WÜSTE GOBI

Tödliche Falle für Urzeitechsen

Ein spektakulärer Fossilienfund in der Inneren Mongolei Chinas zeugt von einem prähistorischen Unglück – und erlaubt Paläontologen ungeahnte Einblicke in das Zusammenleben junger Dinosaurier.

Von Paul C. Sereno

AUF EINEN BLICK

JUGENDHORDE IN DER FALLE

1 In der Wüste Gobi in der chinesischen Inneren Mongolei entdeckten Forscher ein 90 Millionen Jahre altes Massengrab mit den hervorragend erhaltenen fossilen Skeletten von mehr als zwei Dutzend straußenähnlichen Dinosauriern der Art Sinornithomimus dongi.

2 Die Tiere müssen alle gleichzeitig umgekommen sein. Offenbar blieben sie im weichen Grund am Ufer eines Sees stecken und konnten sich nicht wieder befreien. Dann machten sich Raubtiere über sie her.

3 Alle Skelette gehörten zu Jungtieren verschiedenen Alters. Möglicherweise zogen diese Saurier in eigenen Gruppen umher, bis sie erwachsen wurden.

Ein Fundort wie dieser war mir in vielen Jahren als Dinosaurierfeldforscher noch nicht begegnet. Erst 15 Tage waren wir mitten in der Wüste Gobi in der Inneren Mongolei auf Fossilsuche. Und nun waren wir anscheinend dabei, gleich einen ganzen Friedhof mit ziemlich intakten Dinosaurierüberresten auszugraben.

Ein paar Wochen später hatten wir an dieser Stelle Knochen von reichlich einem Dutzend Tieren frei gelegt. Dazu benutzten wir neben dem üblichen Werkzeug wie Hacke, Pickel und Grabstichel zeitweise auch schweres Gerät, nämlich Bulldozer, die den Boden über den vielen Fossilien schichtweise abtrugen. Wunderbarerweise gehören alle hier lagernden Skelette zu ein und derselben Saurierart, einem äußerlich an Strauße erinnernden Reptil, das inzwischen – auch dank dieses Massengrabs – zu den bekanntesten Dinosauriern zählt: Sinornithomimus dongi.

Begeistert sind wir von der Stätte inzwischen noch aus anderen Gründen: Die Fossilien und Umgebungsspuren lassen erkennen, wie die Tiere vor 90 Millionen Jahren vermutlich verendeten. Ja, sie erlauben sogar Schlüsse auf ihr soziales Verhalten und Gruppenleben. Es ist etwas Besonderes und wohl Einmaliges, einen so reichen Fund einer einzelnen Dinosaurierspezies mitzuerleben.

Frühe Dinosaurierentdeckungen in der Wüste Gobi sind mit zwei großen Forschern verbunden. Amerikaner denken sofort an den Paläontologen Roy Chapman Andrews (1884 – 1960), den unerschrockenen Expeditionsleiter und späteren Direktor des American Museum of Natural History in New York. In den 1920er Jahren bereiste er die Wüstengebiete Innerasiens, auch Teile der heutigen Mongolei. Er fand dort, in der Äußeren Mongolei, erstmals Dinosauriereier – damals als Sensation gefeiert. Zur Ausbeute dieser Fahrten gehörte auch der am Hinterfuß sichelkrallenbewehrte, zweibeinige Velociraptor, heute vielen aus dem Film »Jurassic Park« bekannt.

Europäern ist eher der Name des Topografen und Geografen Sven Hedin (1865 – 1952) vertraut. Der schwedische Entdeckungsreisende und Asienforscher erkundete die Gobi und andere Gebiete Chinas zwischen 1927 und 1935 auf der internationalen chinesisch-schwedischen Expedition, die er leitete. Aus der heute chinesischen südlichen Gobi – die zu der autonomen chinesischen Inneren Mongolei gehört – brachte er einzigartige Fossilien von Dinosauriern mit.

Sauriersuche an der Seidenstraße

In späteren Jahren entdeckten Paläontologen zwar auch in China auf Hedins Spuren versteinerte Dinosauriernester mitsamt Eiern und brütenden Elterntieren sowie Raptorenfossilien – und beides von ebenso hervorragender Qualität, wie man sie mittlerweile aus der Mongolei kennt. Die meiste Aufmerksamkeit gilt jedoch inzwischen dem Norden dieser Region. Denn seit sich der Staat Mongolei westlichen Besuchern öffnete, haben wissenschaftliche Expeditionen aus aller Welt seine abgelegenen Gebiete durchkämmt (SdW 2/1995, S. 68). Die südliche Gobi haben Paläontologen dagegen lange Zeit kaum aufgesucht.

Ich selbst lernte die abgelegenen Landstriche Chinas 1984 auf einer Weltrundreise kennen. Es war das erste Jahr, in dem ausländische Touristen im Land unbeaufsichtigt herumfahren durften. Damals war ich 27 Jahre alt und Doktorand der Geologie. Eine kohlebetriebene Eisenbahn brachte mich nach Hohhot, in die Hauptstadt der Inneren Mongolei. Damals wirkte der Ort mit seinen niedrigen Gebäuden noch wie eine Kleinstadt. Immerhin gab es dort ein naturkundliches Museum. Eigentlich lockten mich aber die fossilhaltigen Felsformationen aus der Dinosaurierzeit, die sich von hier hunderte Kilometer nach Westen ziehen. Sie flankieren die ehemalige Seidenstraße, die einst die mongolische Steppe mit dem Herzen Zentralasiens verband.

Als ich nach Peking zurückkam, besuchte ich den renommierten Dinosaurierkenner und Feldforscher Zhao Xijin (1935 – 2012). Er war Professor am dortigen Institut für Wirbeltierpaläontologie und Paläoanthropologie, galt als einer der führenden Experten auf seinem Feld und hatte damals bereits über ein Dutzend neue Dinosaurierarten entdeckt. Wir kamen schnell überein, dass wir einmal gemeinsam eine Expedition in die Innere Mongolei unternehmen würden. Allerdings sollten 16 Jahre verstreichen, bis wir diesen Wunsch 2001 endlich verwirklichen konnten.

Um die Unternehmung vorzubereiten, fuhr ich 2000 wieder nach Hohhot, diesmal zusammen mit Zhao. Am Bahnhof empfing uns der Direktor des dortigen Long-Hao-Instituts für Stratigrafische Paläontologie, der damals 60-jährige Geologe Tan Lin. In seiner energiegeladenen Art unterbreitete er uns, welche Maßnahmen für eine Expedition in die Gobi im kommenden Frühjahr zu treffen seien und wie die benötigte Ausrüstung besorgt werden könnte. Das Städtchen hatte sich in der Zwischenzeit zu einer pulsierenden Metropole gemausert, so dass es nicht weiter schwierig sein würde, vieles, vor allem die Fahrzeuge, direkt in Hohhot aufzutreiben.

Etwas länger dauerte es, bis wir uns auf das genaue Ziel dieser Fahrt einigten. Tan Lin versprach sich viel davon, die alten Stellen nochmals zu erkunden, wo schon Hedins Experten und später andere Forscher bedeutende Fossilien geborgen hatten. Mit Sicherheit gäbe es dort noch eine Menge zu finden. Doch ich wollte lieber ein paläontologisch unberührtes Terrain aufsuchen. Nach einigem Hin und Her siegte die Verlockung des Unbekannten. Also beschlossen wir, im Frühjahr auf der Seidenstraße in die entlegenen westlichen Gebiete der Gobi vorzustoßen.

Mitte April 2001 war unsere 16-köpfige Mannschaft in Hohhot versammelt – ein Team aus Amerikanern, Franzosen, Chinesen und Mongolen. Wir verteilten uns auf vier Geländewagen und ein Lastfahrzeug, das die Vorräte und die etliche Tonnen schwere Ausrüstung transportierte. 700 Kilometer weit wollten wir entlang des gelben Flusses und dann weiter in die Wüste fahren.

Am Ziel schlugen wir unweit des kleinen militärischen Außenpostens Suhongtu unser erstes Basislager auf. Täglich zogen wir nun zur Fossiliensuche los. Zu Fuß streiften wir so manchen Kilometer durch das unwegsame, unebene Gelände, immer mit konzentriertem Blick auf den Boden und die nächste Umgebung, ob nicht irgendwo ein Stück von einem Fossil im Gestein zu sehen war. Natürlich gehört bei so einer Unternehmung auch Finderglück dazu, aber manche Leute besitzen einfach den richtigen Spürsinn.

Den ersten bedeutenden Fund machte Dave Varricchio von der Montana State University in Bozeman. Der Paläontologe entdeckte auf der Unterseite einer Felsplatte den Abdruck eines Fußes mit drei Zehen, einem langen mittleren und zwei kurzen seitlichen. Dieser Fuß war größer gewesen als eine Menschenhand, doch für einen Dinosaurier eher klein. Nach unserer ersten Einschätzung handelte es sich um die Spur eines Ornithomimiden (»Vogelnachahmers«). Jene Echsen, die in der Anmutung Straußen ähnelten, gehörten zu den Theropoden und dort in die Gruppe der Ornithomimosaurier.

Neues Tal mit reicher Ausbeute

Laut einer 25 Jahre alten chinesischen geologischen Karte sind die Gesteine im Umkreis unseres Camps rund 90 Millionen Jahre alt. Sie stammen somit aus der späten Kreide, also genau passend für Dinosaurier. Trotzdem entdeckten wir in der Umgebung des Lagers außer dem Fußabdruck lediglich Knochen kleiner Arten, die man von der Gobi bereits kannte – alles keine sonderlich aufregenden Fossilien.

Deswegen fuhren wir schließlich zu einem nahe gelegenen weiten Tal, das reichere Ausbeute versprach. Und wirklich steckten unsere Leute schon bald über verschiedenen Versteinerungen die Köpfe zusammen. An einer Stelle etwa schien der Schädel eines mutmaßlichen primitiven Entenschnabelsauriers hervorzugucken. Ein weiteres Fossil gehörte wohl zu einem kleinen Sauropoden, einem jener vierbeinigen, langhalsigen Pflanzenfresser, von denen manche Arten gigantische Ausmaße erreichten. Am interessantesten erschien jedoch eine Felswand aus Lagen roten und blauen Gesteins, die wie gesprenkelt mit Beinknochen von eher kleinen Dinosauriern wirkte.

Nur war das offensichtlich kein natürlich entstandener Abhang. Vor uns schienen hier schon andere nach Fossilien gegraben und dabei den Fels abgetragen zu haben. Von wegen unberührtes Gelände! Tan erzählte uns, dass ein Geologe und Studienkollege die Stelle 1978 beim Kartieren der Gegend entdeckt hatte. Tatsächlich zeigte die Karte dort ein winziges Knochensymbol. Tan selbst hatte dann 1997 eine chinesisch-japanisch-mongolische Expedition hierher geführt. Es gelang der Gruppe auch, ein gutes Dutzend Skelette eines kleinen, bis dahin unbekannten Dinosauriers zu bergen, doch schließlich musste man die Unternehmung abbrechen, ohne alle Fossilien ausgegraben zu haben, weil die Zeit nicht reichte und die Materialien ausgingen.

In meinem Rucksack hatte ich eine wissenschaftliche Arbeit von 1999 über einen neuen Ornithomimiden aus der Gobi. Autor war der japanische Paläontologe Yoshitsugu Kobayashi, der damals an der Southern Methodist University in Dallas (Texas) promovierte. Jetzt erst wurde mir klar, dass die von Kobayashi beschriebenen Fossilien von genau dieser Felswand stammten. In der Arbeit erwähnen er und seine Mitautoren sowohl die Mengen an versteinerten Knochen als auch deren exzellenten Zustand. Bei manchen Skeletten fanden die Forscher sogar noch Magensteine, denn wie heutige Alligatoren, Robben und viele Vögel verschluckten einige Dinosaurier wohl kleine Steine, die im Magen vermutlich halfen, die Nahrung zu zermahlen. Kobayashi nannte die neue Art 2003 Sinornithomimus dongi.

Warum aber gab es gerade an dieser einen Stelle dicht beieinander dermaßen viele Fossilien von derselben Saurierart? Wir fragten uns, ob diese Tiere wohl alle gleichzeitig umgekommen waren.

Indizien der Todesumstände konservieren

In den folgenden Wochen fuhren wir jeden Tag zu dem fossilienreichen Tal. Wir wollten unbedingt herausfinden, warum in der aufgebrochenen Wand so viele Ornithomimiden steckten. Als wir uns weiter in den Fels vorarbeiteten, fanden wir nur immer mehr Skelette. Währenddessen erforschten einige Teammitglieder die Stirnseite der Erhebung und nahmen von dort Gesteinsproben, um die geologische Situation dieses Massengrabs zu analysieren.

Wollen wir herausfinden, unter welchen Umständen die Tiere zu Tode kamen, deren Fossilien wir aufspüren, müssen wir bei den Grabungen höchst umsichtig vorgehen. Auf keinen Fall darf man einfach nur die Knochen oder Skelette herausholen. Vielmehr sollte man die gesamte Fundsituation genauestens mit erfassen. Umso mehr gilt das bei dem Verdacht, dass mehrere Vertreter derselben Art gleichzeitig starben und vielleicht sogar eine Gruppe bildeten. Denn natürlich können solche Skelettansammlungen auch einfach daher rühren, dass immer wieder einzelne Tiere am selben Gewässer versanken oder dass eine Überschwemmung die Kadaver nur zusammentrug.

Falls es sich dagegen tatsächlich um eine Herde handelte, die hier starb, lassen sich dafür mit etwas Glück und dem richtigen Spürsinn durchaus auch heute noch Indizien finden. Aufschlussreich für die Todesursache könnte die Position und Anordnung der Tiere und ihre Ausrichtung zueinander sein. Ebenso mögen Spuren von Raubtierzähnen oder gesplitterte Knochen von den näheren Umständen erzählen. Paläontologen bewerten und vergleichen auch die Beschaffenheit der Sedimente, die sich vorher, im Zeitraum des Todes und später ablagerten.

Schon bald waren wir uns ziemlich sicher, dass das Schicksal all diese straußenähnlichen Dinosaurier gleichzeitig ereilt hatte. Denn fast alle Skelette lagen ziemlich in die gleichen Richtung orientiert – und nicht wild verstreut –, als wären die Tiere zusammen irgendwohin unterwegs gewesen.

Natürlich kann so ein Muster auch zu Stande kommen, wenn eine Überflutung ihre Opfer mit sich fortreißt. Doch hier sprach nichts dafür, dass die Kadaver nachträglich vom Ort des Sterbens wegbewegt worden wären. Auch die Skelette wirkten dafür zu intakt.

Nach den geologischen Analysen lag hier einst ein See, dessen Größe sich immer wieder veränderte, wenn das Klima trockener oder feuchter wurde. Die dünnen Schichten roten und blauen Gesteins besagen, dass das Gebiet damals von feinkörnigem Schlamm und Schluff bedeckt war. Außerdem fanden wir sedimentgefüllte Trockenrisse – ein Anzeichen dafür, dass breitere Uferstreifen manchmal länger trockenfielen. Einige der Saurierskelette waren von den flachen Schalen winziger Süßwasserkrebse bedeckt: von für eine solche Umwelt charakteristischen so genannten Muschelschalern (Conchostraca). Demnach hatten manche der Tiere wohl eine Zeit lang im Uferbereich des Sees gelegen. Zudem wirkten die Schlammablagerungen nahe bei den Skeletten unberührt von grabendem Kleingetier oder dort wachsenden Pflanzen, denn sie enthielten weder Wurmbohrlöcher noch Wurzelgänge. Jene Zone wurde vermutlich regelmäßig überspült. Offenbar diente dieser See in einer sonst trockenen Gegend als Oase.

Eine Ansammlung von Skeletten einer einzigen Dinosaurierart wie an dem Ort ist bis heute einmalig. Natürlich spekulierten wir schon während der Ausgrabungen viel darüber, was hier zu Urzeiten wohl geschehen sein mochte. Hatte sich in der Nähe ein Vulkanausbruch ereignet? Oder vielleicht eine Flutkatastrophe?

Trittspuren vom Kampf um die Freiheit

Zum Grabungsteam gehörte auch die Pädagogin Gabrielle Lyon. Während sie mit einer Nadel die zusammengekrallten Zehen eines der Fossilien frei präparierte, meinte sie: »Vielleicht sind die ja nur im Schlamm versackt.« Das hielt ich für zu weit hergeholt. Gabrielle hatte zwar einige Grabungserfahrung, war aber weder Paläontologin noch Geologin. Große Tiere pflegen nicht so ohne Weiteres im Morast zu verenden. Einem einzelnen Rind kann es wohl schon einmal widerfahren, dass es bis über die Knie einsinkt und sich nicht mehr zu befreien vermag. Aber gleich einer ganzen Herde? So etwas geschieht sicherlich äußerst selten. Immerhin wusste Dave Varricchio, unser Experte für Fossilisation, dass Wildpferde manchmal auf solche Weise umkamen.

Bald gab die Fundstelle mehr aufschlussreiche Zeichen preis. Dicht bei der Schicht mit den Skeletten bemerkte Dave auf der frei gelegten Fläche v-förmige Muster, die mit der Spitze nach unten zeigten, als ob dort etwas Dünnes den Schlamm in die Tiefe gedrückt hätte. Stammten die Spuren etwa doch von den Zehen von Tieren, die im tiefen Morast um ihr Leben gestrampelt hatten?

Leider sah es inzwischen so aus, als könnten wir nicht mehr viel weiter in den Hang vorstoßen, denn der fossilhaltige Horizont senkte sich unter dem Hügel immer mehr in die Tiefe, was die Grabungen mit jedem Tag schwieriger und heikler machte. Für einen vollständigen Aufschluss dieses Fundkomplexes würden wir mit dem vorhandenen Gerät Monate, wenn nicht Jahre benötigen. Doch dann kam uns der Zufall zu Hilfe.

Neue Grabungsmethode: Grob, aber effektiv

Die Soldaten des erwähnten Militärpostens hatten uns zu einem Basketballmatch aufgefordert, und an einem freien Tag folgten wir der Einladung. Die älteren Herren Tan und Zhao schauten dem Spiel zu. Dabei bemerkten sie in der Nähe abgestellte schwere Baumaschinen. Am selben Abend schon sprachen wir darüber mit den verantwortlichen Offizieren. Etliche Runden Baijiu taten das Ihre – eines scharfen Getränks, das übersetzt harmlos »Weißwein« heißt. Und tatsächlich erschien ein paar Tage später ein riesiger Bulldozer am Grabungsort.

Nun ging es rasch voran. Die große Maschine trug von der Hügelkuppe wenige Zentimeter dicke Schichten ab, und wir marschierten jedes Mal wachen Auges hinterher. Auch oberhalb des Fundhorizonts, der uns augenblicklich am meisten interessierte, aber erst zwei Meter tiefer lag, konnten ja Fossilschätze auftauchen. »Stopp!«, schrie plötzlich der Paläontologe Jeff Wilson von der University of Michigan in Ann Arbor. Die Schaufel des Fahrzeugs hatte einen Felsblock aufgerichtet, und Wilson erspähte Zähne und Kiefer. Eifrig durchsuchten wir das rechts und links von der Fahrspur aufgeworfene Material und fanden wirklich auch noch die restlichen Stücke des 45 Zentimeter langen Schädels eines noch unbekannten Raubsauriers.

Schon am vierten Tag hatte die Maschine den Hügel bis knapp über dem angezielten Massengrab unseres Ornithomimiden abgetragen. Nun konnten wir wieder allein arbeiten. Am Ende hatten wir insgesamt 13 Skelette von dem straußenähnlichen Dinosaurier geborgen. Das bedeutete: Zusammen mit den früheren Skeletten waren hier Knochen von gut zwei Dutzend der Urzeitechsen fossilisiert. Anders, als man es sonst meist antrifft, lagen die Überreste der einzelnen von uns geborgenen Tiere aber nicht jeweils innerhalb einer wenige Zentimeter dünnen Schicht – die darüber abgelagerten Sedimente hatten sie also nicht komplett flach gepresst. Vielmehr ragten die Hinterbeine mancher Echsen viel tiefer in den damals schlammigen Untergrund. Und auffälligerweise fehlten bei ein paar sonst ziemlich vollständigen Skeletten ausgerechnet die Hüftknochen, als hätte jemand diese Tiere von oben und hinten angefallen.

Das alles zusammen mit der Orientierung der Saurier in dieselbe Richtung erweckt durchaus den Eindruck, als ob hier eine Herde unterwegs war, die im Morast des Seeufers einsank und sich nicht wieder befreien konnte – ein gefundenes Fressen für Räuber und Aasjäger. An den zusammengekrampften Füßen hat Gabrielle Lyon wohl die Todesangst der Tiere abgelesen.

Wie fantastisch diese Skelette erhalten sind, erkannten wir in vollem Umfang erst nach meiner Rückkehr nach Chicago, als Mitarbeiter von mir sie eines nach dem anderen unter dem Mikroskop sorgsam herauspräparierten und säuberten. Nicht nur dass noch Magensteine vorhanden waren – sie lagen auch so, dass man die Form der muskulösen Mägen zu erkennen meinte. Zudem entdeckten wir einen dünnen Kohlefilm, der die mutmaßlichen Mägen auskleidete: offensichtlich Überreste der letzten Mahlzeit.

Selbstständige Jugendverbände

Schon bei der Ausgrabung hatten wir uns darüber gewundert, dass alle Skelette von recht jungen Tieren zu stammen schienen und offenbar keine erwachsenen – in dem Fall mutmaßlich geschlechtsreifen – Individuen darunter waren. Das erkannten wir an den Wirbeln, denn daran lässt sich im Feld das ungefähre Alter eines Dinosauriers am besten beurteilen. Solch ein Wirbel besteht aus zwei Teilen: dem kompakten, spulenförmigen Wirbelkörper und dem daran angelagerten Wirbelbogen, durch den das Rückenmark zieht. Die beiden Strukturen waren bei jungen Tieren noch nicht miteinander verwachsen – und sie waren es auch bei unseren Skeletten nicht. Die beiden Teile verbanden sich erst fest, wenn die Größe des Tiers praktisch nicht mehr zunahm und es also wohl voll erwachsen war. Wie man heute weiß, wuchsen Dinosaurier, im Gegensatz zu anderen Reptilien, hauptsächlich in der Jugend (siehe auch SdW 5/2006, S. 26).

In Chicago untersuchten wir das Alter der Skelette genauer. Dazu sägten wir von einigen Langknochen der Extremitäten und von den Rippen dünne Scheiben ab und zählten die jährlichen »Wachstumsringe«, die Reptilien ausbilden. Demnach waren diese Tiere zwischen einem und sieben Jahre alt gewesen – die meisten von ihnen zählten ein oder zwei Jahre. Wir schlossen aus den Befunden zum einen, dass Sinornithomimus erst mit ungefähr zehn Jahren erwachsen wurde. Noch aufregender fanden wir aber, dass wir anscheinend tatsächlich eine Horde Jugendlicher gefunden hatten.

Denn neben den Todesumständen kannten wir jetzt auch ein wichtiges Detail aus dem Leben von Sinornithomimus. Seit Längerem machen sich Paläontologen über das Sozialverhalten halbwüchsiger Dinosaurier Gedanken. Die Skelette aus der Wüste Gobi bestärken nun die Vermutung, dass die älteren Jungen gern in eigenen kleinen Verbänden herumstreiften, bis sie nach etlichen Jahren erwachsen wurden. Manches spricht dafür, dass die Eltern ihren Nachwuchs bald mehr oder weniger sich selbst überließen. Schon in der nächsten Fortpflanzungsphase hatten die geschlechtsreifen Tiere genug anderes zu tun – etwa Partner zu umwerben, Nester anzulegen und zu verteidigen, zu brüten und sich um die neuen Jungen zu kümmern. Die älteren Sprösslinge mussten sich selbstständig durchschlagen, auch wenn sie noch sehr jung und deswegen besonders gefährdet waren. Anscheinend fanden sich dann die Jugendlichen zumindest bei dieser Art zu Gruppen zusammen, schon weil ihnen das mehr Schutz bot.

Unsere Herde hatte allerdings Pech gehabt. Die Stelle, an der den Trupp vor 90 Millionen Jahren das Ende ereilte, mag beim Vorbeiziehen ausgesehen haben wie viele andere harmlose Uferzonen, wo man nur mit den Füßen etwas einsank. Zwei Skelette in der Mitte dieses Fossillagers zeigen das Drama besonders deutlich. Die Oberkörper der beiden Tiere sind übereinandergefallen und zur Seite gesunken. Sie müssen damals aus dem Schlamm geragt haben, denn sie lagen in derselben Schicht. Aber die Beine steckten offenbar tief im Untergrund fest. Beide Skelette sind in einem bemerkenswert kompletten Zustand. Nur die Hüftknochen fehlen – wahrscheinlich bediente sich da ein Raubtier. Zu dieser Deutung passt ein zertretener Beckenknochen, der einzeln lag. Als später der Spiegel des Sees wieder anstieg, deckte neuer Schlamm den Ort zu und konservierte ihn – bis heute. image

DER AUTOR

Paul C. Sereno ist Paläontologe an der University of Chicago. Er leitete Expeditionen zur Dinosauriersuche auf fünf Kontinenten und entdeckte bisher mehr als zwei Dutzend neue Dinosaurierarten.

QUELLEN

Kobayashi, Y. et al.: Herbivorous Diet in an Ornithomimid Dinosaur. In: Nature 402, S. 480 – 481, 1999

Kobayashi, Y., Lü, J.-C.: A New Ornithomimid Dinosaur with Gregarious Habits from the Late Cretaceous of China. In: Acta Palaeontologica Polonica 48, S. 235 – 259, 2003

Varricchio, D. J. et al.: Mud-Trapped Herd Captures Evidence of Distinctive Dinosaur Sociality. In: Acta Palaeontologica Polonica 53, S. 567 – 578, 2008

LITERATURTIPP

Norell, M.: Auf der Spur der Drachen. China und das Geheimnis der gefiederten Dinosaurier. Elsevier / Spektrum Akademischer Verlag, München 2007

Erlebnisse eines Paläontologen in China, mit vielen Bildern und wissenschaftlichem Hintergrund

Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1130107

SAURIERFOSSILIEN

Blutspuren aus der Kreidezeit