Cover

Mark Werner

Knautschzone

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Mark Werner

Mark Werner, geboren 1969, studierte Germanistik und Geschichte und arbeitete als Zeitungsreporter und Fernsehredakteur, bevor er als Headwriter in einer internationalen Produktionsfirma Filme und Serien entwickelte und Drehbücher für TV-Erfolge wie «Mein Leben & Ich», «Ritas Welt», «Alles Atze» und «Nikola» schrieb. Er wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Fernsehpreis. Mark Werner lebt und arbeitet im Bergischen Land bei Köln.

 

Weitere Veröffentlichung:

Hölle, all inclusive

Über dieses Buch

Beruf: Rockstar

Wohnort: L. A.

Hobbys: Party, Musik, schöne Frauen

 

Davon träumt Henny. Wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, unzufrieden mit seinem Leben zu sein. Dabei hat er doch alles: einen soliden Job bei der Stadtverwaltung, eine hübsche Freundin mit reichem Papa, die besten Kumpels der Welt und eine eigene Band. Dann gibt es unerwartet Neuigkeiten. Alexa begrüßt ihn an der Tür mit den Worten:

 

«Ich bin schwanger. Und -»

 

Den Rest hört Henny nicht mehr. Denn Henny haut ab. Die Flucht endet vorzeitig auf der Motorhaube von Natali. Und für beide beginnt eine Nacht, die die Nacht ihres Lebens werden könnte ...

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Stephanie Freischem, yellowfarm

(Umschlagabbildung: © Sean Justice/Corbis)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-86252-012-1 (1. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-90091-2

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-90091-2

FÜR KERSTIN

KNAUTSCHZONE (KFZ-TECHNIK)
bezeichnet diejenigen Bereiche eines Fahrzeugs, die sich im Falle einer Kollision verformen und so Energie absorbieren.

 

 

 

 

 

 

 

 

«Eins ist klar, Jungchen: Es rumst nur einmal im falschen Moment, dann ist die Sache auch schon gelaufen. Das Mädel wird schwanger, geht aus dem Leim, und euch fliegt so viel Mist um die Ohren, dass ihr den Rest eures Lebens nicht mehr auf die Beine kommt.»

GROSSVATTER HINKELBERCH

(Ansprache an die drei Enkel anlässlich seines 70. Geburtstags im Billardzimmer der Bergischen Stube).

HALLOOO!

Die Woge von Hingabe und Verehrung rollte aus dem Zuschauerraum heran wie eine fette, schwitzende Geliebte. Ein tausendstimmiger Chor rief seinen Namen, immer und immer wieder. Die Halle bebte. Jedes einzelne Härchen auf seiner Haut vibrierte. Er warf sich in diesen Tornado der Moleküle, fühlte sie auf sein Gesicht prasseln, durch sämtliche Poren dringen. Mit ausgebreiteten Armen, den Kopf in den Nacken geworfen, empfing er sie, die Liebe der Massen. Er wurde eins mit den Menschen im Dunkel. Er, die Lichtgestalt. Der Star. Der Rockstar. Henny Hinkelberch!

«Herr Hinkelberch! Hallooo!»

«Was?» Henny fuhr zusammen. Die Anmahnung, die er gerade erst ausgedruckt hatte, flatterte vom Schreibtisch. Sie streifte den Papierkorb und landete auf den zerknautschten Wildlederslippern von Keppler. Der Fachbereichsleiter verzog sein Marmeladengesicht und hob die kurzen Arme. Eine Geste, die Verzweiflung und Ärger ausdrücken sollte.

«Die Schützenbruderschaft hat den Rückbau des Festzelts für Mittwoch geplant. So lange nehmen die natürlich den REWE-Parkplatz in Beschlag.»

«Ich weiß.»

«Schön, dass Sie das wissen, Herr Hinkelberch. Die Typen von der Filialleitung tun aber so, als wüssten sie von nichts. Die machen den Molli mit uns!»

«Herr Keppler –»

«Aber nicht mit mir. Die Schützenbruderschaft ist quasi Lichtenberg und ich … also wir sind hier die Regierung oder anders: der Arm, der verlängerte! Ich will das effizient handhaben, Herr Hinkelberch. Die kriegen eine Anmahnung! Keine Fisimatenten mehr. Einmal gewarnt und keine Reaktion – ruck, zuck wird geschossen. Sind eh alles Lumpen. Wissen Sie, was bei denen die Bananen kosten? Ach, hören Sie mir auf!» Er schnitt mit der Hand ein Ausrufezeichen in die Luft. «Wo ist sie? Die Anmahnung?»

Henny lehnte sich zurück. Draußen im Vorzimmer mischte sich das Tack-Tack-Tack von Frau Windraths Tastatur mit ihrem leisen Gemurmel, das jedes geschriebene Wort begleitete.

Henny wies unschuldig auf das Schreiben zu Kepplers Füßen. «Bitte sehr!»

«Witzig.» Keppler bückte sich ächzend. Dabei rutschte sein Jeanshemd aus der Hose.

Henny wandte rechtzeitig den Blick ab, bevor sich das Bild der käseweißen Hautfalte über Kepplers Hosenbund auf immer in seine Netzhaut brennen konnte.

Pffft …

Mit einem unterdrückten Rülpser richtete sich der Fachbereichsleiter wieder auf. Sein Körper war ständig mit solchen Entlüftungsvorgängen beschäftigt. Das ganze Rathaus war voller Pffft-Menschen. Die meisten schoben es aufs Kantinenessen. Henny wusste es besser: Das waren Frustfürze und Regressionsrülpser.

Keppler überflog das Schreiben.

Henny lächelte entschuldigend. «Wollte ich Ihnen vor einer Sekunde in die Ablage legen.»

«Schönes Wochenende.» Keppler bedachte ihn mit einem finsteren Blick und marschierte aus dem Büro. «Frau Windrath, das muss noch raus.»

«Ebenso! Grüßen Sie Ihre Frau!», rief Henny hinter ihm her. Er rollte erleichtert die Zeitschrift auf seinem Schoß zusammen und stopfte sie in die olivgrüne Leinentasche. Eins zu null Hinkelberch. Keppler hatte nicht gesehen, dass Henny in seinen Wachphasen einen Artikel im Rolling Stone studiert hatte: Die besten Platten der 90er. Ebenso wenig hatte sein Chef die rote Rufumleitungsanzeige seiner Telefonanlage bemerkt. Keppler hasste es, wenn seine Leute während der Kernzeiten nicht erreichbar waren. Und Henny hasste es, während der Kernzeiten erreichbar zu sein. Vor allem freitagnachmittags, wenn der Drops in der Gemeindeverwaltung Lichtenberg so gut wie gelutscht war.

Er arbeitete in einem Neun-Quadratmeter-Verlies mit graublauem Linoleumboden und Aussicht auf die Dienstparkplätze. Wenn die achte Stunde nahte und die Wände immer näher zu rücken schienen, zählte Henny manchmal die abgestellten Autos.

Frau Windrath steckte ihren Kopf ins Büro. Tonnen von Haarspray und ein Unterbau aus körpereigenen Fetten formten ihre Frisur zu einem gigantischen Legionärshelm. Der Raum wirkte durch den rostbraunen Riesenkopf im Türrahmen noch winziger.

«Und, sieht man Sie mit der Band auf dem Schützenfest?»

Auf ihren Wangen lag ein rosafarbener Hauch. In Frau Windraths Adern floss Groupieblut. Das machte sie sympathisch. Das war allerdings noch lange kein Grund, die Zwischentür unnötig offen stehen zu lassen. Frau Windrath hatte die Angewohnheit, alles zu kommentieren, was sie tat. Wirklich alles. Jeden Handgriff. Und nicht nur das – auch jeden Gedanken, der zu einem Handgriff führte. Das konnte einen Menschen in den Suizid treiben oder hinter den Bahnhof, um eine illegale Handfeuerwaffe zu erstehen.

Nahm Frau Windrath einen Tacker, so murmelte sie: «So, der Tacker, ja …» Tackerte sie damit zwei Blätter zusammen, teilte sie das dem leeren Vorzimmer ebenfalls mit: «Schön zusammen … tackern. So, fertig. Haben wir das auch.» Mutterseelenallein, in einer sinkenden Nussschale, inmitten des Pazifiks, würde sie immer noch mit sich selbst reden: «So, hier die Rettungsweste … schön die Arme durch, ja … mh, jetzt das Köpfchen … prima, fertig! Aha, ein Loch. Sind wir zerfetzt, was?! Soso … Na, dann ersaufen wir mal.»

Sei nicht so ein Arsch, schalt Henny sich. Wenigstens die Fans vor Ort solltest du dir warmhalten. «Waren Sie in den letzten zehn Jahren jemals auf dem Schützenfest und haben uns nicht gesehen, Frau Windrath?» Er schenkte ihr sein Schlagersänger-Lächeln, das er für die Ü-50-Fraktion der Lichtenberger Damenwelt eingeübt hatte.

«Also, eine Kirmes ohne die YoYo Men geht ja gar nicht.» Sie war Ü-40, kicherte aber U-20.

«Eben.» Henny zog die Schreibtischschublade auf und reichte ihr eine der Bandpostkarten, die Philipp seinerzeit hatte drucken lassen. «Kleine Erinnerungshilfe.»

«Ach, danke, das ist ja stark!»

Sie benutzte gerne Achtziger-Jahre-Adjektive wie «stark» oder «ätzend». Ab fünf Uhr war sie meistens «fix und foxi», und wenn sie mit ihrem Kantinentablett zu einem vollbesetzten Kollegentisch kam, zwinkerte sie: «Stück mal ’n Rück!» Im Sekretariat des Schul- und Kulturamts hatte man den Anschluss an die Moderne schon lange verloren. Mit einer Ausnahme.

Henny war seit rund zehn Jahren Verwaltungsfachangestellter der Gemeinde Lichtenberg. Aber wenn jemand am Puls der Zeit horchte, ja, selbst dieser Puls der Zeit war, dann Henny Hinkelberch. Von seiner Band konnte er das leider nicht behaupten. Die YoYo Men waren musikalisch weder Neutöner noch Traditionalisten – sie waren Bier trinkende Unverbesserliche. Damit hatte Henny leben gelernt.

Die Karte schmückte vorn ein Foto der Band, auf der Rückseite waren Bandinfos und Platz für einen Adressaufkleber. Darauf druckten sie jeweils die Daten fürs anstehende Konzert. Aktuell klebte dort:

120 Jahre Schützenbruderschaft Lichtenberg

Jubiläumskirmes mit Konzert der besten Band der Welt:

YOYO MEN!

Wann? Samstag, 04. September um 16 Uhr.

Wo? Marktplatz Lichtenberg (vor REWE).

Eintritt frei!

«So, noch die Post in die Post …» Bereits ganz ins Selbstgespräch vertieft, trollte sich Frau Windrath an ihren Schreibtisch. «Und dann wartet auch schon der Feierabend. Schön, schön …»

Henny sparte sich die Mühe, aufzustehen und die Tür hinter ihr zu schließen. Der Feierabend wartete tatsächlich.

Sein Blick fiel auf den Stapel Bandkarten in seiner Schublade. Das Foto war mittlerweile sieben Jahre alt. Ein ganz in Sepia gehaltener Schnappschuss, was Anfang des neuen Jahrtausends so cool war wie Frau Windraths Ausdrücke in den Achtzigern. Henny nahm die oberste Karte, knipste die Schreibtischlampe an und studierte kritisch die Bilddetails: Die schulterlangen schwarzen Locken waren inzwischen einem männlicheren Kurzhaarschnitt gewichen. Um die dürren Beine seines Foto-Ichs schlotterte eine olivgrüne Armyhose, die Lederjacke mit dem hochgestellten Kragen betonte den schmalen Oberkörper. Henny blickte versonnen an sich hinab und stutzte.

Hatte er keinen Gürtel an? Stülpte sich sein Hemd über die Anzughose? Oder verdeckte tatsächlich ein zart gewölbtes Bäuchlein seinen Hosenbund? Er atmete tief ein und hielt die Luft an. Die Gürtelschnalle tauchte auf. Verdammt.

YoYo Men are Heiko «Hondo» Oberweider (guitar),

Philipp Blasberg (bass),

Stefan «Stoffel» Felster (keyb & vocals)

and Hendrik «Henny» Hinkelberch (drumms & lead vocals)

Wochenlang hatte Henny sich aufgeregt, nachdem er auf den Flyern die dämliche Abkürzung keyb für Keyboard entdeckt hatte und drumms mit zwei m. Laut Philipp waren das Fehler der Druckerei, Schludereien, für die er einen Preisnachlass von fünfzig Prozent ausgehandelt habe. Henny war der Preis völlig wurscht, er hatte verlangt, die fünftausend Karten müssten augenblicklich vernichtet werden. Aber die anderen hatten ihn überzeugt, dass das angesichts der Druckkosten keine Alternative war und die meisten ihrer Zuschauer das sowieso nicht merkten. Sie benutzten die Flyer mit der Sonderschul-Untertitelung also weiter, bis sie irgendwann in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft aufgebraucht sein würden.

 

«Haben Sie die Rufumleitung drin?», rief Frau Windrath von draußen.

«Äh, ja, gerade gedrückt», log Henny. «Will Herr Keppler heute länger machen, oder was?»

Der Legionärshelm lugte herein. «Der ist durch die Tür. Aber ich habe Ihre Mutter in der Leitung.»

«Sagen Sie ihr doch, ich wär vor einer Sekunde …» Henny brach seinen Notlügen-Steilpass angesichts der vorwurfsvollen Miene von Frau Windrath ab. «Schon bereit!»

Er drückte auf einen Knopf seiner Telefonanlage, und das rote Lämpchen erlosch. Frau Windraths Helm verschwand wieder, und eine Sekunde später klingelte sein Apparat.

«Mama?»

«Dein Handy ist ausgeschaltet! Und die Büronummer geht nicht, da kommt immer so eine Mönchsmusik. Du bist un-er-reich-bar, den ganzen Tag! Wenn ich nicht die Durchwahl von Frau Windrath gefund–»

«Mama!»

Henny erklärte, dass sein Handy natürlich ausgeschaltet sei. Er sei im Büro, um zu arbeiten und nicht um privat zu telefonieren. Er sei Verwaltungsfachangestellter im Dienste der Lichtenberger Menschheit und nicht zur Verschleuderung kommunaler menschlicher Ressourcen vor Ort an seinem Schreibtisch. Schließlich habe er nicht nur sein eigenes Leben zu verwalten, sondern auch noch das von knapp 23 000 anderen Bürgern. Während dieses Vortrags, der weder ihn selbst noch seine Mutter überzeugte, kontrollierte Henny sein Handy. Er stellte es normalerweise nicht einmal zum Schlafen aus. Aber seine Mutter hatte recht: Das Display war schwarz, ließ sich auch nicht einschalten. Akku leer. Die Rufumleitung legte er grundsätzlich auf den Apparat von Herrn Fiesebusch, dem IT-Techniker. Der wiederum baute grundsätzlich entweder Überstunden ab oder war gerade auf einem Außentermin. Weil aber Fiesebusch seine Rufumleitung auf den Apparat eines nicht besetzten Nebenraums legte, führte sie jeden Anrufer in eine virtuelle Endlosschleife, untermalt von gregorianischen Gesängen.

Henny kannte bei alldem kein schlechtes Gewissen. Die Verwaltung der Gemeinde Lichtenberg unter der Herrschaft von Bürgermeister Friedjolf Meer konnte als eine der effizientesten des Landes gelten und widersprach sämtlichen altbackenen Behördenklischees. Nur jemand, der diesen gutgeölten Betrieb nicht kannte oder geringschätzte, konnte das leugnen. Jemand wie Fiesebusch – oder Henny. Der war in seinem Leben mit so vielen miesen Beamtenwitzen konfrontiert worden, dass er es nur fair fand, einige davon Realität werden zu lassen. Dabei war er selbst nicht mal verbeamtet.

«Kommst du morgen mit Alexa zum Essen?»

«Mama, morgen ist –»

«Papa würde sich so freuen.»

«Morgen ist Kirmes.» Keine Reaktion am anderen Ende. «Unser Konzert!»

«Tretet ihr immer noch auf?» Seine Mutter hatte ein unglaubliches Talent, mindestens drei Bedeutungsebenen in einen Satz zu legen. Einfach, indem sie ihre Stimme beim «immer» leicht anhob. Immer noch?

«Wie, immer noch? Sind wir so mies? Oder zu schwach, um die Instrumente aufzubauen? Oder zu alt? Wir sind noch nicht sechzig, Mama.»

«Einunddreißig ist aber auch nicht einundzwanzig.»

«Ja, und da darf man keine Musik mehr machen, mit einunddreißig, oder was? Ganz nebenbei: Hondo ist erst neunundzwanzig.»

«Und Stoffel fast vierzig!»

Mit der Altersdiskussion traf sie seinen wunden Punkt.

«Außerdem legen wir gerade erst richtig los mit unseren eigenen Sachen. Was, wenn ich dir sage, dass ich gerade an einem Plattendeal –»

«Sagen wir um halb eins?»

«Und dass wir möglicherweise im Herbst schon in Los Angeles –»

«Gibt Hühnerfrikassee.»

«Hörst du mir eigentlich zu?»

«Hast du ja gesagt?»

Er musste aus der Nummer raus, bevor sie auf Stufe zwei schaltete. «Alexa ist das bestimmt auch zu eng mit mittags. Die soll mit der Micha noch vorm Auftritt im Proberaum unsere Aufsteller in den Kombi packen, und danach möchte sie –»

«Macht ruhig, wie ihr wollt.» Jetzt hatte sie doch auf Stufe zwei geschaltet: die unfaire Mischung aus nachgiebig und traurig! Eingeleitet durch ihren berüchtigten Stimmungswechsel, den er wie immer nicht hatte kommen hören.

«Ihr überlebt schließlich auch sonst ohne uns. Wir sehen uns bestimmt abends im Festzelt …» Die letzten Worte seiner Mutter klangen nach Friedhofskapelle.

Die nun folgende Stille visualisierte Henny sich als bitter-trauriges Lächeln. Als ob er das nicht durchschaute, nach einunddreißig Jahren. Ein leiser Seufzer drang an sein Ohr. Einleitung von Stufe drei.

«Also, dann …»

Auf die Tränendrüsennummer hatte er jetzt gar keine Lust. Wirklich nicht! So simpel ließ er sich nicht weichklopfen, diesmal nicht. Wieder ein kaum hörbarer Seufzer. Der Sterbegesang einer verratenen Mutter. Nein, diesmal nicht.

«Ja … dann, mein Lieber …» Verhaltenes Seufzen.

Henny seufzte weniger verhalten. «Okay, halb eins. Ich muss aber noch mal mit Alexa gegenchecken.»

«Also wenn ich nichts mehr höre … Prima. Bis dann!»

Wiederherstellung der Basisstufe. Entwarnung.

«Jau. Bis dann!» Er legte auf.

Scheiße. Das Mittagessen passte absolut nicht in seinen Zeitplan. Sie mussten am Konzerttag die Bühne aufbauen, als Nächstes kam der Soundcheck, dann das Licht. Während dieser Arbeiten stolperten minderjährige Kirmesgroupies über ihre Kabel, und muskulöse Schausteller verstellten mit Baby-ich-zeig-dir-hinterm-Autoscooter-die-Welt-Grinsen und Armen voller Jugendknast-Tattoos die Transportwege mit Karussell-Absperrgittern. Es war jedes Jahr derselbe Stress.

«Erfolgreiche Abschlussprobe, Herr Hinkelberch! Bis morgen!» Frau Windraths Hand winkte mit einem Schlüsselbund ins Zimmer.

Henny sprang auf. Die Probe! Er brauchte mindestens eine halbe Stunde, um sich aus dem Anzug zu schälen, mit Alexa Abendbrot zu essen und zum Proberaum zu radeln. Mit anderen Worten: Sein Abendbrot fiel ebenso sicher aus, wie er zu spät kommen würde.

Henny Hinkelberch hatte in diesem Augenblick nicht die geringste Ahnung, dass dies ein äußerst harmloses Problem war im Vergleich mit dem, was ihm noch bevorstand. Sein Leben sollte eine entscheidende Wendung nehmen. Und das bereits vor dem Autounfall in weniger als anderthalb Stunden …

STALIN UND UND

Henny nestelte am Krawattenknoten. Seine erste Amtshandlung zum Feierabend war stets: den Schlips bereits im Hausflur lockern, ihn beim Reingehen so weit aufziehen, dass das schmale Ende nicht durchflutschte, und runter mit der Streberschleuder.

Er hasste seine Krawatten mindestens so sehr wie die grauen Anzüge («Anthrazit, Henny! Und von Boss. In Papas Autohaus haben alle Boss-Anzüge an. Nur die beschweren sich nicht drüber, die finden’s geil.» – «Deshalb bin ich kein Autoverkäufer geworden.» – «Ich weiß auch nicht, ob dich Papa eingestellt hätte, mit deinem Klamottengeschmack.» – «Dein Vater hätte mich auch nicht eingestellt, wenn ich Boss hieße und mein Vater Hugo.» – «Doch, dann bestimmt.» In Kleiderfragen hatte Alexa immer das letzte Wort). Doch noch mehr als Hugo Boss hasste er seinen Boss, Friedjolf Meer. Schließlich war es der Bürgermeister, der seine männlichen Angestellten in diese Kluft zwang, «zum Dienste am Bürger und zur positiveren Wahrnehmung unser aller Verwaltung in der Öffentlichkeit».

Henny atmete auf. Der Verwaltungsmensch war gleich ausgestanden, wenigstens fürs Wochenende. Zwo Komma drei Tage würde er das tragen, was Alexas Vater an Heiligabend vor drei Jahren spöttisch Hennys zweite Haut genannt hatte: Jeans, Cowboystiefel und eine schwarze Lederjacke mit blanken Kragenecken sowie einem muschelförmigen Fleckenrand auf dem rechten Ärmel, dessen Herkunft nur Henny und Philipp kannten. Philipp hatte geschworen, für immer darüber zu schweigen.

Er polterte durchs frischrenovierte Treppenhaus, schnüffelte und grinste. Nichts. Nicht die Spur jenes Katzengestanks, der sonst je nach Wetterlage bis ins Erdgeschoss vordrang. Alexas Katze hatte ein Drüsenproblem. Henny hasste das Viech von ganzem Herzen. Die Katze spürte das, wälzte sich rachsüchtig in seinen Klamotten oder sprang ihm dauernd auf den Schoß, wenn er nicht damit rechnete. Natürlich hatte Günther Selzarm ihm diese stinkende Laus in den Pelz gesetzt. Seit zwei Wochen jedoch dünstete im Treppenhaus eine Wandfarbe aus, die jeglichen Katzengestank überdeckte. Hennys kleiner Triumph über Alexas Vater, diesen Besserwisser und Dummschwätzer. Er hätte niemals auch nur eine Sekunde vor Ablauf sämtlicher Fristen auf die Beschwerde eines Mieters reagiert. Erst recht nicht, wenn dieser Mieter Henny war. Meckerte allerdings sein Töchterchen über die schrecklichen «Nachkriegstapeten in Bombentrichtergrau», dann handelte Günther Selzarm sofort. Dabei hätte er allein anhand der Wortwahl merken müssen, dass sein Schwiegersohn in spe dahintersteckte.

Alexas Vater war eine große Nummer in Lichtenberg. Ihm gehörte das Autohaus Selzarm. Sieben Jahre zuvor hatte Henny mit seiner Band dort einen Gig zum Firmenjubiläum gespielt. Alexa stand in der ersten Reihe. Sie trug zum Jeansrock ein maskulines Feinripp-Unterhemd ohne BH. Ein Rockertraum. Er hatte sich noch vor der Zugabe in sie verknallt. Wochen später verriet sie ihm, dass das kein Zufall war – sie hatte es so geplant: «Frauen wissen, was Männer wollen. Knick-knack.»

Seit mittlerweile drei Jahren lebte er mit Alexa mietfrei in einer 120-Quadratmeter-Geldanlage von Vater Selzarm, sie zahlten lediglich Strom und Wasser. Kein Wunder, dass Henny sich in Günther Selzarms Gegenwart immer schuldig fühlte.

Eigentlich hatte er das alles nicht gewollt, zumindest nicht so schnell. Ihm waren jedoch keine schlüssigen Argumente gegen eine gemeinsame Wohnung eingefallen – erst recht nicht gegen eine, die so gut wie umsonst war. Dass es spießig war, sich die Wohnung vom Schwiegervater in spe kaufen zu lassen, ließen nicht einmal seine Bandkumpels gelten. Im Gegenteil: Die drei hatten volles Verständnis, hielten es für einen perfekten Deal. Zumal Alexa «auch optisch» (Zitat Hondo) und «irgendwie kumpelmäßig» (Zitat Stoffel) als Volltreffer galt. Das unterschrieb Henny sofort, er fand aber dennoch, dem Weltbild seiner Mitmusiker fehle es an der gewissen Leidenschaft, die fürs Rebellentum grundlegend sei. Womit er ihren großen Traum vom Rockstarleben in Los Angeles meinte. Bei diesen Überlegungen musste Henny natürlich seinen eigenen, nicht eben glamourösen Beruf ausblenden. Ebenso wie die Charaktereigenschaften, deren es bedurfte, um ihn zehn Jahre lang auszuüben und trotzdem noch an ein ruhmreiches Leben danach zu glauben.

 

Henny schloss die Wohnungstür auf und prallte sofort zurück. Alexa stand vor ihm. Sie trug eine elegante schwarze Bluse, dazu einen ihrer grauen Büroröcke. Komisch. So ein Outfit zog sie normalerweise nur zur Arbeit an oder wenn ihr Vater sie zum Edelgriechen einlud (in Lichtenberg war tatsächlich der Grieche edel, nicht der Italiener – wobei natürlich weder der eine noch der andere echte Landesküche kochte). Allerdings waren Alexas Kleider eigentlich nie so zerknittert wie jetzt gerade.

«Ich hab versucht, dich zu erreichen.»

Alexas Stimme klang unterkühlt. Ihre ruhelosen blauen Augen und die blassen zusammengepressten Lippen passten zum Tonfall. Die Wangen dagegen glühten förmlich. Braune Haarsträhnen klebten verschwitzt an ihrer Stirn, als habe sie bäuchlings auf dem Sofa gelegen und in ein Kissen geheult. Die ganze Erscheinung war ein ein Meter einundsiebzig großes, pilatesgestähltes Warnsignal, aber das fiel Henny erst auf, als es zu spät war. Er war viel zu sehr mit der bevorstehenden Probe und ihrem Konzert beschäftigt.

«Meine Mutter hat’s auch dauernd probiert.» Er warf seine Tasche an ihr vorbei in den Flur und fummelte am Krawattenknoten. «Irgendwie war die Rufumleitung drin. Und mein Handy –»

«Ich wollte dir was sagen. Ich –»

«Schick, aber zerknüselt.» Er deutete auf ihre Bluse. Als er sich an ihr vorbeidrücken wollte, versperrte sie ihm den Weg.

«Ich hab auf dem Sofa … Und ich wollte gerade … Henny, ich –»

«Schon gegessen? Ich bin spät dran. Muss zur Probe.» Er versuchte, die Krawatte über den Kopf zu ziehen. An der Stirn kam er nicht weiter. Konnte man am Schädel dicker werden?

Alexa war die ganze Zeit wie einbetoniert im Eingang stehen geblieben.

«Henny, ich bin schwanger.»

 

Es gibt diese Momente im Leben … zum Beispiel während der Schulzeit: Ein Schüler wird völlig unvorbereitet nach vorn gerufen. Unvorbereitet auf die Situation, auf die Aufgabe – vor allem aber auf die Lösung. Kalter Schweiß bricht bei ihm aus, sein Herz beginnt zu rasen, die Wahrnehmung verengt sich. Wie im Tunnel sieht er die mitfühlenden Gesichter der Schüler auf den Plätzen links und rechts von ihm. Und am Ende dieses Tunnels, vorn an der Tafel, glitzern boshaft die Augen der Mathelehrerin. Sie verschränkt die Arme, ein sadistisch gekrümmter Zeigefinger zuckt voller Vorfreude in ihrer Armbeuge. Hänsel, komm ins Knusperhaus!

Er tappt nach vorne, ist viel zu schnell am Ziel angekommen. Auf der Tafel verschwimmen die Zahlen- und Zeichengebilde. Gleichzeitig nimmt er jeden einzelnen Kreidepartikel wie unterm Mikroskop wahr: eine Wüstenlandschaft aus Trillionen von aneinandergereihten weißen Kreidekörnern. Verwerfungen, Dünen, bleiche Straßen auf algengrünem Grund. Die boshaften Sticheleien der Lehrerin verhallen, bevor sie das Ohr des Schülers erreichen, ebenso das Zischen der Mitschüler. Es nützt nichts: Die Zahlen, Lösungswege und Hilfestellungen dringen nicht mehr zur armen Kreatur dort vorn, auf seiner einsamen Insel an der Tafel.

Er tastet sich durch einen wattierten Albtraum. Die Welt ist ein Kokon – und er steht draußen. Das alles ist unwirklich und zugleich erschreckend real. Die Füße wollen wegrennen, kleben jedoch am Boden. Im Kopf prallt ein einziger Satz zwischen den Gehirnwindungen hin und her wie eine Silberkugel im Indiana-Jones-Flipper …

«Hast du gehört, Henny?»

Er starrt Alexa ausdruckslos an, die Spitze seines orangefarbenen Krawattenstirnbands baumelt über ein Ohr hinab. Er denkt, er sieht wahrscheinlich aus wie Häuptling Fassungsloser Hornochse. Und das tut er auch. Stalin schleicht heran, blinzelt boshaft zu ihm hinauf. Dieser Anblick reißt ihn aus seiner Erstarrung.

 

Die Stinkekatze hieß eigentlich Talina, aber da sie in Hennys Augen ein fieses, brutales Diktatorenschwein war, fand er Stalin ungeachtet des Geschlechts passender. Doch dieses Mal ließ nicht die Katze sein Herz so heftig schlagen, dass er es gegen das Notizbuch in seiner Sakkotasche wummern spürte. Diesmal war es Stalins Frauchen.

«Henny! Ich bin schwanger. Und –»

– und in diesem Augenblick trat Henny Hinkelberch aus seinem Körper. Wie ein Astralreisender beobachtete er sich selbst, während er einen Schritt zurückwich und gleichzeitig die Tür vor Alexas Nasenspitze ins Schloss zog. Er sah sich dabei zu, wie er kehrtmachte und das tat, was Tausende Männer in so einem Moment denken, aber niemals in die Tat umsetzen: Er rannte weg. Aus dem Haus, aus der Stadt, aus dem Land.

Henny Hinkelberch verpisste sich.

YOYO MEN

Die Bergische Stube in Lichtenberg galt als die traditionsreichste und bestbesuchte aller Lichtenberger Kneipen. Hier versammelten sich allabendlich mindestens drei – meist männliche – Generationen zum Kartenspielen und Biertrinken bei lautstarkem Geklöne. Die Jugend nahm dabei die Ecke mit dem Indiana Jones-Flipper in Beschlag oder verzog sich in das angrenzende Billardzimmer. Der blau ausgeschlagene Spieltisch wurde bei Feierlichkeiten mit einer schweren Sperrholzplatte abgedeckt und als Buffet benutzt. Solche Feiern gab es beinahe jedes Wochenende: grüne, silberne, goldene Hochzeiten, Firmenjubiläen, Geburtstage, Schülerpartys oder Vereinsfeiern.

Das in einen Hang am Rande der Altstadt geduckte Fachwerkhaus stand bereits seit über 150 Jahren dort. Trotz allerlei individueller An- und Umbauten hatte es bislang kein Inhaber geschafft, der urigen Kneipe ihren Charme zu nehmen. Die aktuellen Besitzer waren Klaus Wottrich und seine Frau Elke. Beide stammten aus Hamburg. Sie rief ihn Klausi, er sie Elkchen. Die Stammgäste folgten dem Beispiel. Seit nunmehr zwanzig Jahren betrieb das Ehepaar die Stube. In dieser Zeit hatten die Wottrichs mehr für Heimatpflege und Bewahrung bergischen Kulturguts getan als sämtliche Vorbesitzer zusammen.

Klausi, einst Koch zur See, setzte ausschließlich Spezialitäten der Region auf seine Speisekarte. Und er bereitete sie zu, als sei der Graf von Berg auferstanden und warte persönlich am Stammtisch. Elke hatte aus dem Wirtshaus mit viel Sinn fürs Detail eine Mischung aus Heimatmuseum und Bauernstube geschaffen: An den schweren dunkelbraunen Eichenbalken und in den weißverputzten Gefachen hingen Handsensen, Schiefertafeln, Zinnkrüge, Zangen, Hufeisen, Miniaturkuhfüße, Trockensträuße, lederne Gürteltaschen und Schusterleisten. Dazwischen zeugten Fotos mit englischen Soldaten und Dorfkindern auf dem Schoß von Lichtenberger Kriegstagen. Selbst auf dem Weg zu den Toiletten konnte man vergilbte Fotografien bestaunen: Herrschaften im Sonntagsstaat mit Kaiser-Wilhelm-Schnurrbärten und Damen in unbequemen Kleidern, Lichtenberger aus schwarzweißen Zeiten, deren Namen niemand mehr kannte.

Die Tische der Gaststätte waren ebenso wie das Fachwerk und die meterlangen Dielenbretter aus Eichenholz. Einziges ortsfremdes Möbelstück war die halbrunde Theke, sie stammte aus dem hohen Norden. Im alten Tresen hatte zu lange der Wurm gewütet; bei jedem heftiger abgestellten Bierglas rieselte der Holzstaub aus den Fugen. Klausi hatte daraufhin eine Theke aus der Konkursmasse einer Hamburger Hafenkneipe aufgekauft und in einem Miettransporter ins Bergische kutschiert. Ein mahagonigebeizter Koloss in J-Form, an dem es sich so gemütlich stehen wie betrunken lehnen ließ. Mittlerweile schien es allen so, als habe die «neue» Theke nie woanders gestanden.

Ob auf einem der Barhocker, am Stammtisch oder im Billardzimmer – in der Bergischen Stube gab es keinen Winkel, in dem man nicht die Welt vor der Wirtshaustür binnen Sekunden vergaß. Nur deshalb setzte sich die Jugend dem Genörgel der Alten aus und die Alten sich dem Lärm der Jugend. Die Bergische Stube war seit Urzeiten das pulsierende Herz des Städtchens und würde es immer bleiben.

Es gab für echte Lichtenberger Jungs keinen besseren Ort, um eine Band zu gründen. So war das Billardzimmer der Bergischen Stube der Kreißsaal, in dem Henny, Philipp, Stoffel und Hondo an einem Wintertag des Jahres 1995 feierlich ihre Gläser hoben und ihr gemeinsames Baby ans Licht der Welt holten: Sie tauften es auf den Namen YoYo Men. Keines der Gründungsmitglieder erinnerte sich am nächsten Morgen, wer auf diesen unendlich bescheuerten Namen gekommen war. Und warum. Aber alle waren sich der Tatsache bewusst, dass man eine Taufe an einem derart heiligen Ort wie dem Billardzimmer nicht rückgängig machen konnte. Also beließen sie es dabei und trafen sich noch am selben Tag zur ersten Bandprobe im Partykeller von Stoffels Eltern.

Ihre Live-Premiere feierte die Band eine Woche später auf der Geburtstagsparty von Meike Hundt (blond, spitzbrüstig, Knackarsch und die erste Entjungferte der 10b). Ihre Eltern besuchten an dem Tag in Köln die Oper und hatten nicht vor, die Feier ihrer Tochter vor Mitternacht zu stören. Meike – selbst bereits in extremer Sektlaune – schloss Punkt 20 Uhr die Schnapsbar des Vaters auf. Sie gab sich der alkoholgetrübten Hoffnung hin, bis Schlag zwölf seien alle wieder nüchtern, wenn sie nur früh genug anfingen zu trinken.

Henny hatte Meike Hundt in dieser Meinung bestärkt. Er brauchte vor seinem ersten Gig nämlich nichts dringender als einen Schnaps. Sein Schlagzeug war acht Tage alt, und er hatte nur dreimal mit den anderen geprobt. Er hielt sich für den miesesten Drummer der Welt, seine Kollegen hielten ihn für den miesesten Drummer der Welt, und er war es auch. Um den Horror perfekt zu machen, hatten die Jungs ihn allerdings auch noch zum Sänger auserkoren.

«Ich kann nicht singen!»

«Du kannst auch nicht Schlagzeug spielen.» Philipps Talent war, logische Zusammenhänge herzustellen, wo es eigentlich keine gab. «Lern am besten gleich beides zusammen. Das ist einfacher als nacheinander.»

«Und das war’s? Das ist dein Argument?»

«Klingt doch vernünftig.» Stoffel war bloß froh, selbst aus der Gesangsnummer raus zu sein.

Hondo nickte stumm. Er fand, Nicken sah mit einer Kippe im Mundwinkel cooler aus als Kopfschütteln. Und ein Bassist hatte cool zu sein.

Henny sang und trommelte drei Lieder lang. Highway to Hell von AC/DC, Pride von U2, dann noch mal Highway to Hell, weil sie sonst keine Stücke draufhatten. Er hatte sich pro Song ungefähr zweiundzwanzigmal verspielt, grundsätzlich nur jede zweite Textzeile ins Mikro gebrüllt und unzählige tödliche Blicke von Philipp und Stoffel eingefangen. Die beiden beherrschten ihre Instrumente aus dem Effeff. Kein Wunder, ihre Eltern hatten bereits seit der Grundschule in die musikalische Ausbildung der Sprösslinge investiert. Hondo war Hennys Versagen absolut wurscht. Das lag unter anderem daran, dass er damals nicht nur Camel ohne Filter rauchte …

Zu ihrer Überraschung jubelten die Partygäste während des gesamten Konzerts euphorisch (allen voran und zwei Flaschen Krugmann Korn schwenkend, das Geburtstagskind). Die Öffnung der Schnapsbar hatte zügig Wirkung gezeigt. Ihr Publikum bestand ausschließlich aus völlig breiten, ekstatisch taumelnden, in Mutter Hundts Blumenkübel kotzenden Schülern und Zivildienstleistenden. In diesem Alter war die Welt noch das reine Hier und Jetzt. Das brachte eine gewisse Sorglosigkeit mit sich, die nicht immer zum Vorteil des körperlichen Wohlbefindens gereichte. Aber der Ruf der YoYo Men als geilste, ja, aussichtsreichste Band ganz Lichtenbergs erblickte in jener Nacht das Licht der Welt. Ebenso ihr musikalisches Standardrepertoire.

Innerhalb von sechs Monaten avancierten die YoYo Men zu einer soliden Coverband mit Auftritten erst bei Geburtstagen, dann beim Frühjahrsgrillen des Tennisvereins und schließlich beim Lichtenberger Schützenfest. Von Tag eins an konzentrierte sich die Band dem internen Mehrheitsgeschmack entsprechend auf AC/DC- und U2-Songs. Je nach Mehrheitslaune fand gelegentlich ein Phil-Collins-Dudler Eingang ins Bandportfolio. Die anderen hätten das Bandrepertoire gern regelmäßig um ein paar Collins- oder Genesis-Klassiker erweitert, doch Henny sträubte sich. Das lag vor allem an seinem Hass auf den größten aller Phil-Collins-Hits: In the Air Tonight. Der unverwüstliche Klassiker, dessen Text der frischgeschiedene Drummer 1980 auf einen Tapetenrest gekritzelt hatte und von dem er in Interviews behauptete, er kapiere ihn selbst nicht. Rätselhafte Verse hin oder her – keiner in der Gruppe verstand Hennys Abneigung gegen dieses Lied. Träumte nicht jeder Drummer von diesem hypnotischen Groove, dieser perfekten Symbiose von Rhythmus und Melodie? Und war Phil Collins nicht das Paradebeispiel für singende Trommler? Nun, genau das war Hennys Problem: Diese Doppelrolle zwang ihn im hinteren Teil der Bühne aufs Podest. Zwar gut ausgeleuchtet, aber eben nicht vorne, wo er in die Augen der Fans blicken und uneingeschränkt Star sein konnte. Und wenn es etwas gab, wonach er sich sehnte, dann das.

Sobald Henny sein Drumset halbwegs beherrschte, fiel ihm auch der Gesang leichter. Er fand endlich Gefallen an seiner Doppelrolle, großen Gefallen. Kaum hatte er die Schule hinter sich gebracht und die Ausbildung bei der Gemeindeverwaltung begonnen, schmiedete er Pläne: Noch vor Ende seines ersten Lehrjahrs sollte die Band den Sprung nach Los Angeles schaffen, um dort eine Platte aufzunehmen. Mit der offenen Limo über den Sunset, ein Auftritt im House of Blues, Nächte in einer abgefahrenen Suite des Chateau Marmont, betrunkene Fassadenklettereien, Nacktbaden mit Starlets im Pool. Alkohol, Drogen und Exzesse – das ganze Programm! Der Verwaltungsfachangestellte war für Henny Hinkelberch nur ein kurzes Intermezzo auf dem Weg zum Ruhm.

Nun verirrten sich allerdings Plattenproduzenten eher selten nach Lichtenberg. Henny hatte außerdem damit zu kämpfen, nicht den Anschluss in der unerwartet anspruchsvollen Verwaltungsschule zu verlieren. Weil aber – und das ließ den Traum wirklich in weite Ferne rücken –, weil aber die anderen Jungs selbst den schlechtesten AC/DC-Song besser fanden als Hennys Eigenkompositionen («Nee, lieber noch mal Whole lotta Rosie!»), gerann sein Verwaltungsintermezzo schleichend zu einer Verwaltungslaufbahn.

Den Traum von L.A. bewahrte sich Henny über all die Jahre. Auch wenn die Band es bislang nur zu einer «Mannschaftstour» nach Ibiza gebracht hatte, das Ziel blieb bestehen.

E-KLASSEN-PERLHUHN

Henny stürmte aus dem Haus, rannte ziellos bis zur Hauptstraße. Dort hielt er keuchend inne. Er stützte sich auf einen Stromkasten, um sein hämmerndes Herz zu beruhigen. An manchen Tagen glaubte er, in Lichtenberg zu ersticken, jetzt sog er dankbar die erfrischend klare bergische Luft ein. Selbst der Anblick der Häuser, die ihm oft bedrückend dörflich vorkamen, erschien ihm nun wie eine Wohltat: frische Fassaden, klare Strukturen. Nachkriegsbauten. Dazwischen urige Bruchsteingebäude und schmucke Fachwerkhäuser. Die meisten mit schwarzbraunen Balken und weißem Gefach, neben den Fenstern grüne oder braune Schlagläden, davor Kästen mit rotblühenden Geranien. Diese letzteren Häuser sah der Lichtenberger vor seinem geistigen Auge, wann immer er auf Reisen an die Heimat dachte.

Das Städtchen war keine Schönheit, nicht einmal die mächtige Kirche im Zentrum, deren Westturm aus dem zwölften Jahrhundert stammte. Aber Lichtenberg hatte Charme und außerhalb des Zentrums mindestens so viele «schöne Ecken» wie Mallorca.

Die löchrig geteerte Parkbucht mit dem Stromkasten, über dem Henny hing und nach Luft schnappte, gehörte allerdings nicht dazu. Direkt vor seiner Nase, auf der Front des schmutzig grauen Kastens klebte ein Plakat:

Vergesst das Schützenfest!

SILMARIL Live (mit Überraschung!)

Wo? Aula Hesse-Realschule!

Wann? Kirmessonntag, 20 Uhr!

Wie viel? Umsonst!

Die Band Silmaril posierte auf dem Plakatfoto vor einer Wasserschlossruine. Die Musiker mit ihren grimmigen Mienen und Lederjacken schienen allesamt einem Highlander-Film entsprungen.

«Scheiße!», brüllte Henny. Er fetzte das Plakat vom Stromkasten, bis auf einen letzten, hartnäckig klebenden Schnipsel. «Scheißescheißescheiße!»

Dann rannte er mit brennenden Fingernägeln weiter.

YoYo Men – Die Coverband für Stadtfeste,

Kneipenjubiläen, runde Geburtstage –

einfach für jede Gelegenheit!

Ihr eigener Werbetext war – wie so vieles im Laufe ihrer Bandgeschichte – ein Kompromiss, der kleinste gemeinsame Nenner. Dennoch, die YoYo Men galten in Lichtenberg und den umliegenden Kirchdörfern als Rock-Institution. Eine Größe, ein echter Live Act, ein Bringer! Doch außer Henny ärgerte es offenbar niemanden in der Band, dass Silmaril ihnen diesen Rang streitig machte. Eine Folkrock-Formation aus dem benachbarten Früllersdorf. Diese Jungs gab es erst seit ein paar Jahren, aber die machten eigene Sachen. Die waren sogar schon durch Irland und Schottland getourt. Die hatten die Aula der Hesse-Realschule mit 623 Besuchern um genau 147 Zuschauer voller gemacht als die YoYo Men. Man konnte dankbar sein, dass der Schützenverein nicht zur Abwechslung die engagiert hatte. Warum hing ausgerechnet jetzt ein verschissenes Silmaril-Plakat vor seiner Nase? Genau in dem Moment, da er versuchte, wieder halbwegs klar zu denken.

Zum Klarsehen war Henny noch nicht fähig: Am Ortsausgang lief er blindlings in ein heranrauschendes Taxi, und er landete nur deshalb nicht in der Unfallklinik, weil der Fahrer brillantes Reaktionsvermögen zeigte. Der Mann brachte den Benz mit quietschenden Reifen exakt einen Millimeter vor Hennys Kniescheiben zum Stehen und ließ fast im selben Moment sein Fenster runter. Seine Augen quollen hervor, die Hängebacken zitterten.

«Bist du wahnsinnig?», brüllte er. «Ich hätte dich fast plattgemacht.»

«Sind Sie frei?»

«Frei? Wie frei?» Der Taxifahrer schaute blöd.

«Frei wie ohne Fahrgast.»

«Ach so, frei. Ja … sicher.»

Henny hatte zwar keinen Schimmer, wohin er wollte, aber weiterlaufen war unmöglich. Sport erlebte sein Körper seit zwei Jahren nur noch audiovisuell, und die Rennerei gerade eben hatte ihn körperlich vollkommen verausgabt. Er riss die Taxitür auf und ließ sich auf die Rückbank plumpsen. Seelisch lief er immer noch auf Autopilot durch die Straßen, rannte fort, immer weiter fort von Ich bin schwanger. Und –

«Ich mache aber heute keine Fahrt mehr unter fünf Euro.» Die Hängebacke musterte ihn im Rückspiegel. «Eben waren schon mal zwei Gäste, die nur zum Busbahnhof mussten. Da fragt man sich doch, warum die die paar Meter bis dahin nicht einfach –»

«Nach Köln.»

«Köln?» Das grobporige Plustergesicht konnte die Freude über eine 40-Kilometer-Fahrt nicht verhehlen. «Muss ich aber mit Zuschlag machen, falls ich keine Fuhre zurück finde, verstehen Sie, nicht?»

«Fahren Sie!»

Der Taximann nahm eine rote Ferrari-Kappe vom Beifahrersitz und setzte sie auf. «Mein Glücksbringer für längere Fahrten. Hab ich mir 2006 aufm Nürburgring zugelegt.»

«Es gibt ein Extra-Trinkgeld, wenn Sie sofort losfahren und die ganze Fahrt über den Mund halten. EINVERSTANDEN?!»

Die Gangschaltung krachte, und das Taxi rollte los.

«Trinkgeld. Prima. Machen wir, Chef!», murmelte der Fahrer und schlug das Lenkrad ein. «Kurz wenden … zack, einfädeln … und schon fährt er …»

Die Welt war voller Frau Windraths.

Henny vergrub sich im Lederpolster der fünf Jahre alten E-Klasse. Sein Puls hämmerte nach wie vor mit überhöhter Drehzahl, was nicht nur eine Reaktion auf das ungewohnte Laufpensum war. Sein Herz hatte nachhaltig registriert, dass sich Herrchen auf der Flucht befand. In so einer Situation gibt sich jedes Organ besonders Mühe.

Er atmete tief durch. Der Taxifahrer warf einen neugierigen Blick in den Rückspiegel. Henny starrte abweisend zurück, und der Mann konzentrierte sich wieder auf die Straße.

Alexa war schwanger, und er lief weg. Mit einunddreißig Jahren, wie ein kleiner Junge. War das mutig, dämlich oder feige? Er wusste es nicht, fühlte sich schuldig, panisch und überfordert zugleich. Außerdem beschlich ihn das unangenehme Gefühl, sein Problem damit nicht wirklich gelöst zu haben.

«Auch Schumi-Fan?»

«Wie bitte?»

Der Fahrer tippte an seine Kappe. «Schumi? Fan?»

«Trinkgeld!»

Die Hängebacken zitterten, so sehr brodelte dahinter der Wunsch weiterzuquasseln. Doch für genau eine Minute herrschte Stille im Taxi.

«Wohin in Köln?»

«Was?»

«Ja, Chef, Entschuldigung! Die Frage darf man ja wohl stellen. Ich mein, Köln ist groß. Oder soll ich Sie an der Autobahn am Ortsschild rauslassen?» Er gackerte wie ein Perlhuhn, dem jemand die Schwanzfedern ausrupft.

«Einfach weiter. Ich sag Bescheid.»

«Bescheid? Kenn ich nicht. Liegt bestimmt hinter Nippes und Weidenpesch», murmelte der Taxifahrer und gackerte weiter vor sich hin.

Dann kehrte wieder Ruhe ein.

Ganze zwei Minuten lang.

«Stört’s Sie, wenn ich das Radio anmache?» Perlhuhn fummelte bereits am Lautstärkeregler.

«Nee.»

«Mich auch nicht.» Er warf einen triumphierenden Blick in den Rückspiegel.

Dies war sicher nicht das erste Rede-Schweige-Duell, das der Mann gegen einen Fahrgast führte. Und Henny beschlich das Gefühl, dass das Hängebacken-Perlhuhn aus den meisten als Sieger hervorgegangen war. Im Radio trällerte Hansi Haller: «So So Sonne am Meer, und ich lieb dich so sehr auf den Wogen der Liebe.» Der Taxifahrer stellte einen anderen Sender ein. Ein kurzes Krachen, dann ein stampfender Rhythmus und Michael Wendlers perfekter Einsatz mit Refrain: «Doch das ist alles nur gelogen, bin völlig aus dem Tritt, denn eigentlich will ich dich doch zurück … zurück …»

Nein.