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Impressum

Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

Erste Auflage März 2013

Lektorat: Veit Schmidt

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos vom Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek ÖNB/Wien, Bildnummer 74944B

ISBN 978-3-89656-xxx-x

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Akazienstraße 25, 10823 Berlin

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1

Ein erregter bürgerlicher Schneider und ein gelassener, nur auf den ersten Blick ebenso bürgerlicher Hofrat sind verschiedener Meinung.

Randalierende Nazi hatten am Wochenende im Arbeiterbezirk Simmering ein Rotes Parteilokal überfallen, es waren Tote und Verletzte zu beklagen gewesen, und die Polizei hatte dabei – ganz wie das von der Staatsführung gerne gesehen wurde – eine unrühmliche Rolle gespielt; abwartend zunächst und in der Folge vandalisch im „roten Unterschlupf“.

Deshalb herrschte im Präsidium nicht die übliche montägliche Unentschlossenheit, ob mit der Arbeit zu beginnen sei oder doch lieber der Sonntag einen unbeschwerten Ausklang finden sollte; nein, in dem prächtigen Gebäude am Schottenring 11 summte und brummte es wie in einem Bienenstock: Eiliges Hin und Her auf den Gängen, Sitzungen wurden einberufen, Pressemeldungen ausgegeben, Dementi formuliert und Sündenböcke gesucht – kurz, es gab zu tun.

Das Bureau von Hofrat Bubetz hätte auch in der Aufgescheuchtheit dieses Tages jene friedliche Insel sein können, die sie immer war, wäre da nicht Kommerzialrat Kuhlmann gewesen.

Karl Kuhlmann, christlichsozialer Schneider und Eigentümer des Modepalais Kuhlmann auf der Mariahilferstraße, verlangte hartnäckig die Aufklärung des Mordes an seinem Sohn Karl Kuhlmann junior, den die Behörde längst und seiner Meinung nach sehr voreilig als Selbstmord zu den Akten gelegt hatte.

Der Wirkliche Hofrat Bubetz, der sich auch noch mit dem Titel Polizeidirektor schmücken durfte – was in der Hierarchie fast ganz oben bedeutete, drei Monate vor der Pensionierung aber nichts wirklich Glanzvolles war –, dieser Hofrat versuchte nun seit geraumer Zeit dem renitenten Schneider, der rechts von ihm an der Schmalseite des Schreibtisches saß, zu erklären, dass er sich in etwas verrenne, wenn er den Selbstmord seines Sohnes einem stadtbekannten Rechtsanwalt und dessen Mandanten in die Schuhe schieben wolle.

„Der Tod Ihres Sohnes hat mit den beiden Herren nichts zu tun. Wie oft darf ich Ihnen das noch versichern?“

Karl Kuhlmann junior, Schneiderlehrling – und in den Kreisen, in denen er verkehrt hatte, als Charly bekannt gewesen –, war am Morgen eines späten Maitages im Schönbrunner Schlosspark von ersten Spaziergängern tot in der Römischen Ruine gefunden worden. Er hatte einen Abschiedsbrief in der einen und einen Revolver in der anderen Hand gehalten, und die Polizei stellte aufgrund der Sachlage fest, dass der Sechzehnjährige sich selbst das Leben genommen haben musste.

Karl Kuhlmann senior – Wiens Modewelt als „Charles“ Kuhlmann ein Begriff – blickte den Beamten wortlos an und vermittelte damit recht deutlich den Eindruck, dass er vorhatte, hier sitzen zu bleiben, bis er endlich zu hören bekommen würde, was er zu hören wünschte: Dass nämlich ein Homosexueller seinen Sohn umgebracht oder wenigstens erwiesenermaßen in den Tod getrieben hatte, unterstützt von Dr. Kort, diesem Anwalt, der dafür bekannt war, Leute, die wegen Unzucht wider die Natur vor Gericht standen, zu verteidigen.

Der Hofrat fühlte seines Gastes Entschlossenheit, nicht eher weichen zu wollen, als bis die Schuld jenes Mannes und seines Anwalts eingestanden würde, und er griff zu versöhnlicheren Tönen: „Glauben Sie nicht, dass ich Ihren Schmerz nicht nachvollziehen kann“, sprach der Hofrat. „Aber der tragische Tod Ihres Sohnes hat mit Dr. Kort und seinem Mandanten nichts zu tun.“

„Aber der Mann hat Karl die Waffe gekauft“, wandte Kuhlmann trotzig ein.

„Das bestreitet er vehement, und wir können es ihm nicht nachweisen. Und wer sonst Ihrem Sohn behilflich gewesen sein könnte, den Revolver zu erwerben, ist nicht festgestellt. Aber“, versuchte Bubetz das Gespräch auf nüchterne Fakten zu reduzieren, „selbst wenn Herr Dr. Kort oder sein Mandant Ihrem Sohn zu diesem illegalen Waffenbesitz verholfen haben sollte – und ich muss betonen: sollte! –, dann wäre derjenige trotzdem nicht unmittelbar schuld daran, wenn Ihr Sohn sich später mit eben dieser Waffe das Leben nimmt.“

„Sie haben ihn dazu gezwungen, sich zu erschießen. Deshalb haben sie ihm die Waffe besorgt!“ Vater Kuhlmann war nahe daran, die Fassung zu verlieren. „Und wer ist denn überhaupt dieser Mandant?“, forderte er zu wissen.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen“, zog sich der Hofrat auf seine Amtsverschwiegenheit zurück. „Aber was Dr. Kort vorgetragen hat, ist sehr glaubwürdig. Das steht im Akt, und das kann ich Ihnen daher sagen. Sie haben es wahrscheinlich ohnehin schon in den Zeitungen gelesen. Dr. Kort hat zu Protokoll gegeben, Ihr Sohn Karl hätte gemeinsam mit zwei anderen Lehrlingen seinen Mandanten mit der Behauptung zu erpressen versucht, er habe sie zu Unzucht wider die Natur verführt, was – wie Dr. Kort betont – natürlich nicht der Fall war. Dr. Kort hätte dann, so sagt er, in seiner Kanzlei den drei Lehrlingen klargemacht“, referierte der Hofrat weiter, „dass die Härte des Gesetzes nicht nur seinen Mandanten, sondern auch die Burschen selbst treffen würde; und wenn schon nicht wegen Unzucht wider die Natur, so doch wegen versuchter Erpressung, denn dass sein Mandant das angeben würde, war klar.“

Charles Kuhlmann kannte diese Rechtfertigung des Herrn Dr. Kort. Sie war in den Blättern genüsslich ausgewalzt worden, glücklicherweise ohne zu Umsatzeinbußen im „Modepalais Kuhlmann“ zu führen. Der Kommerzialrat glaubte davon jedoch kein Wort. Er glaubte an Verführung seines Sprosses, erst zur Unzucht, dann zum Selbstmord. Wieder mit diesen Gedanken konfrontiert zu sein, schien den Mann zu verstören; er sank kurz ein wenig zusammen und wurde blass.

„Darf ich Ihnen ein Glas Wasser bringen lassen?“, erkundigte sich Bubetz betont anteilnehmend, aber Kuhlmann schüttelte schweigend den Kopf, blickte aus dem Fenster auf die im leichten Wind sich ablösenden späten Blätter an den Bäumen und Hofrat Bubetz nahm einen neuen Anlauf zur Güte: „Wir wissen doch beide, dass Ihr Sohn in sehr unsicheren Kreisen verkehrt hat, und bei der Art, wie er sich dort extra Taschengeld verschafft hat, ist es doch nur zu verständlich, dass er sich eine Waffe besorgt hat, um sich gegebenenfalls schützen zu können.“

Derlei wollte Charles Kuhlmann nicht hören. Die Erinnerung an den Sohn musste rein gehalten werden; er schüttelte zweifelnd den Kopf. „Und wenn einer einen Revolver kauft, um sich zu schützen, schießt er sich dann damit eine Kugel in den Kopf?“, fragte er mit provokantem Blick auf den Beamten. „Das ist doch ganz und gar unlogisch!“

„Es muss aber so gewesen sein“, beharrte der Hofrat auf der amtlichen Version. „Ihr Sohn hat in dem Abschiedsbrief doch selbst geschrieben: ,Ich habe schwer gesündigt und muss jetzt sterben. Verzeiht Eurem auf Abwege geratenen Sohn.‘“

Die Polizei ging davon aus, dass der Abschiedsbrief, den der Lehrling in der toten Hand gehalten hatte, wegen seines wehmütigen Stils an die Mutter gerichtet war. Lange hatte Vater Kuhlmann den Brief als eine Fälschung verteufelt, schließlich hatte er sich den Gutachten der beiden Graphologen – des eigenen und dem der Polizei – ergeben. Aber immer noch hatte er Einwände. „Dazu hat man ihn gezwungen“, blieb Kommerzialrat Kuhlmann unnachgiebig. „Man hat ihn gezwungen, den Brief zu schreiben.“

Hofrat Bubetz war nahe daran, die Fassung zu verlieren. Er blickte seufzend nach oben, dann hinaus auf die schräg vis-à-vis hockende Börse, bevor er sich wieder an seinen Besucher wandte.

„Dass sich – Sie entschuldigen schon – Ihr Sohn in sehr fragwürdiger Gesellschaft herumgetrieben hat, wissen wir. Aber wer, bitte, sollte sich die Mühe machen, sich mit ihm abends in den Schönbrunner Schlosspark einsperren zu lassen, ihn zu der Römischen Ruine zu locken, ihn zu zwingen erst einen Abschiedsbrief zu schreiben und sich dann zu erschießen? Außerdem, ich muss es noch einmal sagen: Es gibt keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung.“

Und nun, das wusste Bubetz, würde Kuhlmann sein Ass aus dem Ärmel holen, und zwar den zweiten Abschiedsbrief, den nicht die Polizei, sondern erst der Bestatter gefunden hatte; eingenäht im Futter des Jacketts, das er hinten aufgeschnitten hatte, um es dem Toten anziehen zu können für seinen letzten Weg.

„Und der zweite Brief?“, bestätigte Kuhlmann die Erwartung des Hofrats. „Wie klingt dieses: ,Wenn mir etwas zustoßen sollte, wendet Euch an Dr. Kort‘? Und es hat den Leichenbestatter gebraucht, damit Licht in die Sache mit dem Selbstmord“, er betonte hämisch die Silbe „selbst“, „meines Sohnes kommt, nicht wahr?“

Bubetz musste sich eingestehen, dass dies tatsächlich ein wunder Punkt war in der amtlichen Argumentation. Offenbar hatte sich Karl Kuhlmann junior nicht sicher, ja vielleicht sogar bedroht gefühlt und deshalb diesen zweiten Brief geschrieben und – ein Leichtes für einen Schneiderlehrling – in das Jackett eingenäht.

Derart in die Defensive geraten, sann Bubetz, wie er das Gespräch wieder auf einen für ihn sicheren Pfad lenken könnte, aber Kuhlmann fühlte Oberhand zu gewinnen und ließ sich nicht beirren. „Und was hat mein Sohn, bitte, draußen in Hietzing gemacht? Und warum wurde er auf der Römischen Ruine gefunden?“

„Das ist rätselhaft“, räumte der Hofrat ein. „Da haben Sie recht. Ich habe keine Ahnung. Eine romantische Anwandlung vielleicht, um seinem Drama eine angemessene Kulisse zu geben?“

Glücklicherweise überhörte Kuhlmann das in seiner Erregung: „Aber Sie sind doch ‚die beste Polizei der Welt‘, wie sie immer so gerne von sich selbst behaupten. Und Sie wissen sonst ja immer alles, da müssten Sie doch wissen, wie solche Verbrechen vor sich gehen.“

Bubetz weigerte sich, auf unsachliche Anwürfe zu reagieren; er schwieg, indes Kuhlmann mit immer neuen Fragen auffuhr: „Und was ist mit dem Wirt, bei dem mein Sohn gegessen hat? Warum kann sich der an den Karl erinnern, aber nicht an seinen Begleiter? Und: Haben Sie den Mandanten von Dr. Kort dem Wirt vorgeführt?“ Er starrte dem Beamten hasserfüllt in die Augen. „Nein, nicht wahr?“

Bubetz versuchte mit Fakten zu parieren: „Weil es keinen Begleiter gab. Der Wirt sagt, Ihr Sohn war allein. Daher hat es keinen Sinn, ihm Dr. Kort und dessen Mandanten vorzuführen.“

Wie alles, das sich nicht in sein Bild vom schlimmen Ende seines Sohnes fügte, wies Kuhlmann auch diesen Einwand zurück. „Der Wirt wird unter Druck gesetzt. Oder er ist bestochen. Aber der Beranek, der sich gewiss erinnern könnte, wer um meinen Sohn herumscharwenzelt ist in den letzten Wochen, wurde dem der geheimnisvolle Mandant vorgeführt?“

Schneidermeister Rudolf Beranek war der Lehrherr des Karl Kuhlmann junior gewesen; er hatte die ganze tragische Geschichte ins Rollen gebracht, indem er Vater Kuhlmann über die abartigen Verehrer informiert hatte, die sein Sohn im Salon empfing. Einbezogen in die Ermittlungen hatte man den Beranek aber nicht; wozu auch, stand doch fest, dass Kuhlmann junior sich selbst in den Kopf geschossen hatte.

„Man müsste doch nur den Dr. Kort ordentlich in die Mangel nehmen“, regte der Kommerzialrat an. „Dann wäre die Angelegenheit rasch aufgeklärt! Aber genau das darf ja nicht sein!“

Hofrat Bubetz seufzte und schwieg; ob schuldbewusst oder bloß ermüdet, ließ sich aus dem Gesicht des Beamten nicht ablesen, sicherlich aber nicht gelangweilt. Kuhlmann deutete es als uninteressiert und erhob, mit gestrecktem Zeigefinger auf Bubetz im Takt seiner Anschuldigungen hinhackend, die Stimme: „Nein! Alles das haben Sie nicht gemacht! Ja, Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, meinen Sohn zu obduzieren! Wer weiß, vielleicht war er von Drogen umnebelt, als er die Waffe vielleicht – und ich sage bewusst: vielleicht! – selbst gegen sich gerichtet hat! Mit dem Mörder als Zuschauer!“

Der junge Kuhlmann, das hatte auch Bubetz erkannt, obwohl er keinerlei Schwächen in diese Richtung hatte, war ein außerordentlich attraktives Bürschchen gewesen. Ein sanftes Jünglingsgesicht, in dem aber auch Verkommenheit zu lesen war, vor allem für jene, die eine Vorliebe und daher auch den Blick dafür hatten. Und es dürften einige gewesen sein, die um Charly Kuhl­mann „herumscharwenzelten“, wie der Vater das nannte. Näher darauf einzugehen wollte der Hofrat dem Vater nicht zumuten; er versuchte es möglichst nüchtern zu formulieren. „Ich bin für Mord und Totschlag nicht wirklich zuständig“, nahm er einen neuen Anlauf, dem Mann klarzumachen, dass sein Sohn sich auf schwankenden Boden begeben hatte. „Und ich kann auch nichts dafür, dass es Menschen gibt, wie jene, mit denen Ihr Sohn offensichtlich Umgang pflegte. Und das zunächst wohl nicht zu seinem materiellen Schaden. Und ich weiß auch, dass man über Tote nur Gutes sagen soll, aber wir sind in unserem Beruf auf Tatsachen angewiesen, Herr Kommerzialrat, und die Fakten sprechen eine unmissverständliche Sprache.“

Kuhlmann schwieg trotzig. Die Fakten sprachen in seinen Augen in der Tat eine sehr klare Sprache, die aber von der Polizei absichtlich missverstanden wurde.

„Ich gehe davon aus, dass Ihnen der Umgang Ihres Sohnes nicht bekannt war“, fuhr Bubetz ruhig fort, „und ich will Sie auch nicht mit Einzelheiten darüber quälen. Aber glauben Sie mir, Ihr Sohn war bereits in einer kriminellen Laufbahn unterwegs, wie sie mir bei jemandem in seinem Alter und aus Ihren Kreisen noch nicht untergekommen ist.“

Das war hart, aber der Hofrat hatte für das Amt eine Position zu verteidigen, und wenn der halsstarrige Mann anders nicht von der Unsinnigkeit seiner Behauptungen überzeugt werden konnte, dann ging es eben nur so.

„Schau’n Sie, was soll ich machen?“, fuhr der Hofrat fort. „Ich kann mich nur an der Aktenlage orientieren. Und die ist recht klar. Es kann kein Zweifel bestehen, dass sich Ihr Sohn Karl selbst getötet hat.“

„Ja, ja! Ich weiß!“, warf Kuhlmann betont gelangweilt und halblaut ein.

„Was ihn dazu gedrängt hat, das zu klären ist nicht unsere Aufgabe. Es gäbe viele Aspekte, die da infrage kommen. Ich kenne Selbstmörder, die von ihren Beichtvätern in den Tod getrieben wurden. Und oft spielt eine Rolle auch das Familienleben.“

Kommerzialrat Charles Kuhlmann, katholischer, gewerbetreibender und recht alter Familienvater, war damit schwer angeschlagen. Bubetz hatte ihn dort getroffen, wo die Wurzel zu finden war für seine renitente Weigerung, die Sache zu akzeptieren: bei seinem schlechten Gewissen. Er hatte es oft geahnt, hatte sich wieder und wieder vorgenommen, energisch einzuschreiten und dem offenkundig befremdlichen Lebenswandel des Sohnes ein Ende zu machen. Von Internaten war die Rede gewesen, doch hatte Karl genau gewusst, dass irgendein Internat sich mit seiner Schneiderlehre nicht in Einklang bringen lassen würde, aber die Schneiderlehre war unabdingbar für die Nachfolge im väterlichen Betrieb. Außerdem fand der Junior in allen diesen Auseinandersetzungen stets eine sehr beredte Fürsprecherin in seiner Stiefmutter, die sich solcherart Zuneigung des Kindes aus der ersten Ehe des strengen Gatten zu erwirtschaften hoffte und sich in diesen Debatten immer durchsetzte. Überschattet war das Familienleben der Kuhlmanns überdies von der schweren chronischen Krankheit des jüngeren Sohnes Gustav, der alle Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zog, sodass Karl – im Windschatten des langsamen Sterbens seines Stiefbruders – die Möglichkeit hatte, zu tun und zu lassen, was er wollte.

Ohne über die erstaunlichen Fähigkeiten von Edgar Allan Poes Urbild aller Ermittler – des von ihm hoch verehrten C. Auguste Dupin – zu verfügen, wusste Hofrat Bubetz doch, woran Kuhlmann inwendig gerade kiefelte, und er blieb auf der eingeschlagenen Linie. „Ich weiß nicht, warum Ihr Sohn Selbstmord begangen hat. Aber dass diese Leute ihn umgebracht haben, ist ganz und gar ausgeschlossen“, versuchte der Hofrat das Gespräch zu einem Ende zu bringen, weil es nichts brachte, weiter gegen eine Wand aus Ablehnung und Misstrauen zu argumentieren. „Sie haben sich da in eine Sackgasse manövriert, und vielleicht – verzeihen Sie, wenn Sie den Eindruck haben sollten, ich überschreite meine Kompetenzen –, vielleicht ist es ja auch nur der Versuch, die Verantwortung für den Tod des Jungen auf andere abzuschieben, weil Sie selbst das Gefühl nicht loswerden, versagt zu haben.“

Jetzt hatte Kuhlmann vollends genug. Er hieb mit der Faust auf den Schreibtisch des Hofrats und beugte sich bedrohlich zu Bubetz hin: „So einfach wollen Sie es sich also machen, Herr Hofrat?“ Der „Hofrat“ war mit spöttischem Unterton versehen. „Aber so einfach wird es nicht sein. Dafür werde ich sorgen, nehmen Sie das als ein Versprechen.“

Bubetz sah in der Unbeherrschtheit seines Besuchers eine willkommene Gelegenheit, den Mann endlich loszuwerden. „Mäßigen Sie sich doch, ich bitte Sie, Herr Kommerzialrat!“, sprach er streng und erhob sich von seinem Sessel. „Ich bin Ihnen doch sehr entgegengekommen. Wenn ich das mit allen Leuten machen würde, die mit der Polizei nicht zufrieden sind, ich säße jeden Tag bis Mitternacht da.“

Und dann, zu Horak, dem Sekretär, gewandt, der von Kuhl­manns Schlag auf den Schreibtisch aufgescheucht in der offenstehenden Tür erschienen war: „Sind’S so gut, Horak, und begleiten’S den Herrn Kommerzialrat nach unten.“

Kuhlmann erhob sich wortlos, deutete mit einem trotzigen Kopfnicken einen Gruß an und wandte sich zu Horak, der den Kommerzialrat mit einer Handbewegung seitlich an sich vorbei bat.

Der Sekretär begleitete den Kommerzialrat nicht nur bis zur Treppe, sondern die Prunkstiege hinab, rechts neben Kuhlmann, der eine Stufe voraus war und ihn ignorierte, um ihn loszuwerden. Ein Beobachter dieser Szene musste den Eindruck gewinnen, dass der Mann sich von Horak bedrängt fühlte und bemüht war, seinem Verfolger zu entkommen. Aber Horak hielt Schritt, und am Treppenabsatz schnitt er Kuhlmann die Wendung des Weges nach rechts zur Mittelstiege hin ab: „Hören Sie, es kann schon sein, dass der Hofrat sich irrt. Aber was soll er denn machen? Er kann sich ja auch nur an der Aktenlage orientieren! Die ist recht klar, und für alles andere sind wir hier nicht zuständig.“

„Ach! Fahren Sie doch zur Hölle mit Ihren manipulierten Akten!“, fauchte Kuhlmann hasserfüllt, drängte sich zwischen dem Treppengeländer und Horak durch und strebte, nun zwei Stufen auf einmal nehmend, hastig dem Ausgang zu. Aber Horak hielt abermals Schritt. „Hören Sie“, begann er wieder auf Kuhlmann einzureden, der nun die Halle erreicht hatte und sich weiterhin taub stellte. „Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber Sie sollten sich an den Nowak wenden.“

Kuhlmann blieb abrupt stehen und packte Horak am Rockaufschlag: „Was wissen Sie?“

„Nichts! Wirklich, gar nichts, was nicht in den Akten steht“, versicherte Horak erschrocken und versuchte sich Kuhlmann zu entziehen. „Aber wenn Ihnen einer helfen kann, dann ist das der Nowak.“

Kuhlmann starrte den Beamten ratlos an. „Ferdinand Nowak, ein Detektiv“, erklärte Horak. „Fragen Sie den Kellner im Café Pilgramhof in der Schönbrunnerstraße; der weiß, wo Sie den Nowak finden.“

Wie schon beim Hofrat war Kuhlmann auch dem Sekretär gegenüber nicht zu Höflichkeit oder gar Dank fähig. Er ließ das Jackett los, nickte kurz, wie er es auch bei Bubetz getan hatte, trat durch das offenstehende, mittlere der drei Tore eilig hinaus auf den Schottenring in den Herbsttag und wandte sich nach links, wo in der Seitengasse sein Chauffeur ihn erwartete. Kuhlmann ließ sich die Wagentür öffnen, sackte auf den Sitz, und als der Chauffeur hinter dem Volant Platz genommen hatte, nannte er das Fahrziel. „Café Pilgramhof in der Schönbrunnerstraße! Kennen Sie das?“ Der Chauffeur nickte und fuhr los, hinaus auf die Ringstraße in Richtung Oper, während Horak die prachtvolle Treppe wieder hinaufstieg, gequält von der ihm eigenen Unsicherheit, bei allem, was er tat, stets im Zweifel, ob es richtig oder falsch gewesen sei.

Adam Horak hatte den Ferdinand Nowak einmal genossen, aber er wusste um die Flüchtigkeit solcher Begegnungen und verrannte sich nicht in trügerische Hoffnungen immerwährender Leidenschaft. Vielmehr bewahrte er dem Nowak eine fortdauernde Zuneigung, die sich nicht in aufdringlichen Annäherungen an das begehrte Objekt äußerten, sondern in einer stillen Liebe, die sich in Gedanken und Träumen am Leben erhielt und die nun auch zu der Empfehlung an Kuhlmann geführt hatte.

Als Horak sich zurückmeldete, erkundigte sich der Hofrat, ob noch etwas gewesen sei. Horak schüttelte den Kopf, weil er das nicht für eine Lüge hielt. „Großartig“, sagte der Hofrat, „und jetzt sind’S so gut und schicken’S dem Kunschak bitte eine Notiz, dass ich den Herrn Kommerzialrat empfangen hab!“

Horak kehrte von Schuldgefühlen geplagt an seinen Schreibtisch zurück, um dem Landtagsabgeordneten Leopold Kunschak zu schreiben. Der war in seiner Partei, den Christlichsozialen, nicht gern gelitten und hatte sich deshalb verbittert zurückgezogen, was ihn aber nicht daran hinderte, für Parteifreunde zu intervenieren.

Hofrat Bubetz starrte aus dem Fenster, ohne die sich langsam entblätternden Baumwipfel wahrzunehmen, und seufzte. Tatsächlich bedauerte er Kuhlmann und dessen Gattin aufrichtig. Aber abgesehen von dem behaupteten, doch nicht nachweisbaren Vergehen, dem jungen Kuhlmann einen Revolver gekauft zu haben, gab es keine Anhaltspunkte, um in die vom wütenden Vater starrsinnig gewünschte Richtung zu ermitteln.

Dabei hätte Bubetz gerne etwas getan, was den Kommerzialrat, der von Kunschak empfohlen war und den er deshalb hatte empfangen müssen, befriedigt hätte. Denn der renitente Schneidermeister nahm nicht nur Zeit in Anspruch, die der Hofrat dringlicheren Angelegenheiten zu widmen hatte.

Anlass zu Sorge war auch die Tatsache, dass Charles Kuhlmann prominent genug war, um sich bei der Presse Gehör zu verschaffen. Immerhin hatte er – erfolglos zwar – für einen Sitz im Gemeinderat kandidiert, war redegewandt und kannte einige Journalisten der rechten Blätter. Und Bubetz war überzeugt, dass Kuhlmann sich sogar an linke Zeitungen wenden würde, wenn es nur half, der Polizei eins auszuwischen.

Es war mithin nur eine Frage der Zeit, bis irgendeinem Redakteur nichts einfallen und er dann die leeren Spalten bereitwilligst mit Kuhlmanns obskuren Verschwörungstheorien füllen würde. Und das konnte sehr unerfreulich ausfallen, denn Kommerzialrat Charles Kuhlmann hatte – ohne es zu wissen – begonnen, in ruhigem Bodensatz zu stochern und aufzuwühlen, was besser ruhig am Grunde ruhend hätte verbleiben sollen, um die geheime „Operation Fledermaus“ nicht zu gefährden, deren Leiter Polizeidirektor Bubetz war. Hätte Kuhlmann die Sorgen des Hofrats gekannt, er hätte in seiner gediegenen Art die Lage mit „Le chapeau en flamme“ bezeichnet; Bubetz nannte es schlicht: „Der Hut brennt!“

2

Der Wirkliche Hofrat Bubetz nimmt seine Aufgabe sehr ernst, ahnt aber auch, dass er in seinem Kampf auf ziemlich verlorenem Posten steht.

Die Polizeidirektion, auf Stempeln wegen des beschränkten Platzes zu PolDion verkürzt und auch im internen Sprachgebrauch als solche bezeichnet, war in einem sehr repräsentativen Gebäude am Schottenring untergebracht: ein würfelförmig wirkender Bau, mit je einem, ebenfalls würfeligen Türmchen an jeder Ecke. Menschen mit Phantasie mochten Londons Tower darin erblicken, für den Wirklichen Hofrat Bubetz war es nichts weiter als ein Stück wenig inspirierter Architektur an Wiens Prachtstraße. Ursprünglich als Hotel Austria für die Weltausstellung 1873 errichtet und zwei Jahre später zum noblen Hauptquartier der Polizei umgewandelt, bot das Gebäude ausreichend repräsentatives Interieur für Präsidenten und Vizepräsidenten, und nach vielen Umzügen, die seine Laufbahn begleitet hatten, residierte der Wirkliche Hofrat und Polizeidirektor Bubetz nun in einem sehr feudalen Bureau an einer Ecke zur Ringstraße hin – der legendäre Präsident Schober war zu Lebzeiten nebenan anzutreffen gewesen.

Emil Wenzel Bubetz – privat seit jeher Wenzel, im Amte jedoch ausnahmslos Emil, denn Habsburg hegte so seine Vorbehalte gegen alles Böhmische –, Emil Bubetz hatte einen Auftrag, in dessen Wesen es lag, dass er mit den Forderungen, die Kommerzialrat Kuhlmann hier vor Kurzem gestellt hatte, nicht vereinbar war. Mit welchem Recht eigentlich, fragte sich Bubetz, erhob dieser emporgekommene Schneider Forderungen, um sich sogleich selbst die Antwort darauf zu geben: mit dem Recht dessen, der über politische Verbindungen verfügt. Ärgerlich. Unabänderlich. Na ja.

Das „Na ja“ bei Bubetz kam häufig als formelhafter Abschluss von Überlegungen und Ausführungen; sozusagen als ein „bis hierher und nicht weiter“, ein Signal an das Gegenüber – mitunter, wie eben jetzt, auch an sich selbst –, dass hier noch mehr gesagt werden konnte, aber nicht sollte oder durfte.

Den Rechtsanwalt Dr. Kort „in die Mangel zu nehmen“ – wie Kuhlmann sich das vorstellte – war schon grundsätzlich unmöglich. Auf welcher Rechtsgrundlage sollte das geschehen, dachte Bubetz, der immer zuerst an die Rechtsgrundlage dachte und deshalb den Gedanken gleich beiseiteschob.

Und überhaupt: Das eigenartige Verschwinden von Schülern und Lehrlingen – in einem Umfang, der neuerdings tatsächlich über die gängigen Vermisstenzahlen hinausging – betraf den Hofrat nicht. Deshalb ging ihn auch Kuhlmanns Problem überhaupt nichts an. Kommerzialrat Kuhlmann war zu ihm nur geschickt worden, weil Hofrat Emil Bubetz im Rufe stand, in der Kunst des Beschwichtigens unerreicht zu sein.

Hauptsächlich jedoch stand der kleine, runde Mann mit einem angegrauten Haarkranz, aber jugendlich lebendigen Äuglein einer geheimen Sonderabteilung vor, die dazu gebildet worden war – unbelastet vom täglichen Zank und Hader der politischen Gruppierungen –, Licht in eine interne Angelegenheit zu bringen respektive dafür zu sorgen, dass diese Angelegenheit niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken würde.

„Das will ich nicht haben. So etwas darf nicht sein. Das muss abgestellt werden!“ So hatte Johann Schober, damals noch Polizeipräsident, gesprochen. Er hatte Bubetz kommen lassen, ihm das feudale Quartier in der Führungsetage zugewiesen und ihm „die Angelegenheit“ aufgehalst: Er möge sich eine kleine vertrauenswürdige Mannschaft zusammenstellen, ans Werk gehen und vermutete Unregelmäßigkeiten drüben im Sicherheits­bureau aufklären. Die „Operation Fledermaus“ war geboren und nicht nach dem Tier benannt, das zielsicher die Nacht durchjagt, sondern nach der Operette von Johann Strauss, in der Recht und Justiz auch eine, wenngleich recht eigenartige Rolle spielen.

Mittlerweile war Schober gestorben, der vormalige Vizepräsident Franz Brandl war aufgerückt und residierte nun als Chef nebenan, und die „Operation Fledermaus“ war immer noch im Gange. „Im Gange“ – das musste auch Bubetz zugeben – war eine sehr beschönigende Wortwahl, denn tatsächlich trat er auf der Stelle. Aber der Hofrat war wild entschlossen, die Sache aufzuklären, bevor er mit Ende des Jahres in den wohlverdienten Ruhestand treten würde. Wobei er den Weisungen Schobers entsprechend unter „aufklären“ verstand, die Sache – ganz gleich, wie tief die Verstrickungen der Verdächtigen in die kriminellen Vorkommnisse waren – intern zu aplanieren; was nichts anderes hieß als: ohne viel Aufhebens – und vor allem ohne, dass die Presse davon Wind bekam – aus der Welt zu schaffen.

Die Ansichten darüber, wie das zu bewerkstelligen wäre, waren unterschiedlich. Es gab noch Figuren aus der Vergangenheit, die eine Lösung wie seinerzeit im Falle des Oberst Redl für zielführend hielten. Ottokar Kalbeck von Kieselgrund, republikanisch nun lediglich Kalbeck-Kieselgrund, hochdekorierter Militär i. R., ein Mann, dem man jederzeit ansah, wie nackt er sich ohne seine k. u. k. Uniform fühlte, war einer von ihnen und mit dem Avancement Dr. Brandls zum Präsidenten in die Position des Vizepräsidenten hochgeschwommen.

Polizeidirektor Bubetz sah das anders, obwohl er seinerzeit, ganz jung, auch mit dem Verräter Redl zu tun gehabt hatte. Gemeinsam mit dem jetzigen Polizeipräsidenten hatte er sich 1913 in der Herrengasse vor dem Hotel Klomser eine halbe Maiennacht lang die Füße in den Bauch gestanden, weil sich der Herr Hochverräter drinnen nicht und nicht hatte dazu durchringen können, endlich die ihm freundlich überlassene Pistole an die Schläfe zu setzten und dieser für die Armee so unrühmlichen Affäre ein ehrenmännliches Ende zu bereiten; im Sinne einer eleganten Lösung.

Mit dem Effekt freilich, dass – nachdem der erlösende Schuss endlich gefallen war – der Generalstab sich seines einzigen Zeugen beraubt hatte, der angeben hätte können, welche Pläne an die Russen verraten worden waren und welche nicht. Wie lückenlos die Russen informiert gewesen waren, hatte sich dann im Herbst Vierzehn gezeigt, als die glorreiche kaiserliche und königliche Armee an der Ostfront eine Niederlage nach der anderen einstecken musste. Aber: Der abartige Hund war hin, und nur darauf war es den Herren in ihren Operettenuniformen letztlich angekommen. Na ja.

Das Übel, das Emil Wenzel Bubetz hier und jetzt zu bekämpfen berufen war, ähnelte dem Fall Redl insofern, als auch hier Informationen von da nach dort zu gehen schienen, weswegen zahlreiche Aktionen der Polizei – die sich seit Schober mit dem Selbstlob „beste Polizei der Welt“ schmückte – nicht zu dem erwünschten Erfolg geführt hatten. Blamabel ausgefallen waren, käme der entwürdigenden Wahrheit wohl näher.

Das eine Problem waren die Spielhöllen, die – da es staatlich konzessionierte Kasinos noch nicht gab – ein stetig sprudelnder Quell dunklen Geldes für zwielichtige Gestalten auch feinerer Kreise waren.

Nekladal, der Chef des Korrespondenzbüros, der gelegentlich am Schottenring weilte und mit dem Bubetz am Gange gelegentlich ein paar Worte wechselte, hatte dafür eine prima Lösung parat: „Ja, ich versteh nicht, wenn man etwas nicht ausrotten kann, dann sollte man versuchen, davon zu profitieren. Konzessionen ausgeben, hoch besteuern!“ „Zuhälterei?“, hatte Bubetz eingeworfen und damit Nekladal nicht aus der Fassung gebracht. „Wenn Sie so wollen“, war seine Antwort gewesen, und erst Bubetzens Bemerkung: „Aber Staatsbordelle wollen Sie nicht, oder?“, hatte das Thema beenden können.

Wenn es aber nur die Spielhöllen gewesen wären, die jedes Mal zu harmlosen Bridge-Runden mutiert waren, sobald die Polizei die Türen eingetreten hatte!

Das andere Problem lag nämlich auf dem Gebiet der Unsittlichkeit, wo Fahndungserfolge ebenfalls dünn gesät waren. Ein berüchtigter Mädchenhändler hatte kurz vor seiner Verhaftung entkommen können; das Geheimbordell der Frau Manon Ottersheim war leer gewesen, als die Truppe anrückte; und in jener Druckerei, in der erhobenermaßen Unsittliches in Wort und Bild vielfach zu Papier gebracht wurde, waren nur Heiligenbildchen und die Auflage eines erbaulichen Büchleins gefunden worden: „Jahresalmanach für die christliche Hausgehilfin“.

Mit einem Wort, die „Fledermaus“ flog hier und da und war nicht zu haschen. Zwar war in dieser Sache der eine oder andere Beamte ins Fadenkreuz des Hofrats geraten; Figuren, von denen er annahm, dass sie nicht nur aus Unfähigkeit bei ihren Razzien gescheitert waren. Beweisen hatte sich bislang jedoch nichts lassen.

Auch, wie viele Amtspersonen vom Schimmelpilz der Korruption befallen und zu Nutznießern des Amtseidbruchs geworden waren, wusste niemand. Und weil – sollte sich der Verdacht erhärten, dass hier ein Netzwerk zugange war – niemals mit Sicherheit gesagt werden konnte, dass nicht auch ein mit den Ermittlungen beauftragtes Polizeiorgan diesen Auftrag loyal an seine Spießgesellen weiterflüstern würde, um den geplanten Erfolg eines Einschreitens zu vereiteln –, weil also Bubetz nicht wusste, wem er trauen konnte und wem nicht, war er bei diesem Unterfangen weitestgehend auf sich selbst gestellt.

Beamte vom untadeligen eigenen Schlage gab es unter den Jungen nicht mehr. Vertrauenswürdige Leute seiner Generation und seines Amtsverständnisses, die es vereinzelt und nicht nur in seiner Tarockrunde noch gab, konnte er jedoch nicht einsetzen, weil ihnen langwierige Observationen und schon gar kräfteraubende Verfolgungen nicht zumutbar waren.

Um trotz all dieser widrigen Umstände dennoch zum Ziel zu gelangen, war Bubetz notgedrungen auf eine Strategie verfallen, die zwar einigermaßen sicher war, sich aber nicht unbedingt als sehr effizient erwies: Er hatte einen kleinen Kreis von Mitarbeitern um sich geschart, von denen er überzeugt war, dass sie zu blöd waren, um korrupt zu sein.

Wie jeder Leser von Kriminalromanen weiß, braucht der Detektiv einen klugen Gesprächspartner, mit dem er sich über seine Ermittlungen austauschen kann. Im vorliegenden Fall, über den sich der Hofrat wegen der Vertraulichkeit mit niemandem von gleicher Intelligenz besprechen konnte, blieben ihm nur seine beschränkten Agenten Sieber, Seibert und Klusaček, alle drei mit Vornamen Josef. Das war für Emil Wenzel Bubetz, einen, der auf die feine Klinge des Verstandes setzte, begreiflicherweise eine Qual.

Auch die von C. Auguste Dupin so hochgeschätzte „Unendlichkeit der Anregungen, die stilles Beobachten vermitteln kann“ war dem Hofrat nicht gegeben. Er saß an seinem Schreibtisch mit unwandelbarem und nur wenig anregendem Ausblick auf die gegenüberliegende Ecke des Schottenrings zur Wipplingerstraße und musste sich auf die Beobachtungen seiner drei Josefs verlassen.

Ein Unterfangen, das – abgesehen von der Einfallslosigkeit der drei anständigen Beamten – vor allem dadurch erschwert wurde, dass es Personen zu bespitzeln galt, die selbst Polizeibeamte waren und daher spielend in der Lage, die unbeholfenen Versuche des redlichen Trios zu unterlaufen. Bubetz nannte Sieber, Seibert und Klusaček das „Schmächtige Häuflein“ und niemand hätte es – nachsichtig und verzweifelt zugleich – präziser zusammenfassen können.

Bubetz stand, was die feine Klinge des Verstandes betraf, aber nicht nur seinen drei Agenten gegenüber alleine da. Auch Dr. Franz Brandl, der neue Präsident nebenan – derzeit aber in Rom –, suchte Erfolge auf die derbe Art zu erzielen und hatte deshalb Dr. Franz Waldhäusl aus Salzburg ins Wiener Sicherheitsbureau berufen; und er war von seinem Protegé bei einigen Mordfällen auch nicht enttäuscht worden.

Zum Erfolg der „Operation Fledermaus“ hätte Waldhäusl freilich nichts beitragen können. Denn er war einer, der einen Verdächtigen brauchte, den er verhören konnte. Dann war alles bald geklärt, Geständnisse waren bei Waldhäusl unvermeidlich. Ob sie vor Gericht halten würden, zählte vorläufig nicht, galt es doch in erster Linie die Pressehaie zu füttern, die nichts lieber taten, als zu nörgeln und auf der „besten Polizei der Welt“ herumzutrampeln, die Johann Schober selig geschaffen hatte. Besonders die linken Blätter taten das mit großem Genuss.

Bubetz dachte mit Schaudern an jenen Einsatz in der Leopoldstadt, in dessen Verlauf erst ein Wachmann und dann ein Sturmtrupp der Polizei einen vermuteten Einbrecher in einem Pelzgeschäft zur Strecke zu bringen versucht und dabei den ganzen Laden in Trümmer geschossen hatten, weil der Einbrecher eine Schaufensterpuppe gewesen war, und deshalb im Kugelhagel der Amtsgewalt nicht hatte sterben wollen. Die Blamage war groß, der selbst gespendete, aber wenig heilsame Trost lautete: Wer liest denn schon die rote Kacke? Und die offizielle Haltung der PolDion war: Nicht einmal ignorieren. Bubetz war dies verwehrt geblieben, denn bei der auf diese Narretei folgenden Tarockrunde wurde er natürlich genau auf das angesprochen, was als „Das Massaker in der Komödiengasse“ in aller Munde war. Besonders vergrämte den Beamten, dass er in seinem Freund und Tarockpartner Max Meyer den Verfasser der Verhöhnung wusste, sich aber versagen musste, darüber zu jammern.

Waldhäusl also war fürs Grobe engagiert – der Präsident liebte das Grobe, wenn er es nicht selbst tun musste –, Bubetz versuchte seinen Fall durch den Geist zu lösen; verständlich daher, dass der einzige Detektiv, den er gelten ließ, Sherlock Holmes war. Dass ihn neuerdings diese Engländerin mit ihrem Hercule Poirot schamlos kopierte – der Hofrat hatte gekostet –, schmeckte ihm nicht.

Was das Denken anging, durch das er diesen Fall zu lösen gedachte, war er ohnehin eine rare Erscheinung in dieser Festung der Ordnung. Es gab glanzvollere – um nicht zu sagen: aufdringlicher schillernde – Figuren in den Führungsrängen der PolDion. Bubetz hatte auf Flitter nie Wert gelegt. Er war unauffällig, und das hatte viel Wissen angeschwemmt im Laufe der Jahre – nahm man ihn doch einfach nicht wahr; man redete und dachte nicht daran, der fleißige, unscheinbare Mann könnte es aufnehmen. Aber er konnte und hatte.

Bubetz wusste viel. Selbst dort, wo er nicht unmittelbar mit den Vorgängen befasst gewesen war, hatte er gehört, aufgeschnappt, aus Andeutungen gefolgert; und wie sich in den Rohren, durch die das Wiener Wasser fließt, Kalk anlegt, so wuchs im Gedächtnis des damals noch nicht Hofrats ein Wissen, auf das er jederzeit zurückgreifen konnte bei seinen Überlegungen zu jedem beliebigen anstehenden Fall.

Dieses Aufgehen in seinem Amt rührte daher, dass, anders als für die meisten seiner Kollegen, für Bubetz niemals der Weg – das hinter sich Bringen der Dienstjahre – das Ziel seines Daseins als Beamter gewesen war. Der Weg wollte gegangen sein, aufrecht und loyal zum jeweiligen Staatswesen, aber das Ziel war die Erfüllung der Aufgaben, die am Wege warteten. Sekretär Adam Horak hätte „lauerten“ gesagt, denn seine Amtsauffassung war eine, in der Arbeit eher eine Bedrohung darstellte.

Stetig, keineswegs unverdient aufgestiegen – der Weg war ja nicht das Ziel –, aber immer im Hintergrund, ohne es dabei jemals zur sprichwörtlichen „grauen Eminenz“ einer Abteilung gebracht zu haben, hatte Hofrat Emil Bubetz seine Laufbahn nun fast beendet. Und: Er freute sich auf den bevorstehenden Ruhestand.

Warum er Tag für Tag dennoch verbissen arbeitete, war dies: Er wollte etwas Bedeutendes geleistet haben, bevor er in den Ruhestand trat; auch das hob ihn aus der Masse der Beamtenschaft heraus, und deshalb brannte auch der sprichwörtliche Hut.

Wenn er an den erfolgreichen Abschluss der „Operation Fledermaus“ dachte – und das tat er unentwegt –, schlich sich in die Vision seines Triumphes jedoch immer häufiger auch die ernüchternde Einsicht, dass die Beseitigung der „Fledermaus“ das Übel nicht tilgen, sondern lediglich andere Nutznießer an die Quelle unredlichen Einkommens befördern würde.

All dies nach Kuhlmanns Abgang nun bedenkend, wechselte der Hofrat von seinem Schreibtisch hinüber zu jenem Aktenschrank, in dem der Cognac verschlossen war. Ordinäre Obstbrände waren das Laudanum der trinkenden Massen; wer Cognac trank, wurde nicht den Trinkern zugezählt, sondern den Genießern, und ein solcher war unser Hofrat letztendlich auch. Daran konnte selbst das Flattern der „Fledermaus“ nichts ändern.

3

Der erregte bürgerliche Schneider begegnet seinem Kaffeehaus-Detektiv und beruhigt sich.

Charles Kuhlmann rückte sich im Fond des Wagens zurecht, und langsam legte sich die Erregung, in die er vis-à-vis dem Hofrat und dessen Sekretär geraten war. Das sonderbare Benehmen dieses jungen Mannes, diese Art, wie er sich um ihn herumgewunden hatte, gab ihm zu denken.

Tatsächlich: Horak war im Alltag unauffällig, es gab jedoch zwei Situationen, in denen er die sich zügelnd auferlegten Hemmungen fahren ließ und sich dann durch ganz nebensächliche flüchtige Gesten wie etwa schwingend runde Handbewegungen verriet: wenn er etwas getrunken hatte – wobei wenig genügte – und wenn ihn innere Zerrissenheit befiel, wie das beim Verrat am Hofrat ganz klar der Fall gewesen war.

Und dieser Verrat beschäftigte nun auch Kuhlmann. Warum unterlief dieser Mann die Linie seines Vorgesetzten? Oder war es eine Pflanzerei, entsprungen dem Übermut der Ämter, den Hamlet schon beklagte? Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dieser Sekretär wäre ohnehin auf Linie mit seinem Hofrat und wollte nur verwirren und verschleiern, indem er ihn hierherschickte, nach Margareten, den fünften Bezirk, der eine dem Kommerzialrat fremde Gegend war. Suspekt dieses Kaffeehaus und das Hauptquartier der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei um die Ecke.

Viele der Bewohner dieses Bezirks waren wohl auch seine Kundschaft, vorwiegend vermutlich im Tiefparterre, wo Billiges in minderer Qualität verkauft wurde. Ein Bezirk, tiefrot, wie ja ganz Wien, seufzte der Kommerzialrat, in Erinnerung an die Zeiten, da noch Lueger mit einer schwarzen Zweidrittelmehrheit regiert hatte.

Nun aber hatten die Nationalsozialisten abgeräumt, bei den Christlichsozialen vor allem, auch im sechsten Bezirk, wie er übellaunig feststellte, denn der Sitz im Gemeinderat, der verloren gegangen war, wäre der seine geworden. Kunschak hatte Kuhlmann überredet, für seine Christlichsozialen zu kandidieren; ein idealer Kandidat: katholisch und ein erfolgreicher Kaufmann in Mariahilf, einem Bezirk, den die Kaufmannschaft schon immer geprägt hatte, wie kaum einen anderen.

Aber auch Hakenkreuzler brauchen Wäsche und Kleidung, dachte Kuhlmann versöhnlich, während der Wagen die Ringstraße zum Parlament hinrollte, und praktisch veranlagt, wie er war, überlegte er, dass es sich in den kommenden Jahren vielleicht lohnen könnte, Uniformschneiderei ins Angebot seines Modepalais aufzunehmen.

Was aber war von diesem Nowak zu erwarten? Kuhlmann stellte die geschäftlichen Überlegungen zurück und fragte sich, weswegen dieser Nowak denn geeignet sein konnte, Licht ins Dunkel um den Tod seines Sohnes zu bringen. Und er kam zu dem Schluss, dass es sinnvoll wäre, sich vorweg etwas über diesen Mann zu informieren. In diesem Sinn änderte er sein Fahrziel und wollte erst in ein Café beim Volkstheater gebracht werden, um im Adressbuch Näheres über diesen Nowak zu erfahren.

Kuhlmann ließ den Chauffeur vor dem Café Raimund halten, eilte hinein und gab dem Kellner zu verstehen, dass er nur in den „Lehmann“ – Wiens Adressbuch – schauen wollte; er konnte sich das erlauben, er war hier bekannt, denn er hatte in der Neustiftgasse gegenüber eine Geliebte.

Die Suche im Branchenverzeichnis nach Ferdinand Nowak unter den Detektivs blieb ohne Erfolg. Auch im Namenverzeichnis: Nowaks spaltenweise noch und noch und auch acht Ferdinands; Kutscher, Schlosser, Schneider, Tischler und Straßenbahner. Der einzige Ferdinand Nowak im Fünften war ein Spenglermeister. Der konnte das nicht sein.

Während er zu seinem Wagen zurückkehrte, war Kuhlmann entschlossen, die Sache sein zu lassen, als der Chauffeur aber erkundigend fragte: „Café Pilgramhof?“, sagte er: „Ja!“ Ein großer Umweg auf der Fahrt zurück ins „Modepalais“ war es schließlich nicht.

Als er schließlich vor dem genannten Kaffeehaus stand, musste er abermals mit seiner Skepsis kämpfen, siegte aber und trat ein. Links vom Eckeingang standen zwei große Billardtische, um beide herum Müßiggänger, spielend. Arbeitslose, dachte er missbilligend, bevor er sich mit der Frage: „Herr Nowak?“ an den Kellner wandte, der in einer Hand zwei Tabletts mit leeren Tassen und Wassergläsern balancierend, mit der anderen ein Tischchen sauber wischte.

„Letzte Loge links“, sagte er, ohne von der Marmorplatte aufzublicken, und Kuhlmann verfiel einmal mehr in Zweifel, ob es nicht geraten wäre, hier umzukehren. Er hatte erwartet, dass ihm der Kellner sagen würde, ob Nowak in seinem Büro war, aber der schien ein Büro gar nicht zu haben, und bei der ganzen Detektivspielerei konnte es sich wohl nur um den fragwürdigen Versuch eines Arbeitslosen handeln, irgendwie zu Geld zu kommen.

Kuhlmann blickte ohne Zuversicht in die Tiefe des verrauchten Raumes zur letzten Loge links. Dort saß neben dem Zugang zu den Toiletten ein Mann Ende zwanzig, Anfang dreißig. Schlecht angezogen, ein ausgesteuerter Arbeitsloser, wie vermutet; fraglich, ob diese Figur in Kuhlmanns „Modepalais“ oberirdisch bedient worden wäre, hätte sie versucht, dort einzukaufen.

Der Kommerzialrat stand unentschlossen da und fühlte sich unwohl. Nicht, dass Kaffeehäuser nicht sein Revier gewesen wären, nein, das nicht! Dieses hier aber war seine Sache nicht. Er mustert den Nowak. Der erhob sich, ging zu den Zeitungen, die auf einem Pult beim Kücheneingang lagen, suchte zwei davon aus und kehrte zu seinem Platz zurück.

Kuhlmann beurteilte Menschen immer aus dem Blickwinkel des Schneiders; den hatte er, trotz allen Erfolges – sogar Lueger hatte bei ihm gekauft – niemals ablegen können. Schlafwandlerisch sicher stellte er die Konfektionsgröße Nowaks fest – für einen Maßanzug kam er ja nicht infrage – und ordnete ihn jenen Gestalten zu, wie sie in der schwarz-weißen Welt des Films eher auf der unverzichtbaren Schattenseite der Gesellschaft angesiedelt waren.

Anderseits, wenn er sich den Mann well dressed vorstellte! Kuhlmann liebte es, Englisches einzustreuen, wenn es um Herrenmode ging, bei Damenmodeangelegenheiten mischte er Französisches in seine Verkaufsmonologe ein. Nun erwachte der Verkäufer in ihm: Er kleidete Nowak ein und stellte fest, dass aus dem schlampig angezogenen und offensichtlich arbeitslosen jungen Mann eine ganz attraktive Erscheinung wurde; zum Friseur hätte man ihn freilich noch schicken müssen. Allerdings – und über diesen Schatten zu springen erlaubte ihm sein bürgerliches Ich nicht – kam bei dem, was er da vor seinem inneren Schneiderauge geschaffen hatte, allenfalls ein Hochstapler heraus; eine jener Figuren, die – nicht ohne eine gewisse erotische Ausstrahlung – in den Hallen und Restaurants der großen Hotels herumstrichen: charmant, immer Komplimente auf den Lippen, ohne zu wissen, wie sie ihr Zimmer oder gar Appartement bezahlen sollten, und daher stets nach einem Opfer Ausschau haltend, zugleich aber auch beständig auf der Hut und fluchtbereit. Weil sie mit Geld, das sie entweder bei ihrem Brotherrn unterschlagen oder leichtgläubigen Damen abgenommen hatten, Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftsschicht vorgaukelten, in die sie durch Betrug erst aufzusteigen hofften.