Bernhard Horstmann

Hitler in Pasewalk

Die Hypnose und ihre Folgen

Droste Verlag

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ISBN 978-3-7700-4147-3

www.drosteverlag.de

Vorbemerkung

„Nachdem sich der publizistische Wirbel

um ‚Das Doppelleben eines Diktators‘,

um die angebliche Homosexualität Hitlers,

gelegt hat, ist es an der Zeit,

sich den relevanten Themen der

Zeitgeschichte zuzuwenden.“

Tillmann Bendikowsky

Vorbemerkung

Die auf unmittelbarer ärztlicher Befasstheit mit dem Patienten beruhende psychiatrische Diagnose über Hitler stammt aus dem Jahr 1918 und lautet: „Psychopath mit hysterischen Symptomen“. Sie wurde Ende des Ersten Weltkriegs von einer psychiatrischen Kapazität, Professor Dr. med. Edmund Forster, später Ordinarius für Psychiatrie und Direktor der Nervenklinik der Universität Greifswald, gestellt. Forster entlarvte Hitlers Legende einer angeblich schweren Gasvergiftung der Augen, befreite ihn stattdessen durch ein genial angewandtes Hypnoseverfahren von einer hysterischen Erblindung und griff dadurch ohne Absicht und Willen in tragischer Weise in den Lauf der Geschichte ein.

In memoriam

Der Psychiater, Professor Dr. Edmund Forster,
wurde als neurologischer Chefarzt der psychiatrischen Abteilung des Reservelazaretts Pasewalk zum Entdecker von Hitlers unheilbarer psychopathologischer Persönlichkeitsstörung, heilte jedoch deren hysterische Symptomatik und wurde so zum Mitwisser und unbewussten Erfüllungsgehilfen von Hitlers Psychopathie. Von Hitler deshalb gnadenlos verfolgt, erschoss er sich am 11. September 1933 in seiner Wohnung in Greifswald.

Dr. med. Ernst Weiß, Arzt und Schriftsteller, übernahm im Pariser Exil, kurz vor Forsters Selbstmord im Sommer 1933, dessen privates Protokoll über seine Begegnung mit Hitler mit der wörtlich genauen Beschreibung der von Forster an Hitler durchgeführten Hypnose. Er verarbeitete diesen authentischen ärztlichen Bericht in einem Roman mit dem Titel „Der Augenzeuge“ und beging aus Furcht vor Hitlers Rache am 14. Juni 1940 Selbstmord, als deutsche Truppen in Paris einrückten.

Oberst Ferdinand Eduard v. Bredow suchte und fand in Ausführung eines Befehls des Reichswehrministeriums den amtlichen Beweis für Hitlers frühe Psychopathie in den militärärztlichen Unterlagen über Hitler und stellte diese schon vor dessen Regierungsantritt 1932 sicher, so dass die Geheime Staatspolizei zum Mord schreiten musste, um ihrer habhaft zu werden. Ferdinand v. Bredow starb von Mörderhand in der Nacht zum 1. Juli 1934 in Berlin-Lichterfelde.

General der Infanterie Kurt v. Schleicher,
Reichswehrminister und einer der frühen Gegenspieler Hitlers, gab den Befehl zur Aktensuche und hatte Kenntnis von ihrem Inhalt. Er wurde zusammen mit seiner Ehefrau am 30. Juni 1934 in seiner Wohnung in Berlin ermordet.

Einführung

Einführung

Wer die Absicht hat, sich historisch Hitler als bürgerlicher Person vor seiner Machtübernahme zu nähern, trifft auf große Schwierigkeiten. Hitler unterlag einer zwanghaften Obsession, Unterlagen „an sich zu ziehen“, die geeignet waren, seine Vergangenheit in einem negativen Licht erscheinen zu lassen. So entdeckte man bald, dass z. B. die sechs Aktenbände der Münchner Polizei über ihn an Heinrich Himmler ausgeliefert wurden, der sie Hitler dann persönlich übergab.1 Nicht viel anders war es mit seinen österreichischen Militärakten, die im Mai 1938 vom Wiener Polizeipräsidenten an das „Reichskommissariat für die Wiedervereinigung“ ausgeliefert werden mussten.2

Auf diese Quellensituation wurde ich gleich zu Anfang meiner Nachforschungen durch eine Mitteilung des Bundesarchivs unmissverständlich hingewiesen: „Auf Ihr Schreiben vom 21. März d. J. kann ich lediglich erwidern, dass Ihre Überlegung, die Krankenunterlagen Hitlers müssten oder könnten sich theoretisch im Militärarchiv befinden, zwar durchaus logisch erscheint. Doch selbst für den Fall, dass sie sich einst (vermutlich bis 1933) in der zentralen diesbezüglichen Sammelstelle, dem heute noch als Abwicklungsbehörde bestehenden Krankenbuchlager Berlin …befunden haben, sind sie, wie grundsätzlich alle seiner Zeit ermittelbaren personenbezogenen Dokumente zu A. H., 1933 ff. ‚aus dem Verkehr gezogen‘ und unter – wessen auch immer – Verschluss genommen worden.“3

Hitlers Methode war es, die seiner Reputation abträglichen Aktenbestände durch hervorragende Fachleute ausfindig machen zu lassen und sie durch raffinierte Ausnutzung komplizierter Zuständigkeiten unter seine Kontrolle zu bringen, wo sie in eigenen Panzerschränken bis auf weiteres verschwanden. Erst im April 1945, kurz vor Ende des Krieges, sind sie durch seinen persönlichen Adjutanten, SS-Obergruppenführer Julius Schaub, nach Berchtesgaden geschafft und dort auf dem „Berghof“ verbrannt worden.4

Einen besonderen Rang innerhalb dieser Praktiken nehmen sämtliche Unterlagen und Personen ein, die über jene 28 Tage hätten Auskunft geben können, die Hitler vom 21. Oktober bis zum 19. November 1918 angeblich mit einer schweren Senfgasvergiftung der Augen im Reservelazarett Pasewalk verbracht hat, und zwar auf der Abteilung 6, die, einer begründeten Wahrscheinlichkeit nach, eine Sonderabteilung zur psychiatrischen Behandlung psychisch geschädigter Kriegsopfer gewesen ist.5 Das vorliegende Buch behandelt diese Episode im Leben Hitlers, die in seinem Buch „Mein Kampf“ auf nur fünf Seiten geschildert wird und folglich zu kurz gekommen ist, da sie nicht einen der unwichtigsten, sondern den folgenschwersten Lebensabschnitt Hitlers darstellt.

In diesen 28 Pasewalker Tagen hat sich bei Hitler eine der stärksten und auffallendsten seelischen Transformationen ereignet, die jemals bei einer geschichtlichen Person mit ähnlichem Volumen der Aktionen und deren Auswirkungen wie bei Hitler beobachtet worden sind. Der Frontsoldat des Ersten Weltkriegs wird von seinen Kameraden und Vorgesetzten als ruhiger, in sich gekehrter, gehorsamer, unauffälliger, zuverlässiger Untergebener geschildert, der nicht einmal den einfachen Rang eines Unteroffiziers erreicht hat, da er angeblich keinerlei Führungseigenschaften besaß.

Der Hitler, der das Pasewalker Lazarett verließ, war erfüllt von der Sprengkraft einer ungeheuren Willensstärke, von der Überzeugung, er, und nur er, könne das Schicksal des zusammengebrochenen Deutschlands wenden, und von dem abgrundtiefen Hass auf die „Novemberverbrecher“, die vermeintlich diesen schmählichen Verrat begangen hatten. Anlässlich eines Regimentstreffens Anfang der 20er-Jahre bescheinigt ihm der ehemalige Regimentsadjutant: „Daß er inzwischen ein Anderer geworden war, konnte ich auf den ersten Blick feststellen.“6 Und sein ehemaliger Kompaniefeldwebel Max Amann sagt aus: „So hatte ich ihn vorher nie gekannt. Es war ein unbekanntes Feuer, das in ihm brannte.“

Aber viel mehr noch: Eine der wenigen konkreten Passagen in „Mein Kampf“ schildert den Augenblick, als der Geistliche die Patienten des Lazaretts über den an der Westfront abgeschlossenen Waffenstillstand von Compiègne unterrichtet. Hitler beschreibt hier den Vorgang, wie er in Verzweiflung fällt und erblindet, überaus glaubhaft. Dieser Moment war aber kein Rückfall in eine vorgeblich ursprünglich erlittene Senfgaserblindung an der Front, sondern es handelte sich um einen psychotischen Schub mit hysterischer Reaktion. Und nun ereignet sich nach Hitlers Legende ein „Wunder“, bei dessen Erwähnung Literatur und Forschung noch heute bis zu den neuesten biografischen Werken von Matussek/Marbach7 und Ian Kershaw8 im Nebel stochern. Innerhalb von drei Tagen eines vollkommenen seelischen Zusammenbruchs und totaler Erblindung wird der verzweifelte Hitler von seiner Erblindung und seinen Komplexen befreit, bereits am 13. November „kriegsverwendungsfähig“ geschrieben9 und am 19. November als vollständig geheilt in die Heimat entlassen.

Die Sichtung schon vorhandenen Materials mit neuen Erkenntnissen und Indizien hat die Unmöglichkeit dieser Deutung ergeben. Es geschah kein Wunder. Vielmehr wurde Hitler im Pasewalker Lazarett durch den damals schon sehr bekannten Bonhoeffer-Mitarbeiter, Marine-Stabsarzt DS II, Professor Dr. Edmund Forster, als „Psychopath mit hysterischen Symptomen“ diagnostiziert und durch eine mit großer Perfektion ausgeführte Hypnose, deren posthypnotische Suggestionen und die dabei aufgetretene Amnesie unabsehbare Folgen gezeitigt haben, innerhalb einer knappen Stunde von seiner Erblindung geheilt und zu der aktiven und selbstbewussten Überpersönlichkeit aufgebaut, wie ihn die Welt zu ihrem Schrecken alsbald erlebt hat.10

Hierüber waren Aufzeichnungen entstanden. Zum einen die militäramtlichen „Krankenblätter“ seitens der Lazarettverwaltung und zum anderen aber auch private Notizen Professor Forsters über seine Begegnung mit Hitler. Beide sind im Original nicht mehr aufzufinden, weil 1932 das Interesse der militärischen Opposition an ihrem Besitz und ab 1933 das Interesse Hitlers an ihrer Vernichtung, ungeachtet der darüber entstandenen Legendenbildung, auf jeden Fall zu ihrem Verschwinden geführt haben.

Gleichwohl gibt es eine Reihe wichtiger Tatsachen, die zwar im Einzelnen allgemein bekannt, in ihrem Zusammenhang aber geeignet sind, ein neues Licht auf jenen „dunklen Punkt“ in Hitlers Lebensgeschichte zu werfen, dessen Vorhandensein in Bezug auf seinen Lazarettaufenthalt in Pasewalk von der neueren Forschung allgemein angenommen wird. Man kann sich dabei auf Tatsachen beziehen, wird andererseits aber auch Indizien zu würdigen haben. Unter Indizien versteht man Umstände, aus denen auf das Vorliegen bestimmter Sachverhalte geschlossen werden kann. Darüber hinaus gibt es Umstände, die einerseits auf das Vorliegen bestimmter Sachverhalte schließen lassen, andererseits aber bei vernünftiger Betrachtung die Möglichkeit eines anderen als des indizierten Sachverhalts ausschließen, so genannte „zwingende Indizien“.

Autor und Verlag erklären hierzu übereinstimmend, dass diese Untersuchung die Darstellung von Tatsachen zum Gegenstand hat, deren Kenntnis im Interesse objektiver Geschichtsbetrachtung notwendig erscheint. Nicht die Absicht des Buches ist es hingegen, aus diesen Tatsachen eine Bewertung der Moral, des Charakters oder der Psyche Adolf Hitlers abzuleiten oder gar Rückschlüssen aus diesen Tatsachen vorzugreifen, die bezüglich der psychologischen Kausalität der psychiatrischen Medizin überlassen bleiben.

Ich bin der Überzeugung, dass die auf bisher unbekanntes Material, neue Erkenntnisse, Tatsachen und zwingende Indizien gestützte Arbeit im Ergebnis der historischen Realität entspricht. Die Untersuchung beginnt daher mit einer Darstellung der Umstände, die zu der allgemein verbreiteten Auffassung geführt haben, die Ereignisse während Hitlers Aufenthalt in Pasewalk seien historisch bedeutungslos gewesen, und mit dem Ergebnis eigener Überlegungen, die mich zu einer gegenteiligen Auffassung kommen ließen.

Kapitel I

Die Geburt einer Legende

Die Vorgänge vom Herbst 1918 im Königlich Preußischen Reservelazarett zu Pasewalk in Pommern, wo der Gefreite Adolf Hitler vom 21. Oktober bis 19. November als Psychopath mit hysterischen Symptomen psychiatrisch behandelt und dann als geheilt nach München entlassen wurde, stellen bis heute einen dunklen Punkt in der Hitlerforschung und – literatur dar.

Diese Tatsache beruht darauf, dass Hitler alle mit diesem Zeitabschnitt befassten Personen und Dokumente radikal beseitigen ließ und diesen Zeitraum in seiner Autobiografie „Mein Kampf“ teilweise entstellt und teilweise überhaupt nicht schildert.

Dies hat schon frühzeitig zu Fehldeutungen geführt. Acht Jahre vor der maßgeblichen Biografie „Hitler“ von Joachim C. Fest erschien das Buch „Die Frühgeschichte der NSDAP“ von Werner Maser, der sich erstmals überhaupt mit dem Komplex Pasewalk befasst.11 Hier heißt es: „Ähnlich wie mit der Behauptung, daß Hitlers EK I erschwindelt worden sei, verhält es sich mit der (auf General v. Bredow zurückgehenden) Darstellung, dass Hitlers (vorübergehende) Erblindung im Oktober 1918 ausschließlich ‚hysterischer Art‘ gewesen sei. Sicherlich hat Hitler, der seine Zukunft in der Gestaltung künstlerischer Werte sah, während seines Aufenthaltes im Lazarett seelisch besonders gelitten und unter dem Schrecken, für immer zu erblinden, einen Augenblick tatsächlich seine Fassung verloren. Aber seine Augenerkrankung hatte mit Hysterie nichts zu tun, sondern war nach seinen Militärpapieren die Folge eines feindlichen Gasbeschusses bei La Montagne.“ In der dazu gehörigen Anmerkung 377 heißt es weiter: „Persönliche Mitteilung von General Vincenz Müller, dem von Bredow berichtete, im Auftrag Schleichers Nachforschungen angestellt zu haben.“ Dieser Text impliziert, dass die Behauptung einer hysterischen Erblindung entweder von Müller oder von Bredow ebenfalls „erfunden“ worden sei, und verweist die Behauptung einer hysterischen Erblindung bei Hitler in den Bereich des Belanglosen und Fabulösen.

Und genau so wurde sie dann auch von Fest in seiner 1973 erschienenen großen Hitlerbiografie übernommen. Darin heißt es12: „Der fraglos niederschmetternde Eindruck, den die unvermittelte Wendung des Kriegsgeschehens auf ihn (Hitler) gemacht hat, ist sogar Anlaß zu der Vermutung gewesen, die Erblindung von 1918 sei, teilweise zumindest, hysterischer Natur gewesen, und Hitler selber hat solchen Überlegungen auch gelegentlich einige Nahrung gegeben.“ In den dazugehörenden Anmerkungen 122 und 125 heißt es dann weiter: „Bedauerlicherweise ist die Krankenakte Hitlers schon vor 1933 verschwunden und seither nicht mehr greifbar gewesen. Hitlers Militärpapiere verzeichnen lediglich kurz, daß er ‚gaskrank‘ gewesen sei.“ Und weiter unten: „Vgl. dazu im übrigen auch W. Maser ‚Frühgeschichte‘ S. 127, der eine persönliche Mitteilung von General Vincenz Müller erwähnt, der zufolge General von Bredow im Auftrag Schleichers ermittelt haben soll, daß Hitlers Erblindung ausschließlich ‚hysterischer Art‘ gewesen sei. In der Kriegsstammrolle wird Hitler dagegen als verwundet ‚gaskrank‘ bezeichnet.“

Damit war die Legende geboren. Bei der zentralen Gewichtung von Fests biografischem Werk in der deutschen und internationalen Hitlerliteratur kursierten von 1973 an die Formulierungen: „sogar Anlass zu der Vermutung gewesen“, „gelegentlich einige Nahrung gegeben“, „ermittelt haben soll“, „wird Hitler dagegen als verwundet ‚gaskrank‘ bezeichnet“. Der erste wichtige Hinweis auf eine andere Einschätzung als des von Maser in die Welt gesetzten und von Fest übernommenen Zweifels verschwand in der Versenkung.

Allerdings gab es im Deutschland der frühen Nachkriegsjahre Andeutungen über die Pasewalker Vorgänge, die Rückschlüsse darauf zuließen, dass dort Ereignisse von außerordentlicher Tragweite stattgefunden hatten. Im Jahre 1985 wurde ich aufmerksam auf die Beschreibung einer dramatischen Szene zwischen den beiden Generalen Kurt Freiherr v. Hammerstein und dem damaligen Reichswehrminister Kurt v. Schleicher. Sie schilderte eine Kontroverse, die mit einer Warnung Hammersteins an Schleicher vor einer Beschlagnahme von Hitlers Pasewalker Lazarettpapieren abschloss und mit den drastischen Worten v. Hammersteins endete: ‚Wenn ihr die nicht zurückgebracht habt, bevor Hitler zur Macht kommt, sind Bredows und dein Kopf keinen Schuß Pulver mehr wert.’ Diese Szene übernahm ich in meinen Roman „Die Nacht von Barbarossa“ (S. 323f). Der offenkundige Zusammenhang zwischen der Beschlagnahme von Hitlers Pasewalker Lazarettakten, der Warnung v. Hammersteins und der späteren Ermordung der beiden Generale ließ mir keine Ruhe. Als ich die Vorarbeiten für dieses Buch begann, entsann ich mich der lobenden Zustimmung von Frau Lonny v. Schleicher zu meiner damaligen Romanfassung und befragte sie, ob sie sich an diese Ereignisse noch erinnern könne. Frau v. Schleicher berichtete mir, ihr sei ein Gespräch in Neu-Babelsberg in Erinnerung, wonach 1924 während Hitlers Festungshaft ihn belastende Krankenunterlagen eine Rolle gespielt hätten. Da für Hitlers Hochverratsprozess nach dem 9. November 1923 und für den anschließenden Strafvollzug die militärischen Papiere aus Pasewalk beigezogen und Verhandlungsgegenstand waren, spricht alles dafür, dass die in dem von Lonny v. Schleicher bezeugten Gespräch genannten Unterlagen tatsächlich die brisanten Pasewalker Papiere waren. Dies alles bestärkte mich in meiner lange gehegten Vermutung, dass hinter solchen Hinweisen wohl doch bedeutendere historische Tatsachen steckten als die bis heute unaufgeklärte Phase von Hitlers Aufenthalt in Pasewalk und die vielfach fälschlich als „Wunder“ zelebrierte Blitzheilung seiner angeblich traumatischen Erblindung nebst totaler Wesensveränderung innerhalb von drei Tagen. Denn die Lazarettakten Pasewalk, von denen die beiden Generale in ihrer Auseinandersetzung gesprochen hatten, hat es tatsächlich gegeben.

Anfang der 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts herrschte in den Berliner Medien eine lebhafte Fluktuation. In der zum Hause Ullstein gehörenden Vossischen Zeitung stürzte Chefre-dakteur Georg Bernhard über eine gegen die Frau von Franz Ullstein angezettelte Spionageaffäre. Hans Zehrer sollte die Nachfolge antreten, lehnte dies aber aus Loyalitätsgründen Bernhard gegenüber ab und ging als Chefredakteur zusammen mit Friedrich Wilhelm v. Oertzen zur Täglichen Rundschau, die kurz vorher von Reichswehrminister v. Schleicher erworben worden war, um über ein offiziöses Sprachrohr für die Interessen der Streitkräfte verfügen zu können.13 Zehrer blieb aber gleichzeitig auch als Chefredakteur bei der Monatsschrift Die Tat, einem Sprachrohr für reaktionär-nationalistisches Gedankengut, das sie durchaus in die Nähe Schleichers rückte.

In den Redaktionssitzungen zur politischen Ausrichtung der Rundschau spielte deren Haltung insbesondere der immer stärker heranwachsenden NSDAP gegenüber eine entscheidende Rolle. Für Schleicher war es von Bedeutung, dass besonders F.W. v. Oertzen dieserhalb schon Recherchen angestellt hatte. Oertzen konnte glaubwürdige Hinweise dafür liefern, dass es über Hitlers Lazarettaufenthalt in Pasewalk im Oktober/November 1918 noch Krankenblätter gab, wonach tatsächlich die Schilderung Hitlers über eine schwere Senfgasvergiftung durch englische Artillerie, die die nationalsozialistische Propaganda in jenem überhitzten Sommer 1931 in großem Umfang heroisierend verbreitete, ernsthaft in Zweifel zu ziehen war.

Schleicher machte von dieser ihm gebotenen Gelegenheit, belastendes Material gegen Hitler und seine an die Macht drängende Partei in die Hand zu bekommen, unverzüglich Gebrauch.14 Er beauftragte den leitenden Offizier seiner Abwehrabteilung, den damaligen Oberst Ferdinand v. Bredow, den Hinweisen v. Oertzens nachzugehen und sich auf die Suche nach diesen Krankenakten Hitlers zu begeben. Oberst v. Bredow und seine professionell arbeitende Abwehrabteilung hatten alsbald Erfolg. Die Papiere enthielten wirklich die ersten sensationellen Hinweise darauf, dass die Behauptungen Hitlers über die Ereignisse im Oktober und November 1918 in Pasewalk nicht nur nicht zutrafen, sondern darüber hinaus eine Wahrheit verdeck-ten, die in ihrem dramatischen Umfang erst Jahrzehnte später erkannt werden sollte: die militäramtliche Dokumentation, dass der Gefreite Hitler vom 21. Oktober bis zum 19. November dort Patient gewesen war und dass die über ihn gestellte Diagnose „Hysteriker mit entsprechenden Symptomen“ gelautet habe. Dies schildert H. J. Berndorff in seinem Tatsachenbericht „General zwischen Ost und West“ (vgl. Anm. 14).

Dem Verlauf der weiteren Ereignisse etwas vorgreifend, soll an dieser Stelle dargelegt werden, welche immense Bedeutung dieser Aktenfund durch Offiziere der Reichswehr für Hitler und für die Geheime Staatspolizei, seinem verlängerten Arm, besitzen musste. Es ist unstrittig, dass der offensive Eroberungskrieg gegen die Sowjetunion schon bei seiner Machtergreifung im Januar 1933 zu den integralen Bestandteilen von Hitlers visionären Zielsetzungen gehörte. Er hat dies am 3. Februar 1933 in einer Ansprache vor der gesamten Generalität der Reichswehr expressis verbis ausgesprochen und auf der Kriegskonferenz vom 5. November 1937 in Einzelheiten bekräftigt.15 Es ist unschwer, sich vorzustellen, was ein dokumentierter Beweis, der oberste Kriegsherr solcher Planungen sei Hysteriker, in den Händen oppositioneller Offiziere für die ausschweifenden Pläne Hitlers bedeutet hätte. Sein Krieg hätte nämlich nicht stattfinden können. Denn trotz der Euphorie, die die Aufrüstung bei den Generalen der Kaste in Erwartung der Wiederherstellung alter Privilegien ausgelöst hatte, hätte es führende Militärs gegeben, die sich dem Oberkommando eines erwiesenen Hysterikers widersetzt hätten. Zumindest wäre dies auf der Kriegskonferenz vom 5. November bei den Teilnehmern Werner v. Fritsch für das Heer, Karl Dönitz für die Marine und Konstantin v. Neurath für die auswärtige Politik zu erwarten gewesen.

Es waren die von der Abwehrabteilung der Reichswehr sichergestellten Unterlagen, die den Anlass zu jener Auseinandersetzung zwischen den befreundeten Generalen v. Schleicher und v. Hammerstein gaben. Aus ihnen ging eindeutig hervor, dass der Gefreite Hitler „vorgäbe“, infolge einer Senfgasvergiftung erblindet zu sein. Niemals habe der Gefreite indessen an einer Gasvergiftung gelitten. Seine Krankheit sei Hysterie und seine Erblindung eine hysterische Erblindung. „Zum Vorgesetzten untauglich“, vermeldete der behandelnde Arzt.

Über Jahrzehnte hinweg hat sich niemand ernsthaft mit der Frage beschäftigt, wie ein behandelnder Arzt eines Reservelazaretts es sich erlauben konnte, ein Urteil darüber abzugeben, ob einer seiner Patienten für die Position eines militärischen Vorgesetzten geeignet sei oder nicht, denn eine solche Aussage stellt einen psychiatrischen Status dar und nicht einen physiologischen. Auf diese Frage gab es nur zwei Antworten: Entweder war diese Aussage eine ungeheure Anmaßung, oder sie wurde von einer Person abgegeben, die dazu in hohem Maße befähigt und befugt war. Letzteres war der Fall.

An der Zuverlässigkeit der Überlieferung dieser Vorgänge besteht nicht der geringste Zweifel. Ihr Gewährsmann, H.R. Berndorff, war Journalist und zu der fraglichen Zeit als Reporter bei der Vossischen Zeitung tätig, also hautnah am Pulsschlag der Ereignisse. Berndorff schreibt zwar, man hätte den Namen des behandelnden Arztes ermittelt, aber leider hat er in seiner Niederschrift dessen Namen und wissenschaftlichen Rang nicht genannt. So blieb die Identität der zentralen Persönlichkeit jener Ereignisse bis weit in die 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts vor der Weltöffentlichkeit verborgen.

Das umso mehr, als die Krankenblätter, die v. Bredow auf v. Schleichers Anordnung entdeckt und sichergestellt hatte, nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 nicht mehr aufgefunden wurden. Um ihren Verbleib haben sich Legenden gebildet. Auch Max Amann, Hitlers Vertrauter und später Präsident der Reichspressekammer, hat als Zeuge in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen bestätigt, dass die Pasewalker Papiere auf Veranlassung v. Schleichers durch Abwehrorgane v. Bredows sichergestellt worden waren. Sie seien im Zusammenhang mit den Ereignissen der „Röhmkrise“ im Juni 1934 entweder in der Wohnung des ermordeten v. Schleicher oder bei dem ebenfalls ums Leben gebrachten v. Bredow beschlagnahmt worden. Jedenfalls sind sie seitdem nicht mehr aufgetaucht. Nach dem Tod des Reichsprotektors für Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, am 4. Juni 1942 soll man die Hitler’sche Krankengeschichte in dessen Schreibtisch entdeckt haben. Sein Nachfolger Ernst Kaltenbrunner habe sie, so Max Amann weiter, an sich genommen. Seither habe sie niemand mehr gesehen.16

Da Max Amann seit den Tagen des Ersten Weltkriegs Hitler sehr nahe stand, spricht einiges für die Zuverlässigkeit seiner Kenntnis und die Wahrheit dieser Aussage. Welche der Versionen über das endgültige Schicksal dieser Unterlagen auch immer die wahre sein mag: Aus Amanns Aussage ergibt sich jedenfalls das hochrangige Interesse der Geheimen Staatspolizei an diesen Papieren und daraus wiederum ihre weit reichende Bedeutung, die sie für die Person Hitlers gehabt haben.

Nachdem ich die dramatische Szene der Warnung v. Hammersteins an Schleicher in meinen „Barbarossa-Roman“ übernommen hatte, dachte ich über viele Jahre nicht mehr an sie. Ich war zwar schon damals davon überzeugt, dass diese Warnung ebenso ernsthaft wie begründet war, und dass v. Bredows und v. Schleichers Ermordung mit diesen verschwundenen Papieren in einem Zusammenhang stand, aber in meinem Bewusstsein hatte sich auch die Überzeugung gefestigt, dass die Sache nicht weiter erforschbar war, und ich legte sie ab.

Dies dauerte bis zu einem Samstagnachmittag im Spätsommer 2000. An diesem Tage erhielt ich von einem Besucher erneut einen Hinweis darauf, dass hinter den längst in Vergessenheit geratenen Gerüchten von nicht an die Öffentlichkeit gelangten Ereignissen während der 28-tägigen Dauer von Hitlers Lazarettaufenthalt in Pasewalk ein ernsthafter historischer Vorgang stecken könnte.

Im Laufe unserer Gespräche berichtete unser Gast beiläufig, er habe vor kurzem am 15. Internationalen Hypnosekongress teilgenommen. Dort habe ein Amerikaner einen interessanten Vortrag mit dem Titel „Adolf Hitler‘s Hypnosis“17 gehalten, aus dem hervorging, dass Hitler während seines Lazarettaufenthaltes einer speziellen Art von Therapie unterzogen worden sei, die bei ihm offensichtlich starke Wirkungen hinterlassen und eine Reihe von Selbstmorden ausgelöst haben soll. Ich bat unseren Gast, mir die Unterlagen zugänglich zu machen. Kurz danach hielt ich sie in Händen: eine sehr schlecht lesbare und zudem unvollständige Kopie eines Aufsatzes, den der US-amerikanische Psychiater David Edward Post MD im November 1998 in einer gerichtsmedizinischen Zeitschrift veröffentlicht hatte. Außerdem die ebenfalls nur sehr schwer lesbare Kopie des Vorwortes, das der US-amerikanische Historiker Rudolph Binion 1977 zu der amerikanischen Übersetzung des Romans „Der Augenzeuge“ des deutschen Autors Ernst Weiß geschrieben hatte, sowie das Vorwort des Historikers John Toland zu seiner großen Hitlerbiografie aus dem Jahr 1976. Weiterhin die in der Tat kaum zu entziffernde erste Seite einer dreiseitigen geheimen Studie der Intelligence Division der US-Navy von 1942 mit dem Titel „Adolf Hitler‘s Blindness“. Aus dem Studium dieses ebenso aufregenden wie unvollständigen Materials ergab sich die Vermutung engster Zusammenhänge zwischen dem jetzigen Hinweis auf eine in Pasewalk bei Hitler durchgeführte Hypnose und den Ereignissen, die mich schon in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts so sehr beschäftigt hatten.

Kapitel II

Ein Geheimreport aus USA

Mit der Feststellung, dass die offiziellen Akten über Hitlers Aufenthalt in Pasewalk ab Beginn 1933 verschollen waren, hat sich nicht nur das öffentliche Interesse, sondern anscheinend auch die Forschung zufrieden gegeben. Und das, obwohl es Andeutungen darüber gegeben hat, was diese Akten enthalten haben und wo sie möglicherweise geblieben sind. Es gibt die Überlieferung einer mündlichen Aussage von Oberst v. Bredow gegenüber seinem Offizierskameraden und späteren General der Nationalen Volksarmee der ehemaligen DDR, Vincenz Müller, dass Bredow diese Akten eingesehen und daraus den Schluss gezogen hat, dass Hitlers Erblindung im Herbst 1918 „ausschließlich hysterischer Natur“ gewesen sei.

Diese Bemerkung scheint von Vincenz Müller an Werner Maser weitergegeben worden zu sein, denn Maser spielt sie in seinem Buch „Die Frühgeschichte der NSDAP“ in ihrer Bedeutung herunter und ist bestrebt, sie abzuqualifizieren. Dafür gibt es keinerlei Gründe. Erstens wird die gleiche Feststellung auch von Berndorff getroffen, der sogar den Wortlaut zitiert, und zweitens handelte es sich bei beiden Männern um hochrangige Stabsoffiziere mit hohem Berufsethos, das damals von Offizieren der Reichswehr gefordert wurde. Und beide waren an klare und zuverlässige Aussagen gewohnt. Es spricht alles für die Authentizität dieser Mitteilung v. Bredows, denn nach unbestrittener Behauptung auch bei Joachim C. Fest waren die Pasewalker Akten schon vor 1933 nicht mehr auffindbar.

Bei Hitlers Machtübernahme gab es also keinerlei verfügbare Dokumente, die Aufschluss über die damaligen Ereignisse hätten geben können. Es gab auch keine direkten Zeugenaussagen über diesen Zeitraum. Keine Kameraden hatten sich gemeldet, die von gemeinsam überstandenen Strapazen und Gefahren berichteten. Das Personal, das Hitler gepflegt und behandelt haben muss, Ärzte, Sanitäter, Vorgesetzte, Krankenschwestern, Stubengenossen haben geschwiegen. Einzig die Wäscheflickerin Antonie Glatow, die während des Krieges im Lazarett gearbeitet hatte, erinnerte sich 1938 an einen „sehr ernsten und stillen“ Hitler, der am Tage des Ausbruchs der Revolution gesagt haben soll: „So ist doch alles umsonst gewesen.“18 Und im Bayerischen Kurier vom 12.6.1933 bekundete Kurat Kasche als ehemaliger Kaplan der katholischen Diaspora von Pasewalk, „… daß der damalige Gefreite, Herr Adolf Hitler, andächtig dem katholischen Gottesdienst beigewohnt hat, und ich ihn aus dieser Zeit (Herbst 1918) als gläubigen Katholiken kenne“. Der Personenkreis, der Kenntnis vom Krankenblatt Hitlers gehabt haben muss, war klein: Hitler selbst, die Generale v. Schleicher und v. Bredow, sein behandelnder Arzt, der ihm die Eignung zum Vorgesetzten abgesprochen hatte, und Dr. Karl Kroner, ein angeblich nach Island emigrierter jüdischer Nervenarzt aus Wien, der 1942 in Reykjavik eine neurologische Praxis betrieb.

Diesen Mann spürte im März 1943 die Nachrichtenabteilung beim Chef der Operationsabteilung der amerikanischen Marine auf, als sie vom Ministerium den geheimen Auftrag erhalten hatte, über Hitler eine psychologische Studie mit Schwerpunkt seiner Augenschädigung zu erstellen. Diese Studie war unter der Nr. 31963 ausschließlich für das OSS (Office of Strategic Services) bestimmt und wurde von diesem ausgewertet. Das OSS war 1942 in den USA gegründet worden, nicht um vordergründiges Spionagematerial zu erschließen oder Sabotageakte und Kommandounternehmungen auszuführen, sondern um der Öffentlichkeit unbekannte Zusammenhänge zu entschlüsseln, geheimes Nachrichtenmaterial zu beschaffen und zu erschließen, das unter Berücksichtigung der Psychologie wichtiger Personen Schlüsse auf deren künftige Aktionen ermöglichte. Zu ihnen gehörte im vierten Kriegsjahr mit erster Priorität Adolf Hitler.

Die Note, die der Intelligence Service herausgegeben und dem OSS zur Verfügung gestellt hat, hat in der Übersetzung folgenden Wortlaut:

AUSGEGEBEN VOM NACHRICHTENDIENST

beim

STAB DER MARINE OPERATIONSABEILUNG

MARINE-MINISTERIUM

Vertraulicher Bericht:

Durch: Nachrichten-Offizier, in: HGB Island

Datum: 21. März 1943, Sachgebietsregister: Deutschland-Hitler

Aktenzeichen: ./.

Quelle: Deutscher Flüchtling in Reykjavik

Bewertung: (unleserlich) B-3

Gegenstand: Deutschland – Hitler – Psychiatrische Studie

Kurzfassung:

Der folgende Bericht über Hitler, übermittelt von Dr. Karl Kronor*, einem deutschen Flüchtling in Reykjavik und ehemaligem Neurologen in Wien, wird zur Information zugelassen. Eine vorsichtige Einschätzung des Reports durch B-3 hat stattgefunden. Dr. Kronor soll bei der Aufnahmeuntersuchung Hitlers anwesend gewesen sein.

* Zur Identität von Dr. Karl Kroner siehe Anhang III, Seite 240)

ADOLF HITLERS ERBLINDUNG

Eine psychologische Studie

„Als der Erste Weltkrieg seinem Ende zuging, war der damalige Gefreite Adolf Hitler nicht mehr an der Front. Er war in einem Lazarett in der kleinen pommerschen Stadt Pasewalk. Gemäß der Darstellung in der Nazi-Literatur der Zwanzigerjahre war er als Folge einer Gasvergiftung blind geworden. Wir wissen nicht, wie lange er nach dem Waffenstillstand im Lazarett geblieben ist. Sehr lange kann es nicht gewesen sein, denn bald danach taucht er in München auf, wo er als eine Art Spitzel der Militärbehörden zur Berichterstattung über die Aktivitäten der politisierten Arbeiterbewegung beschäftigt war. Wir wissen auch nichts darüber, welche Spätschäden – wenn überhaupt – bei seinem Sehvermögen nach der Erblindung zurückgeblieben sind. Das ist merkwürdig, denn, wie jedermann weiß, ist traumatische Blindheit normalerweise nicht heilbar, ohne daß Spuren zurückbleiben. Im Fall Hitler ist jedenfalls nichts von bleibenden Spätschäden bekannt. Auf den zahlreichen Fotografien, die wir von ihm besitzen, zeigt er stets dasselbe besessene, hypnotische Starren wie sein Vorbild Mussolini. Es gibt kein überliefertes Beispiel einer Gasvergiftung mit einem solch günstigen Ausgang. In solchen Fällen gibt es nur drei denkbare Erklärungen: 1) Simulation, 2) Hysterie oder Psychopathie, oder 3) eine Kombination aus beiden, denn Hysteriker können simulieren und dies auch auf Dauer.

Wir werden nicht, wie in bewährtem Nazistil, einen Mann nur deshalb verdächtigen, weil er unser Gegner ist. Wir sind mit einer Untersuchung über zweifelsfreie Tatsachen beauftragt. Deshalb müssen wir fragen: War Hitler wirklich so ein Kriegsheld, wie er von der nazikontrollierten Presse dargestellt wird? Wir haben darüber erstaunlich wenige Erkenntnisse. Nur eine Tatsache ist jedenfalls gewiß, daß er nach 4 Jahren Fronteinsatz bei der selben Einheit noch nicht einmal zum Range eines Unteroffiziers aufgestiegen war. Erwiesen ist auch, daß das Eiserne Kreuz I. Klasse, das er stets trägt, ihm niemals verliehen worden ist, und daß er nicht berechtigt ist, es zu tragen. Angesichts dieser Tatsachen ist es gut möglich, daß Hitler, verbittert durch den Mißerfolg, eine Anerkennung nach langem Dienst an der Front zu erhalten, dieser den Rücken gekehrt hat.

Jedenfalls zeigt sein Benehmen während des erfolglosen Putschs vom 9. November 1923, daß er nicht der furchtlose Held ist, als den man ihn darstellt. Am Abend vorher hatte er bei dem Treffen im Münchner Bürgerbräukeller pathetisch erklärt: ‚Der Morgen wird uns entweder als Sieger oder tot sehen.‘ Dies traf allerdings nur für seine Mitstreiter zu und nicht für ihn selbst. Er jedenfalls flüchtete, als die Polizei das Feuer auf den Demonstrationszug eröffnete.

Zieht man dies alles in Betracht, ist Simulation eine ernstzunehmende Möglichkeit. Eigentlich aber war es eine andere Diagnose, die in diesem Lazarett von einem für eine solche Beurteilung hoch qualifizierten Arzt getroffen wurde: Professor Förster, damals im Zivilleben Assistenzarzt an der Berliner Universitäts-Nervenklinik und militärisch Neurologischer Chefarzt an dem Reserve-Lazarett von Pasewalk, erklärte ihn zu einem ‚Psychopathen mit hysterischen Symptomen‘. Dies ist trotz aller Anstrengungen, es zu vertuschen, an die Öffentlichkeit gelangt.

Was ist ein Psychopath? In Einklang mit einer wohlbekannten Definition ist Psychopathie ‚ein gewöhnlich durch Erbanlage bedingtes und durch Willensschwäche und fehlende Anpassungsfähigkeit an die umgebende Wirklichkeit erkennbares mentales Defizit. In der Konsequenz produziert sie eine Tendenz zu Geistesschwäche und Kriminalität.‘

Eine andere Definition legt mehr Gewicht auf übernormale Energie und das Bedürfnis, etwas in der Welt darzustellen. Kurz gesagt haben wir es zu tun mit Leuten, die, von einem psychischen Standpunkt aus gesehen, sich auf dem schmalen Grat zwischen Normalität und Krankheit bewegen. Der deutsche Psychiater Professor Kretschmer hat sich mit ihnen nicht nur vom medizinischen Standpunkt aus beschäftigt. Er schrieb in einem vor etwa 20 Jahren erschienenen Buch: ‚Die von Psychopathen in der Gesellschaft gespielte Rolle wird noch immer unterschätzt. In normalen Zeiten verbringen sie ihr Leben als Abenteurer, kleine Schwindler, Sektengründer u. ä., aber in unruhigen Zeiten schlägt ihre Stunde. Sie erlangen eine überwältigende Macht über die Massen. In kurzen Worten kann gesagt werden . . . (im Original unleserlich) . . . in ruhigen Zeiten erforschen wir sie.

. . . (im Original unleserlich, es handelt sich um sechs Zeilen über Hitlers Wiener Zeit . . . )

Der Krieg von 1914, den er freudig begrüßte, befreite ihn aus einer unerträglichen Lage. Das Ende von 1918 warf ihn wieder in dieselbe Situation zurück. Wieder einmal war er nicht in der Lage, irgendeinen eigenen, gesicherten Beruf zu ergreifen. Er wurde ein politischer Abenteurer.

Seine Erblindung wurde geheilt. Aber Deutschland wurde blind, so blind, daß es ihn zum Kanzler wählte. Dann, 1933, kam das tragische Ende der Geschichte seiner Krankheit. Es war natürlich wichtig, daß nicht bekannt wurde, welch erbärmliche Rolle der Gefreite Adolf Hitler in dem Lazarett von Pasewalk gespielt hatte und was die Diagnose über seine Krankheit gewesen war. Die Geschichte dieser Episode wurde schon seit dem Beginn der 30er Jahre vertuscht. Niemals wieder wurde ihrer Erwähnung getan. Aber dies allein genügte nicht. Die überlebenden Zeugen des Zwischenfalls mussten zum Schweigen gebracht werden. Dies konnte am einfachsten geschehen im Fall von Hitlers Kriegskamerad, dem Kompanie-Feldwebel Max Amann. Er wurde gekauft, um Hitlers Generalbevollmächtigter für die gesamte deutsche Presse zu werden. Durch diese Position erwarb Herr Amann durch höchst unanständige Methoden ein großes Vermögen. Er ist heute mehrfacher Millionär. Professor Forster hatte bisher ebenfalls überlebt. Er war mittlerweile der Chef der Medizinischen Fakultät der Greifswalder Universität geworden und war nicht käuflich. Er musste deshalb durch andere Mittel zum Schweigen gebracht werden. Kurz nach Hitlers Machtübernahme ist Professor Forster plötzlich verstorben. Als Todesursache wurde offiziell Selbstmord angegeben.

Doch traten schon damals Zweifel auf, und diese sind inzwischen zur Gewissheit geworden, denn Professor Forster war ein Mann von bester Gesundheit, in den besten Jahren, geistreich und in seiner Karriere erfolgreich. Nichts, nicht einmal Gründe von trivialster Art waren bekannt, die ihn zum Selbstmord hätten treiben können. In kurzen Worten, es gibt keinen Zweifel in der Meinung von irgendjemand mit den Nazi-Methoden Vertrauten, daß Professor Forster ermordet worden war, und daß der vorgebliche Selbstmord eine sorgfältig geplante Täuschung gewesen ist.

Ein sehr kritischer Leser mag einwenden, daß ein politischer Mörder . . . (drei Worte im Original unleserlich) . . . oder ein für politische Morde verantwortlicher Mann nicht als Mörder im gewöhnlichen Wortsinn angesehen werden kann. Die folgenden beiden Fälle jedenfalls werden genügen, zu beweisen, daß der Psychopath Adolf Hitler sogar im privaten Leben zu der Gruppe der psychopathischen Kriminellen gehört.

a.) Seine eigene Nichte, ein gewisses Fräulein Rubahl (sic), wurde mit einer Kugel im Kopf und einem Revolver ihr zur Seite tot aufgefunden. Als Todesursache wurde Selbstmord angegeben (wie im Fall des Professor Forster). In Wirklichkeit wurde sie erschossen, weil sie sich weigerte, sich den perversen Wünschen ihres Onkels zu unterwerfen (Hitler ist, wie viele Psychopathen, sexuell anormal). Jedenfalls ist er nicht, wie bisweilen behauptet, homosexuell, sondern in anderer Weise pervers. Nähere Details finden sich in dem neueren Pamphlet von Otto Strasser mit dem Titel ‚Gangster um Hitler‘ und in anderen Veröffentlichungen. Die gewöhnlich so klugen Mörder haben in diesem . . . (ein Wort im Original unleserlich) . . . nicht daran gedacht, daß junge Mädchen sehr selten Selbstmord durch Erschießen begehen, und niemals durch einen Schuß in den Kopf.

b.) Der andere Fall betrifft den bestialischen Mord an dem vormaligen Bayerischen Ministerpräsidenten v. Kahr am 30. Juni 1934. Herr von Kahr hatte 1923 Hitlers Putsch, wie oben berichtet, vereitelt. Inzwischen schon gealtert, hatte er sich seitdem zurückgezogen und hatte mehrere Jahre ein privates Leben geführt, ein alter Herr von 70, gänzlich unvertraut mit der Politik. In diesem Fall hat Hitler nicht einen gefährlichen politischen Gegner aus dem Weg geräumt, sondern nahm an einem hilflosen alten Mann eine persönliche Rache, auf die er 11 Jahre gewartet hatte.

Es war dieselbe Art persönlicher Rache, die Hitler nach 15 Jahren an dem unglücklichen Professor Forster nahm, dessen Verbrechen darin bestand, in einer frühen Periode eine korrekte Diagnose über Hitler gestellt zu haben, eine Diagnose, die, falls sie allgemein bekannt werden würde, sein Ziel unerreichbar machen würde, zum Anführer einer heroischen ‚Herrenrasse‘ zu werden. Und das ist der Punkt, wo die Geschichte von der Erblindung des ‚unbekannten Soldaten‘ aufhört, eine triviale private Affäre zu sein, die man verdientermaßen vergessen kann. Denn sie gibt uns eine klarere Einsicht in Vieles, das anders nur schwer zu verstehen wäre. Wir können vielleicht ihre Bedeutung ganz erfassen, wenn wir uns noch einmal auf Professor Kretschmers Aussage weiter oben beziehen: ‚In unruhigen Zeiten herrschen die Psychopathen über uns, in ruhigen Zeiten erforschen wir sie.‘ Man kann nur hoffen, daß ruhige Zeiten bald wieder eintreten, in denen der psychopathische Kriminelle Adolf Hitler vernommen und vor Gericht gestellt werden kann. Und das heute so blinde Deutschland wieder sehen lernt.“

Dieser in Deutschland und in deutscher Übersetzung erstmals vorliegende Intelligence Report ist nicht unterzeichnet und beruht auf den Aussagen von Dr. Karl Kroner, von dem vermutet wird, dass er sich zur gleichen Zeit wie Edmund Forster im Reservelazarett Pasewalk aufgehalten und an der Aufnahme Hitlers, jedenfalls aber an einer wichtigen Untersuchung durch Professor Forster teilgenommen hat. Damit beantwortet sich auch gleichzeitig die Frage, wer sich anmaßen durfte, darüber zu entscheiden, ob ein Patient zum Vorgesetzten geeignet sei oder nicht. Schon aus den knappen Angaben des Reports ergibt sich, dass Professor Forster hierzu in hohem Maße berufen war und dass die Aussage H.R. Berndorffs über den Inhalt des verschwundenen Pasewalker Krankenblattes zutrifft.

Gleichwohl bedarf der Report in einigen Punkten der Richtigstellung. Der Zweifel an der Berechtigung Hitlers zum Tragen des Eisernen Kreuzes I. Klasse ist unbegründet, denn die Verleihungsgeschichte ist inzwischen historisch hinreichend zu Gunsten Hitlers aufgeklärt. Was die Namensschreibung Forsters mit „ö“ anbelangt, liegt ein Schreibfehler vor, den ich in den späteren Erwähnungen des Namens richtig gestellt habe. Auch bei der Schreibweise „Kronor“ handelt es sich vermutlich um einen Schreib- oder Übertragungsfehler. Es dürfte sich um Karl Kroner handeln. Als Missgriff erweisen sich die Aussagen des Reports über den angeblichen Mord an Geli Raubal und Professor Forster. Der Tod von Hitlers Nichte war, wie die zahlreichen inzwischen gesicherten und einhelligen Forschungsergebnisse beweisen, eindeutig ein Selbstmord, wobei die Motive bei der vorliegenden Betrachtung außer Acht bleiben können. Wichtiger ist der Irrtum des Reports über das Ende Professor Edmund Forsters. Es steht heute eindeutig fest, dass Forster am 11. September 1933 durch Selbstmord geendet hat.

Der Report ist, nachdem es mir mit großer Mühe und Hart-näckigkeit gelungen ist, den Originaltext der beiden restlichen Seiten zu erhalten, dennoch für die Wahrheitsfindung über die 28 Tage Hitlers in Pasewalk von überragender Bedeutung. Zum ersten Mal wurde durch ihn der Name einer Person authentisch genannt, die mit Adolf Hitler dort zu tun hatte. Der Report wurde jedoch einer strengen Geheimhaltungsstufe unterworfen, die ihn der Öffentlichkeit 30 Jahre vorenthielt und erst am 27. Juli 1973 aufgehoben wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt war sein Inhalt lediglich einem sehr kleinen Personenkreis in den USA bekannt. Der Hitlerforschung in Deutschland stand er bis dahin nicht zur Verfügung. Gleichwohl ist sein Bekanntwerden für die Beschäftigung mit diesen 28 Tagen in Hitlers Leben ein Meilenstein, der allerdings von der deutschen Literatur und Forschung nicht beachtet worden ist.