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Marina Chapman • mit Vanessa James und Lynne Barrett-Lee

Das Mädchen, das aus dem Dschungel kam

Eine Kindheit unter Affen

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Marina Chapman / mit Vanessa James und Lynne Barrett-Lee

Marina Chapman hat einen weiten Weg hinter sich: aus dem abgelegenen Regenwald Kolumbiens, wo sie fünf Jahre lang bei einer Horde Kapuzineraffen lebte, bis nach Bradford in Großbritannien. Heute ist sie mit einem Briten verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und arbeitet in einem städtischen Kindergarten. Dazwischen war sie die Anführerin einer Bande kolumbianischer Straßenkinder, arbeitete in einem Bordell und als Hausmädchen in einer gewalttätigen, kriminellen Familie in einer der gefährlichsten Städte Kolumbiens.

 

Vanessa James ist Marina Chapmans jüngere Tochter. 2006 begann sie damit, die Geschichte ihrer Mutter aufzuschreiben. Bis zu einer ersten Version des Buches brauchte Vanessa zwei Jahre, in denen sie Marinas Erinnerungen zu einem Gesamtbild zusammenfügte und auch eine Reise nach Kolumbien unternahm. Vanessa lebt und arbeitet als Filmkomponistin in London und ist Mitglied der Band «Starling».

 

Lynne Barrett-Lee ist sowohl selbst Autorin als auch erfolgreiche Ghostwriterin. Außerdem arbeitet sie unter Pseudonym als Koautorin an diversen Buchreihen eines führenden britischen Verlags mit. Weitere Informationen finden Sie unter www.lynnebarrett-lee.com.

Über dieses Buch

Ein Leben, das für drei reicht: erschütternd, unfassbar, herzergreifend

Kurz vor ihrem fünften Geburtstag wird Marina aus ihrem Dorf in Kolumbien entführt und im Dschungel ausgesetzt. Ein kleines Mädchen ist eigentlich chancenlos in der Wildnis. Völlig verängstigt trifft sie auf ihre Retter: Kapuzineraffen, die sie in ihren Clan aufnehmen und von denen sie schließlich alles lernt, was sie im Dschungel braucht. Nach etwa fünf Jahren wird sie von Wilderern entdeckt und an ein Bordell verkauft. Es gelingt ihr, den schrecklichen Verhältnissen dort zu entfliehen, und nach einer langen Odyssee findet sie schließlich Freunde, die ihr ein normales Leben in der Menschenwelt ermöglichen. Heute ist sie mit ihrer Familie in England zu Hause.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «The Girl With No Name» bei Mainstream Publishing Company (Edinburgh), Ltd.

 

Redaktion Barbara Imgrund

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © 2013 Marina Chapman and Lynne Barrett-Lee

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

(Foto: thinkstockphotos.de)

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-61459-0 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-48821-2

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-48821-2

Dieses Buch ist Maria Nelly & Amadeo Forero gewidmet

Zum Gedenken an meine geliebte Maruja

Vorwort
Vanessa James

«Halt an, John. Ich muss mal raus!»

Als mein Vater die Worte meiner Mutter vernahm, schaute er in den Rückspiegel und brachte das Auto ebenso wortlos wie abrupt zum Stehen. Es war, als gäbe es zwischen ihnen eine geheime Absprache; dabei konnte doch niemand wissen, was sie vorhatte. Die Sonne zog sich allmählich vom Himmel zurück, und die Abenddämmerung setzte ein. Die ruhige Landstraße mitten in Yorkshire, auf der wir anhielten, war von dunklen Hecken gesäumt. Hoch aufgerichtet wie eine Militärabsperrung schützten sie das kilometerweite, offene Land dahinter.

Meine Mutter stieg aus, lief eilig davon und entschwand mit einem Sprung über die Hecke unseren Blicken. Meine lebhafte Kinderphantasie schlug Purzelbäume. Was hatte Mum vor? Den Blick auf das dichte Gestrüpp geheftet, wartete ich gespannt auf ihre Rückkehr. Nach einer Weile sah ich ihr wuscheliges schwarzes Haar aufschimmern. Sie hielt etwas mit beiden Händen fest und stieg damit vorsichtig wieder über die Hecke. Ihre zierlichen Füße hingen kurz in der Luft, bevor sie leichtfüßig auf der Straße landete. Keuchend vor Anstrengung stieg sie wieder ins Auto und grinste meine ältere Schwester und mich mit ihrem breiten Latina-Lächeln an. Auf dem Schoß hielt sie ein großes, unglücklich dreinschauendes Wildkaninchen umklammert. «Kinder, ich hab ein Haustier für euch gefangen!», sagte sie vergnügt.

Dies ist meine früheste Erinnerung an meine Mutter und an mein erstes Haustier, Mopsy. Ich wunderte mich damals nicht über das Tun meiner Mutter; für uns, die wir mit ihren kuriosen, unberechenbaren Aktionen aufgewachsen sind, war dies ein ganz normaler Tag.

 

Meine Mutter sagte oft: «In Kolumbien ist ein Leben wie meines überhaupt nichts Besonderes. Frag ein beliebiges Straßenkind, und es erzählt dir genau dasselbe.» Sie hielt ihre Geschichte also nie für außergewöhnlich; Entführungen, Geiselnahmen, Drogenhandel, Verbrechen, Mord und Kindesmissbrauch waren allesamt im Kolumbien der 1950er und 1960er Jahre an der Tagesordnung.

Sie fragen sich vielleicht, weshalb meine Mutter jetzt, nach vielen Jahrzehnten, beschlossen hat, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Ehrlich gesagt war dies nie ihr Wunsch; nichts liegt ihr ferner, als im Rampenlicht zu stehen. Ihr ganzes Glück besteht darin, ein eigenes Heim und eine Familie zu haben – das war ihr höchstes Ziel, ihr größter Traum.

Dieses Buch begann zunächst damit, dass eine Tochter die Lebensgeschichte ihrer Mutter aufschrieb. Ich hatte das Bedürfnis, unser Familienerbe zu dokumentieren, weil mir klar war, dass Mum nicht jünger wurde und ihre Erinnerungen mit jedem Jahr mehr verblassen würden. Außerdem wollte ich wissen, wie es dazu gekommen war, dass meine Schwester Joanna und ich überhaupt existieren.

Mums wirre Erinnerungen zusammenzusetzen war kein leichtes Unterfangen, doch nachdem wir uns über zwei Jahre lang in Gesprächen bei zahllosen Tassen Kaffee eingehend mit ihrer Vergangenheit befasst hatten und ich im April 2007 zu Recherchen nach Kolumbien gereist war, fingen wir an, ihre disparaten Erinnerungen zu einem Bild zusammenzufügen. Und bald war klar, dass ein großartiges Buch daraus werden würde.

Obwohl wir unser Projekt nicht mit dem Ziel in Angriff genommen hatten, ein Buch daraus zu machen, erkannten wir irgendwann, welchen Nutzen die Veröffentlichung von Mums Geschichte haben könnte. Etwa die Chance, Mums richtige Familie aufzuspüren. Und wir hatten die Hoffnung, dass ihre Geschichte in einer Welt, in der Millionen Eltern ihre Kinder auf ähnliche Weise verloren haben, ein wenig Hoffnung oder Trost spenden könnte.

Außerdem haben wir auf diese Weise Gelegenheit, auf bestimmte Hilfsorganisationen aufmerksam zu machen, die meiner Mutter am Herzen liegen: SFAC (Pflegefamilien für verlassene Kinder), eine gemeinnützige Hilfsorganisation, die von unserer Familie gegründet wurde, und der verdienstvolle Affenschutzverein NPC (Neotropical Primate Conservation). Darüber hinaus hoffen wir, dass Menschen, die ein Leben im Dunkel führen, vielleicht Mut fassen, wenn sie von der Geschichte eines Mitmenschen hören, der über alles Unglück triumphiert hat.

Ich werde oft gefragt, wie ich Mums Geschichte erfahren habe. Es war nie so, dass sie sich eines Tages vor uns hinsetzte, um uns von ihrer Vergangenheit zu erzählen; es war eher so, dass sie beinahe täglich durch etwas – eine Vanilleschote zum Beispiel – an ihre Zeit im Dschungel erinnert wurde und uns dann davon erzählte. Ich fand es wunderbar, wie aufgeregt sie wurde, wenn sie wieder etwas aus ihrer Vergangenheit aufspürte – wenn sie etwa ein Bild von einer bestimmten Pflanze oder einem bestimmten Baum sah oder auf dem Markt die Lieblingsbananensorte eines bestimmten Affen entdeckte.

Außerdem vermittelte sich die Geschichte unserer Mutter nicht nur durch ihre Worte, sondern auch durch ihr Handeln. Da wir von einer so wilden, spontanen Mutter großgezogen wurden, spürten wir oft, dass sie bei einer anderen Spezies aufgewachsen war. Sie war immer unsere «Affenmama». Sie wurde zwar ab und zu wegen ihres unkonventionellen Erziehungsstils kritisiert, doch ihre einzigen Rollenvorbilder waren eben die Mitglieder einer Horde Kapuzineraffen gewesen. Nach allem, was wir erlebt haben, steht für meine Schwester und mich fest: Diese Affen müssen die liebevollsten, lustigsten, kreativsten Eltern der Welt sein!

Ein typischer Abenteuerausflug im Hause Chapman sah zum Beispiel so aus: Wir drei «Mädels» vermaßen einen Baum, während Dad die Rinde und die Flechten darunter untersuchte. Mal kam es zu einer spontanen Tierrettungsaktion, mal verirrten wir uns, weil wir einen versteckten Seitenweg erforschten oder sonst etwas, das unsere Neugier geweckt hatte; gewöhnlich endete so ein Ausflug damit, dass Mum Steaks auf dem tragbaren Grill briet (der unweigerlich zu jeder Jahreszeit mitgeschleppt wurde, selbst bei Eis und Schnee). Dank meiner Familie bin ich kaum zu einem normalen Spaziergang imstande, bei dem man einfach nur dem Weg folgt. Dafür komme ich oft mit Blättern und Zweigen in den Haaren nach Hause.

Zu ganz typischen Begebenheiten bei uns zu Hause gehörten auch einige peinliche Tatsachen. Erst als ich zu Hause auszog, wurde mir bewusst, wie außergewöhnlich meine Familie ist. Meine Schwester und ich hatten zum Beispiel eine sehr eigenwillige Art, um Essen zu bitten. Meine Mum saß mit einer großen Schüssel süßem Porridge auf dem Schoß auf einem Stuhl, und wir mussten uns vor sie auf den Boden setzen, jede vor einen Fuß. «Ihr wisst ja, was ihr zu tun habt, Kinder, wenn ihr das haben wollt», sagte sie dann, worauf Joanna und ich schleunigst unser schönstes Affenkreischen zum Besten gaben. Ich bin wirklich froh, dass das Jugendamt nie bei uns vor der Tür stand!

Nach dem Essen waren wir oft – für unser Gefühl stundenlang – damit beschäftigt, uns gegenseitig zu lausen, indem wir uns gegenseitig gründlich die Haare durchsuchten. Diese Tätigkeit war wunderbar entspannend – ich kenne keinen besseren Zeitvertreib –, wir drei gerieten dabei fast in rauschähnliche Zustände. Ich weiß noch, wie unsere Schule einmal von Kopfläusen heimgesucht wurde – ich glaube, das war der Höhepunkt unserer Kraulkarriere!

Was Haustiere anbelangte, erlaubte Mum uns nur solche, die tagsüber nicht im Käfig gehalten werden mussten. Eingesperrte Tiere waren ihr ein Gräuel. Wir hatten eine Reihe Kaninchen, die in der Prune Park Lane im Garten herumhoppelten; nur mit Vögeln klappte es nicht so gut, kein Wunder …

Mum konnte noch nie gut lesen, und ich kann mich nicht erinnern, dass sie mir je eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hat. Dafür erfand sie eigene Geschichten. Sie dachte sich ausgehend von meinen weniger wünschenswerten Charakterzügen (so kam ich etwa oft zu spät oder verschlief) die tollsten Märchen aus. Sie entfalteten sich zu packenden Geschichten, die mir wertvolle Lektionen fürs Leben erteilten. Mum ließ sich von ihren sogenannten Unvollkommenheiten nie davon abhalten, uns die beste Erziehung zukommen zu lassen. Nämlich die, die sie selbst nie hatte …

 

Was Kolumbien betrifft, so hat sich in vierzig Jahren natürlich vieles verändert. Kolumbien ist heute ein quirliges, fortschrittliches und im Großen und Ganzen sicheres Land, doch als meine Mutter in den 1950er und 1960er Jahren dort aufwuchs, wurden bestimmte Gebiete von Entführungen, Prostitution, Korruption, Drogenhandel, Kriminalität und Gesetzlosigkeit heimgesucht. Der Reaktion des Landes auf eine versuchte Sozialreform durch die Liberalen Ende der 1940er Jahre folgte ein Jahrzehnt mit Aufständen und Banditentum. Diese Zeit wird La Violencia genannt («die Gewalt»). Berichte von Mord, Folter, Entführungen und Vergewaltigungen waren damals an der Tagesordnung; Unsicherheit und Angst vergifteten die Atmosphäre. Hunderttausende Tote (darunter unschuldige Kinder) waren die Opfer dieser Unruhen. Von jenem Kolumbien hat Mum noch sehr viel im Blut. Als sie meine Schwester Joanna zur Welt brachte, wollte sie nicht zulassen, dass die Schwestern sie ihr fortnahmen; ein Krankenhaus war nach allem, was sie wusste, ein Umschlagplatz, an dem behinderte Kinder gegen gesunde ausgetauscht oder Neugeborene gestohlen wurden, um sie zu verkaufen.

1997 fand schätzungsweise jede dritte Entführung auf der Welt in Kolumbien statt. Leider geschehen solche Vorkommnisse noch immer regelmäßig. Seit ein paar Jahrzehnten gibt es samstagabends eine Radiosendung mit dem Titel Las Voces del Secuestro («Die Stimmen der Entführten»): Von Mitternacht bis sechs Uhr morgens rufen pausenlos Familienmitglieder an, die ihren Lieben in Gefangenschaft eine Botschaft schicken wollen. Es bricht einem das Herz.

Für solche Kinder – für alle Kinder, die wie meine Mutter Opfer der Habgier anderer Menschen wurden –, ist Mum der lebende Beweis, dass derlei Umstände nicht unbedingt das Ende bedeuten müssen, einerlei, ob der Betreffende groß oder klein ist. Gerade die Umstände, unter denen Mum aufgewachsen ist, haben sie zu der starken, herzlichen, liebevollen, großmütigen, selbstlosen, positiven und unkonventionellen Frau gemacht, die sie heute ist.

Mum hat nie zugelassen, dass wir allzu lange schmollten. Sie hat uns aufgemuntert, indem sie sagte: «Komm, Kopf hoch, lass dir was einfallen, sei dankbar für die kleinen Dinge und beweg dich!» Mum sieht den Wert in allem, sie ist dankbar für den Atem in unseren Lungen, für jeden neuen Tag und für die größte Freude in ihrem Leben – eine Mutter, eine Großmutter, eine Ehefrau und eine Freundin zu sein.

Gestatten Sie mir also, Ihnen eine außergewöhnliche Frau mit einer außergewöhnlichen Geschichte vorzustellen: Marina – meine Mutter und meine Heldin.

Prolog

Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen. Die Geschichte meines Lebens. Ich dachte immer, der Teil, in dem ich mich vorstelle, wäre ein Kinderspiel. Ich habe mich geirrt. Ganz im Gegenteil; es ist der schwierigste Part.

Wenn man jemandem zum ersten Mal begegnet, ist es üblich, sich mit dem Namen vorzustellen. Es ist das Erste, was wir alle tun, und gibt anderen die Möglichkeit, uns wiederzuerkennen. Das tue ich auch. Ich sage den Menschen, dass ich Marina heiße. Doch dies ist nicht der Name, den ich bei meiner Geburt von meinen Eltern bekommen habe, sondern der Name, den ich mir im Alter von etwa vierzehn Jahren selbst gegeben habe. Mein Taufname ist, wie alles andere aus meiner frühen Kindheit, verlorengegangen.

Wissen Sie, all die Dinge, die so wichtig für uns sind – die frühen Kindheitserinnerungen, die uns helfen, unsere Identität zu begründen und die für die meisten Menschen selbstverständlich sind –, habe ich schon lange vergessen. Wer waren meine Eltern? Wie hießen sie und wie waren sie? Ich weiß es nicht. Ich habe keinerlei Vorstellung von ihnen im Kopf, keine Erinnerungen, und seien sie noch so verschwommen. Ich weiß noch nicht einmal, wie sie ausgesehen haben. Ich habe viele Fragen, auf die ich nie eine Antwort bekommen werde. Wie sah mein Zuhause aus und wie lebten wir? Habe ich mich mit meiner Familie verstanden? Habe ich Geschwister, die sich noch an ihre Schwester erinnern, und falls ja, wer und wo sind sie heute? Was tat ich gern? Wurde ich geliebt? War ich glücklich? Wann habe ich Geburtstag? Wer bin ich?

Im Augenblick weiß ich über mich selbst nur so viel: Ich wurde irgendwann um 1950 herum geboren, irgendwo im Norden Südamerikas, höchstwahrscheinlich in Venezuela oder Kolumbien. Ich bin mir nicht sicher. Doch da ich einen großen Teil meines späteren Lebens in Kolumbien verbracht habe, sage ich den Leuten immer, dass ich aus Kolumbien stamme.

Die wenigen echten Erinnerungen, die ich habe – an die ich mich so deutlich erinnere, dass ich sie immerhin mit Ihnen teilen kann –, sind sehr flüchtig und nicht besonders aufschlussreich. Meine schwarze Puppe zum Beispiel: An sie erinnere ich mich. Ich erinnere mich immer noch an die Einzelheiten ihres schwarzen, gerüschten Stufenröckchens und an die roten Seidenbänder, die in ihre Bluse eingeflochten waren. Die Puppe hatte ganz weiche Haut und schwarze, wuschelige Haare. Ich weiß noch genau, wie sie das zarte, dunkle Gesicht umrahmten.

Außerdem erinnere ich mich an eine Nähmaschine. Sie war schwarz mit goldenen Schnörkeln an der Seite; daneben stand ein Stuhl, auf dem oft Stoffe gestapelt lagen. Unvollendete Kleider? Nähte meine Mutter gern? Ich werde es nie erfahren. Was ich aber weiß, ist, dass wir sehr einfach lebten – unsere Toilette bestand aus einem Loch im Boden. Außerdem habe ich ein deutliches Gefühl von ausgeprägter Aktivität. Davon, dass sehr oft viele Menschen um mich herum waren. Von einem Dorf, in dem permanent Kinder lärmten.

An das Drumherum meiner kleinen Welt kann ich mich besser erinnern. Sehr deutlich ist ein roter Ziegelweg. Er führte vom Haus in den Garten und von dort in einen Nutzgarten, und ich bin mir sicher, dass ich dort viele Stunden mit dem Ernten von Gemüse verbracht habe. Ich erinnere mich sehr gut an diesen Ort. In Verbindung damit habe ich auch die Erinnerung, oft von jemandem gerufen, schimpfend ermahnt worden zu sein, endlich ins Haus zu kommen. Ein Befehl, dem ich meistens nicht gehorchte. Wenn diese Erinnerung in mir hochkommt, habe ich immer das Gefühl, haarscharf davorzustehen, mich an meinen richtigen Namen zu erinnern, denn bei dem hätte man mich doch wohl gerufen. Er liegt mir auf der Zunge, ohne je wirklich greifbar zu werden.

Was noch? Welche anderen Dinge stehen mir noch deutlich vor Augen? Da ist das Bild von Erwachsenen, die einen langen, gewundenen Hügel hinuntergehen und dann mit Kanistern voller Wasser wieder heraufkommen. Ich erinnere mich an Autos. Sie waren aber sehr selten. Es kamen höchstens drei oder vier am Tag. Wenn ich heute Berge sehe, berühren auch sie etwas in mir, und ich habe das Gefühl, womöglich oben in den Bergen gelebt zu haben.

Und das ist alles, was ich Ihnen sagen kann, denn mehr weiß ich nicht. Weil sich eines Tages alles für immer veränderte.

Erster Teil

1

Erbsenschoten faszinierten mich. Ich wusste nicht, weshalb, aber es hatte etwas Magisches, wenn sich die prallen Schoten, sobald ich sie zusammendrückte, zuverlässig in meine Hand entleerten. Die Ecke des Gemüsegartens, in der die Erbsen wuchsen, war also ein besonderer Ort für mich, und ich verbrachte dort viele Stunden, in meine eigene kleine Welt versunken.

Der Gemüsegarten bestand aus einem Stückchen Land, das sich an unseren Garten anschloss. An jenem Tag hatte ich mich wie an so vielen anderen ganz normalen Tagen über den Ziegelpfad, der von unserer Hintertür in den Garten führte, durch das Gartentor davongeschlichen. Ich war mir bewusst, dass noch andere Kinder in der Nähe waren. Ich konnte sie hören, verspürte aber nicht den Wunsch, der Ursache ihres ausgelassenen Geschreis auf den Grund zu gehen. Ich wollte mich nur in den kühlen, grünen Schatten setzen, der mich vor dem gleißenden Sonnenlicht schützte.

Ich war vier, fast fünf – ich erinnere mich noch, wie ungeduldig ich meinen fünften Geburtstag herbeisehnte –, und aus meinem zwergenhaften Blickwinkel wirkten die Gemüsepflanzen riesig. Sie wuchsen in Hochbeeten und bildeten buschige, grün gewölbte Schattenplätze mit langen Ranken, die bis über den Zaun zu klettern schienen. Als Erstes kam das Beet mit Kohlköpfen und Salat; dann folgten die Gestelle mit den riesigen, wuchernden Stangenbohnen und schließlich das Fleckchen, an dem meine Erbsen wuchsen, dicht und buschig, ein einziges Gewirr aus Ranken und Blättern und prallen Schoten.

Ich kniete mich hin, griff nach der ersten Schote in Reichweite und erfreute mich an dem befriedigenden Knacken, mit dem die Schote zwischen meinen Fingern aufplatzte. Im Inneren der dicken Hülle lagen glänzend die leuchtend grünen Murmeln, auf die ich es abgesehen hatte; ich ließ die kleinsten Kugeln in den Mund gleiten, denn sie waren gleichzeitig auch die süßesten.

Schon bald lagen überall um mich herum verstreut aufgeplatzte Erbsenschoten und verschmähte Erbsen. Ich ging völlig in meinem Tun auf und merkte nicht, dass ich an diesem Tag nicht allein in unserem Gemüsegarten war.

Was dann passierte, geschah so schnell, dass in meiner Erinnerung nur noch ein Gedankenblitz existiert. Eben noch hockte ich völlig vertieft auf der nackten Erde. Eine Sekunde später sah ich eine schwarze Hand mit einem weißen Stück Stoff aufblitzen, und ehe ich auch nur aufschreien konnte, kam der Stoff auf mein Gesicht zugerast und deckte es zu.

Wahrscheinlich versuchte ich zu schreien. Das wäre nur normal gewesen. Vielleicht gelang es mir sogar. Doch wer hätte mich in meinem geliebten Versteck gehört? Und während ich voller Überraschung und Entsetzen anfing zu zappeln, bahnte sich der scharfe Gestank irgendeiner Chemikalie seinen Weg in meine Lunge. Die Hand auf meinem Gesicht war riesengroß und rau und die Kraft desjenigen, der mich umklammert hielt, übermächtig. Der letzte Gedanke, ehe ich das Bewusstsein verlor, war schlicht: Ich muss sterben.

 

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als ich langsam aus meinem Betäubungsschlaf erwachte; alles fühlte sich sehr seltsam an. Allmählich wurde ich mir der Geräusche um mich herum bewusst, und ich zwang meine Ohren, irgendetwas zu erlauschen, das mir Sicherheit geben konnte. Wo war ich? Was war passiert?

Ich versuchte, den bleiernen Schlaf abzuschütteln, aber meine Augenlider waren viel zu schwer. Ich brachte nicht die Kraft auf, sie zu öffnen, um etwas sehen zu können, also versuchte ich weiter zu lauschen und mir das, was ich hörte, zu einem sinnvollen Bild zusammenzureimen.

Bald gelang es mir, die Geräusche von Hoftieren herauszufiltern – ich war mir ganz sicher, dass ich Hühner hörte. Und vielleicht Schweine. Enten. Außerdem hörte ich noch ein Geräusch, das mir vage bekannt vorkam. Das Geräusch eines Motors. Und bald darauf folgte die Erkenntnis, dass der Motorenlärm überall um mich herum war und ich im Rhythmus des Geräusches mitruckelte. Das Geräusch stieg an und fiel ab und ratterte, und ich ratterte mit. Ich war in einem Auto! Oder – nein, das war es wahrscheinlich! – in einem Lastwagen.

Und noch etwas war eindeutig klar. Wir fuhren über unebenen, holprigen Boden – eine Tatsache, die sich bestätigte, als ich endlich doch die Kraft fand, die Augen zu öffnen. Grelles Tageslicht blendete mich, und die Farben verwischten im Vorbeifliegen zu bunten Streifen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, und noch weniger, wohin man mich brachte; doch das Fahrzeug, in dem ich mich befand, schien sehr schnell zu sein, und ich wurde ständig hin und her geworfen.

Als Nächstes merkte ich, dass ich nicht allein in dem Lastwagen war. Obwohl es mir nicht gelang, die anderen Passagiere scharf zu sehen, konnte ich sie weinen und wimmern hören, und dazwischen immer wieder einzelne verzweifelte Schluchzer: «Lasst mich gehen», hörte ich. Es waren noch weitere Kinder in diesem Lastwagen – Kinder in Todesangst, so wie ich.

Ich weiß nicht, ob es an meiner Angst lag oder eine Wirkung der Drogen war, die sie mir gegeben hatten – jedenfalls verschwammen Stimmen und Bilder langsam zu einem Gewirr aus Geräuschen und Farben, und ich verlor wieder das Bewusstsein.

 

Als ich dann das nächste Mal wach wurde, fehlte mir immer noch jegliches Zeitgefühl. Ich konnte mich nur auf eine einzige Empfindung konzentrieren: In unregelmäßigen Abständen streifte etwas Nasses mein Gesicht. Der Boden um mich herum schien zu beben, und dann merkte ich, dass mich ein Erwachsener über der Schulter trug. Mein Körper wurde im Takt eiliger Schritte durchgerüttelt, und mein Gesicht war dem wankenden Erdboden zugewandt. Die Haare fielen mir in die Augen. Blätter und Zweige peitschten über mich. Dornen streiften Beine und Füße und rissen schmerzende Kratzer in meine Haut.

Ich wurde auf der Schulter eines laufenden Mannes durch den dichten Wald getragen, und obwohl ich ihn nicht sehen konnte, war mir bewusst, dass ein zweiter Mann neben uns herrannte. Ich hörte es knacken und rascheln und die Schritte von zwei Paar Füßen. Aber das war alles – wo waren die anderen Kinder? Die Männer schienen es mit jedem Schritt eiliger zu haben, und ich fragte mich, ob sie vor etwas davonrannten, ob sie auch Angst hatten, so wie ich. War ein Tier hinter ihnen her? Ein Ungeheuer? Ich kannte die Geschichten über die vielen schrecklichen Ungeheuer, die im Urwald lebten. Der keuchende Atem der Männer ging schwer vor Angst und vielleicht auch vor Anstrengung und sagte mir, dass wir von etwas sehr Gefährlichem gejagt wurden.

Der Mann, der mich trug, knickte ständig ein, und seine Knie wackelten. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir schon rannten oder wohin, doch ich spürte, dass wir weit gekommen waren. Der Mann strauchelte, fiel fast hin, und ich hatte viel zu große Angst, um über das instinktive Bedürfnis, mich an ihm festzuklammern, hinauszudenken. Ich konnte nur hoffen, dass wir das, wovor wir wegrannten, bald hinter uns lassen würden.

Endlich blieb er stehen, und ein brutaler Ruck ging durch meinen Körper. Ich wurde heftig herumgewirbelt, als wüsste der Mann nicht, welche Richtung er einschlagen sollte. Dann setzten wir uns doch wieder in Bewegung, kämpften uns in immer dichter werdendes Unterholz vor, bis wir schließlich wieder anhielten, diesmal noch abrupter. Ich krallte mich förmlich an dem Mann fest, doch als ich merkte, wie brutal er mich jetzt anpackte, ließ ich los, und er warf mich unsanft zu Boden.

Ich war völlig benommen. Ich versuchte aufzustehen, um zu sehen, wer mich getragen hatte, doch als ich mich endlich aufgerappelt und auf allen vieren Halt gefunden hatte und mich umschaute, sah ich gerade noch zwei Paar lange Beine davonrennen. Ein Paar braune und ein Paar weiße Beine, und bald hatte die Finsternis beide verschluckt.

Obwohl mein Instinkt mir sagte, dass diese Männer böse waren, hatte ich furchtbare Angst davor, im Dschungel ganz allein zu sein. Doch genau wie in einem schlimmen Albtraum kam kein einziger Laut aus meinem Mund, und schon bald hatten die dunklen Schatten der Bäume um mich herum die beiden Männer endgültig verschluckt. Ich verharrte eine Ewigkeit wie erstarrt auf allen vieren und wagte nicht, mich zu bewegen. Ich spähte angestrengt ins Dunkel und wünschte mir mehr als alles andere, die Männer würden zurückkommen, oder dass ich wenigstens eines der anderen Kinder würde weinen hören. Wieso kamen sie nicht wieder? Wieso waren sie weggelaufen? Wo war meine Mama? Wie sollte ich wieder nach Hause finden?

Die Nacht wurde immer schwärzer, und jetzt, da die Männer fort waren, jagten mir die unheimlichen nächtlichen Dschungelgeräusche fürchterliche Angst ein. Ich wusste nicht, wo ich war, wieso ich hier war und wann jemand kommen würde, um mich zu holen. Ich trug nur das Baumwollkleid und das Höschen, das mir meine Mutter am Morgen angezogen hatte, und ich spürte die Hitze des Erdbodens unter mir, während ich mich zu einer kompakten Kugel zusammenrollte.

In mir breitete sich ein verzweifeltes Gefühl der Verlassenheit und Einsamkeit aus, neben dem es für nichts anderes mehr Platz gab. Ich konnte nur hoffen, dass alles verschwand, wenn ich die Augen zumachte. Wenn ich sie nur fest genug zukniff, wäre die Dunkelheit vielleicht nicht mehr ganz so beängstigend und bald – bitte mach, dass es bald ist – würde meine Mama kommen und mich holen. Wenn ich nur ganz schnell einschlief, würde ich bestimmt zu Hause in meinem eigenen Bett wieder aufwachen und merken, dass all das nur ein schlimmer, böser Traum gewesen war …

2

Ich wurde von der Hitze der Sonne geweckt. Unter meiner linken Wange spürte ich nur weiche, feuchte Wärme, doch meine rechte Gesichtshälfte stand förmlich in Flammen. Es war eine starke, sengende Hitze, und als ich die Augen öffnete, war ich so geblendet, dass ich sie sofort wieder zukniff.

Noch ganz schläfrig rollte ich mich auf den Rücken und wurde langsam wach genug, um mir der nächsten Attacke bewusst zu werden. Sie galt meinen Ohren. Die Luft war voller Geräusche. Überall um mich herum erklangen seltsame Schreie und ein beängstigendes Gekreisch – Lärm, den ich nicht einordnen konnte.

Als ich meinen Augenlidern zögernd erlaubte, sich ein wenig zu öffnen, sah ich direkt hinauf in einen großen Flecken Blau. Leuchtendes, strahlendes Blau, ringsum eingerahmt von gesprenkelter Dunkelheit, und als ich durch meine Finger schaute, mit denen ich meine Augen vor dem grellen Licht abschirmte, wurde mir langsam klar, was ich da sah. Es war ein Stückchen Himmel, umgeben von einem Ring aus belaubten Baumkronen, die so weit über mir waren, dass sie zu einem einzigen, gezackten schwarzen Schatten verschmolzen.

Endlich wurde mir klar, wo ich war. Ich war im Dschungel! Diese Erkenntnis durchfuhr mich wie ein Blitz, und mit ihr kam die Panik, als mit einem Schlag die Erinnerungen an den letzten Abend zurückkehrten: Fremde Männer hatten mich bei uns im Garten gepackt und hier ausgesetzt.

Ich wischte mir die Erde von den Händen und kniete mich hin. Dann rappelte ich mich auf und machte mich daran, einen Ausweg zu suchen. Ich hatte nur einen einzigen Gedanken: die Männer wiederzufinden, die mich alleingelassen hatten. Ich wollte sie einholen und anflehen, mich wieder nach Hause zu bringen. Ich wollte zu meiner Mama. Wo war sie? Wieso war sie nicht gekommen, um mich zu holen?

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit meine Entführer mich ausgesetzt hatten. Ich lauschte angestrengt, hoffte auf irgendein vertrautes Geräusch. Kinderlachen, einen gerufenen Gruß, das Klappern eines Karrens, der vorbeigezogen wurde. Ich fing an, nach meiner Mutter zu rufen, laut schluchzend rief ich nach ihr, immer und immer wieder. Meine Kehle kratzte, weil sie so trocken war, doch zu dem Zeitpunkt verschwendete ich noch keinen Gedanken daran, etwas zu trinken oder zu essen zu suchen. Ich war völlig verzweifelt. Ich wollte nur nach Hause, und ich versuchte mit aller Kraft, dem Dickicht zu entkommen, dem Gewirr aus Lianen, die von den Baumstämmen herabhingen, dem Gestrüpp aus knorrigen Ästen und Zweigen, das mir sämtliche Auswege versperrte, und den Blättern – Blättern, die riesig und seltsam und so vollkommen anders waren als alles, was ich kannte. All dies war offensichtlich nur zu einem ersonnen: mich in dieser furchterregenden grünen Hölle gefangen zu halten.

Wohin sollte ich mich wenden? Es schien nirgendwo einen Pfad zu geben, und um mich herum war nichts Vertrautes. Ich konnte nicht einmal sagen, aus welcher Richtung wir gekommen waren.

Wohin ich auch blickte, um mich herum sah alles völlig gleich aus. Überall waren Bäume, Bäume und noch mehr Bäume, so weit das Auge reichte. Ab und zu erhaschte ich, während ich versuchte, mir blindlings stolpernd einen Weg über und unter und zwischen dem schrecklichen Gewirr hindurch zu bahnen, einen Blick auf etwas Helleres in etwas weiterer Ferne. Ein Hügel vielleicht? Doch nur zu bald schlossen sich die Mauern meines grünen Gefängnisses wieder um mich, und je weiter ich ging, desto größer wurde die Panik, die zitternd in mir bebte. Das war dumm! Wieso tat ich das? Ich sollte besser wieder umkehren! Was, wenn meine Mama kam, um nach mir zu suchen? Was, wenn sie gekommen war und mich nicht gefunden hatte? Ich machte augenblicklich kehrt, schluckte hart an den Schluchzern, die nicht enden wollten, und versuchte, den Weg dorthin zurück zu finden, wo ich vorhin aufgewacht war. Doch mir wurde ziemlich schnell klar, dass ich mich vollkommen verlaufen hatte. Es gab überhaupt keine Spuren, keinen einzigen Hinweis, der mich an die Stelle zurückführen konnte.

Ich weinte bitterlich. Ich konnte nichts gegen die Tränen tun, die mir wie Sturzbäche über das Gesicht liefen. Und während ich weiterstolperte, immer wieder von gemeinen Ästen gerissen und gekratzt wurde, versuchte ich, irgendwie zu begreifen, wie ich hierher gekommen war. Steckten meine Eltern dahinter? Hatten sie mich loswerden wollen? War das der Grund? Ich versuchte zu begreifen, warum sie so böse auf mich waren. Was hatte ich getan? War es wegen der Erbsen? Waren sie wütend auf mich, weil ich so viele Schoten gepflückt hatte? Hatten meine Mama oder mein Papa den bösen Männern gesagt, sie sollten mich holen kommen?

Ich versuchte, mich an den Mann zu erinnern, der mich im Gemüsegarten gepackt hatte. An den schwarzen Mann, der mir seine Hand auf den Mund gelegt hatte. Wer war er? Ein Onkel? Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie er ausgesehen hatte. Er war sehr groß und sehr stark gewesen. Hatte er mich gekannt? Mein wertvollster Schatz damals war meine wunderschöne schwarze Puppe gewesen, und aus irgendeinem Grund ging mir diese Tatsache bis heute nie ganz aus dem Kopf. Wir waren eine hellhäutige Familie, und ich hatte trotzdem eine schwarze Puppe. Hatte das etwas zu bedeuten?

Mittlerweile war ich zu erschöpft und zu durcheinander, um mich weiter wie eine Wilde durch das endlose, hüfthohe Dickicht zu kämpfen. Meine Schritte wurden langsamer, ich ließ die Schultern hängen und verlor allen Mut. Doch was blieb mir anderes übrig, als mich weiterzuschleppen? Es war im Grunde keine bewusste Entscheidung. Ich ging einfach weiter, weil ich vielleicht ja doch noch einen Weg aus dem Dickicht finden oder auf jemanden stoßen würde, der mir helfen konnte. Oder auf irgendein Zeichen, das mir sagte, dass ich dem Weg nach Hause vielleicht doch einen Schritt näher gekommen war.

Aber mit der Zeit wuchs mit der Anzahl der Schrammen auf Armen und Beinen auch die Angst, dass dies nicht geschehen würde. Und als die Dämmerung kam, schwand zusammen mit der Sonne auch meine letzte Hoffnung. Der Abend war da. Gute-Nacht-Zeit. Der Tag war vorbei. Ein ganzer Tag war vergangen, und ich war immer noch im Dschungel gefangen. Ich würde noch eine Nacht allein verbringen müssen.

Die Nacht war schwärzer als alles, was ich je erlebt hatte. Sosehr ich mich auch anstrengte, bis auf das ferne Glimmen der Sterne konnte ich nicht den winzigsten Funken Licht sehen. Der Himmel selbst wirkte seltsam nah – fast, als wäre er auf mich gefallen, als würde er sich wie eine riesengroße Bettdecke um mich breiten und mich zusammen mit den Geschöpfen der Nacht unter sich begraben. Ohne die Nachwirkungen des Betäubungsmittels, das mir in der ersten Nacht die Sinne vernebelt hatte, nahm der Schrecken in mir verzweifelte Ausmaße an. Überall um mich herum herrschte wieder dieser Lärm, eine unvorstellbare Lautstärke und Vielfalt von Geräuschen, die – das wusste ich aus den Geschichten der Erwachsenen – von den wilden Dschungeltieren stammten, die nachts aus ihren Verstecken kamen. Und zwar weil es ihnen im Schutze der Dunkelheit leichter fiel, ihre Beute zu fangen.

Während sich die Dunkelheit herabsenkte, um mich bei lebendigem Leibe zu fressen, suchte ich verzweifelt ein Versteck und stieß schließlich am Fuße eines Baumes mit breiten Wurzeln auf einen kleinen Flecken blanker Erde. Hier saß ich nun, und während die Luft um mich dichter und immer schwärzer wurde, rollte ich mich wieder zu einer Kugel zusammen, den Rücken an die tröstliche Festigkeit des Baumstamms gepresst, die Arme schützend um die angezogenen Knie geschlungen.

Ich wusste genau, dass ich ganz still und ruhig sein musste. Wie bei einem Spiel, sagte ich mir. Wie beim Versteckspiel. Wenn ich mich nicht bewegte und keinen Mucks von mir gab, wussten die Geschöpfe der Nacht nicht, dass ich da war.

Umgekehrt war ich mir ihrer Gegenwart nur allzu bewusst. Ich hatte schreckliche Angst. Unzählige verschiedene Geräusche drangen an mein Ohr, einige davon ganz nah. Ich hörte das gleiche Rascheln, das ich fabriziert hatte, als ich durchs Laub gelaufen war. Und Getrippel – das Geräusch winziger Tiere ganz in der Nähe. Und dann ein Knacksen. Ein lautes Knacksen, fürchterlich nah. Ich kauerte mich zusammen. Es war etwas Trockenes – tote Zweige? –, das beim Darauftreten knackte. Das Geräusch bewegte sich um mich herum. Was auch immer es war, das Ungeheuer schien mich zu umkreisen, auf den richtigen Moment zum Sprung zu warten. Ob es mich mit seinen riesigen Nachtaugen sehen konnte? Und was war das für ein Rascheln? Sein langer Schwanz? War das ein kinderfressendes Ungeheuer? Konnte es mich riechen?

Ich versuchte, mich ganz klein zu machen. Ich wünschte mir sehnlich einen Käfig herbei, in dem ich mich verstecken konnte. Einen Käfig, der mich vor scharfen Klauen und reißenden Zähnen beschützte. Und ein Licht. Wie sehr ich mich danach sehnte, dass meine Mama mit einer Lampe kam, um das Ungeheuer zu verscheuchen!

Doch dann erschreckte sich das Tier, das mich umkreiste, selbst vor irgendetwas, denn es sprang lärmend davon, und ich verspürte einen gesegneten Moment der Erleichterung. Doch er war nicht von Dauer. Während die Nacht fortschritt und ich zu einer kompakten Kugel zusammengerollt schlaflos in meinem hohlen Baumstamm lag, bescherte mir meine nächtliche Blindheit nur noch mehr Furcht. So beängstigend der Anblick sich nähernder Dschungeltiere auch sein mochte – sie nicht sehen zu können, war noch viel, viel schlimmer. Hilflos und vor Angst und Schrecken zitternd lag ich da, während unsichtbares Kriechgetier mir über die Gliedmaßen krabbelte, mein Gesicht erkundete und mir in die Ohren schlüpfte. Ich sehnte mich so sehr nach Schlaf, wie ich mich noch nie im Leben nach etwas gesehnt hatte, weil auch der allerschlimmste Albtraum nicht schlimmer sein konnte als der, in dem ich gerade gefangen war.

 

Am nächsten Morgen wurde ich wieder von der Sonne geweckt. Sie schien mit derselben Kraft aus demselben gleißend blauen Himmel wie am Vortag. Es dauerte eine Weile, bis ich mich dazu überwinden konnte, die Augen zu öffnen.

Im tröstenden Halbschlaf hätte ich fast glauben können, die Wärme stamme von meiner Bettdecke zu Hause und die Sonne scheine durch mein Zimmerfenster herein. Doch die Geräusche des erwachenden Dschungels vertrieben diese Gedanken und rissen mich brutal zurück in die Wirklichkeit.

Ich lag in meinem Baumstamm und weinte, die Kehle rau und trocken, während mir vor Hunger der Bauch weh tat. Aber ich konnte nicht ewig weinen. Und außerdem hörte mich sowieso niemand. Ich rieb mir mit den Handrücken mein verquollenes, verweintes Gesicht ab, und als mein Blick klar wurde, dachte ich, ich hätte gerade einen Schmetterling gesehen.

Ich sah noch einmal hin. Nein, nicht ein Schmetterling. Es waren viele, viele Schmetterlinge, in allen möglichen Farben, und sie flatterten rund um meinen Kopf herum. Sie umtanzten die Blüten wunderhübscher rosaroter und weißer Blumen, die von langen, grünen Stängeln herabhingen und von weit oben in den Bäumen zu kommen schienen. Es war faszinierend, und während um mich herum der Morgendunst aus dem Dschungelboden aufstieg, war meine Aufmerksamkeit ganz und gar davon gefesselt.

Doch der Schmerz in meinem Magen ließ mir keine Ruhe. Ich war hungrig und musste etwas zu essen finden. Aber was? Auf dem Boden lagen Schoten verstreut, die ich sorgsam untersuchte. Sie rochen gut, durchtränkten sogar die Luft um mich herum mit ihrem Duft, doch sie waren schwarz und schrumpelig, und ich musste nur eine einzige aufpulen, um zu sehen, dass diese Schoten mit Erbsen nichts zu tun hatten. Ob es hier Erbsen gab? Oder Mais? Vielleicht gelang es mir, welchen zu finden. Ich stand auf und fing an, meine Umgebung zu erkunden.

Ich war noch zu klein, um auf die Idee zu kommen, dass ich mich an all den fremdartigen Pflanzen, Beeren und Früchten hätte vergiften können, die ich um mich herum entdeckte. Ich wollte sie nur deshalb nicht essen, weil sie fremd und unappetitlich aussahen. Nirgendwo in diesem Dickicht fand ich etwas, das mir vertraut vorkam.

Ich dachte über meine schlimme Lage nach. Wenn ich nichts zu essen fand, würde ich verhungern. Und dann, das wusste ich aus meinen Bilderbüchern und den Geschichten der Erwachsenen, wäre ich tot und die wilden Tiere würden mich auffressen. Doch wie es aussah, gab es hier nichts zu essen für mich. Und weil ich nicht sterben und von den wilden Tieren gefressen werden wollte, entschied ich wieder, dass ich nicht bleiben konnte, wo ich war. Heute würde ich laufen. Ich würde laufen und immer weiter laufen. Wenn keine Hilfe zu mir kommen wollte, würde ich mir die Hilfe eben selbst suchen müssen. Ich beschloss, so lange zu laufen, wie meine Beine mich trugen, und das war hoffentlich so lange, bis ich einen Menschen gefunden hätte, der mir etwas zu essen gab und mich zurück zu meinen Eltern brachte.

Und wieder schlug ich mich durch das undurchdringliche Dickicht, mit keinem anderen Plan als dem, von dort wegzukommen, wo ich war. Schließlich waren die beiden Männer mit mir in den Dschungel hineingerannt, und wenn ich nur lange genug ging, dann musste ich auch wieder herauskommen.

Mein Blick reichte kaum je weiter als bis zum nächsten Blättergeflecht, und schon bald protestierte meine Haut gegen jeden weiteren Kratzer; denn jedes Mal, wenn ich einen Zweig zur Seite bog, schnellte er umso heftiger wieder zurück, um mich dafür zu bestrafen, dass ich ihn in seiner Ruhe gestört hatte. In dem gespenstisch grünen Gewölbe über mir und um mich herum war es heiß und stickig und eng, und schon bald war meine Suche nach Nahrung vergessen. Von den Bäumen über mir tropfte es immer wieder, der Dunst um mich herum hob und verflüchtigte sich, und ein neues Gefühl verdrängte den eben noch so nagenden Hunger. Ich merkte, dass ich furchtbar durstig war.

Doch wie sollte ich hier Wasser finden? Ich hatte keine Ahnung. Alles um mich herum glänzte vor Feuchtigkeit, aber es schien unmöglich, irgendwo Trinkwasser zu finden. Ich fing an, meine Umgebung systematischer ins Auge zu fassen. Wo ließ sich an so einem Ort Trinkwasser finden?

Ich sah mich nach Mulden in Steinen und Spalten um und suchte den Waldboden nach Pfützen ab. So wie die Insekten, die summend und flirrend in sämtliche Richtungen davonstoben, spähte ich hoffnungsvoll in alle möglichen Blütenkelche hinein, bis ich schließlich auf eine Pflanze mit aufgerollten, fast tassenartigen, behaarten Blättern stieß. Wenn sie schon wie Tassen aussahen, dachte ich, funktionierten sie vielleicht auch so, und tatsächlich: Als ich in eines der Blätter hineinsah, schimmerte mir eine kleine Pfütze entgegen.

Es war ein Gefühl, als hätte ich einen geheimen Schatz gefunden. Ich zog den Blattkelch zu mir heran und beugte mich darüber. Mit geteilten Lippen berührte ich die schimmernde Flüssigkeit. Es fühlte sich himmlisch an, und so kippte ich das Blatt vorsichtig mir entgegen und ließ mir den Rest in den Mund laufen. Das Wasser schmeckte seltsam. Es war, als würde ich Erde trinken. Doch das war mir egal. Einen kurzen Augenblick lang war mein Durst gestillt.

Nach kurzer Zeit konnte ich dies noch gründlicher tun. Ich entdeckte tatsächlich einen kleinen Bach. Das Wasser lief spritzend über die Steine, und als ich diesmal trank, schmeckte es kalt und sauber und wunderbar. Doch mein Magen ließ sich nicht täuschen. Er beklagte sich knurrend, und als ich weiterging, konzentrierte ich mich wieder darauf, etwas zu essen zu finden.

Ich fand zwar nichts zu essen, dafür aber einen Papagei. Obwohl ich vor Hunger ganz schwach war, zog der Vogel mich in seinen Bann. Er war etwa so groß wie ein Kürbis, blau und grün und gelb gefiedert, saß auf einem niedrigen Ast und schnatterte vor sich hin. Der Anblick war tröstlich, wie er so keck dasaß und mich einfach ansah. Ganz instinktiv verspürte ich den Wunsch, ihm nahe zu sein. Ich streckte die Hand aus. Vielleicht wollte er sich auf meinen Finger setzen, so wie die zutraulichen Papageien bei uns im Dorf es manchmal taten.

Doch ich hatte mich getäuscht. Kaum war ich in Reichweite gekommen, lehnte er sich vor, krächzte laut und biss mir kräftig in den Daumen; dann flog er, offensichtlich höchst verärgert, davon. Ich sah auf meinen schmerzhaft pochenden Daumen hinunter und brach beim Anblick des Bluts, das mir über die Hand lief, wieder in heiße Tränen des Selbstmitleids aus. Diesen Moment habe ich nie vergessen; er sollte mir in den kommenden Jahren – und Jahrzehnten – lieb und teuer werden, denn ich erkannte darin irgendwann den Schlüssel zu meinem Überleben. Ich war zutiefst erschrocken, weil ein so schönes Geschöpf wie dieser Papagei die Absicht hegte, mir weh zu tun, doch gleichzeitig legte dieser Schrecken den Grundstein zu meiner womöglich wichtigsten Lektion überhaupt. Der Dschungel war kein von Menschen geschaffener Ort mit hübschen, zahmen Haustieren. Der Dschungel war ein wilder Ort, und wilde Tiere töteten, um zu überleben. Mir blieb nichts anderes übrig, als niedergeschlagen meinen Weg fortzusetzen.

Meine Stimmung sollte sich schon bald wieder aufhellen. Kurz nach der unseligen Begegnung mit dem Papagei merkte ich, dass sich meine Umgebung veränderte. Das Dickicht schien sich ein wenig zu lichten. Sofort war der unangenehm pochende Daumen vergessen, und ich schob die nicht mehr ganz so dichten Barrikaden aus Schlingpflanzen und Zweigen mit dem hoffnungsvollen Gefühl beiseite, ihnen womöglich tatsächlich bald zu entkommen. Immer entschlossener stolperte ich vorwärts, während immer offensichtlicher wurde, dass ich auf eine Art Lichtung zuging. Je näher ich kam, desto mehr schienen mir meine Augen zu bestätigen, dass ich auf dem richtigen Weg war. Ich erblickte immer mehr Anzeichen dafür, dass der Dschungel in unmittelbarer Nähe einer freien Fläche wich.

Das musste es sein! Ich war so sehr darauf versessen, endlich den Waldrand zu erreichen, dass ich die vielen störrischen Äste und Zweige und Schößlinge gar nicht mehr bemerkte, die mich unablässig peitschten und schlugen. Mit einem Gefühl inneren Jubels brach ich schließlich durchs Unterholz ins Freie und fand mich auf einer Wiese wieder. Doch die Freude war von grausam kurzer Dauer. Im selben Augenblick, als ich der grünen Hölle hinter mir endgültig entronnen war und im Freien stand, erkannte ich, dass auf der anderen Seite der struppigen, vertrockneten Graslichtung dasselbe undurchdringliche Dickicht auf mich wartete, dem ich gerade entronnen war. Ich war so weit gekommen! Ich war so lange gelaufen! Ich war erschöpft und immer noch hungrig, und es gab nirgendwo einen Ausweg. Ich war, das wusste ich genau, nur noch tiefer in den Dschungel hineingelaufen.

Warum?, dachte ich. Warum, warum, warum, warum war mir das passiert? Warum war meine Mama nicht gekommen, um nach mir zu suchen? Womit hatte ich das verdient? Und falls dies wirklich eine Strafe war, dann für was? Ich sah an mir herunter und betrachtete mein Kleid, das einmal weiß mit rosaroten Blümchen gewesen und jetzt nur noch ein zerlumpter, schmutziger Fetzen war, voller Dreck und Blut. Ich hatte keine Schuhe an, meine Füße waren zerschunden, aufgerissen und dreckig, und mein Magen und meine Seele rebellierten. Wie ein Häuflein Elend sank ich zu Boden. Ein Hauch von Gras und der allgegenwärtige, penetrante Geruch von Erde drangen mir in die Nase. Ich konnte nur noch daliegen und weinen. Ich wollte nach Hause, ich wollte zu meiner Mama, ich wollte getröstet und in den Arm genommen werden. Aber ich war völlig allein. Hier gab es nichts und niemanden, woran ich mich klammern konnte.

So blieb ich eine Ewigkeit zusammengekauert liegen, und womöglich schlief ich sogar für eine Weile ein. Ganz bestimmt sogar, denn mir war, als hätte ich fürchterliche Albträume. Seltsame Dschungelgeräusche ließen mich zusammenzucken, überall erklangen laute Schreie und Rufe, die mich verhöhnten. Zweige knackten, das Gras raschelte, und ringsumher hörte ich seltsame Schnalzlaute und dumpfe Schläge.

Ich wollte sterben. Doch irgendwann meldete sich trotz aller Hoffnungslosigkeit und Angst der Hunger zurück, und der heftige Schmerz in meinem Bauch genügte, um mir klarzumachen, dass ich doch nicht so bald sterben würde.