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Der Bergpfarrer
– 100 –

Geh’ nicht am Glück vorbei

… auch wenn deine Seele weint

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74090-472-2

Die junge Frau mit den traurigen Augen saß teilnahmslos in dem Zugabteil. Eine Zeitschrift, die sie am Bahnhof gekauft hatte, lag ungelesen auf dem freien Platz neben ihr, die Getränkedose stand unberührt und verschlossen auf der kleinen Ablage vor dem Fenster.

Anja Weilander war froh, daß sie das Abteil für sich alleine hatte. Außer dem jungen Schaffner, der ihre Fahrkarte kontrollierte, war seit der Abfahrt aus München niemand hineingekommen. Andere Reisende waren daran vorbeigegangen; ein paar hatten kurz einen Blick hineingeworfen.

Nach dem Unfall hatte man ihr das lange blonde Haar abgeschnitten, um die schwere Kopfverletzung zu versorgen. Als sie aus der Narkose erwachte, trug sie einen dicken Verband, der fast den ganzen Kopf verhüllte. Erst sechs Wochen später konnte er endgültig abgenommen werden, und Anja sah im Spiegel ihren nahezu kahlen Schädel.

Inzwischen waren die Haare nachgewachsen. Noch hatten sie nicht ihre frühere Länge, doch Dr. Meisner hatte schmunzelnd gemeint, auch das würde wieder in Ordnung kommen, so wie sie.

»Was werden Sie denn jetzt anfangen?« hatte der Arzt gefragt.

Das war gestern gewesen, am Tag ihrer Entlassung. Anja hatte die Schultern gezuckt. Sie wußte es selbst noch nicht. Sie wußte überhaupt nicht, wie es weitergehen würde. Zwar war sie auf dem Weg nach Hause, aber ein richtiges Zuhause besaß sie eigentlich nicht mehr…

Der Zug hielt. Sie sah aus dem Fenster und erkannte, daß sie in Regensburg angekommen war. Ein Vierteljahr hatte sie in der Münchner Spezialklinik verbracht, wohin man sie nach ihrem schweren Autounfall mit einem Hubschrauber geflogen hatte.

Die Vierundzwanzigjährige stand auf und nahm die Reisetasche aus der Ablage über ihren Sitz. Zeitschrift und Getränkedose ließ sie stehen, als sie das Abteil verließ.

Auf dem Bahnsteig kam sie sich ein wenig verloren vor. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollte. Freunde, insbesondere Freundinnen, hatte sie nicht – oder nicht mehr.

Die gehörten alle zu seinem Bekanntenkreis.

Gedankenverloren ging sie in die Bahnhofshalle. Hier herrschte das übliche Gewimmel, wie auf allen Bahnhöfen. Menschen kamen an oder fuhren ab, wurden unter Tränen verabschiedet oder herzlich willkommen geheißen.

Nur auf Anja Weilander wartete niemand.

Sie stand in der Halle und überlegte. Draußen vor dem Gebäude war ein Taxistand. Vielleicht sollte sie sich vorerst in einer Pension einmieten. Gestern hatte sie erst einmal ihren Kontostand überprüft und festgestellt, daß immer noch eine ansehnliche Summe vorhanden war, trotz aller Kosten, die sie hatte begleichen müssen. Das Geld würde zumindest eine Weile reichen.

Anja wollte gerade durch die Tür gehen, als ihr Blick auf einen Schaukasten fiel, der direkt am Eingang des Bahnhofs angebracht war. Ein Reisebüro warb mit bunten Plakaten für die verschiedensten Urlaubsziele. Darunter reizvolle Orte in Spanien, Italien oder Südfrankreich. Ein etwas kleineres Plakat zeigte eine Landschaft in Oberbayern. Ein Dorf, von Bergen umgeben, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein schien.

Interessiert trat die junge Frau näher und betrachtete das Angebot.

St. Johann, ein Ort, wo Ruhe und Erholung zu Hause sind, stand darauf.

Ruhe und Erholung, dachte sie, das ist genau das, was ich brauche und Zeit, um über alles nachzudenken.

Sie drehte sich um und betrat das Service-Center der Bahn. Es waren kaum Leute vor ihr, und sie brauchte nur ein paar Minuten zu warten.

»Nach St. Johann«, sagte Anja, als sie an der Reihe war. »Einfache Fahrt.«

Sie wußte ja noch nicht, wie lange sie bleiben würde.

»In Tirol?« erkundigte sich die freundliche Mitarbeiterin.

»Nein, Oberbayern.«

Flinke Finger bedienten die Tastatur, und wenig später war der Fahrschein ausgedruckt.

»Das Ticket gilt auch für den Bus, den sie anschließend nehmen müssen«, erklärte die Frau und wünschte eine gute Fahrt.

Anja steckte die Geldbörse ein, nahm den Fahrschein.

In einer Stunde fuhr der nächste Zug ab, der sie von hier fortbringen sollte. Fort von Regensburg, von Karsten und von den Erinnerungen, die keine guten waren.

Die junge Frau setzte sich in die Halle und wartete. Sie war gespannt, was sie in dem idyllischen Ort erwartete.

Hoffentlich ein besseres Leben als hier.

*

Daß sie die Fahrt in die Berge ziemlich planlos angetreten hatte, erkannte Anja Weilander, als sie in St. Johann ankam. Die Bahnfahrt war reibungslos verlaufen, und auch die Weiterfahrt mit dem Bus ging ohne Probleme vonstatten. Doch als sie vor dem Hotel ausstieg und erwartungsvoll hineinging, um nach einem Zimmer zu fragen, erntete Anja nur bedauerndes Kopfschütteln.

»Wo denken Sie hin?« sagte Sepp Reisinger. »Es ist Hochsaison. Wir sind schon auf Wochen ausgebucht.«

Sie machte ein enttäuschtes Gesicht, und die junge Frau tat dem Hotelier leid.

»Ich ruf’ ein paar Kollegen an und frag’, ob sie noch ein Zimmer haben«, bot er an. »Aber viel Hoffnung kann ich Ihnen da net machen.«

Es war, wie Sepp es vorhergesehen hatte: selbst in den Privatquartieren wurde frühestens in ein paar Wochen wieder etwas frei.

»Haben S’ denn net daran gedacht, rechtzeitig zu reservieren?«

Anja schüttelte den Kopf.

»Es war ein spontaner Entschluß«, antwortete sie. »Aber vielen Danke für Ihre Bemühungen.«

Dann stand sie draußen auf der Straße, und überlegte zum zweiten Mal heute, was sie anfangen wollte, wohin sie gehen sollte, wo sie wenigstens die Nacht verbringen konnte.

Drinnen stand Sepp Reisinger und schaute hinaus. Seine Frau kam aus der Küche und stellte sich neben ihn.

»Was gibt’s denn da zu gucken?« fragte sie.

Der Wirt deutete auf die junge Frau.

»Armes Ding«, sagte er mitleidig. »Keine Reservierung, und irgendwo mehr was frei.«

Irma Reisinger blickte auf die schmale Gestalt.

»Was machen wir denn da?« fragte sie. »Wir können sie doch net auf der Straße stehen lassen. Sie kommt ja auch net mehr weg. Heut’ fährt kein Bus mehr.«

Ihr Mann hob ratlos die Hände.

»Keine Ahnung. Aber sie tut mir wirklich leid.«

Irma, die Mitinhaberin des Hotels und hervorragende Köchin, deren Ruf weit über die Grenzen des Ortes hinausgedrungen war, hatte eine Idee.

»Die Liesl ist doch für zwei Tag’ zu ihren Eltern gefahren«, meinte sie.

Sepp sah seine Frau erstaunt an.

»Du meinst, wir sollen sie im Zimmer einer unserer Angestellten einquartieren?« fragte er.

Irma Reisinger zuckte die Schultern.

»Was willst’ denn machen? Es ist doch ein Notfall.

Schau’ sie dir doch nur an. Wer weiß, was die arme Frau durchgemacht hat. Die Liesl wird nix dagegen haben.«

»Na ja, warum net«, stimmte der Wirt zu und ging zur Tür.

Anja Weilander stand immer noch auf der Straße, als Sepp Reisinger zu ihr kam.

»Also, meine Frau hat da so eine Idee«, sagte er. »Eine unserer Haustöchter ist für zwei Tage zu ihren Eltern gefahren. Wenn S’ mit dem Zimmer vorliebnehmen möchten… Es ist allerdings net das, was wir sonst unsern Gästen bieten.«

Anja war es, als fiele ihr eine Zentnerlast vom Herzen.

»Ach, das wär’ ja ganz wunderbar«, freute sie sich. »Ich zahl’ natürlich den üblichen Preis.«

»Darüber machen S’ sich mal keine Gedanken«, schüttelte Sepp den Kopf. »Hauptsache ist, daß sie net auf der Straße übernachten müssen. Und morgen haben S’ zumindest die Möglichkeit wieder in die Stadt zurückfahren zu können.«

Der Wirt nahm ihre Reisetasche, und Anja kehrte mit ihm ins Hotel zurück.

»Meine Frau«, stellte Sepp Irma vor.

»Anja Weilander«, sagte sie und schüttelte die Hand.

»Tut mir leid, daß ich Ihnen so viele Umstände mach’.«

»Schon gut«, wehrte Irma ab. »Ich bring’ Sie erst einmal auf das Zimmer, da können S’ sich frisch machen und wenn S’ Hunger haben, dann gibt’s auch was Gutes zu essen.«

Sie gingen die Treppe hinauf. Anja konnte ihr Glück immer noch nicht fassen und innerlich schalt sie sich wegen ihrer Dummheit, einfach so auf blauen Dunst losgefahren zu sein.

»Übrigens, heut’ abend ist Tanz auf dem Saal«, erklärte die Wirtin. »Wahrscheinlich steht Ihnen net der Sinn danach, aber ich sag’s nur, weil’s ein bissel lauter sein wird als sonst.«

»Das macht nix«, lächelte Anja. »Wahrscheinlich werd’ ich schlafen wie ein Murmeltier.«

»So, da sind wir«, sagte Irma und öffnete eine Tür.

Die Zimmer der Angestellten lagen im obersten Stock des Hauses. Sie waren nicht sonderlich groß, aber gemütlich eingerichtet.

Anja bedankte sich und stellte die Reisetasche ab. Auspacken würde sie sie nicht, lediglich das herausnehmen, was sie für die Nacht brauchte. Irma bezog rasch das Bett und legte frische Handtücher bereit.

Als Anja sich später auf dem Bett ausstreckte und endlich zur Ruhe kam, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

Es schien, als würde ihr erst jetzt bewußt, was alles hinter ihr lag; der Unfall, die schweren Verletzungen, der Krankenhausaufenthalt und die Entlassung in eine ungewisse Zukunft.

Und dann, als wäre sie erst jetzt wieder dafür empfänglich, setzten auch die Kopfschmerzen wieder ein. Bisher schien es, als habe Anja sie unterdrückt. Dr. Meisner hatte ihr vorsorglich eine Schachtel Tabletten mitgegeben. Sie erinnerte sich seiner mahnenden Worte.

»Das ist ein sehr starkes Medikament«, hatte der Arzt gesagt. »Sie müssen unbedingt vorsichtig sein mit der Einnahme, und wirklich nur dann, wenn die Schmerzen unerträglich werden sollten. Am besten sprechen Sie mit Ihrem Hausarzt darüber. Mit der Zeit wird der Ihnen ein anderes Mittel verschreiben können.«

Anja ignorierte die Schachtel, die irgendwo bei den anderen Medikamenten in ihrer Reisetasche lag, und versuchte, den Schmerz auszuhalten.Irgendwann schließ sie darüber auch wirklich ein.

*

Sebastian Trenker stand an der Kirchentür und begrüßte die Gläubigen, die zur Heiligen Messe am Sonntagmorgen kamen. Einigen von ihnen waren noch die Spuren der vergangenen Nacht anzusehen. Sie hatten an dem samstäglichen Tanzvergnügen teilgenommen und kräftig gefeiert.

Der gute Hirte drückte schmunzelnd ein Auge zu, wenn dem einen oder anderen mit zerknirschtem Gesicht deutlich anzusehen war, wie sehr er über die Stränge geschlagen hatte. Sebastian wußte, daß die Menschen im Wachnertal die ganze Woche über hart arbeiteten und es verdienten, an diesem Tag einmal alle Sorgen zu vergessen und ordentlich zu feiern. Für jeden hatte er ein gutes Wort, manchmal auch sogar einen kleinen Scherz übrig.

Der Geistliche schloß die Tür hinter sich, als der letzte Besucher hindurchgegangen war, und schritt zur Sakristei. Dort warteten bereits die Meßdiener auf den Beginn des Gottesdienstes. So bekam Sebastian Trenker nicht mit, daß die Kirchentür noch einmal geöffnet wurde, und eine junge Frau das Gotteshaus betrat.

Anja Weilander setzte sich in die letzte Bank, auf der noch ein paar Plätze frei waren. Eine erstaunlich ruhige Nacht lag hinter ihr. Sie hatte gut geschlafen und war am Morgen ausgeruht aufgewacht. Sogar das Frühstück hatte sie sich schmecken lassen, was allerdings auch kein Wunder war, hatte sie doch seit gestern morgen nichts mehr gegessen.

Sie blickte sich um. Die Kirche war wirklich beeindruckend, und sie war erstaunt, wie gut sie besucht war. Aber schnell erkannte sie, daß das etwas mit dem Geistlichen zu tun hatte, der inzwischen auf der Kanzel stand und seine Predigt hielt.

Allerdings war es keine Predigt, wie Anja sie sonst gehört hatte. Der Pfarrer würzte seine Worte mit Humor, und wenn die altehrwürdigen Mauern vom Gelächter der Gläubigen widerhallte, dann fragte sich die junge Frau, ob sie wirklich in einer Kirche saß. Manches von dem, was der Geistliche von sich gab, entlockte auch ihr ein Lächeln, und sie spürte, wie gut ihr diese Worte taten.

Dennoch konnten sie ihr eigentliches Problem nicht lösen. Sie mußte ihr Leben neu ordnen, Perspektiven ausloten, sich fragen, welchen Weg sie gehen sollte.

Eigentlich war jeder möglich, nur einer nicht – der Weg zurück.

Vierundzwanzig Jahre war sie jetzt alt. Ihre Eltern waren bereits vor sechs Jahren verstorben, erst der Vater, kurz darauf ihre Mutter, die den Verlust nicht hatte verkraften können, außer einem Großonkel, den sie nie persönlich kennengelernt hatte, gab es keine Verwandten mehr, an die sie sich hätten wenden und um Rat fragen können.

Und einen Rat brauchte sie. Dringend, nach all dem, was hinter ihr lag.

Anja war so in Gedanken versunken, daß sie nur nebenbei bemerkte, daß der Schlußsegen gesprochen wurde. Während die anderen Gläubigen langsam zur Tür strebten, setzte sie sich wieder auf die Bank und schaute vor sich hin.

So fand Sebastian Trenker sie.