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WISSEN IM NORDEN

Maren Ermisch

THEODOR
STORM

Dichter – Bürger

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© 2017 Wachholtz Verlag – Murmann Publishers, Kiel/Hamburg

eISBN 978-3-529-09231-2

Inhalt

Zur Einführung

1 »Die Spur von meinen Kinderfüßen« – Husum 1817–1835

2 »Hier war höhere Luft, bedeutendere Menschen« – Lübeck 1835–1837

3 »Du bist so ein kleines Mädchen« – Bertha von Buchan 1836–1842

4 »Ein beständiger, lebendiger Gedankenaustausch« – Studium in Kiel und Berlin 1837–1842

5 »Denkst Du wohl jetzt an mich? ja? immer?« – Verlobungszeit, Heirat und erste Ehejahre 1843–1848

6 Ein »wenig politischer Mensch«? – Storm und die Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins 1848–1853

7 »Der Wall des Preußischen Rechts liegt zwischen mir und der Poesie« – Potsdam 1853–1856

8 »Eine ungestörte Behaglichkeit provinzialen Stillebens« – Heiligenstadt 1856–1864

9 »Meiner Heimat treuster Sohn« – Zurück in Husum 1864–1880

10 »Ich schaue weit hinein in die Lande« – Hademarschen 1880–1888

Literaturhinweise

Zur Einführung

»Dichtertum ist die lebensmögliche Form der Inkorrektheit«, das hat Thomas Mann 1930 in seinem großen Essay über den schleswig-holsteinischen Kollegen und sein Vorbild Theodor Storm geschrieben. Weiter stellt er fest: »Korrekt gerade ist eigentlich nichts bei Storm«. Dass dieses Nicht-ganz-Korrektsein die Basis für Storms Werk ist, belegt er in seinem Dichterporträt auf einfühlsame Weise. Damit ist Thomas Mann der erste, der aufmerksam die Brüche in Storms bürgerlicher Existenz betrachtet. Er zeigt, dass der vermeintlich so bürgerliche Husumer Heimatdichter gerade die Widersprüche, die Freund und Feind gern übersehen haben, zur Quelle seiner Kunst macht. Thomas Mann will das landläufige Bild vom Heimatdichter umkehren, das Storms Werk anschlussfähig macht für die Heimatkunst- und die ihr folgenden Blut-und-Boden-Bewegungen. Deswegen spricht er mit großem Nachdruck von der »Weltwürde« der Storm’schen Dichtung, die ihren Ursprung vor allem in seinen »Inkorrektheiten« habe.

Dieser Einschätzung Thomas Manns hat sich lange niemand anschließen wollen. Dennoch ist es sein Essay, der die Brüche und Widersprüche in Storms Biografie und Weltsicht erstmals sichtbar macht und zeigt, dass sich Storms Werk aus genau daraus speist. Seit kommentierte Editionen der Briefwechsel ebenso vorliegen wie sorgfältig recherchierte Biografien, die auf einer Vielzahl von ausgewerteten Dokumenten beruhen, hat sich gezeigt, dass Thomas Manns frühe Würdigung Storms oftmals erstaunlich weitsichtig ist. Auch dieser Band macht sie zur Grundlage seiner Darstellung. Zudem stütze ich mich dankbar auf die Biografien von Bollenbeck, Jackson, Laage und Missfeldt, die Einführung von Fasold (vgl. die Literaturhinweise), die Kommentare in der von Laage und Lohmeier herausgegebenen Werkausgabe und die im Erich Schmidt Verlag erschienene »Kritische Ausgabe« der Briefwechsel.

Diese kurze Übersicht über Storms Leben und Werkgeschichte kann dabei nicht auf Vollständigkeit angelegt sein, sondern greift nur einige Punkte aus seiner Biografie und seinem Schaffen heraus, die exemplarisch für seine Entwicklung stehen können. Weiterreichende Informationen und Vertiefungen finden sich in den genannten Biografien und Forschungsbeiträgen im Literaturverzeichnis. Zugunsten einer besseren Lesbarkeit wird auf Einzelnachweise verzichtet.

1. »Die Spur von meinen Kinderfüßen« – Husum 1817–1835

»Korrekt gerade«, wie Thomas Mann es formuliert, ist nicht einmal die Geburt von Hans Theodor Woldsen Storm: Während die Mutter seinen Geburtstag auf Sonntag, den 14. September 1817 datiert, verzeichnet das Kirchenregister den 15. September. Der Sohn selbst glaubt der unmittelbar beteiligten Mutter mehr als der kirchlichen Verwaltung, jedenfalls feiern Familie und Forschung den Geburtstag am 14. September.

Die Stadt, in der Storm geboren wird, ist 1817 eine verschlafene Kleinstadt mit ca. 3 700 Einwohnern und ohne viel Austausch mit dem Rest der Welt. Husum gehört zum dänischen Gesamtstaat, die Storms sind also Untertanen des dänischen Königs. Die Straßen der Stadt sind schlecht, wie der Dichter in seinen autobiografischen Texten betont: »keine Kunststraße führte aus unsrer Stadt zu einer andern«, das benachbarte Friedrichstadt ist bei aufgeweichtem Marschboden nur schwer zu erreichen: »die Pferde traten tief in den durchweichten Boden und zogen schwer ihre Hufen aus der sich um dieselben ansaugenden fetten Tonerde; erzählt wurde dabei gewöhnlich, daß schon Pferde den Fuß nackt, ohne die hornene Hufbedeckung wieder heraus gezogen hätten.« Befestigte Straßen werden ab 1844 angelegt. Den ersten Eisenbahnanschluss (nach Tönning und Flensburg) lässt die dänische Regierung knapp zehn Jahre später bauen; und erst 1887 gibt es auch eine direkte Bahnverbindung nach Hamburg. An Straßenbeleuchtung ist nicht zu denken: Storm behauptet, die einzige Laterne habe am Hafen gestanden, was aber nicht verhindern konnte, dass dennoch nachts Passanten ins Hafenbecken gefallen seien.

Husum war nach einer Sturmflut 1362, die den Untergang des legendär reichen Handelspostens Rungholt und eine Veränderung der Küstenlinie zur Folge hatte, zur Hafenstadt geworden. Die Stadt prosperierte ab Ende des 14. Jahrhunderts, indem sie vor allem Umschlagplatz für landwirtschaftliche Erzeugnisse aus der fruchtbaren Marsch war und Handel u.a. mit den Niederlanden und Großbritannien betrieb. Im 16. Jahrhundert war der Höhepunkt dieser Macht erreicht, als Husum sogar Hamburg Konkurrenz zu machen drohte, bis die Häfen in Tönning und Friedrichstadt in unmittelbarer Nachbarschaft einen Teil des Handelsaufkommens abzogen. Pest-Epidemien und die Besatzung der Stadt im Dreißigjährigen Krieg forderten auch von Husum Tribut, und schließlich beendete 1634 eine zweite verheerende Sturmflut den weiteren Aufstieg. Besonders Nordfriesland hatte große Schäden und hohe Opferzahlen zu beklagen: Die Deiche brachen, weite Teile des Landes wurden überspült. Auch wenn die Schäden in Husum selbst gering ausfielen, so waren doch die Bauern im Umland stark betroffen. Viele hatten ihren gesamten Besitz eingebüßt und konnten ihre Felder nicht mehr nutzen. Das traf auch Händler und Kaufleute in Husum hart, die zudem einen Großteil ihrer Flotten verloren hatten; der wirtschaftliche Niedergang begann.

Zur Zeit von Storms Geburt gibt es in Husum eine gebildete Mittelschicht, die von Handel und Handwerk lebt und noch vom Glanz der alten Zeiten träumt, in denen auch Storms Urgroßvater, Senator Friedrich Woldsen (1725–1811), zu den reichen Kaufmännern gehörte. Storm schreibt rückblickend über ihn, er sei »der letzte große Kaufherr« der Stadt gewesen. Von der Flotte ist zwar nichts mehr übrig, wohl aber vom Wohlstand: Die Familie Woldsen zählt zu den ersten Kreisen der Stadt. Nicht nur der Urgroßvater, auch der Großvater, Simon Woldsen (1754–1820), war Senator gewesen und hatte so die Geschicke der Stadt mitbestimmt. Schon in den vorangegangenen Generationen hatten Angehörige der Familie zudem das Amt zunächst des zweiten und schließlich auch des ersten Bürgermeisters der Stadt bekleidet. Die Familie gehört damit zu einer Stadtelite, die nach wie vor hierarchisch organisiert ist: hohe Verwaltungs- und Militärämter waren im Herzogtum Schleswig zwar häufig noch dem Adel vorbehalten, aber die höhergestellten Bürgerväter versuchten zunehmend, ihren Söhnen gute Posten zu verschaffen.

Das Bürgertum setzte seit Ende des 16. Jahrhunderts verstärkt auf Leistung und Bildung, um mit dem Adel mitzuhalten, und schickte seine Söhne auf teure Schulen und Universitäten mit dem Ziel, ihnen den Einstieg in eine Karriere etwa in der Kirche oder der höheren Verwaltung zu ermöglichen. Die Husumer Lateinschule wurde eigens zu dem Zweck gegründet, Schüler auf ein Studium vorzubereiten. Noch immer bestimmten Herkunft und Finanzkraft die gesellschaftlichen Möglichkeiten. Nicht zuletzt deshalb hatte Theodors Vater, Johann Casimir Storm (1790–1874), sich Lucie Woldsen (1797–1879) als Gattin gewählt. Storm war Sohn eines Müllers und hatte auf Wunsch des Vaters Jura studiert, weil der ältere Bruder die Mühle übernahm. 1815 hatte er eine eigene Kanzlei in Husum eröffnet und heiratete in die ersten Kreise der Stadt ein.

In Theodor Storms autobiografischen Schriften ist es der mütterliche Familienzweig, auf den er ausführlich eingeht, und aus dem sich sein eigenes Selbstbewusstsein speist. Die väterliche Familie wird darin – bis auf die Schilderung der Sommerfreuden auf dem Lande – eher vernachlässigt. Obwohl der Vater in Husum einen hervorragenden Ruf genießt und 1840 vom dänischen König den Dannebrogorden für treue Dienste verliehen bekommt, sind es die Senatoren der mütterlichen Familie, auf die der junge Storm sein übersteigertes bürgerliches Selbstbewusstsein gründet. Auf diese Tradition beruft er sich immer wieder, sie stärkt und festigt ihn. Er ist überaus stolz darauf, behauptet auf dieser Grundlage seine Position in der Stadt und leitet aus seiner ganz privaten Ahnengalerie ein hohes bürgerliches Standesbewusstsein ab, das in manchen Ausprägungen dem adligen Standesdünkel eigentlich recht ähnlich ist, den er selbst so gern und unermüdlich kritisiert. Gegenüber Aristokraten betont Storm mit großem Nachdruck seine bürgerliche Abstammung, etwa wenn er dem Heiligenstädter Freund Alexander von Wussow eine Tasse schenkt, die das von Storm eigens für diesen Zweck entworfene Familienwappen einer Windmühle zeigt. Hier geht es ihm darum, sich gegenüber der Adelswelt als Bürger zu behaupten, der um nichts schlechter ist als jeder Adlige, ja eher im Gegenteil sich gerade durch seine Menschlichkeit und Güte auszeichnet. Den Stolz auf die Familie versucht Storm später auch seinen Kindern zu vermitteln, indem er sein familiäres Selbstbewusstsein deutlich sichtbar nach außen demonstriert. So berichtet der Schriftstellerkollege Wilhelm Jensen von einem Besuch bei der Familie:

Es hatte durchaus nichts mit Dichtereitelkeit, überhaupt nichts mit seiner eigenen Persönlichkeit zu tun, daß die Zugehörigkeit zur Stormschen Familie, ihr Name etwas Besonderes in sich trug; einen halb drolligen Eindruck machte es, als er uns zuerst seine Kinder vorstellte: Mein Sohn Hans Storm – mein Sohn Karl Storm – mein Sohn Ernst Storm – meine Tochter Lucie Storm und so fort; erst später begriff ich, was für ihn in der jedesmaligen Beifügung des Familiennamens gelegen.

Auch wenn Jensen das hier vehement bestreitet, sicher war durchaus ein Schuss Dichtereitelkeit dabei. Denn Storm ist nicht nur stolz auf das, was seine Familie erreicht hat, sondern auch auf die eigenen Leistungen als Dichter.

Das für Husumer Verhältnisse stattliche Haus der Familie Woldsen in der Hohlen Gasse ist der Inbegriff ihrer gesellschaftlichen Stellung. Der Urgroßvater Friedrich Woldsen hatte es um 1770 für seinen Sohn errichten lassen. Nachdem dieser 1821 gestorben war, zog Johann Casimir Storm mit seiner Frau Lucie und den Kindern Theodor und Helene dort bei der Großmutter ein. Dem kleinen Theodor, dem ersten von sieben Kindern, stehen alle Türen offen. Er hat Freunde aus allen gesellschaftlichen Schichten und wird stark von dem kleinstädtischen Milieu geprägt, in dem er aufwächst und das er in seinen Texten immer wieder schildern wird. In der kleinen Stadt kennt den Anwaltssohn jeder.

Der Vater ist völlig auf Husum bezogen, die Welt jenseits der Stadt interessiert ihn wenig. Für Musik und Kunst hat er nichts übrig, auch nicht, wenn sein Sohn sich darin übt. Johann Casimir arbeitet mit großem Fleiß und eiserner Disziplin in seiner Kanzlei und ordnet dieser Arbeit sein Privatleben unter. Auf diese Weise hat er sich ein großes Kapital erarbeitet, von dem sein Sohn Theodor, der das hohe Arbeitsethos seines Vaters nicht gerade teilt, ein Leben lang profitieren wird. Weil Johann Casimir zu den größten Steuerzahlern der Stadt gehört, hat er auch politischen Einfluss und wird 1836 als Abgeordneter für Husum in die Schleswiger Ständeversammlung gewählt. Dort übernimmt er das Amt des Sekretärs und ist damit der wichtigste Abgeordnete für den Bezirk Nordfriesland.

Storm berichtet, dass sein Vater ein sehr »heftiges Temperament« gehabt habe. Ähnliches sagt der Vater aber auch über seinen Sohn, den er als launenhaft bezeichnet. Er ist ein überaus autoritärer und strenger Patriarch, der Gehorsam fordert und auch erhält. Die Berufswahl seiner Kinder bestimmt er und erwartet von Theodor ein Leben lang die Arbeitsdisziplin, die er selbst aufbringt. Für dessen dichterische Tätigkeit hat er wenig Verständnis, glaubt er doch, diese halte den Sohn nur von ernsthafter bürgerlicher Arbeit ab. Theodor scheint den Vater daher auch nicht besonders geliebt zu haben, so schreibt er seiner Braut Constanze: »Im Herzensgrunde sind wir uns gegenseitig so recht durch und durch zuwider.« Seine Mutter findet Storm »bis zum Exceß langweilig«, auch wenn er von ihr die Liebe zu Musik und Kultur übernimmt. Wann immer er von ihr spricht, hebt er ihre besondere Schönheit hervor, hat sonst aber nicht viel über sie zu sagen.

Finanziell und gesellschaftlich ist Theodor bestens abgesichert, emotional fühlt er sich rückblickend unterversorgt. Obwohl er später sehnsuchtsvoll auf die glückliche Welt seiner Kindheit zurückschaut, behauptet er dennoch, er habe im Elternhaus nicht genug Liebe und Zärtlichkeit erfahren, Vater und Mutter seien zu beschäftigt oder zu gleichgültig gewesen, um sich intensiv ihrem Ältesten zu widmen: »Ein nahes Verhältnis fand während meiner Jugend zwischen mir und meinen Eltern nicht statt; ich entsinne mich nicht, daß ich derzeit jemals von ihnen umarmt oder gar geküßt worden.« Ähnlich wird er sich in einem Brief an Constanze äußern: »Mutter ist nicht gewohnt ihre Liebe für uns durch zärtliche Äußerungen zu erkennen zu geben; sie liebt uns […] aber nicht weniger deßhalb.« Dennoch empfindet er das Defizit schmerzlich. Ein Leben lang wird ihn eine irrationale Angst vor dem Verlassenwerden quälen, wird er panisch reagieren, wenn er das Gefühl hat, seine Familie und seine Freunde liebten ihn nicht mehr, und wird Beweise der Zuneigung von seinen Mitmenschen einfordern. Positiv geschilderte Muttergestalten finden sich in seinem Werk selten. Die Frau taucht fast nur als gute oder schlechte Ehefrau auf, fast niemals aber als Mutter – sieht man einmal von der Novelle Viola tricolor ab, wo es aber im Kern auch mehr um das Verhältnis der Ehepartner und weniger um das zwischen Mutter und Stieftochter geht. Eine Ausnahme ist die späte Novelle Schweigen, wo die Mutter die Rolle der überfürsorglichen Beschützerin spielt. Glückliche und intakte Familien sind also rar gesät in Storms Werk, denn auch die Väter haben meistens ein hochproblematisches Verhältnis zu ihren Kindern, vor allem zu ihren Söhnen.

Weil er vorgezeigte Liebe und Zärtlichkeit bei den Eltern vermisst, bindet Storm sich besonders eng an seine zweite, vier Jahre jüngere Schwester Lucie. Ihr Tod 1829 bedeutet ein einschneidendes Erlebnis für den Bruder, der 1862 behauptet, dieser Verlust habe ihn sein erstes Gedicht verfassen lassen; jedenfalls aber widmet er der Schwester 1852 ein Gedicht, das ihren Namen trägt. Sie und die Zeit mit ihr sind für ihn der Inbegriff des Kinderfriedens, nach dem er sich lebenslang sehnen, zu dem er aber nicht zurückfinden wird. Vielleicht erklärt sich aus diesem frühen Verlust auch seine Vorliebe und Sympathie für junge Mädchen wie Bertha von Buchan und Dorothea Jensen, die sein bürgerliches Leben durcheinanderbringen und den Unmut seines familiären Umfelds auslösen. Diese Vorliebe ist es, über die Thomas Mann feststellt, sie sei »nicht ganz korrekt«. Überhaupt finden sich in Storms frühen Erzählungen und in den Gedichten viele kleine Mädchen, die Verkörperungen einer einst glücklichen Kindheitswelt sind. Die zuckersüßen Kindlein, Engelein, Bräutchen, Püppchen, Liebchen, Lockenköpfchen mit ihren Gesichtchen, Tüchelchen, Kleidchen, Füßchen, Stiefelchen und Blümelein sind Legion. Kleine Mädchen, die mit bewundernden Blicken zu einem älteren Jungen oder Mann aufsehen, sind in Storms Texten ein gern geschildertes Motiv.

Auch seine Urgroß- und Großmutter hat Storm in liebevoller Erinnerung, so dass der Garten seiner Urgroßmutter zum Inbegriff des Kindheitsparadieses werden kann. In den Frauen-Ritornellen von 1871 erinnert er sich daran und merkt traurig an: »Die Spur von meinen Kinderfüßen sucht’ ich / An eurem Zaun; doch konnt’ ich sie nicht finden.« Zu dieser heilen Kindheitswelt gehört auch die Bäckerstochter Lena Wies, eigentlich Sophia Magdalena Jürgens (1797–1868), denn Storm ist der erklärte Liebling ihrer Familie. Lena erzählt dem kleinen Jungen allabendlich Geschichten, wozu seine Mutter, die einem großen Haushalt vorsteht, keine Zeit hat. Viele seiner späteren Texte, darunter, wie Storm behauptet, auch noch der Schimmelreiter von 1888, profitieren von dem Stoff, den sie ihm nahegebracht hat. Er besucht sie auch später regelmäßig, schickt seine Bücher und widmet ihr 1873 ein Gedenkblatt zur Erinnerung an »viele glückliche Stunden meiner Jugend«. Es scheint, als habe die einfache Bäckersfrau mehr mütterliche Gefühle für den Jungen gezeigt als die eigentliche Mutter. So berichtet Storm auch, dass es Lena war, die ihn zu angemessenem und verantwortungsbewusstem Verhalten angehalten habe. Er schildert ihre Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft mit großer Sympathie.

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