du, Wilcox. Habe ich es dir nicht gesagt? Gestern abend warst du nur schlechter Laune. Heute sieht alles schon ganz anders aus. Willst du etwa den ganzen Teller da aufessen?“

Lord Kellinghurst lachte vergnügt, während der Major fortfuhr.

„Denk daran, daß wir den Pächtern einen Besuch abstatten müssen, nachdem wir die Jagdroute abgeritten haben. Der Sturm heute nacht hat sicherlich neue Schäden angerichtet. Ich weiß allerdings nicht, ob dein Hengst dich und deinen gefüllten Magen solange tragen kann.“

Der Lord lachte. „Keine Bange, mein Bester, ich fühle mich trotz des opulenten Frühstücks leicht wie eine Feder.“ Die Augen von Wilcox glänzten, während er sich eine Tasse Tee einschenkte.

Livingston beobachtete seinen Freund unauffällig. Zufrieden bemerkte er, daß Wilcox wieder in Hochform war. Doch woher kam dieser plötzliche Umschwung?

„Erzähl mir, was dich heute so glücklich stimmt. Liegt es daran, daß du gut geschlafen hast, oder möchtest du vielleicht doch dein Gestüt erweitern? Wie ich höre, will der alte Hartfield seine Araber loswerden.“

„O nein“, antwortete der Lord. „Mir schwirren zwar viele Gedanken durch den Kopf, aber am wenigsten denke ich über Araberhengste nach. Wir haben heute nacht einen unerwarteten Gast bekommen.“

Der Major blickte ihn überrascht an. „Langsam, Wilcox. Wovon redest du? Welchen Gast meinst du denn? Also, ich für meinen Teil hatte heute nacht leider keinen Besuch. Jedenfalls erinnere ich mich nicht daran.“

„Iß erst mal etwas.“ Mit diesen Worten griff Wilcox nach dem Teller des Majors und begann ihm eine gehörige Portion Eier und Speck aufzuladen. Nachdem er sich wieder zu ihm gesetzt hatte, forderte ihn der Major auf, endlich zu erzählen.

„Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll. Ich kenne Philippe noch aus meiner Jugend. Damals war er allerdings ein kleiner Knirps von sechs Jahren, und ich bin unendlich glücklich, ihn nach all der Zeit wiederzusehen. Aber fangen wir ganz von vorne an. Erinnerst du dich an Charlotte Anstruther? Ich habe dir bestimmt von ihr erzählt.“

Livingston, der sich nicht an sie erinnerte, merkte jedoch, daß es mit diesem Namen eine ganz besondere Bewandtnis auf sich haben mußte. Anders konnte er sich die Erregung seines Freundes nicht erklären.

„Erzähl endlich. Wer ist diese Charlotte? Der Name klingt verheißungsvoll.“

Lord Kellinghurst lachte auf und blickte amüsiert über den Tisch. „Nein, nein, du mißverstehst mich, Thomas. Es handelt sich nicht um ein amouröses Abenteuer. Charlotte Anstruther war eine Freundin meiner Mutter und lebte in Frankreich. Nicht sie ist gekommen.“

Nachdenklich hielt er inne, was seinen Freund noch gespannter machte. Unruhig klapperte Livingston mit seinem Teelöffel.

„Stell dir vor, ihr Sohn, den ich seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen habe, mußte aus Frankreich fliehen. Tagelang war er unterwegs und ist heute nacht vollkommen erschöpft hier auf Blenfield angekommen.“

Jetzt konnte der Major die ganze Aufregung verstehen, und der Funke des Abenteuers sprang auch auf ihn über. „Und wo steckt nun dein geheimnisvoller Gast?“

„Gedulde dich noch ein wenig. Der junge Mann hat eine gefährliche Flucht hinter sich. Wir wollen ihm etwas Ruhe gönnen. Auch ich bin noch nicht über die genauen Einzelheiten unterrichtet. Fest steht nur, daß der Schurke Napoleon seine Finger im Spiel hat.“

Wenn es um den alten Feind ging, konnte selbst der bequeme Major außer Fassung geraten. „Wie gedenkst du ihn zu schützen?“ fragte er besorgt. „Wir beide wissen, daß die französischen Häscher auch in England ihr Unwesen treiben.“

Wilcox war nachdenklich geworden. In letzter Zeit war es des öfteren vorgekommen, daß französische Adelige, die sich in der Gegend versteckt hielten, gewaltsam entführt und in ihre Heimat zurückgebracht wurden. Dort überantwortete man sie dann dem Henker – wie den unglücklichen Herzog von Enghien, den Napoleon aus dem Ausland entführen ließ, um ihn in Frankreich erschießen zu lassen.

„Du weißt, daß ich Lügen verabscheue. Aber in diesem Fall bleibt mir nichts anderes übrig, als Philippes wahre Herkunft zu verheimlichen. Ich werde ihn als einen Cousin ausgeben.“

Der Major nahm eine gespannte Haltung ein, während Wilcox fortfuhr. „Philippe entstammt dem französischen Hochadel. Die la Cour sind eine sehr einflußreiche Familie und entschiedene Gegner Napoleons. Deshalb sind sie ihm ein Dorn im Auge. Die Verhältnisse haben sich so zugespitzt, daß Philippe in Frankreich seines Lebens nicht mehr sicher ist.“

Kaum hatte er diesen Satz beendet, wurde die Tür leise geöffnet, und ein blasser, junger Mann betrat zögernd den Raum.

„Ah, hier kommt ja unser nächtlicher Besucher.“ Der Major war aufgesprungen und schüttelte dem Jungen herzlich die Hand. Philippe lächelte verlegen und nahm am Tisch Platz.

„So wie Sie aussehen, haben Sie sicher einen Bärenhunger. Greifen Sie zu!“ Livingston schob ihm eine Platte mit pochierten Eiern und Würstchen hin. „Bei uns in England legt man Wert auf ein herzhaftes Frühstück.“ Der Major lachte. Wilcox hatte sofort beim Eintreten des Jungen bemerkt, daß dieser dunkle Ringe unter den Augen hatte. Aufmunternd trat er auf ihn zu und fragte: „Hast du nicht gut geschlafen?“

Philippe senkte den Blick. „Ich hatte schreckliche Träume. Ich sah meinen Vater im Todeskampf, und immer wieder wurde ich von einer dunklen Gestalt verfolgt.“

Tröstend legte Wilcox dem jungen Mann seine starken Hände auf die Schultern. „Ich habe versprochen, dich zu schützen. Hier kann dir nichts geschehen. Du mußt deine finsteren Träume vergessen.“

In kurzen Worten schilderte Wilcox dem Major, was er in der Nacht über Philippes Flucht erfahren hatte. Dann wandte er sich wieder an seinen Schützling.

„Erzähl uns genau, was nach dem Tod deines Vaters geschehen ist.“

Philippe ballte die Fäuste. „Als ich das Schloßtor erreichte, erwarteten mich die Soldaten des Polizeiministers. Man wollte mich nicht zu meinem toten Vater lassen. Statt dessen wurde ich verhört und sollte nach Paris gebracht werden. Sie schlugen mich, und nur durch eine List gelang es mir, meinen Peinigern zu entkommen. Als Bauernbursche verkleidet, gelangte ich an die Küste und versteckte mich auf einem Schiff, das Schmuggelware über den Kanal brachte. Ich hatte seit Tagen nichts gegessen.“ Philippe stöhnte leise. „Es waren die schrecklichsten Tage meines Lebens.“

Wilcox sprang erregt auf und warf seine Serviette zu Boden. „Diese Schurken! Man weiß, wozu diese Teufel imstande sind.“