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Hans Fallada

Jeder stirbt für sich allein

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Hans Fallada

Jeder stirbt für sich allein

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Aufbau-Verlag, Berlin, 1947 (539 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962813-17-8

null-papier.de/567

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort des Ver­fas­sers

ERSTER TEIL – Die Quan­gels

1. Die Post bringt eine schlim­me Nach­richt

2. Was Bal­dur Per­si­cke zu sa­gen hat­te

3. Ein Mann na­mens Bark­hau­sen

4. Tru­del Bau­mann ver­rät ein Ge­heim­nis

5. Enno Klu­ges Heim­kehr

6. Otto Quan­gel gibt sein Amt auf

7. Nächt­li­cher Ein­bruch

8. Klei­ne Über­ra­schun­gen

9. Nacht­ge­spräch bei Quan­gels

10. Was am Mitt­woch­mor­gen ge­sch­ah

11. Es ist im­mer noch Mitt­woch

12. Enno und Emil nach dem Schock

13. Sie­ge­stanz im Ely­si­um

14. Sonn­abend: Un­ru­he bei Quan­gels

15. Enno Klu­ge ar­bei­tet wie­der

16. Das Ende der Frau Ro­sen­thal

17. Auch Anna Quan­gel macht sich frei

18. Die ers­te Kar­te wird ge­schrie­ben

19. Die ers­te Kar­te wird ab­ge­legt

ZWEITER TEIL – Die Ge­sta­po

20. Der Weg der Kar­ten

21. Ein hal­b­es Jahr da­nach: Quan­gels

22. Ein hal­b­es Jahr da­nach: Kom­missar Esche­rich

23. Ein hal­b­es Jahr da­nach: Enno Klu­ge

24. Das Ver­hör

25. Kom­missar Esche­rich be­ar­bei­tet die Sa­che Kla­bau­ter­mann

26. Frau Hete be­schließt

27. Angst und Furcht

28. Emil Bark­hau­sen macht sich nütz­lich

29. Hüb­sche klei­ne Er­pres­sung

30. En­nos Aus­trei­bung

31. Emil Bark­hau­sen und sein Sohn Kuno-Die­ter

32. Be­such bei Fräu­lein Anna Schön­lein

33. Esche­rich und Klu­ge ge­hen spa­zie­ren

DRITTER TEIL – Das Spiel steht ge­gen die Quan­gels

34. Tru­del Her­ge­sell

35. Karl Her­ge­sell und Gri­go­leit

36. Die ers­te War­nung

37. Der Sturz des Kom­missars Esche­rich

38. Die zwei­te War­nung

39. Die drit­te War­nung

40. Der Herr Kri­mi­nal­rat Zott

41. Otto Quan­gel wird un­si­cher

42. Der alte Par­t­ei­ge­nos­se Per­si­cke

43. Bark­hau­sen zum drit­ten Mal ge­prellt

44. Zwi­schen­spiel: Ein Idyll auf dem Lan­de

45. Kri­mi­nal­rat Zott ge­stürzt

46. Kom­missar Esche­rich wie­der frei

47. Der ver­häng­nis­vol­le Mon­tag

48. Mon­tag, der Tag des Kom­missars Esche­rich

49. Die Ver­haf­tung Anna Quan­gels

50. Das Ge­spräch mit Otto Quan­gel

51. Kom­missar Esche­rich

VIERTER TEIL – Das Ende

52. Anna Quan­gel im Ver­hör

53. Die be­trüb­ten Her­ge­sells

54. Otto Quan­gels schwers­te Last

55. Anna Quan­gel und Tru­del Her­ge­sell

56. Bal­dur Per­si­cke macht Be­such

57. Otto Quan­gels an­de­rer Zel­len­ge­fähr­te

58. Das Le­ben in der Zel­le

59. Der gute Pas­tor

60. Tru­del Her­ge­sell, ge­bo­re­ne Bau­mann

61. Die Haupt­ver­hand­lung: Ein Wie­der­se­hen

62. Die Haupt­ver­hand­lung: Prä­si­dent Feis­ler

63. Die Haupt­ver­hand­lung: An­klä­ger Pin­scher

64. Die Haupt­ver­hand­lung: Der Zeu­ge Ul­rich Heff­ke

65. Die Haupt­ver­hand­lung: Die Ver­tei­di­ger

66. Die Haupt­ver­hand­lung: Das Ur­teil

67. Das To­ten­haus

68. Die Gna­den­ge­su­che

69. Anna Quan­gels schwers­ter Ent­schluss

70. Es ist so weit, Quan­gel

71. Der letz­te Weg

72. Anna Quan­gels Wie­der­se­hen

73. Der Jun­ge

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Vorwort des Verfassers

Die Ge­scheh­nis­se die­ses Bu­ches fol­gen in großen Zü­gen Ak­ten der Ge­sta­po1 über die il­le­ga­le Tä­tig­keit ei­nes Ber­li­ner Ar­bei­ter-Ehe­paa­res wäh­rend der Jah­re 1940 bis 1942. Nur in großen Zü­gen – ein Ro­man hat ei­ge­ne Ge­set­ze und kann nicht in al­lem der Wirk­lich­keit fol­gen. Da­rum hat es der Ver­fas­ser auch ver­mie­den, Authen­ti­sches über das Pri­vat­le­ben die­ser bei­den Men­schen zu er­fah­ren: er muss­te sie so schil­dern, wie sie ihm vor Au­gen stan­den. Sie sind also zwei Ge­stal­ten der Fan­ta­sie, wie auch alle an­de­ren Fi­gu­ren die­ses Ro­mans frei er­fun­den sind. Trotz­dem glaubt der Ver­fas­ser an »die in­ne­re Wahr­heit« des Er­zähl­ten, wenn auch man­che Ein­zel­heit den tat­säch­li­chen Ver­hält­nis­sen nicht ganz ent­spricht.

Man­cher Le­ser wird fin­den, dass in die­sem Bu­che reich­lich viel ge­quält und ge­stor­ben wird. Der Ver­fas­ser ge­stat­tet sich, dar­auf auf­merk­sam zu ma­chen, dass in die­sem Bu­che fast aus­schließ­lich von Men­schen die Rede ist, die ge­gen das Hit­ler­re­gime an­kämpf­ten, von ih­nen und ih­ren Ver­fol­gern. In die­sen Krei­sen wur­de in den Jah­ren 1940 bis 1942 und vor­her und nach­her ziem­lich viel ge­stor­ben. Etwa ein gu­tes Drit­tel die­ses Bu­ches spielt in Ge­fäng­nis­sen und Ir­ren­häu­sern, und auch in ih­nen war das Ster­ben sehr im Schwan­ge. Es hat dem Ver­fas­ser auch oft nicht ge­fal­len, ein so düs­te­res Ge­mäl­de zu ent­wer­fen, aber mehr Hel­lig­keit hät­te Lüge be­deu­tet.

Ber­lin, am 26. Ok­to­ber 1946

H. F.


  1. Die Ge­hei­me Staats­po­li­zei, auch kurz Ge­sta­po ge­nannt, war ein kri­mi­nal­po­li­zei­li­cher Be­hör­den­ap­pa­rat und die Po­li­ti­sche Po­li­zei wäh­rend der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus von 1933 bis 1945.  <<<

ERSTER TEIL – Die Quangels

1. Die Post bringt eine schlimme Nachricht

Die Brief­trä­ge­rin Eva Klu­ge steigt lang­sam die Stu­fen im Trep­pen­haus Ja­blons­ki­stra­ße 55 hoch. Sie ist nicht etwa des­halb so lang­sam, weil sie ihr Be­stell­gang so sehr er­mü­det hat, son­dern weil ei­ner je­ner Brie­fe in ih­rer Ta­sche steckt, die ab­zu­ge­ben sie hasst, und jetzt gleich, zwei Trep­pen hö­her, muss sie ihn bei Quan­gels ab­ge­ben. Die Frau lau­ert si­cher schon auf sie, seit über zwei Wo­chen schon lau­ert sie der Be­stel­le­rin auf, ob denn kein Feld­post­brief für sie da­bei sei.

Ehe die Brief­trä­ge­rin Klu­ge den Feld­post­brief in Schreib­ma­schi­nen­schrift ab­gibt, hat sie noch den Per­sickes in der Eta­ge den »Völ­ki­schen Beo­b­ach­ter«1 aus­zu­hän­di­gen. Per­si­cke ist Amts­wal­ter oder Po­li­ti­scher Lei­ter oder sonst was in der Par­tei – ob­wohl Eva Klu­ge, seit sie bei der Post ar­bei­tet, auch Par­tei­mit­glied ist, bringt sie alle die­se Äm­ter doch im­mer durch­ein­an­der. Je­den­falls muss man bei Per­sickes »Heil Hit­ler« grü­ßen und sich gut vor­se­hen mit dem, was man sagt. Das muss man frei­lich ei­gent­lich über­all, sel­ten mal ein Mensch, dem Eva Klu­ge sa­gen kann, was sie wirk­lich denkt. Sie ist gar nicht po­li­tisch in­ter­es­siert, sie ist ein­fach eine Frau, und als Frau fin­det sie, dass man Kin­der nicht dar­um in die Welt ge­setzt hat, dass sie tot­ge­schos­sen wer­den. Auch ein Haus­halt ohne Mann ist nichts wert, vor­läu­fig hat sie gar nichts mehr, we­der die bei­den Jun­gen noch den Mann noch den Haus­halt. Statt­des­sen hat sie den Mund zu hal­ten, sehr vor­sich­tig zu sein und ekel­haf­te Feld­post­brie­fe aus­zu­tra­gen, die nicht mit der Hand, son­dern mit der Ma­schi­ne ge­schrie­ben sind und als Ab­sen­der den Re­gi­ment­s­ad­ju­tan­ten nen­nen.

Sie klin­gelt bei Per­sickes, sagt »Heil Hit­ler!« und gibt dem al­ten Sauf­kopp sei­nen »Völ­ki­schen«. Er hat auf dem Rockaufschlag schon das Par­tei- und das Ho­heits­ab­zei­chen sit­zen – sie ver­gisst ewig, ihr Par­tei­ab­zei­chen an­zu­ste­cken – und fragt: »Wat jib­t’s denn Neu­et?«

Sie ant­wor­te vor­sich­tig: »Ich weiß doch nicht. Ich glau­be, Frank­reich hat ka­pi­tu­liert.« Und sie setzt rasch die Fra­ge hin­zu: »Ob bei den Quan­gels wohl ei­ner zu Hau­se ist?«

Per­si­cke ach­tet gar nicht auf ihre Fra­ge. Er reißt die Zei­tung aus­ein­an­der. »Da steht’s ja: Frank­reich ka­pi­tu­liert. Mensch, Frol­lein, und det sa­ren Se ee­nem so, als ob Se Schrip­pen va­koofen! Det müs­sen Se za­ckig her­aus­brin­gen! Det müs­sen Se je­dem sa­ren, bei dem Se kom­men, det über­zeugt noch die letz­ten Mecker­köp­pe! Der zwei­te Blitz­krieg, hät­ten wa ooch ge­schafft, und nu ab Tru­meau nach Eng­land! In ’nem Vier­tel­jahr sind die Tom­mys er­le­digt, und denn solls­te ma se­hen, wie un­ser Füh­rer uns le­ben lässt! Denn kön­nen die an­de­ren blu­ten, und wir sind die Her­ren der Welt! Komm rin, Mä­chen, trink ’nen Schnaps mit! Ama­lie, Erna, Au­gust, Adolf, Bal­dur – alle ran! Heu­te wird blau­ge­macht, heut wird kee­ne Ar­beet an­je­fasst! Heu­te be­gie­ßen wir uns mal die Nee­se, heu­te hat Frank­reich ka­pi­tu­liert, und heut Nach­mit­tag ge­hen wa val­leicht bei de olle Jüd­sche in de vier­te Eta­ge, und det Aas muss uns Kaf­fee und Ku­chen je­ben! Ick sare euch, die Olle muss jetzt, wo Frank­reich ooch am Bo­den liegt, jetzt ken­ne ick keen Abar­men mehr! Jetzt sind wa die Her­ren der Welt, und alle müs­sen ku­schen vor uns!«

Wäh­rend Herr Per­si­cke, von sei­ner Fa­mi­lie um­stan­den, sich in im­mer auf­ge­reg­te­ren Aus­füh­run­gen er­geht und die ers­ten Schnäp­se schon hin­ter die Bin­de zu gie­ßen be­ginnt, ist die Brief­trä­ge­rin längst in die Eta­ge dar­über hin­auf­ge­stie­gen und hat bei den Quan­gels ge­klin­gelt. Sie hält den Brief schon in der Hand, ist be­reit, so­fort wei­ter­zu­lau­fen. Aber sie hat Glück; nicht die Frau, die meist ein paar freund­li­che Wor­te mit ihr wech­selt, son­dern der Mann mit dem schar­fen, vo­ge­l­ähn­li­chen Ge­sicht, dem dünn­lip­pi­gen Mund und den kal­ten Au­gen öff­net ihr. Er nimmt wort­los den Brief aus ih­rer Hand und zieht ihr die Tür vor der Nase zu, als sei sie eine Die­bin, vor der man sich vor­zu­se­hen hat.

Aber Eva Klu­ge zuckt zu so was nur die Ach­seln und geht wie­der die Trep­pen hin­un­ter. Man­che Men­schen sind eben so; so­lan­ge sie die Post in der Ja­blons­ki­stra­ße aus­trägt, hat die­ser Mann noch nie ein ein­zi­ges Wort zu ihr ge­sagt, nicht ein­mal »Heil Hit­ler« oder »Gu­ten Tag«, trotz­dem auch er, wie sie weiß, einen Pos­ten in der Ar­beits­front2 hat. Nun, lass ihn, sie kann ihn nicht än­dern, hat sie doch nicht ein­mal den ei­ge­nen Mann än­dern kön­nen, der mit Knei­pen­sit­zen und mit Renn­wet­ten sein Geld ver­tut und der zu Haus nur dann auf­taucht, wenn er ganz ab­ge­brannt ist.

Bei den Per­sickes ha­ben sie in ih­rer Auf­re­gung die Fl­ur­tür of­fen­ge­las­sen, aus der Woh­nung klingt Glä­ser­ge­klirr und das Lär­men der Sie­ges­fei­er. Die Brief­trä­ge­rin zieht die Fl­ur­tür sach­te ins Schloss und steigt wei­ter hin­ab. Da­bei denkt sie, dass dies ei­gent­lich eine gute Nach­richt ist, denn durch die­sen ra­schen Sieg über Frank­reich wird der Frie­de nä­her ge­rückt. Dann kom­men die bei­den Jun­gen zu­rück, und sie kann ih­nen wie­der ein Heim schaf­fen.

Bei die­sen Hoff­nun­gen stört sie aber das un­ge­müt­li­che Ge­fühl, dass dann sol­che Leu­te wie die Per­sickes ganz oben­auf sein wer­den. Sol­che zu Her­ren ha­ben und im­mer den Mund hal­ten müs­sen und nie sa­gen dür­fen, wie ei­nem ums Herz ist, das scheint ihr auch nicht das Rich­ti­ge.

Flüch­tig denkt sie auch an den Mann mit dem kal­ten Gei­er­ge­sicht, dem sie eben den Feld­post­brief aus­ge­hän­digt hat und der dann wohl auch einen hö­he­ren Pos­ten in der Par­tei be­kom­men wird, und sie denkt an die alte Jü­din Ro­sen­thal, oben im vier­ten Stock, der die Ge­sta­po vor zwei Wo­chen den Mann weg­ge­holt hat. Die kann ei­nem leid­tun, die Frau. Ro­sent­hals ha­ben frü­her ein Wä­sche­ge­schäft an der Prenz­lau­er Al­lee ge­habt. Das ist dann ari­siert wor­den, und nun ha­ben sie den Mann weg­ge­holt, der nicht weit von sieb­zig ab sein kann. Was Bö­ses ge­tan ha­ben die bei­den al­ten Leu­te si­cher nie je­man­dem, aber im­mer an­ge­schrie­ben, auch für die Eva Klu­ge, wenn mal kein Geld für Kin­der­wä­sche da war, und schlech­ter oder teu­rer als in an­de­ren Ge­schäf­ten war die Ware bei Ro­sent­hals auch nicht. Nein, es will nicht in den Kopf von Frau Eva Klu­ge, dass so ein Mann wie der Ro­sen­thal schlech­ter sein soll als die Per­sickes, bloß weil er ein Jude ist. Und nun sitzt die alte Frau da oben in der Woh­nung mut­ter­see­len­al­lein und traut sich nicht mehr auf die Stra­ße. Erst wenn es dun­kel ge­wor­den ist, macht sie mit dem Ju­dens­tern ihre Ein­käu­fe, wahr­schein­lich hun­gert sie. Nein, denkt Eva Klu­ge, und wenn wir zehn­mal über Frank­reich ge­siegt ha­ben, ge­recht geht es nicht bei uns zu …

Da­mit ist sie in das nächs­te Haus ge­kom­men und setzt dort ih­ren Be­stell­gang fort.

Der Werk­meis­ter Otto Quan­gel ist un­ter­des mit dem Feld­post­brief in die Stu­be ge­kom­men und hat ihn auf die Näh­ma­schi­ne ge­legt. »Da!«, sagt er nur. Er lässt ihr stets das Vor­recht, die­se Brie­fe zu öff­nen, weiß er doch, wie sehr sie an ih­rem ein­zi­gen Soh­ne Otto hängt. Nun steht er ihr ge­gen­über; er hat die dün­ne Un­ter­lip­pe zwi­schen die Zäh­ne ge­zo­gen und war­tet auf das freu­di­ge Er­glän­zen ih­res Ge­sich­tes. Er liebt in sei­ner wort­kar­gen, stil­len, ganz un­zärt­li­chen Art die­se Frau sehr.

Sie hat den Brief auf­ge­ris­sen, einen Au­gen­blick leuch­te­te ihr Ge­sicht wirk­lich, dann er­losch das, als sie die Schreib­ma­schi­nen­schrift sah. Ihre Mie­ne wur­de ängst­lich, sie las lang­sa­mer und lang­sa­mer, als scheu­te sie sich vor je­dem kom­men­den Wort. Der Mann hat sich vor­ge­beugt und die Hän­de aus den Ta­schen ge­nom­men. Die Zäh­ne sit­zen jetzt fest auf der Un­ter­lip­pe, er ahnt Un­heil. Es ist ganz still in der Stu­be. Nun fängt der Atem der Frau an, keu­chend zu wer­den …

Plötz­lich stößt sie einen lei­sen Schrei aus, einen Laut, wie ihn ihr Mann noch nie ge­hört hat. Ihr Kopf fällt vorn­über, schlägt erst ge­gen die Garn­rol­len auf der Ma­schi­ne und sinkt zwi­schen die Fal­ten der Näh­ar­beit, den ver­häng­nis­vol­len Brief ver­de­ckend.

Er ist mit zwei Schrit­ten hin­ter ihr. Mit ei­ner bei ihm ganz un­ge­wohn­ten Hast legt er sei­ne große, ver­ar­bei­te­te Hand auf ih­ren Rücken. Er fühlt, dass sei­ne Frau am gan­zen Lei­be zit­tert. »Anna!«, sagt er. »Anna, bit­te!« Er war­tet einen Au­gen­blick, dann wagt er es: »Ist was mit Otto? Ver­wun­det, wie? Schwer?«

Das Zit­tern geht fort durch den Leib der Frau, aber kein Laut kommt von ih­ren Lip­pen. Sie macht kei­ne An­stal­ten, den Kopf zu he­ben und ihn an­zu­se­hen.

Er blickt auf ih­ren Schei­tel hin­un­ter, er ist so dünn ge­wor­den in den Jah­ren, seit sie ver­hei­ra­tet sind. Nun sind sie alte Leu­te; wenn Otto wirk­lich was zu­ge­sto­ßen ist, wird sie nie­man­den ha­ben und be­kom­men, den sie lieb ha­ben kann, nur ihn, und er fühlt im­mer, an ihm ist nicht viel zum Lieb­ha­ben. Er kann ihr nie und mit kei­nem Wort sa­gen, wie sehr er an ihr hängt. Selbst jetzt kann er sie nicht strei­cheln, ein biss­chen zärt­lich zu ihr sein, sie trös­ten. Er legt nur sei­ne schwe­re, star­ke Hand auf ih­ren dün­nen Schei­tel, er zwingt sanft ih­ren Kopf hoch, sei­nem Ge­sicht ent­ge­gen, er sagt halb­laut: »Was die uns schrei­ben, wirst du mir doch sa­gen, Anna?«

Aber ob­wohl jetzt ihre Au­gen ganz nahe den sei­nen sind, sieht sie ihn nicht an, son­dern hält sie fest ge­schlos­sen. Ihr Ge­sicht ist gelb­lich blass, ihre sonst fri­schen Far­ben sind ge­schwun­den. Auch das Fleisch über den Kno­chen scheint fast auf­ge­zehrt, es ist, als sähe er einen To­ten­kopf an. Nur die Wan­gen und der Mund zit­tern, wie der gan­ze Kör­per zit­tert, von ei­nem ge­heim­nis­vol­len in­ne­ren Be­ben er­fasst.

Wie Quan­gel so in dies ver­trau­te, jetzt so frem­de Ge­sicht schaut, wie er sein Herz stark und stär­ker schla­gen fühlt, wie er sei­ne völ­li­ge Un­fä­hig­keit spürt, ihr ein biss­chen Trost zu spen­den, packt ihn eine tie­fe Angst. Ei­gent­lich eine lä­cher­li­che Angst die­sem tie­fen Schmerz sei­ner Frau ge­gen­über, näm­lich die Angst, sie kön­ne zu schrei­en an­fan­gen, noch viel lau­ter und wil­der, als sie eben schrie. Er ist im­mer für Stil­le ge­we­sen, nie­mand soll­te et­was von Quan­gels im Hau­se mer­ken, und gar Ge­füh­le laut wer­den las­sen: Nein! Aber auch in die­ser Angst kann der Mann nicht mehr sa­gen, als er auch vor­hin schon ge­sagt hat, näm­lich: »Was ha­ben sie denn ge­schrie­ben? Sag doch, Anna!«

Wohl liegt der Brief jetzt of­fen da, aber er wagt nicht, nach ihm zu fas­sen. Er müss­te da­bei den Kopf der Frau los­las­sen, und er weiß, die­ser Kopf, des­sen Stir­ne schon jetzt zwei blu­ti­ge Fle­cke auf­weist, fie­le dann wie­der ge­gen die Ma­schi­ne. Er über­win­det sich, noch ein­mal fragt er: »Was ist denn mit Ot­to­chen?«

Es ist, als habe die­ser vom Man­ne fast nie be­nutz­te Ko­sena­me die Frau aus der Welt ih­res Schmer­zes in die­ses Le­ben zu­rück­ge­ru­fen. Sie schluckt ein paar­mal, sie öff­net so­gar die Au­gen, die sonst sehr blau sind und jetzt wie aus­ge­blasst aus­se­hen. »Mit Ot­to­chen?«, flüs­tert sie fast. »Was soll denn mit ihm sein? Nichts ist mit ihm, es gibt kein Ot­to­chen mehr, das ist es!«

Der Mann sagt nur ein »Oh!«, ein tie­fes »Oh!« aus dem In­ners­ten sei­nes Her­zens her­aus. Ohne es zu wis­sen, hat er den Kopf sei­ner Frau los­ge­las­sen und greift nach dem Brief. Sei­ne Au­gen star­ren auf die Zei­len, ohne sie noch le­sen zu kön­nen.

Da reißt ihm die Frau den Brief aus der Hand. Ihre Stim­mung ist um­ge­schla­gen, zor­nig reißt sie das Brief­blatt in Fet­zen, in Fetz­chen, in Schnit­zel­chen, und da­bei spricht sie ihm über­stürzt ins Ge­sicht: »Was willst du den Dreck auch noch le­sen, die­se ge­mei­nen Lü­gen, die sie al­len schrei­ben? Dass er den Hel­den­tod ge­stor­ben ist für sei­nen Füh­rer und für sein Volk? Dass er ein Mus­ter von ’nem Sol­da­ten und Ka­me­ra­den ab­gab? Das willst du dir von de­nen er­zäh­len las­sen, wo wir doch bei­de wis­sen, dass Ot­to­chen am liebs­ten an sei­nen Ra­di­os rum­ge­bas­telt hat, und wei­nen tat er, als er zu den Sol­da­ten muss­te! Wie oft hat er mir in sei­ner Re­kru­ten­zeit ge­sagt, wie ge­mein sie dort sind, und dass er lie­ber sei­ne gan­ze rech­te Hand her­gä­be, bloß um von de­nen los­zu­kom­men! Und jetzt ein Mus­ter von Sol­dat und Hel­den­tod! Lü­gen, al­les Lü­gen! Aber das habt ihr an­ge­rich­tet, mit eu­erm Scheiß­krieg, du und dein Füh­rer!«

Jetzt steht sie vor ihm, die Frau, klei­ner als er, aber ihre Au­gen sprü­hen Blit­ze vor Zorn.

»Ich und mein Füh­rer?«, mur­melt er, ganz über­wäl­tigt von die­sem An­griff. »Wie­so ist er denn plötz­lich mein Füh­rer? Ich bin doch gar nicht in der Par­tei, bloß in der Ar­beits­front, und da müs­sen alle rein. Und ge­wählt ha­ben wir ihn im­mer alle bei­de, und einen Pos­ten in der Frau­en­schaft3 hast du auch.«

Er sagt das al­les in sei­ner um­ständ­li­chen, lang­sa­men Art, nicht ein­mal so sehr, um sich zu ver­tei­di­gen, als um die Tat­sa­chen klar­zu­stel­len. Er ver­steht noch nicht, wie die Frau plötz­lich zu die­sem An­griff ge­gen ihn kommt. Sie wa­ren doch ei­gent­lich im­mer ei­nes Sin­nes ge­we­sen …

Aber sie sagt hit­zig: »Wozu bist du denn der Mann im Haus und be­stimmst al­les, und al­les muss nach dei­nem Kopf ge­hen, und wenn ich nur einen Ver­schlag für die Win­ter­kar­tof­feln im Kel­ler ha­ben will: er muss sein, wie du willst, nicht wie ich will. Und in ei­ner so wich­ti­gen Sa­che be­stimmst du falsch? Aber du bist ein Lei­se­tre­ter, nur dei­ne Ruhe willst du im­mer ha­ben und bloß nicht auf­fal­len. Du tust, was sie alle tun, und wenn sie schrei­en: ›Füh­rer be­fiehl, wir fol­gen!‹, so rennst du wie ein Ham­mel hin­ter­her. Und wir ha­ben wie­der hin­ter dir her­lau­fen müs­sen! Aber nun ist mein Ot­to­chen tot, und kein Füh­rer der Welt und auch du nicht brin­gen ihn mir wie­der!«

Er hör­te sich das al­les ohne ein Wi­der­wort an. Er war nie der Mann ge­we­sen, sich zu strei­ten, und er fühl­te es zu­dem, dass nur der Schmerz aus ihr sprach. Er war bei­na­he froh dar­über, dass sie ihm zürn­te, dass sie ih­rer Trau­er noch kei­nen frei­en Lauf ließ. Er sag­te nur zur Ant­wort auf die­se An­kla­gen: »Ei­ner wird’s der Tru­del sa­gen müs­sen.«

Die Tru­del war Ot­to­chens Mäd­chen ge­we­sen, fast schon sei­ne Ver­lob­te; zu sei­nen El­tern hat­te die Tru­del Mutt­chen und Va­ter ge­sagt. Sie kam abends oft zu ih­nen, auch jetzt, da Ot­to­chen fort war, und schwatz­te mit ih­nen. Am Tage ar­bei­te­te sie in ei­ner Uni­form­fa­brik.

Die Er­wäh­nung der Tru­del brach­te Anna Quan­gel so­fort auf an­de­re Ge­dan­ken. Sie warf einen Blick auf den blit­zen­den Re­gu­la­tor an der Wand und frag­te: »Wirst du’s noch bis zu dei­ner Schicht schaf­fen?«

»Ich habe heu­te die Schicht von eins bis elf«, ant­wor­te­te er. »Ich werd’s schaf­fen.«

»Gut«, sag­te sie. »Dann geh, aber be­stell sie nur hier­her und sag ihr noch nichts von Ot­to­chen. Ich will’s ihr sel­ber sa­gen. Dein Es­sen ist um zwöl­fe fer­tig.«

»Dann geh ich und sag ihr, sie soll heu­te Abend vor­bei­kom­men«, sag­te er, ging aber noch nicht, son­dern sah ihr ins gelb­lich wei­ße, kran­ke Ge­sicht. Sie sah ihn wie­der an, und eine Wei­le be­trach­te­ten sie sich so schwei­gend, die­se bei­den Men­schen, die an die drei­ßig Jah­re mit­ein­an­der ver­bracht hat­ten, im­mer ein­träch­tig, er schweig­sam und still, sie ein biss­chen Le­ben in die Woh­nung brin­gend.

Aber so­sehr sie sich jetzt auch an­schau­ten, sie hat­ten ein­an­der kein Wort zu sa­gen. So nick­te er schließ­lich mit dem Kopf und ging.

Sie hör­te die Fl­ur­tür klap­pen. Und kaum wuss­te sie ihn wirk­lich fort, dreh­te sie sich wie­der nach der Näh­ma­schi­ne und strich die Schnit­zel­chen des ver­häng­nis­vol­len Feld­post­brie­fes zu­sam­men. Sie ver­such­te, sie an­ein­an­der­zu­pas­sen, aber sie sah schnell, dass das jetzt zu lan­ge dau­ern wür­de, sie muss­te vor al­len Din­gen sein Es­sen fer­tig­ma­chen. So tat sie denn das Zer­ris­se­ne sorg­fäl­tig in den Brief­um­schlag, den sie in ihr Ge­sang­buch leg­te. Am Nach­mit­tag, wenn Otto wirk­lich fort war, wür­de sie die Zeit ha­ben, die Schnit­zel zu ord­nen und auf­zu­kle­ben. Wenn es auch al­les dum­me Lü­gen, ge­mei­ne Lü­gen wa­ren, es war doch das Letz­te von Ot­to­chen! Sie wür­de es trotz­dem auf­be­wah­ren und der Tru­del zei­gen. Vi­el­leicht wür­de sie dann wei­nen kön­nen, jetzt stand es noch wie Flam­men in ih­rem Her­zen. Es wür­de gut sein, wei­nen zu kön­nen!

Sie schüt­tel­te zor­nig den Kopf und ging an die Koch­ma­schi­ne.


  1. Der Völ­ki­sche Beo­b­ach­ter war von De­zem­ber 1920 bis zum 30. April 1945 das pu­bli­zis­ti­sche Par­tei­or­gan der NSDAP.  <<<

  2. Die Deut­sche Ar­beits­front war in der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus der Ein­heits­ver­band der Ar­beit­neh­mer und Ar­beit­ge­ber mit Sitz in Ber­lin.  <<<

  3. Die NS-Frau­en­schaft war die dem Kreis­lei­ter un­ter­stell­te Frau­en­or­ga­ni­sa­ti­on der Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deut­schen Ar­bei­ter­par­tei.  <<<

2. Was Baldur Persicke zu sagen hatte

Als Otto Quan­gel an Per­sickes Woh­nung vor­über­ging, scholl gra­de bei­fäl­li­ges Ge­heul dar­aus, un­ter­mischt mit Sieg­heil-Ge­schrei. Ei­li­ger ging Quan­gel wei­ter, bloß um kei­nen von der Ge­sell­schaft tref­fen zu müs­sen. Sie wohn­ten schon zehn Jah­re im glei­chen Haus, aber Quan­gel hat­te von je­her al­les Zu­sam­men­tref­fen mit den Per­sickes ganz be­son­ders zu ver­mei­den ge­sucht, schon da­mals, als der noch ein klei­ner, ziem­lich ver­krach­ter Bu­di­ker1 ge­we­sen war. Jetzt wa­ren die Per­sickes große Leu­te ge­wor­den, der Alte hat­te alle mög­li­chen Äm­ter bei der Par­tei, und die bei­den äl­tes­ten Söh­ne wa­ren bei der SS;2 Geld schi­en bei de­nen kei­ne Rol­le zu spie­len.

Umso mehr Grund, sich bei ih­nen vor­zu­se­hen, denn alle, die so stan­den, muss­ten sich bei der Par­tei in Be­liebt­heit hal­ten, und das konn­ten sie nur, wenn sie was für die Par­tei ta­ten. Et­was tun, das hieß aber, an­de­re an­ge­ben, zum Bei­spiel mel­den: der und der hat einen aus­län­di­schen Sen­der ab­ge­hört. Quan­gel hät­te dar­um am liebs­ten schon lan­ge die Ra­di­os aus Ot­tos Kam­mer ver­packt in den Kel­ler ge­stellt. Man konn­te nicht vor­sich­tig ge­nug sein in die­sen Zei­ten, wo je­der der Spi­on des an­de­ren war, die Ge­sta­po ihre Hand über alle hielt, das KZ in Sach­sen­hau­sen im­mer grö­ßer wur­de und das Fall­beil in der Plöt­ze3 alle Tage Ar­beit hat­te. Er, Quan­gel, brauch­te kein Ra­dio, aber Anna war ge­gen das Fort­schaf­fen ge­we­sen. Sie mein­te, das alte Sprich­wort gel­te noch: Ein rei­nes Ge­wis­sen ist ein gu­tes Ru­he­kis­sen. Wo so was al­les doch schon längst nicht mehr galt, wenn es je ge­stimmt hat­te.

Mit sol­chen Ge­dan­ken ging also Quan­gel ei­li­ger die Trep­pen hin­ab und über den Hof auf die Stra­ße.

Bei den Per­sickes aber ha­ben sie dar­um so ge­schri­en, weil das Licht der Fa­mi­lie, der Bal­dur, der jetzt aufs Gym­na­si­um geht und, wenn’s Va­ter mit sei­nen Be­zie­hun­gen schafft, so­gar auf eine Na­po­la4 soll – weil also der Bal­dur im »Völ­ki­schen Beo­b­ach­ter« ein Bild ge­fun­den hat. Auf dem Bild sind der Füh­rer und der Reichs­mar­schall Gö­ring5 zu se­hen, und un­ter dem Bil­de steht: »Beim Empfang der Nach­richt von der Ka­pi­tu­la­ti­on Frank­reichs.« So se­hen die bei­den auf dem Bil­de auch aus: der Gö­ring lacht über sein gan­zes feis­tes Ge­sicht, und der Füh­rer klatscht sich so­gar die Schen­kel vor Ver­gnü­gen.

Die Per­sickes ha­ben sich auch wie die auf dem Bil­de ge­freut und ge­lacht, der Bal­dur aber, der Hel­le, hat ge­fragt: »Na, seht ihr denn nichts Be­son­de­res auf dem Bil­de?«

Sie star­ren ihn ab­war­tend an, so völ­lig sind sie von der geis­ti­gen Über­le­gen­heit die­ses Sech­zehn­jäh­ri­gen über­zeugt, dass kei­ner auch nur eine Ver­mu­tung laut wer­den lässt.

»Na!«, sagt der Bal­dur. »Über­legt doch mal! Das Bild ist doch von ’nem Pres­se­fo­to­gra­fen ge­macht wor­den. Hat der wohl gleich da­bei­ge­stan­den, wie die Nach­richt von der Ka­pi­tu­la­ti­on ge­kom­men ist? Sie muss doch auch durchs Te­le­fon oder durch ’nen Ku­ri­er oder viel­leicht gar durch einen fran­zö­si­schen Ge­ne­ral ge­kom­men sein, und von al­le­dem sieht man auf dem Bil­de gar nichts. Die bei­den ste­hen hier ganz al­lein im Gar­ten und freu­en sich …«

Bal­durs El­tern und Ge­schwis­ter sit­zen noch im­mer stumm da und star­ren ihn an. Ihre Ge­sich­ter sind vom ge­spann­ten Auf­mer­ken fast dumm. Der alte Per­si­cke wür­de sich am liebs­ten schon wie­der einen neu­en Schnaps ge­neh­mi­gen, aber das wagt er nicht, so­lan­ge der Bal­dur spricht. Er weiß aus Er­fah­rung, der Bal­dur kann sehr un­an­ge­nehm wer­den, wenn man sei­nen po­li­ti­schen Vor­trä­gen nicht die ge­nü­gen­de Auf­merk­sam­keit schenkt.

Der Sohn fährt un­ter­des fort: »Also, das Bild ist ge­stellt, es ist gar nicht beim Ein­tref­fen der Nach­richt von der Ka­pi­tu­la­ti­on ge­macht wor­den, son­dern ein paar Stun­den spä­ter oder viel­leicht erst am fol­gen­den Tage. Und nun seht euch an, wie sich der Füh­rer freut, er klatscht sich ja so­gar auf die Schen­kel vor Freu­de! Glaubt ihr denn, dass ein großer Mann wie der Füh­rer sich noch am nächs­ten Tage so sehr über sol­che Nach­richt freut? Der denkt doch jetzt schon längst an Eng­land und wie wir die Tom­mys dran­krie­gen. Nee, das gan­ze Bild ist eine Schau­spie­le­rei, von der Auf­nah­me an­ge­fan­gen bis zum Hän­de­klat­schen. Das heißt, den Dum­men Sand in die Au­gen ge­streut!«

Jetzt star­ren den Bal­dur die Sei­nen so an, als sei­en sie die Dum­men, de­nen Sand in die Au­gen ge­streut wird. Wenn’s nicht der Bal­dur ge­we­sen wäre, je­den Frem­den hät­ten sie für so ’ne Be­mer­kung bei der Ge­sta­po an­ge­zeigt.

Der Bal­dur aber fährt so fort: »Seht ihr, und das ist das Gro­ße an un­serm Füh­rer: er lässt kei­nen in sei­ne Plä­ne rein­gu­cken. Die den­ken jetzt alle, er freut sich über sei­nen Sieg in Frank­reich, und da­bei sam­melt er viel­leicht schon die Schif­fe für eine In­va­si­on in Eng­land. Seht ihr, das müs­sen wir von un­serm Füh­rer ler­nen: wir sol­len nicht je­dem auf die Sem­mel schmie­ren, wer wir sind und was wir vor­ha­ben!« Die an­de­ren ni­cken eif­rig mit den Köp­fen; end­lich glau­ben sie er­fasst zu ha­ben, wor­auf der Bal­dur hin­aus­will. »Ja, ihr nickt«, sagt der Bal­dur är­ger­lich, »aber ihr macht’s ganz an­ders! Kei­ne hal­be Stun­de ist es her, da habe ich Va­tern erst vor der Brief­trä­ge­rin sa­gen hö­ren, die olle Ro­sen­thal oben soll uns Kaf­fee und Ku­chen spen­die­ren …«

»Och, die olle Ju­densau!«, sagt Va­ter Per­si­cke, aber doch mit ei­nem ent­schul­di­gen­den Ton in der Stim­me.

»Na ja«, gibt der Sohn zu, »viel Auf­he­bens wird von der nicht ge­macht, wenn ihr mal was pas­siert. Aber wozu den Leu­ten so was erst er­zäh­len? Si­cher ist si­cher. Kuck dir mal ’nen Men­schen an wie den über uns, den Quan­gel. Kein Wort kriegst du aus dem Man­ne her­aus, und doch bin ich ganz si­cher, der sieht und hört al­les und wird auch sei­ne Stel­le ha­ben, wo er’s hin­mel­det. Wenn der mal mel­det, die Per­sickes kön­nen die Schnau­ze nicht hal­ten, die sind nicht zu­ver­läs­sig, de­nen kann man nichts an­ver­trau­en, dann sind wir ge­lie­fert. Du we­nigs­tens be­stimmt, Va­ter, und ich wer­de kei­nen Fin­ger rüh­ren, um dich wie­der raus­zu­ho­len, aus dem KZ oder aus Moa­bit oder aus der Plöt­ze oder wo du gra­de sitzt.«

Alle schwei­gen, und selbst ein so ein­ge­bil­de­ter Mensch wie der Bal­dur spürt, dass die­ses Schwei­gen nicht bei al­len Zu­stim­mung be­deu­tet. So sagt er denn noch rasch, um we­nigs­tens die Ge­schwis­ter auf sei­ne Sei­te zu brin­gen: »Wir wol­len alle ein biss­chen mehr wer­den als Va­ter, und wo­durch kön­nen wir es zu was brin­gen? Doch nur durch die Par­tei! Und dar­um müs­sen wir’s so ma­chen wie der Füh­rer: den Leu­ten Sand in die Au­gen streu­en, so tun, als wä­ren wir freund­lich, und dann hin­ten­rum, wenn kei­ner was ahnt: er­le­digt und weg. Es soll auf der Par­tei hei­ßen: Mit den Per­sickes kann man al­les ma­chen, ein­fach al­les!«

Er sieht noch ein­mal das Bild mit dem la­chen­den Hit­ler und Gö­ring an, nickt kurz und gießt dann Schnaps ein, zum Zei­chen, dass sein po­li­ti­scher Vor­trag be­en­det ist. Er sagt la­chend: »Zieh bloß kei­nen Flunsch, Va­ter, weil ich dir mal die Mei­nung ge­geigt habe!«

»Du bist erst sech­zehn und mein Sohn«, fängt der Alte, noch im­mer ge­kränkt, an.

»Un du bist mein Ol­ler, den ich ein biss­chen zu ville be­sof­fen ge­se­hen habe, als dass du mir noch groß im­po­nierst«, sagt Bal­dur Per­si­cke rasch und bringt da­mit die La­cher, so­gar die stän­dig ver­ängs­tig­te Mut­ter, auf sei­ne Sei­te. »Nee, lass man, Va­ter, ei­nes Ta­ges wer­den wir noch alle im ei­ge­nen Auto fah­ren, und du sollst alle Tage Sekt zu sau­fen krie­gen, bis du voll bist!«

Der Va­ter will wie­der et­was sa­gen, aber die­ses Mal nur ge­gen den Sekt, den er nicht so schätzt wie sei­nen Korn­schnaps. Aber Bal­dur fährt rasch und lei­ser fort: »Ide­en hast du gar nicht so schlech­te, Va­ter, bloß, du soll­test mit kei­nem dar­über re­den als mit uns. Mit der Ro­sen­thal ist viel­leicht wirk­lich was zu ma­chen, aber mehr als Kaf­fee und Ku­chen. Lasst mich nur dar­über nach­den­ken, das muss vor­sich­tig an­ge­fasst wer­den. Vi­el­leicht rie­chen an­de­re den Bra­ten auch, und viel­leicht sind an­de­re bes­ser an­ge­schrie­ben als wir.«

Sei­ne Stim­me hat sich ge­senkt und ist ge­gen den Schluss hin fast un­hör­bar ge­wor­den. Bal­dur Per­si­cke hat es wie­der fer­tig­ge­bracht, er hat alle auf sei­ne Sei­te ge­zo­gen, selbst den Va­ter, der erst ein­ge­schnappt war. So sagt er denn: »Prost auf die Ka­pi­tu­la­ti­on von Frank­reich!«, und weil er sich da­bei la­chend auf die Schen­kel klatscht, mer­ken sie, dass er da­mit et­was ganz an­de­res meint, näm­lich die alte Ro­sen­thal.

Sie la­chen lär­mend durch­ein­an­der und sto­ßen an und trin­ken dann so man­chen Schnaps, im­mer einen hin­ter dem an­de­ren. Aber sie ver­tra­gen auch was, die­ser ehe­ma­li­ge Gast­wirt und sei­ne Kin­der.


  1. Be­sit­zer ei­ner klei­nen Knei­pe  <<<

  2. Die Schutz­staf­fel (SS) war eine na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Or­ga­ni­sa­ti­on in der Wei­ma­rer Re­pu­blik und der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, die der NSDAP und Adolf Hit­ler als Herr­schafts- und Un­ter­drückungs­in­stru­ment diente.  <<<

  3. Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt Plöt­zen­see (ber­li­ne­risch)  <<<

  4. Na­tio­nal­po­li­ti­sche Er­zie­hungs­an­stalt  <<<

  5. Her­mann Wil­helm Gö­ring war ein füh­ren­der deut­scher na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher Po­li­ti­ker. Ab Mai 1935 war er Ober­be­fehls­ha­ber der deut­schen Luft­waf­fe.  <<<

3. Ein Mann namens Barkhausen

Der Werk­meis­ter Quan­gel ist auf die Ja­blons­ki­stra­ße hin­aus­ge­tre­ten und hat vor der Haus­tür her­um­ste­hend den Emil Bark­hau­sen ge­trof­fen. Es schi­en der ein­zi­ge Be­ruf Emil Bark­hau­sens zu sein, im­mer ir­gend­wo rum­zu­ste­hen, wo es was zu gaf­fen oder zu hö­ren gab. Da­ran hat­te auch der Krieg nichts ge­än­dert, der doch über­all mit Dienst­ver­pflich­tun­gen und Ar­beits­zwang vor­ge­gan­gen war: Emil Bark­hau­sen stand wei­ter rum.

Er stand da, eine lan­ge, dür­re Ge­stalt in ei­nem ab­ge­tra­ge­nen An­zug, und sah ver­dros­sen mit sei­nem farb­lo­sen Ge­sicht in die um die­se Stun­de fast men­schen­lee­re Ja­blons­ki­stra­ße. Als er Quan­gels an­sich­tig wur­de, kam Be­we­gung in ihn, er trat auf ihn zu und bot ihm die Hand. »Wo ge­hen Sie denn jetzt hin, Quan­gel?«, frag­te er. »Das ist doch noch nicht Ihre Zeit für die Fa­brik?«

Quan­gel über­sah die Hand des an­de­ren und mur­mel­te fast un­ver­ständ­lich: »Ei­li­ger Weg!«

Da­bei ging er schon wei­ter, nach der Prenz­lau­er Al­lee zu. Die­ser läs­ti­ge Schwät­zer hat­te ihm ge­ra­de noch ge­fehlt!

So leicht ließ sich der aber nicht ab­schüt­teln. Er lach­te me­ckernd und rief: »Da ha­ben wir ja den­sel­ben Weg, Quan­gel!« Und als der an­de­re, stur gra­de­aus star­rend, ei­lig weiter­schritt, setz­te er hin­zu: »Der Dok­tor hat mir näm­lich ge­gen mei­ne Hart­lei­big­keit viel Be­we­gung ver­ord­net, und al­lein rum­lau­fen, das lang­weilt mich!«

Er fing nun an, weit­läu­fig und ge­nau zu schil­dern, was er al­les schon ge­gen sei­ne Hart­lei­big­keit ge­tan hat­te. Quan­gel hör­te gar nicht hin. Ihn be­schäf­tig­ten zwei Ge­dan­ken, und der eine ver­dräng­te im­mer wie­der den an­de­ren: dass er kei­nen Sohn mehr hat­te und dass Anna ge­sagt hat­te: du und dein Füh­rer. Quan­gel gab es sich zu: er hat­te den Jun­gen nie ge­liebt, wie ein Va­ter sei­nen Sohn zu lie­ben hat. Von der Ge­burt an hat­te er das Kind nur als Stö­rer sei­ner Ruhe und sei­ner Be­zie­hun­gen zu Anna emp­fun­den. Wenn er jetzt doch Schmerz fühl­te, so dar­um, weil er mit Un­ru­he an Anna dach­te, wie sie die­sen Tod auf­neh­men, was da­durch al­les ge­än­dert wer­den wür­de. Hat­te doch Anna schon zu ihm ge­sagt: Du und dein Füh­rer!

Es stimm­te nicht. Hit­ler war nicht sein Füh­rer oder doch nicht mehr sein Füh­rer, als er An­nas Füh­rer war. Sie wa­ren sich im­mer ei­nig ge­we­sen, als er 1930 mit sei­ner klei­nen Tisch­ler­werk­statt ver­kracht war, dass der Füh­rer den Kar­ren aus dem Dreck ge­ris­sen hat­te. Nach vier Jah­ren Ar­beits­lo­sig­keit war er Werk­meis­ter in der großen Mö­bel­fa­brik ge­wor­den und brach­te jetzt alle Wo­chen sei­ne vier­zig Mark nach Hau­se. Da­mit ka­men sie gut aus. Das war durch den Füh­rer ge­kom­men, der hat­te die Wirt­schaft wie­der in Gang ge­bracht. Dar­über wa­ren sie sich im­mer ei­nig ge­we­sen.

Aber in die Par­tei wa­ren sie dar­um doch nicht ge­tre­ten. Ein­mal reu­te sie der Par­tei­bei­trag, man muss­te schon so an al­len Ecken und En­den blu­ten, für das WHW,1 für alle mög­li­chen Samm­lun­gen, für die Ar­beits­front. Ja, in der Ar­beits­front hat­ten sie ihm in der Fa­brik auch ein Ämt­chen auf­ge­huckt, und gra­de das war der an­de­re Grund, warum sie bei­de nicht in die Par­tei ein­ge­tre­ten wa­ren. Denn er sah es bei je­der Ge­le­gen­heit, wie sie stän­dig einen Un­ter­schied zwi­schen Volks­ge­nos­sen und Par­t­ei­ge­nos­sen mach­ten. Auch der schlech­tes­te Par­t­ei­ge­nos­se war de­nen noch mehr wert als der bes­te Volks­ge­nos­se. War man ein­mal in der Par­tei, so konn­te man sich ei­gent­lich al­les er­lau­ben: so leicht pas­sier­te ei­nem nichts. Das nann­ten sie Treue um Treue.

Er aber, der Werk­meis­ter Otto Quan­gel, war für Ge­rech­tig­keit. Je­der Mensch war ihm ein Mensch, und ob er in der Par­tei drin war, das hat­te da­mit gar nichts zu tun. Wenn er in der Werk­statt im­mer wie­der er­le­ben muss­te, dass dem einen ein klei­ner Feh­ler am Werk­stück schwer an­ge­krei­det wur­de und dass der an­de­re Pfusch über Pfusch ab­lie­fern durf­te, so em­pör­te ihn das stets von Neu­em. Er setz­te die Zäh­ne auf die Un­ter­lip­pe und nag­te wü­tend an ihr – wenn er’s ge­konnt hät­te, er wäre auch die­ses Pöst­chen in der DAF längst los ge­we­sen!

Die Anna wuss­te das gut, dar­um hät­te sie das nie sa­gen dür­fen, dies Wort: Du und dein Füh­rer! Bei der Anna war al­les auch ganz an­ders ge­we­sen, sie hat­te ganz frei­wil­lig das Amt in der Frau­en­schaft über­nom­men, sie hat­te nicht ge­musst wie er. Gott ja, er ver­stand es, wie es dazu bei ihr ge­kom­men war. Zeit ih­res Le­bens war sie bloß ein Dienst­mäd­chen ge­we­sen, erst auf dem Lan­de, dann hier in der Stadt. Zeit ih­res Le­bens hat­te sie Trab lau­fen müs­sen und war kom­man­diert wor­den von an­de­ren. Und in ih­rer Ehe hat­te sie auch nicht viel zu sa­gen ge­habt, nicht etwa, weil er sie nun viel kom­man­diert hät­te, son­dern ein­fach weil sich um ihn, den Geld­ver­die­ner, nun ein­mal al­les dre­hen muss­te.

Aber jetzt hat­te sie nun die­ses Amt in der Frau­en­schaft, und wenn sie auch hier ihre Be­feh­le von oben emp­fing, so hat­te sie doch nun eine Men­ge Mäd­chen und Frau­en und so­gar Da­men un­ter sich, de­nen nun sie kom­man­dier­te. Das mach­te ihr ein­fach Spaß, wenn sie da wie­der so eine fau­le Nichts­tue­rin mit rot­ge­lack­ten Fin­ger­nä­geln auf­ge­trie­ben hat­te, und sie konn­te sie in eine Fa­brik schi­cken. Wenn von ei­nem der Quan­gels über­haupt so ein Wort zu sa­gen war wie ›Du und dein Füh­rer‹, dann noch am ers­ten von der Anna.

Ge­wiss, ge­wiss, auch sie hat­te schon längst ein Haar in der Sup­pe ge­fun­den und zum Bei­spiel ge­merkt, dass sich man­che von die­sen fei­nen Däm­chen ein­fach nicht zur Ar­beit schi­cken lie­ßen, weil sie zu gute Freun­de hat­ten oben. Oder es em­pör­te sie, wenn bei der Ver­tei­lung von war­mem Un­ter­zeug im­mer die­sel­ben dran­ka­men, und das wa­ren eben die mit dem Par­tei­buch. Auch Anna fand, dass die Ro­sent­hals an­stän­di­ge Leu­te wa­ren und solch ein Schick­sal nicht ver­dient hat­ten, aber dar­um dach­te sie doch nicht dar­an, ihr Amt auf­zu­ge­ben. Sie hat­te neu­lich erst ge­sagt, dass der Füh­rer gar nicht wüss­te, was sei­ne Leu­te da un­ten für Schwei­ne­rei­en be­gin­gen. Der Füh­rer konn­te nicht al­les wis­sen, und sei­ne Leu­te be­lo­gen ihn ein­fach.

Aber nun war die­ser Tod von Ot­to­chen ge­kom­men, und mit Beun­ru­hi­gung spür­te Otto Quan­gel, dass von jetzt an al­les an­ders wer­den wür­de. Er sieht das kran­ke, gelb­lich wei­ße Ge­sicht An­nas vor sich, wie­der hört er ihre An­kla­ge, er ist jetzt zu ei­ner ganz un­ge­wohn­ten Stun­de un­ter­wegs, die­sen Schwät­zer Bark­hau­sen an der Sei­te, heu­te Abend ist die Tru­del bei ih­nen, es wird Trä­nen ge­ben, end­lo­ses Ge­re­de – und er, Otto Quan­gel, liebt doch so sehr das Gleich­maß des Le­bens, den im­mer glei­chen Ar­beits­tag, der mög­lichst gar kein be­son­de­res Er­eig­nis bringt. Schon der Sonn­tag ist ihm fast eine Stö­rung. Und nun soll al­les eine Wei­le durch­ein­an­der­ge­hen, und wahr­schein­lich wird die Anna nie wie­der die, die sie einst war. Das war zu tief aus ihr ge­kom­men, die­ses ›Du und dein Hit­ler‹. Das hat­te wie Hass ge­klun­gen.

Er muss sich das al­les noch ein­mal ganz ge­nau über­le­gen, nur der Bark­hau­sen lässt ihn nicht dazu kom­men. Jetzt sagt die­ser Mann doch plötz­lich: »Sie sol­len ja auch einen Feld­post­brief be­kom­men ha­ben, und er soll nicht von Ihrem Otto ge­schrie­ben wor­den sein?«

Quan­gel rich­tet den Blick sei­ner schar­fen, dunklen Au­gen auf den an­de­ren und mur­melt: »Schwät­zer!« Weil er aber mit nie­man­dem Streit be­kom­men will, selbst nicht mit solch ei­nem Gar­nichts wie dem Rum­ste­her Bark­hau­sen, setzt er halb wi­der­wil­lig hin­zu: »Die Leu­te schwat­zen alle viel zu viel!«

Der Emil Bark­hau­sen ist nicht be­lei­digt, den Bark­hau­sen kann man so leicht nicht be­lei­di­gen, er stimmt eif­rig zu: »Sie sa­gen’s, wie’s ist, Quan­gel! Wa­rum kann die Klu­ge, die Brief­schlei­che, nicht das Maul­werk hal­ten? Aber nein, gleich muss sie al­len er­zäh­len: Die Quan­gels ha­ben einen Brief aus dem Fel­de mit Schreib­ma­schi­nen­schrift be­kom­men! Ist doch ge­nug, wenn sie er­zäh­len kann, dass Frank­reich ka­pi­tu­liert hat!« Er macht eine klei­ne Pau­se, und dann fragt er mit ei­ner ganz un­ge­wohn­ten halb­lau­ten, teil­neh­men­den Stim­me: »Ver­wun­det oder ver­misst oder …?«

Er schweigt. Quan­gel aber – nach ei­ner län­ge­ren Pau­se – ant­wor­tet nur in­di­rekt auf die Fra­ge des an­de­ren: »Also Frank­reich hat ka­pi­tu­liert? Na, das hät­ten die gut auch einen Tag frü­her ma­chen kön­nen, dann leb­te mein Otto noch …«

Bark­hau­sen ant­wor­tet un­ge­wöhn­lich leb­haft: »Aber weil so­und­so viel Tau­sen­de den Hel­den­tod ge­stor­ben sind, dar­um hat Frank­reich sich doch so rasch er­ge­ben. Da­rum blei­ben so vie­le Mil­lio­nen nun am Le­ben. Auf so ’n Op­fer muss man stolz sein als Va­ter!«

Quan­gel fragt: »Ihre sind alle noch zu klein, um ins Feld zu ge­hen, Nach­bar?«

Fast ge­kränkt meint Bark­hau­sen: »Das wis­sen Sie doch, Quan­gel! Aber wenn sie alle auf ein­mal stür­ben, durch ’ne Bom­be oder so was, da wäre ich nur stolz drauf. Glau­ben Sie mir das nicht, Quan­gel?«

Aber der Werk­meis­ter be­ant­wor­tet die­se Fra­ge nicht, son­dern denkt: Wenn ich schon kein rech­ter Va­ter bin und den Otto nie so lieb ge­habt habe, wie ich muss­te – dir sind dei­ne Gö­ren ein­fach eine Last. Das glau­be ich, dass du froh wärst, die durch eine Bom­be alle auf ein­mal los­zu­wer­den, un­be­se­hen glau­be ich dir das!

Aber er sagt nichts der­art, und der Bark­hau­sen, der schon des War­tens auf eine Ant­wort über­drüs­sig ge­wor­den ist, hat nun so ge­spro­chen: »Den­ken Sie doch mal nach, Quan­gel, erst das Su­de­ten­land und die Tsche­cho­slo­wa­kei und Ös­ter­reich und nu Po­len und Frank­reich und der hal­be Bal­kan – wir wer­den doch das reichs­te Volk von der Welt! Was zäh­len da ein paar hun­dert­tau­send Tote? Reich wer­den wir alle!«

Un­ge­wohnt rasch ant­wor­tet Quan­gel: »Und was wer­den wir mit dem Reich­tum an­fan­gen? Kann ich ihn es­sen? Schlaf ich bes­ser, wenn ich reich bin? Werd ich als rei­cher Mann nicht mehr in die Fa­brik ge­hen, und was tu ich dann den gan­zen Tag? Nee, Bark­hau­sen, ich will nie reich wer­den und so schon be­stimmt nicht. So ein Reich­tum ist nicht einen To­ten wert!«

Plötz­lich hat ihn Bark­hau­sen beim Arm ge­packt, sei­ne Au­gen fla­ckern, er schüt­telt den Quan­gel, wäh­rend er ei­lig flüs­tert: »Wie kannst du so re­den, Quan­gel? Du weißt doch, dass ich dich für so ’ne Me­cke­rei ins KZ brin­gen kann? Du hast ja un­serm Füh­rer di­rekt ge­gen’s Ge­sicht ge­spro­chen! Wenn ich nun so ei­ner wäre und mel­de­te das …?«

Auch Quan­gel ist er­schro­cken über sei­ne ei­ge­nen Wor­te. Die­se Sa­che mit Otto und Anna muss ihn viel mehr aus dem Glei­se ge­wor­fen ha­ben, als er bis­her ge­dacht hat, sonst hät­te ihn sei­ne an­ge­bo­re­ne, stets wach­sa­me Vor­sicht nicht so ver­las­sen. Aber der an­de­re be­kommt von sei­nem Er­schre­cken nichts zu mer­ken. Quan­gel be­freit sei­nen Arm mit den star­ken Ar­beits­hän­den von dem la­schen Griff des an­de­ren und sagt da­bei lang­sam und gleich­gül­tig: »Was re­gen Sie sich denn so auf, Bark­hau­sen? Was habe ich denn ge­sagt, das Sie mel­den kön­nen? Gar nichts habe ich ge­sagt. Ich bin trau­rig, weil mein Sohn Otto ge­fal­len ist und weil mei­ne Frau nun vie­len Kum­mer hat. Das kön­nen Sie mel­den, wenn Sie’s wol­len, und wenn Sie’s wol­len, dann tun Sie’s! Ich geh gleich mit und un­ter­schrei­be, dass ich das ge­sagt hab!«

Wäh­rend Quan­gel aber so un­ge­wohnt wort­reich da­her­re­det, denkt er in­ner­lich: Ich will ’nen Be­sen fres­sen, wenn die­ser Bark­hau­sen nicht ein Spit­zel ist! Wie­der ei­ner, vor dem man sich in Acht neh­men muss! Vor wem muss man sich ei­gent­lich nicht in Acht neh­men? Wie’s mit der Anna wer­den wird, weiß ich auch nicht …

Un­ter­des sind sie aber am Fa­brik­tor an­ge­kom­men. Wie­der streckt Quan­gel dem Bark­hau­sen nicht die Hand hin. Er sagt ein­fach: »Na denn!«, und will hin­ein­ge­hen.

Aber Bark­hau­sen hält ihn an der Jop­pe fest und flüs­tert eif­rig: »Nach­bar, was ge­we­sen ist, dar­über wol­len wir nicht mehr spre­chen. Ich bin kein Spit­zel und will kei­nen ins Un­glück brin­gen. Aber nun tu mir auch einen Ge­fal­len: Ich muss der Frau ein biss­chen Geld für Le­bens­mit­tel ge­ben und habe kei­nen Pfen­nig in der Ta­sche. Die Kin­der ha­ben heut noch nischt ge­ges­sen. Leih mir zehn Mark – am nächs­ten Frei­tag be­kommst du sie be­stimmt wie­der – hei­lig wahr!«

Der Quan­gel macht sich wie­der wie vor­hin von dem Griff des an­de­ren frei. Er denkt: Also so ei­ner bist du, so ver­dienst du dein Geld! Und: Ich wer­de ihm nicht eine Mark ge­ben, sonst denkt er, ich habe Angst vor ihm, und lässt mich nie wie­der aus der Zan­ge. Laut sagt er: »Ich brin­ge nur drei­ßig Mark die Wo­che nach Haus, und ich brau­che jede Mark da­von al­lei­ne. Ich kann dir kein Geld ge­ben.«

Da­mit geht er ohne ein wei­te­res Wort oder einen Blick in den Tor­hof der Fa­brik hin­ein. Der Pfört­ner dort kennt ihn und lässt ihn ohne wei­te­re Fra­gen durch.

Der Bark­hau­sen aber steht auf der Stra­ße, starrt ihm nach und über­legt, was er nun tun soll. Am liebs­ten gin­ge er zur Ge­sta­po und mach­te Mel­dung ge­gen den Quan­gel, ein paar Zi­ga­ret­ten fie­len da­bei schon ab. Aber bes­ser, er tut’s nicht. Er ist heu­te früh zu vor­schnell ge­we­sen, er hät­te den Quan­gel sich frei aus­quat­schen las­sen sol­len; nach dem Tode des Soh­nes war der Mann in der Ver­fas­sung dazu.

Aber er hat den Quan­gel falsch ein­ge­schätzt, der lässt sich nicht bluf­fen. Die meis­ten Men­schen ha­ben heu­te Angst, ei­gent­lich alle, weil sie alle ir­gend­wo ir­gend­was Ver­bo­te­nes tun und im­mer fürch­ten, je­mand weiß da­von. Man muss sie nur im rich­ti­gen Au­gen­blick über­rum­peln, dann hat man sie, und sie zah­len. Aber der Quan­gel ist nicht so, ein Mann mit so ’nem schar­fen Raub­vo­gel­ge­sicht. Der hat wahr­schein­lich vor nichts Angst, und über­rum­peln lässt der sich schon gar nicht. Nein, er wird den Mann auf­ge­ben, viel­leicht lässt sich in den nächs­ten Ta­gen mit der Frau was ma­chen, ’ne Frau schmeißt der Tod vom ein­zi­gen Jun­gen noch ganz an­ders um! Dann fan­gen so ’ne Wei­ber an zu plap­pern.

Also die Frau in den nächs­ten Ta­gen, und was macht er jetzt? Er muss wirk­lich der Otti Geld ge­ben, er hat heu­te früh heim­lich das letz­te Brot aus dem Kü­chen­spind weg­ge­ges­sen. Aber er hat kein Geld, und wo­her kriegt er auf die Schnel­le was? Sei­ne Frau ist ’ne Xan­thip­pe und im­stan­de, ihm das Le­ben zur Höl­le zu ma­chen. Frü­her war sie Hure auf der Schön­hau­ser Al­lee und konn­te manch­mal rich­tig nett und lieb sein. Jetzt hat er fünf Bla­gen von ihr, das heißt, die meis­ten sind wohl kaum von ihm, und sie kann schimp­fen wie ’n Fisch­weib in der Markt­hal­le. Schla­gen tut das Aas auch, zwi­schen die Kin­der, und wenn’s ihn trifft, so gibt es eben ’ne klei­ne Klop­pe­rei, bei der sie im­mer das meis­te be­zieht, aber das macht sie nicht klug.

Nein, er kann nicht ohne Geld zur Otti kom­men. Plötz­lich fällt ihm die alte Ro­sen­thal ein, die da jetzt ganz al­lein, ohne al­len Schutz im vier­ten Stock Ja­blons­ki­stra­ße 55 wohnt. Dass ihm die olle Jü­din nicht eher ein­ge­fal­len ist, die ist doch ein loh­nen­de­res Ge­schäft als der alte Gei­er, der Quan­gel! Sie ist ’ne gut­mü­ti­ge Frau, er weiß es noch von frü­her, als sie noch ihr Wä­sche­ge­schäft hat­ten, und zu­erst wird er es auch auf die sanf­te Tour ver­su­chen. Will sie aber nicht, so gibt er ihr ein­fach einen vor den Deez! Ir­gend­was wird er schon fin­den, ein Schmuck­stück oder Geld oder was zu es­sen, ir­gend­ei­ne Sa­che, durch die Otti be­sänf­tigt wird.

Wäh­rend Bark­hau­sen so über­legt und sich im­mer wie­der aus­malt, was er wohl fin­den wird – denn die Ju­den ha­ben noch al­les, sie ver­ste­cken’s bloß vor den Deut­schen, de­nen sie’s ge­stoh­len ha­ben –, wäh­rend sol­cher Ge­dan­ken geht Bark­hau­sen im­mer schnel­ler in die Ja­blons­ki­stra­ße zu­rück. Als er un­ten im Trep­pen­haus an­ge­kom­men ist, lauscht er lan­ge hin­auf. Er möch­te doch nicht ger­ne, dass ihn je­mand hier im Vor­der­haus sähe, er selbst wohnt im Hin­ter­haus, was sich Gar­ten­haus schimpft, im Sou­ter­rain, hat also zu gut deutsch eine Kel­ler­woh­nung. Ihn selbst stört das nicht, nur we­gen der Leu­te ist es ihm manch­mal pein­lich.

Es rührt sich nichts im Trep­pen­haus, und Bark­hau­sen fängt an, ei­lig, aber lei­se die Stu­fen hoch­zu­stei­gen. Aus der Woh­nung der Per­sickes schallt wüs­ter Lärm, Ge­joh­le und Ge­läch­ter, die fei­ern schon mal wie­der. An so ’ne wie die Per­sickes müss­te er mal An­schluss be­kom­men, die ha­ben die rich­ti­gen Ver­bin­dun­gen, dann gin­ge es auch mit ihm vor­an. Aber sol­che se­hen einen Ge­le­gen­heits­s­pit­zel, wie er ist, na­tür­lich gar nicht an; be­son­ders die Jun­gen in der SS und der Bal­dur sind un­glaub­lich hoch­nä­sig. Der Alte ist schon bes­ser, schenkt ihm manch­mal fünf Mark, wenn er an­ge­sof­fen ist …

In der Woh­nung der Quan­gels ist al­les still, und eine Trep­pe hö­her bei der Ro­sen­thal hört er auch kei­nen Laut, so lan­ge er auch das Ohr ge­gen die Tür legt. So klin­gelt er rasch und ge­schäfts­mä­ßig, wie es etwa der Brief­bo­te täte, der es ei­lig hat, wei­ter­zu­kom­men.

Aber nichts rührt sich, und nach ein, zwei Mi­nu­ten War­ten ent­schließt sich Bark­hau­sen zu ei­nem zwei­ten und spä­ter zu ei­nem drit­ten Klin­geln. Da­zwi­schen lauscht er, hört nichts, flüs­tert aber doch durch das Schlüs­sel­loch: »Frau Ro­sen­thal, ma­chen Sie doch auf! Ich bring Ih­nen Nach­richt von Ihrem Mann! Schnell, ehe mich ei­ner sieht! Frau Ro­sen­thal, ich hör Sie doch, ma­chen Sie schon auf!«

Da­zwi­schen klin­gelt er im­mer wie­der, aber al­les ganz er­folg­los. Schließ­lich packt ihn die Wut. Er kann doch nicht auch hier wie­der ganz er­folg­los ab­zie­hen, mit der Otti gibt es einen Hei­den­stunk. Die olle Jüd­sche soll raus­ge­ben, was sie ihm ge­stoh­len hat! Er klin­gelt ra­send, und da­zwi­schen schreit er am Schlüs­sel­loch: »Mach uff, du olle Ju­densau, oder ich la­ckier dir die Fres­se, dass du nich mehr aus den Au­gen kie­ken kannst! Ich bring dich heu­te noch ins KZ, wenn du nicht auf­machst, ver­damm­te Jüd­sche!«

Wenn er jetzt bloß Ben­zin bei sich hät­te, er steck­te dem Aas auf der Stel­le die Türe an!

Aber plötz­lich wird Bark­hau­sen ganz still. Er hat tiefer un­ten eine Woh­nungs­tür ge­hen ge­hört, er drückt sich eng an die Wand. Kei­ner darf ihn hier se­hen. Na­tür­lich wol­len die auf die Stra­ße, er muss jetzt bloß stil­le sein.

Doch der Schritt geht trepp­auf, un­auf­halt­sam, wenn auch lang­sam und stol­pernd. Es ist na­tür­lich ei­ner von den Per­sickes, und ein be­sof­fe­ner Per­si­cke, das ist gra­de, was dem Bark­hau­sen jetzt ge­fehlt hat. Na­tür­lich will der auf den Bo­den, aber der Bo­den ist durch eine ver­schlos­se­ne Ei­sen­tür ge­si­chert, da gib­t’s kein Ver­steck. Nun ist nur noch die ein­zi­ge Hoff­nung, dass der Be­trun­ke­ne, ohne ihn zu mer­ken, an ihm vor­über­geht; wenn’s der alte Per­si­cke ist, kann’s pas­sie­ren.

Aber es ist nicht der alte Per­si­cke, es ist der ekel­haf­te Ben­gel, der Bal­dur, der Schlimms­te von der gan­zen Ban­de! Ewig läuft er in sei­ner HJ-Füh­rer-Uni­form2 her­um und er­war­tet, dass man ihn zu­erst grüßt, ob­wohl er doch ein rei­ner Gar­nichts ist. Lang­sam kommt der Bal­dur die letz­ten Trep­pen­stu­fen hoch, er hält sich fest am Trep­pen­ge­län­der, so an­ge­trun­ken wie er ist. Er hat na­tür­lich trotz sei­ner gla­si­gen Au­gen den Bark­hau­sen da an der Wand längst ge­se­hen, er spricht ihn aber erst an, als er di­rekt vor ihm steht: »Was schnüf­felst du denn hier vor­ne im Hau­se her­um? Ich will das nicht ha­ben, mach, dass du in den Kel­ler zu dei­ner Nut­te kommst! Marsch, hau ab!«

Und er hebt den Fuß mit dem ge­na­gel­ten Schuh, setzt ihn aber gleich wie­der hin: zum Fuß­tritt­ge­ben steht er zu wack­lig auf den Fü­ßen.

Ei­nem Ton wie dem eben ist der Bark­hau­sen ein­fach nicht ge­wach­sen. Wenn er so an­ge­schnauzt wird, kriecht er ganz in sich zu­sam­men, hat bloß Angst. Er flüs­tert de­mü­tig: »Ent­schul­di­gen Sie bloß, Herr Per­si­cke! Woll­te mir nur mal ’nen klei­nen Spaß mit der ol­len Jüd­schen ma­chen!«

Der Bal­dur legt vor an­ge­streng­tem Nach­den­ken die Stir­ne in Fal­ten. Nach ei­ner Wei­le sagt er: »Klau­en wollts­te, du Aas, das ist dein Spaß mit der ol­len Jüd­schen. Na, geh vor­an!«

So grob die Wor­te auch wa­ren, so klan­gen sie doch zwei­fels­frei wohl­wol­len­der; für so was hat­te Bark­hau­sen ein fei­nes Ohr. So sagt er denn mit ei­nem für den Witz um Ent­schul­di­gung bit­ten­den Lä­­­­­­­­