Brian Carisi - Planet der Eissegler

Alfred Bekker

Published by Alfred Bekker, 2017.

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Planet der Eissegler

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Planet der Eissegler

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 120 Taschenbuchseiten.

Terranische Forscher untersuchen einen Eisplaneten. Sie stoßen auf eine uralte Macht, die das Kräftegleichgewicht in der Galaxis verändern könnte...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de 

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Das Licht der Sonne A-7234 schimmerte rötlich. Idris al-Khalil setzte sich seine Schutzbrille auf. Die war auch dringend nötig, wollte man in dieser weißen, völlig vereisten Umgebung nicht in relativ kurzer Zeit erblinden.

Der Erdenmensch blickte sich um, ließ den Blick über die kalte Einöde schweifen. Eine Landschaft, wie man sie auf der Erde allenfalls in der Antarktis vorfand. Aber hier auf der irdischen Siedlerwelt Candoy war es die Äquatorzone, die so aussah. Der Planet war völlig von Eis bedeckt. Die Temperaturen lagen ständig unter dem Gefrierpunkt. In kalten Wintern unterschritten sie die Minus-Hundert-Grad-Grenze. Mörderische Stürme fegten dann über die wüstenähnlichen Eisflächen. Ein paar Grad wärmer und Candoy wäre eine Wasserwelt, ging es Idris durch den Kopf. Auch auf der Erde hatte es in weit zurückliegenden erdgeschichtlichen Epochen Phasen totaler Vereisung gegeben, die bis zum Äquator gereicht hatten, wie man heute annahm. Schnee und Eis sorgten für weitere Schneefälle und noch mehr Eis. Das war ein Naturgesetz. Die weißen, kalten Flächen reflektierten das Sonnenlicht, warfen es zurück in den Weltraum. Für die nächsten Jahrhunderttausende bestand kaum Aussicht, dass sich die klimatischen Verhältnisse auf Candoy in irgendeiner Weise veränderten.

Ein Eisklumpen mit einer Sauerstoffatmosphäre, genau das war dieser Planet. So wurde er auch von den irdischen Siedlern gesehen, die das Wagnis auf sich genommen hatten, sich hier anzusiedeln. Nicht wenige waren den widrigen klimatischen Bedingungen erlegen, denn das Leben auf Candoy war äußerst hart. Aber es gab wertvolle Rohstoffe hier, die dieses Wagnis angemessen erscheinen ließen. Deswegen waren die meisten der Siedler hier.

Nicht so Idris.

Er hatte aus einem anderen Grund den Weg hier her gefunden.

Es war der Drang nach Wissen.

Idris war Forscher.

Sein Forschungsgebiet war die Ethnologie.

Aber ihn interessierten nicht die Abweichungen, die sich inzwischen in der Kultur der hiesigen Siedler gebildet hatten, wenn man sie mit ihrer jeweiligen Ursprungskultur auf der Erde verglich. Es gab Kollegen, die sich für derartige Fragen brennend interessierten und ihre Doktorarbeiten über dergleichen schrieben. Idris al-Khalil gehörte nicht dazu, ihn interessierte etwas ganz anderes.

Die Korreen, wie sich die humanoiden Urbewohner von Candoy nannten.

"He, Idris!", rief jemand.

Eine Männerstimme.

Idris wurde aus seinen Gedanken gerissen. Er wandte den Kopf in Richtung des Sprechers und sah den Ökologen John X. Smith. Er stand in der Nähe des Gleiters, mit dem die beiden hier gelandet waren.

"Was ist los?", fragte Idris.

"Wieso stehst du da so herum? Du könntest mir mal helfen!"

Idris ging auf seinen Kollegen zu. Smith trug genau wie Idris al-Khalil eine Polarausrüstung. Nur im Gesicht spürte er die schneidende Kälte.

Idris stapfte auf Smith zu.

Smith war gerade damit beschäftigt, eine Eisbohrung vorzubereiten. Das Eis war hier verhältnismäßig dünn. Nur etwa vier bis fünf Meter dick. Darunter befand sich der Ozean, die Heimat der sehr eiweißhaltigen Kasratan. Gewaltige Kopffüßer waren das, den Riesenkraken der Erde nicht unähnlich. Eine faszinierende Welt voller Leben existierte unter dem Eispanzer. Die Lebensformen Candoys hatten sich dorthin zurückgezogen und sich angepasst.

"Halt mal", sagte Smith und reichte Idris eines der Messinstrumente.

Idris warf einen eher flüchtigen Blick auf die Messdaten, die das Gerät anzeigte.

Er stutzte.

"Es gibt gewaltige elektrische Entladungen - ganz in der Nähe", stellte er fest.

Smith grinste.

"Ganz genau."

"Bedeutet das..."

"Arbu'atan - was sonst."

Arbu'atan - mit diesem Namen hatten die humanoiden Urbewohner Candoys die walähnlichen Riesen bezeichnet, die in den Tiefen des ewig dunklen candoyanischen Ozeans lebten. Gewaltige, bis zu hundert Meter lange Kolosse, über die nicht sehr viel bekannt war. Es gab einige Bilder, die von Sensoren aufgenommen worden waren, die man in die Tiefe eingelassen hatte. Aber mehr nicht.

Für die Korreen, die humanoiden Bewohner Candoys, hatten die Arbu'atan religiöse Bedeutung. Eine Bedeutung, die Idris noch nicht ganz klar war. Aber um das zu erforschen, war er unter anderem hier.

Idris blickte noch einmal auf die Anzeigen. Ja, die Werte lassen keinerlei Zweifel, dachte er. Derart große Entladungen konnten nur durch Arbu'atan verursacht werden. Sie hatten offenbar die Fähigkeit, gewaltige elektrische Spannungen zu erzeugen. Es gab Moränenarten auf der Erde, die das auch vermochten. Allerdings in wesentlich geringerem Umfang. Die irdischen Moränen setzten ihre Fähigkeit, Elektrizität zu erzeugen dazu ein, Feinden und Beutetieren tödliche Stromschläge zu verabreichen. Möglicherweise war das bei den Arbu'atan auch der Fall. Aber gesicherte Erkenntnis war das keineswegs.

Smith rammte den Energiebohrer in die vereiste Oberfläche. Das stabförmige Gerät drang nur wenige Zentimeter ein. Smith betätigte den am oberen Ende angebrachten Knopf.

Ein Summton ertönte.

Dann ein Zischen.

Smith bleckte die Zähne. Sein Gesicht hatte jetzt einen triumphierenden Gesichtsausdruck.

"Die Bohrung ist glatt durchgegangen."

"Du willst eine Sonde runterschicken, John?"

"Sicher. So eine Chance bekommen wir nicht alle Tage!"

"Ich weiß."

Smith nahm ein Gerät, das wie eine überdimensionale Pistole aussah. Er reichte Idris den Energiebohrer, setzte dann das Abschussgerät für die Sonde an den durch das Eis gebrannten Kanal. Er musste sich beeilen. Der schmale Kanal, den er in die Tiefe hinein gebohrt hatte, würde innerhalb weniger Augenblicke schon wieder zu vereisen beginnen.

Er drückte ab.

Die Sonde hatte einen Treibsatz, der sie in die Tiefe hineinschoss. Innerhalb eines Sekundenbruchteils war sie in der Tiefe verschwunden.

"Wir bekommen Besuch", sagte Idris.

Smith schien das gar nicht zu registrieren.

Er bückte sich zu einer der Taschen, die er mit aus dem Gleiter genommen hatte und holte das Steuermodul der Sonde hervor. Ein kleiner Bildschirm zeigte die optischen Eindrücke an, die sich dem ferngesteuerten Auge boten. Viel war das nicht, trotz des Lichts, das die Sonde verströmte. Die Messwerte, die die Sonde übermittelte, zeigten allerdings ganz eindeutig, dass das Meer in der Tiefe alles andere als ein lebensfeindlicher Ort war. Unzählige mikroskopisch kleiner Lebensformen bevölkerten das eiskalte Wasser. Wesen, die sich der Dunkelheit und der Kälte perfekt angepasst hatten.

"Ich sagte, wir bekommen Besuch", stellte Idris noch einmal fest.

Smith wandte den Kopf.

Idris deutete zum Horizont.

Einige Segel der Korreen-Eissegler tauchten am Horizont auf. Sie wirkten wie die Flügel von Schmetterlingen. Deutlich hob sich ihr brauner Farbton vom kalten Weiß des Eises ab. Hier an der Oberfläche hatte es für die Korreen weder Feinde noch Beute gegeben, vor der man sich hätte tarnen müssen. So gab es auch keine Veranlassung dazu, sich unauffällig zu bewegen. Im Gegenteil. Mit Hilfe der braunen Segel konnten sich die verschiedenen Korreen-Gruppen oft über viele Kilometer hinweg sehen.

"Verdammt", knurrte Smith.

Idris hob die Augenbrauen.

"Was?"

"Na, ich hoffe, dass das keinen Ärger gibt."

"Sie sind aus demselben Grund hier wie wir", murmelte Idris.

"Wegen den Arbu'atan?"

"Natürlich."

"Aber woher wissen sie, dass eines dieser Riesenbiester sich gerade unter uns befindet? Idris, das ist doch Unfug, das können sie nicht wissen."

"Sie wissen es aber." Idris' Tonfall klang vollkommen sicher. Es gab eine geheimnisvolle Verbindung zwischen den Korreen und den gewaltigen Arbu'atan in der Tiefe. Worin sie bestand, wusste niemand zu sagen. Noch niemand. Nur eines stand fest: Den Korreen standen nicht die technischen Mittel zur Verfügung, um jene elektrischen Spannungen zu messen, die von den Arbu'atan erzeugt wurden.

Die beiden Erdenmenschen blickten den Ankömmlingen entgegen. Die Segel strebten tatsächlich genau auf ihren gegenwärtigen Standpunkt zu. Sie waren ziemlich schnell, wenn man bedachte, dass es sich dabei um ein äußerst primitives, vortechnologisches Verkehrsmittel handelte, dessen einzige Energiequelle die scharfen Winde waren, die über die eisige Oberfläche Candoys fegten.

Die Eissegler der Korreen näherten sich.

"Mist, unsere Messungen können wir vergessen", meinte Smith. "Diese Korreen tauchen wirklich immer im ungünstigsten Moment auf..."

"Was wir tun, ist in ihren Augen Frevel", sagte Idris.

"Ach wirklich?"

"Wirklich."

"Na, großartig. Ich hoffe, du kannst sie besänftigen."

"Ich werde mein Bestes tun!"

Smith grinste schief. "Ich hoffe, dass das ausreicht."

Die Eissegler bremsten in einer Entfernung von einigen Dutzend Metern ab, indem sie mit der Spitze in den Wind hineingelenkt wurden. Männer sprangen von auf schlanken Kufen dahingleitenden Gefährten, die für eine Landschaft wie diese ein geradezu perfekt angepasstes Verkehrsmittel zu sein schienen. Ihre Kleidung wies Ähnlichkeit mit jener der irdischen Eskimos auf. Angesichts der klimatischen Bedingungen war das auch kein Wunder. Die Gesichter, die aus den Kapuzen ihrer dicken Anoraks herausschauten, waren schwarz.

Schwarz wie mein Gesicht, ging es Idris al-Khalil durch den Kopf. Er war Somali, Smith ein Anglo-White American. Die Korreen waren mit den humanoiden Ral verwandt, das hatten genetische Tests zweifelsfrei ergeben. So sind Smith und ich trotz unseres unterschiedlichen Aussehens genetisch mit mehr Gemeinsamkeiten ausgestattet, als mich mit den Korreen verbindet, ging es Idris durch den Kopf. Das Phänomen war seit langem bekannt. Ähnliche Lebensumstände sorgten für die Entstehung sehr ähnlicher morphologischer Formen des Lebens, die jedoch nichts über den tatsächlichen Grad an Gemeinsamkeit aussagten. Der Wolf sah dem inzwischen ausgerotteten australischen Beutelwolf zum verwechseln ähnlich. Hätte je ein Experte die Möglichkeit gehabt, beide Spezies nebeneinander zu sehen, so hätte er Schwierigkeiten gehabt, sie auf den ersten Blick zu unterscheiden. Aber was die genetische Verwandtschaft anging, so stand der Wolf dem Menschen viel näher als dem Beutelwolf.

Immerhin sorgte Idris' schwarze Hautfarbe dafür, dass er bei den Korreen ein Art Vertrauensvorschuss besaß, zumindest verglichen mit Smith und anderen Weißen. Ein Vorschuss, der eigentlich durch nichts zu rechtfertigen war. Idris nutzte diesen Umstand jedoch im Sinn seiner Tätigkeit als Forscher.

Die Korreen stiegen von den katamaranähnlichen Seglern hinunter.

Idris sah ihnen entgegen und erwartete sie.

"Ihr befindet euch an einem Ort, an dem ihr nicht sein dürftet", sagte einer von ihnen. Er trat etwas vor. Seine Augen waren lang und schmal, die Nase wirkte gerade.

Was drückt dieses Gesicht aus?, dachte Idris.

Stolz?

Vielleicht sogar das Bewusstsein von Überlegenheit? Ja, etwas in der Art war es mit Sicherheit. In der Hand hielt der Mann etwas, was man als Flammenlanze bezeichnen könnte. Eine Art Strahlgewehr, gebaut aus den Überresten der Ral-Technologie, mit der die ersten von ihnen hier her, nach Candoy gekommen waren. Zumindest behauptet dies die vorherrschende Lehrmeinung.

Idris trat dem Mann mit der Flammenlanze entgegen, blieb etwas fünf Schritte von ihm stehen. Dann hob er die Hand zum traditionellen Grußzeichen der Korreen.

Die meisten Korreen beherrschten nicht nur eine irdische Sprache, sondern sogar mehrere. Innerhalb kürzester Zeit hatten sie die Sprachen der irdischen Siedler erlernt, die sich auf Candoy niedergelassen hatten.

Nahezu alle von ihnen sprachen zumindest recht passables Anglo-Standard.

Es war erstaunlich, in welcher Perfektion sie das hingekriegt hatten, zumal man bedenken musste, dass es kaum Kontakte zwischen Korreen und Erdenmenschen gab. Die irdischen Siedler lebten in ihren erschlossenen Arealen und wagten sich nur selten darüber hinaus, wenn es nicht unbedingt sein musste. Die Korreen hingegen folgten ihrer traditionellen Lebensweise, die sich im Verlauf langer Zeitalter nicht geändert hatte. Mit gutem Grund vermutlich, überlegte Idris. Sie sind geradezu perfekt an ihre Umgebung angepasst. Sie sind wirkliche und wahrhaftige Candoyaner - wir Erdenmenschen hingegen werden hier wohl immer nichts weiter als Fremde bleiben. Forscher, Prospektoren, Glücksritter - aber dennoch Fremde, die eigentlich auf diesem Klumpen Eis mitten in den Weiten des Raumes nichts zu suchen hatten.

"Wer bist du?", fragte Idris den Korreen.

"Mein Name ist Somak vom Stamm der Godoree."

"Wer schickt dich?"

"DIE STIMME selbst ist es, die mich schickt. Mich und die meinen."

"Die Stimme?", echote John Smith.

Idris al-Khalil machte eine Handbewegung und gebot Smith damit zu schweigen.

Smith verdrehte die Augen. Er deaktivierte erst einmal seinen Energiebohrer.

Er dachte: Ist doch immer dasselbe mit Idris; eine empfindliche Mimose ist er. Aber wahrscheinlich hilft ihm das dabei, sich in die Psychologie fremder Spezies einzufühlen.

"Die Stimme sagt, dass es zu einem Quwartach kommen wird", sagte der Korreen.

Quwartach, die Begegnung mit dem Gott der Tiefe, so ging es Idris al-Khalil durch den Kopf.

Es gab keine Entsprechung auf Anglo-Standard für diesen Begriff.

Und wahrscheinlich galt das auch für alle anderen irdischen Idiome.

Aber in seiner Zeit bei den Korreen war Idris immer wieder auf diesen Begriff gestoßen. Bis heute war er sich nicht vollends darüber im Klaren, was er tatsächlich bedeutete. Bislang hatte er angenommen, dass es sich um einen spirituellen Begriff handelte.

Die Begegnung mit dem Gott der Tiefe...

Vergleichbar mit den Erleuchtungs- und Erscheinungserlebnissen, die aus der prä-austronautischen Ära der Erde bekannt waren.

Vielleicht auch nur ein Phänomen, das auf krankhafte Prozesse im Gehirn zurückzuführen war. In der irdischen Geschichte gab es zahllose Entsprechungen dafür. Jean d'Arc hörte Stimmen, die ihr befahlen gegen die Engländer zu kämpfen. Vielleicht war sie schizophren, dachte Idris.

"Ihr seid am falschen Ort", verkündete Somak vom Stamm der Godoree jetzt.

Sein Blick wirkte ruhig dabei.

Ein Blick, aus dem selbst Idris, der anerkanntermaßen beste irdische Korreen-Kenner, sich keinen vernünftigen Reim zu machen wusste.

John X. Smith meldete sich jetzt zu Wort.

An Idris gewandt raunte er: "Vielleicht gibst du mir jetzt mal einen guten Rat, was wir jetzt tun werden..."

Idris hörte nicht weiter hin.

Die Stimme seines Kollegen nahm er nur wie aus weiter Ferne wahr.

Er starrte den Korreen an.

Dieser Somak ist vollkommen ruhig, überlegte er.

Ein ächzender Laut war plötzlich zu hören. Markerschütternd war dieser Laut und ließ die beiden Erdenmenschen unwillkürlich zusammenzucken.

"Was ist das?", fragte John X. Smith.

"Das Eis", sagte Idris.

"So etwas in der Art habe ich mir schon gedacht..."

"Wir müssen hier weg!"

Somak vom Stamm der Godoree hob beide Arme.

Eine Geste deren Bedeutung Idris nur zu gut kannte.

Geringschätzung.

Aber nicht nur im herkömmlichen, irdischen Sinn dieses Begriffs. Für die Korreen steckte viel mehr darin. Spirituelle Verwerfung, ging es Idris durch den Kopf. Verdammnis... Ja, das traf es schon besser.

"Der Gott der Tiefe ist gegen euch."

Somak senkte seinen Arm wieder, während er diesen Satz vollkommen ruhig und gelassen aussprach.

Damit drehte er sich um.

Er eilte zurück in Richtung seines Eisseglers, dessen braunes Segel in dem eisigen Wind flatterte. Durch besondere Verfahrensweisen, denen diese Segel unterzogen wurden (es handelte sich um zusammengenähte Häute von Riesentintenfischen) bekamen die Korreen es hin, dass sie keinerlei Feuchtigkeit aufnahmen.

So wurden sie nicht hart und porös, sondern blieben geschmeidig.

Wieder war ein stöhnender Laut zu hören. Wie von einem lebendigen Wesen.

Aber sowohl Idris als auch Smith wussten, dass das nur eine Illusion war.  Das Eis arbeitete.

Wenn sich die meterdicke Schicht über dem planetaren Ozean hob und senkte, weil irgendwo Millionen Tonnen Schnee niedergingen und auf sie eindrückten,  entstanden Risse. Gewaltige Eisplatten verschoben sich dann gegeneinander. Das führte zu diesen Stöhnlauten.

"An diesen Krach werde ich mich nie gewöhnen", meinte Smith. "Als ob das Eis lebt..."

"Ja, den Eindruck hat man manchmal", murmelte Idris. Und was die Korreen angeht, so trifft diese Sichtweise auf sie vielleicht sogar zu. Für sie ist alles Teil der RAGAWAR, der Ordnung, die vom Gott der Tiefe geschaffen wurde...

Idris beobachtete die Korreen.

Somak von den Godoree bestieg seinen Eissegler.

Die Segel wurden gesetzt, die schnittigen Fahrzeuge gewendet.

Dann brausten sie davon.

Pfeilschnell zischten sie über die Eisoberfläche.

"Wir sollten weiter machen", hörte Idris John X. Smith sagen.

Aber der Ethnologe schüttelte energisch den Kopf.

"Nein."

"Aber..."

Wieder ein Stöhnlaut. Diesmal sehr durchdringend. Normalerweise kein Grund zur Beunruhigung, dachte Idris. Jeder, der auf Candoy lebte, gewöhnte sich früher oder später daran. Mehr als 80 Prozent der Planetenoberfläche waren eigentlich Ozean.

"Was ist jetzt? Setzen wir unsere Messungen nochmal irgendwann fort?", fragte Smith. Und dabei dachte er: Er hört überhaupt nicht zu...

"Weg hier!", stieß Idris hervor.

"Wieso das denn?"

"Los, komm schon!"

"Aber..."

"Deswegen!"

Idris al-Khalil streckte die Hand aus. Smith stierte in dieselbe Richtung und vergaß den Mund wieder zu schließen. Der Schwall Kaltluft drang ihm bis in die Lunge und ließ ihn frösteln.

Ein Riss bildete sich in der Eisdecke. Sie platzte auf.

"Verdammt, was geht hier vor sich?", fragte er.

"Bin ich Glaziologe?"

Sie sammelten Smiths Messgeräte ein, dann liefen sie zum Schweber, der in einer Entfernung von ein paar hundert Metern abgestellt war.

Der Riss vergrößerte sich indessen zusehends, wurde breiter. Die Knarr- und Stöhnlaute waren geradezu ohrenbetäubend. Der Riss im Eis fraß sich fort mit einer Geschwindigkeit, gegen die kein Läufer, zumindest kein menschlicher, eine Chance hatte.

Er verzweigte sich.

Der gesamte Untergrund wurde auf einer Fläche von fast einem Quadratkilometer instabil.

Die Korreen haben das gewusst, ging es Idris durch den Kopf. Ihre Eissegler waren hinter dem Horizont verschwunden. Und sie haben uns gewarnt. Vergeblich...

Als plötzlich das Eis unter ihren Füßen schwankte, schlugen die beiden Erdenmenschen zu Boden.

Idris war der erste, dem es gelang, sich wieder aufzurappeln. Er reichte Smith die Hand, zog ihn empor.

Sie hetzten weiter, sprangen über eine etwa ein Meter fünfzig breite Spalte, die plötzlich entstanden war.

Danach befanden sie sich wieder auf einigermaßen festem Eis.

John Smith blickte zurück.

"Verdammt...", stieß er hervor.

Aber sein Ruf verlor sich im Getöse des berstenden Eises.

ETWAS brach aus dem Eis hervor.

Jetzt sah es auch Idris.

ES war so gewaltig, dass die beiden Erdenmenschen eine Sekunde brauchten, um zu begreifen, dass ES lebendig war.

Ein gewaltiger, augenloser Kopf, ausgestattet mit einem fischartigen, zahnlosen Maul. Das Wesen erinnerte an einen gewaltigen Wal, allerdings überstiegen die Ausmaße bei weitem die irdischen Maßstäbe. Allein der zum Vorschein kommende Kopf hatte mit schätzungsweise dreißig Metern Länge bereits die Maße eines ausgewachsenen Blauwals. Das ganze Tier musste mindestens hundert Meter lang sein.

"Ein Arbu'atan!", stieß Idris hervor.