Ich Liebe Sie, Mylord

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2016

Copyright Cartland Promotions 1985

 

Gestaltung M-Y Books

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Ich Liebe Sie, Mylord
~
1799

„Was Sie da machen, ist lebensgefährlich“, sagte jemand mit tiefer Stimme.

Das Mädchen, das auf der Balustrade der Brücke stand und sich an einer steinernen Säule festhielt, schrie leise auf. Unter der Brücke, auf einem Gartenweg, stand ein Gentleman. Selbst beim Licht der Sterne konnte sie sehen, daß er sehr elegant gekleidet war. Sein gerüschtes Hemd leuchtete hell vor dem dunklen Hintergrund der Büsche. Sie sah ihn nur einen Augenblick an und schaute dann wieder in das schwarze Wasser.

„Bitte gehen Sie fort“, sagte sie, „und kümmern Sie sich nicht um mich.“

„Wissen Sie“, bemerkte der Gentleman sehr ruhig, „dieser neue Rock, den ich erst heute von meinem Schneider erhalten habe, verträgt kein Wasser, und die Themse hat hier eine starke Strömung.“

„Ich weiß“, sagte das Mädchen leise.

Als der Gentleman sich noch immer nicht entfernte, fuhr sie, mit leichtem Trotz in der Stimme, fort: „Was ich hier tue, geht Sie überhaupt nichts an!“

„Bedauerlicherweise bin ich der geborene Samariter. In derartigen Fällen kümmere ich mich immer um anderer Leute Angelegenheiten.“

Schweigen.

 Das Mädchen stand noch immer auf der Balustrade und schwankte leicht. Dann sagte sie, fast unhörbar: „Ich sehe keinen anderen Ausweg.“

 „Sind Sie sich dessen ganz sicher?“ fragte er, „oder sollten wir uns darüber nicht noch einmal unterhalten?“

„Sie können mir nicht helfen.“

„Darauf möchte ich gern eine kleine Wette eingehen“, meinte er, und in seiner Stimme schien ein leichtes Lachen mitzuklingen.

„Gehen Sie doch weg“, forderte sie ihn fast unhöflich auf, „gehen Sie zurück zum Ball. Sie brauchen sich Ihre schöne Jacke nicht naß zu machen!“

„Das werde ich auch tun, aber erst, nachdem ich mich mit Ihnen unterhalten habe. Wenn Sie mich von der Richtigkeit Ihres Vorhabens überzeugen können, werde ich Sie höchstpersönlich wieder auf das Brückengeländer heben.“

Während er sprach, streckte er ihr seine Hand entgegen. Instinktiv ergriff das Mädchen sie. Ihre Finger waren eiskalt. Mit ihrer Hand in der seinen sprang sie auf den Boden. Sie war nicht sehr groß. Ihr Haar war sanft gewellt, ihr Gesicht herzförmig. Die angstvoll in die Welt blickenden Augen schienen für das kleine Gesicht fast zu groß. Sie blickte zu ihm auf.

„Bitte - lassen Sie mich gehen“, sagte sie.

Er hielt noch immer ihre Hand und sagte: „Erst wenn Sie mir erzählt haben, um was es sich handelt.“

Der Gentleman war sehr groß, schlank und breitschultrig und strahlte Entschlossenheit aus. Sie wußte, daß es sinnlos gewesen wäre, zu versuchen, ihm jetzt noch zu entkommen. Jetzt, da er sie von dem abgehalten hatte, was sie zu tun beabsichtigte, fühlte sie sich seltsam schwach. Die Musik, die aus der Ferne herüberklang, hörte sich plötzlich lauter an. Sie blickte an ihm vorbei.

„Man wird mich vielleicht suchen.“

„Dann gestatten Sie mir, daß ich Sie an einen Ort bringe, wo man Sie nicht finden wird.“

Er gab ihre Hand frei und nahm sie beim Arm. Langsam führte er sie durch die Büsche und Sträucher zu einer kleinen, von Fliederbüschen umgebenen Gartenlaube am anderen Ende des Parks. Eine einzige Kerze in einem Lampion erhellte sie mit sanftem Licht. Auf den Sitzbänken lagen weiche Kissen. Sie setzte sich zögernd, und er nahm den Platz neben ihr ein. Der Kerzenschein fiel direkt auf sein Gesicht.

Fast unfreiwillig sagte sie: „Oh - Sie sind der berühmte Stutzer!“

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen sagte er: „Es ehrt mich, daß ich Ihnen unter diesem Namen bekannt bin.“

„Vergeben Sie mir - ich hätte das nicht sagen sollen! Aber ich sah Sie kürzlich, als sie einen Wagen mit zwei herrlichen Braunen fuhren, und ich fragte, wer Sie seien.“

Sie erinnerte sich an die verächtliche Antwort ihrer Mutter.

„Das ist Lord Dorrington. Ein fauler Tunichtgut, ein Stutzer! Ein eingefleischter Junggeselle, der an nichts als an seine Kleidung und seine Pferde denkt.“

Sie konnte sehr wohl erkennen, daß er seine Pferde mit großem Geschick lenkte, und hätte zu gern gewußt, warum ihre Mutter ihm gegenüber so feindlich eingestellt war.

„Wie heißen Sie?“ fragte er.

„Alyna“, erwiderte sie, „meine Mutter ist Lady Maude Camberley.“

„Ich kenne die Dame“, sagte Lord Dorrington kurz.

Er erinnerte sich an eine Frau mit spitzer Stimme und stark geschminktem Gesicht, der er am Spieltisch eine erhebliche Summe abgewonnen hatte, und konnte sich diese Frau kaum als Mutter dieses hübschen Geschöpfs vorstellen.

Das Mädchen neben ihm war sehr jung. Ihre noch immer etwas bebenden Lippen waren weich und sinnlich. Um das zu versuchen, wovon er sie im letzten Augenblick hatte abhalten können, mußte sie sehr verzweifelt gewesen sein. Er konnte diese Verzweiflung noch in ihren tränenfeuchten Augen sehen.

Ihr teures, aber geschmackloses, weißes Ballkleid paßte gar nicht zu ihr. Sie sah vollkommen hilflos aus. Als Lord Dorrington wieder zu ihr sprach, lag in seiner Stimme, die sonst oft so spöttisch klang, große Wärme.

„Wie wäre es, wenn Sie mir jetzt ausführlich erzählen würden, warum Sie so unglücklich sind, daß Sie Ihr Leben wegwerfen wollten?“

„Wozu? Sie können mir doch nicht helfen. Wenn ich jetzt in den Ballsaal zurückgehe, wird meine Mutter meine Verlobung öffentlich bekanntgeben.“

„Ich darf also annehmen, daß Sie den Herrn nicht heiraten wollen?“

„Lieber würde ich sterben. Nur Sie haben mich davon abgehalten!“

„Aber Sie haben doch gezögert...“

„Das Wasser sah so dunkel, so kalt aus.“

„Um welchen Herrn handelt es sich, wenn ich fragen darf?“

„Um Prinz Ahmadi von Kahriz.“

Ihre Stimme klang verächtlich.

„Prinz Ahmadi!“ rief Lord Dorrington aus. „Von dem habe ich gehört.“

„Er ist in London sehr bekannt und überall gern gesehen. Die Leute meinen, er sei sehr charmant und sehr reich.“

„Ist Ihnen Geld so wichtig?“

„Mir nicht - aber Mama.“

Lord Dorrington erinnerte sich gehört zu haben, daß Lady Maude Camberley sich oft und gern größere Geldsummen auslieh.

„Mama wünscht, daß ich einen wohlhabenden Mann heirate. Das hat sie mir gesagt, bevor ich in das Internat zurückkehrte.“

„In das Internat? Wie alt sind Sie dann?“

„Ich bin siebzehn“, antwortete Alyna, „aber als Mama und ich während der letzten Ferien zu Bällen und Gartenfesten gingen, meinte Mama, ich sei noch nicht reif genug, und so durfte ich für ein weiteres Semester in das Internat für höhere Töchter zurückkehren. Dort kann ich wenigstens etwas lernen. Bälle und Partys langweilen mich. Schon als Papa noch lebte, gab es nichts Schöneres für mich, als mit ihm gemeinsam Bücher zu lesen, zu studieren. Und jetzt will Mama, daß ich den Prinzen heirate.“

Bei diesen Worten füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen.

 Erregt fuhr sie fort: „Ich kann ihn einfach nicht heiraten! Er hat etwas - etwas Abstoßendes an sich. Sicher zieht er mich im Geist aus, wenn er mich ansieht. Sollte er versuchen, mich zu küssen, würde ich schreien.“

„Weiß Ihre Mutter das?“

„Natürlich. Aber sie sagt, ich sollte froh sein, daß ein so reicher Mann wie der Prinz mich zur Frau nehmen will. Sie sagt, er wird mir kostbare Juwelen schenken.“

„Die meisten Frauen wären dafür dankbar“, sagte Lord Dorrington, aber sie sprach weiter, als habe er nichts gesagt.

„Außerdem - in seinem Lande würde man mich wahrscheinlich gar nicht als seine Frau betrachten. Papa hat mir das einmal erzählt. Kahriz grenzt an Persien und Afghanistan. Ein kleiner Staat, aber reich an Mineralien. Die Religion dieses Landes erlaubt jedem Mann, vier Frauen zu haben.“

„Wird der Prinz seinen Vater beerben?“ fragte Lord Dorrington.

„Er ist gar nicht legitimer Herkunft“, sagte Alyna verächtlich, „wenn der Herrscher von Kahriz keinen direkten männlichen Erben hat, kann er den Sohn einer seiner Konkubinen zum Thronfolger bestimmen.“

„Und die Tatsache, daß er nicht königlichen Bluts ist, stört Sie so sehr?“

„Nein, das ist es nicht. Ich kann ihn ganz einfach nicht ausstehen. Ich habe viel über die schrecklichen Sitten und Gebräuche in Kahriz gelesen. Wenn ein Mann eine Frau loswerden will, sagt er nur dreimal: Ich verstoße dich! Und schon ist die Ehe geschieden.

Aber als ich das Mama sagte, meinte sie, das sei alles Unsinn. Der Prinz werde mich nach unserem Gesetz heiraten, und wir würden die meiste Zeit in Europa verbringen. Aber das glaube ich einfach nicht.“

„Wenn Sie einen derartigen Widerwillen gegen den Prinzen haben, dann müssen Sie sich einfach weigern, ihn zu heiraten. Man kann Sie nicht mit Gewalt zum Altar schleppen.“

„Mama ist fest entschlossen. Ich glaube, er hat versprochen, ihr finanziell zu helfen.“

Lord Dorrington hielt das für sehr wahrscheinlich, aber er sagte nur: „Sie selbst haben das letzte Wort, Alyna.“

„Als ich heute mit Mama sprach und sie mir mitteilte, die Verlobung würde heute abend auf dem Ball bekanntgegeben werden, weigerte ich mich. Sie erklärte mir, daß sie mein gesetzlicher Vormund sei, und daß das Gesetz ihr das Recht gebe, eine Heirat für mich zu arrangieren.“

Lord Dorrington wußte, daß Lady Maude das Gesetz wirklich auf ihrer Seite hatte.

„Wie spät ist es?“ fragte Alyna.

„Fast Mitternacht, Alyna.“

„Bald wird man mich suchen. Die Verlobung soll um Mitternacht verkündet werden. Bitte lassen Sie mich jetzt gehen. Und morgen wird man es in der Zeitung lesen: Die Leiche eines jungen Mädchens wurde am 3. Mai 1799 aus der Themse geborgen ...“

Lord Dorrington erhob sich.

„Sind Sie wirklich so kleinmütig, Alyna? Wenn ich mich nicht irre, war einer Ihrer Onkels ein General.”

„Ja, er befehligte die Grenadiergarde. Im gleichen Regiment war ebenfalls mein Vater Offizier.“

„Und seine Tochter läuft vor ihrer ersten Schlacht feige davon“, sagte Lord Dorrington mit schneidender Stimme.

„Aber ich kann diesen Mann einfach nicht heiraten. Er kommt mir manchmal wie - wie eine Kobra vor!“

Lord Dorrington dachte kurz nach.

 Dann sagte er ganz ruhig: „Ich werde Ihnen helfen, diesem Mann, dieser Heirat, zu entkommen. Ich werde Sie in meinem Wagen wegbringen. Sollte man uns sehen, wären Sie natürlich kompromittiert - aber dieses Risiko müssen wir auf uns nehmen.“

„Er darf nicht sehen, daß ich fortgehe!“ rief Alyna. „Er hat großen Einfluß auf Mama.“

„Das ist mir völlig klar. Ich schlage folgendes vor: Gehen Sie durch den Park, am Ufer der Themse entlang, bis Sie zur Hauptstraße kommen. Inzwischen kehre ich ins Haus zurück und verabschiede mich von der Gastgeberin, Lady Glossop. Ich werde mich für den netten Abend bedanken. Warten Sie im Schatten der Buchsbaumhecke auf mich - ich lasse dort den Wagen anhalten, dicht bei der Brücke. Bleiben Sie in Ihrem Versteck, bis Sie mich aus dem Wagen steigen sehen. Kann ich Ihnen vertrauen?“

„Ja, ich verspreche Ihnen, mutig zu sein. Sie sind sehr gütig, Lord Dorrington. Warum tun Sie das alles für mich?“

„Ich glaube, diese Frage werde ich mir selbst noch vor dem Morgengrauen stellen“, sagte er mit einem leichten Lächeln. „Und jetzt tun Sie, was ich gesagt habe, Alyna.“

Ohne weitere Worte entfernte sie sich und verschwand im Dunkel des Parks.

Lord Dorrington ging in die entgegengesetzte Richtung. Durch eine Glastür betrat er den Ballsaal, schritt langsam zwischen den juwelengeschmückten Damen und eleganten Herren hindurch. Hunderte von Kerzen in riesigen Kronleuchtern warfen ihr Licht über die vornehme Gesellschaft, die sich auf dem spiegelglatten Parkett im Tanz drehte. Die Herren trugen Orden und Ehrenzeichen, an manch einem seidenbestrumpften Bein sah man den Hosenbandorden. Die jüngeren Männer folgten dem Beispiel von Beau Brummel und dem Prinzen von Wales. Im Jahre 1799 wurden Perücken nur noch von Lakaien getragen.

Lord Dorrington fand Lady Glossop in einem Vorzimmer des Ballsaals in Gesellschaft von Lady Maude Camberley. Bei den beiden Damen stand ein dunkelhäutiger, übertrieben elegant gekleideter Fremder, von dem Lord Dorrington annahm, daß es der Prinz war.

„Mein lieber Lord Dorrington“, rief Lady Glossop überschwenglich und hielt ihm ihre Hand entgegen, „verlassen Sie uns schon?“

„Nur mit dem größten Bedauern. Ich bin mit Seiner Königlichen Hoheit in Carlton House verabredet.“

„Wirklich schade. In wenigen Minuten soll hier eine kleine Zeremonie stattfinden.“ Sie wandte sich Lady Maude zu. „Kennst du Lord Dorrington, meine Liebe?“

„Ich hatte das Vergnügen“, erwiderte Lady Maude Camberley kühl.

„Darf ich Ihnen auch Prinz Ahmadi vorstellen? Hoheit, das ist Lord Dorrington - ohne Zweifel der bestgekleidete Mann in London."

„Ich habe von Seiner Lordschaft gehört“, sagte der Prinz.

„Ich fühle mich geschmeichelt“, sagte Lord Dorrington, aber der Ton seiner Stimme deutete auf das Gegenteil hin. Während er den Prinzen betrachtete, konnte er Alynas Abscheu vor ihm nur zu gut verstehen.

Der Prinz sah gut aus, aber sein Blick wirkte irgendwie verschlagen. Schon jetzt sah man, daß er bald korpulent sein würde. Seine Manieren waren die eines Mannes, der eine westliche Erziehung genossen hatte. Um seinen breiten sinnlichen Mund lag ein Zug von Grausamkeit.

„Nochmals meinen besten Dank“, sagte Lord Dorrington zu Lady Glossop und zog sich zurück.

„Ich habe etwas gegen diesen Mann“, bemerkte Lady Maude, sobald er außer Hörweite war.

„Warum denken Sie überhaupt über diesen Menschen nach?“ fragte der Prinz.

„Wie so viele junge Engländer ist er doch nichts anderes als eine Modepuppe.“

„Also, ich finde ihn äußerst sympathisch!“ meinte Lady Glossop. „Ich kenne Ulric Dorrington seit vielen Jahren. Trotz seiner Schwäche für modische Kleidung halte ich ihn für einen sehr fähigen jungen Mann.“

Ihre beiden Gäste hörten ihr nicht zu.

„Wo ist eigentlich Alyna?“ fragte Lady Maude. „Ich habe ihr doch eingeschärft, nach jedem Tanz zu mir zurückzukommen.“

„Wahrscheinlich ist sie mit ihrem letzten Tanzpartner für einige Minuten in den Park gegangen. Es ist sehr warm.“

„Ich habe ihr verboten, in den Park zu gehen!“ sagte Alynas Mutter.

„Von jetzt an wird es mein Privileg sein, Ihre Tochter zu betreuen“, sagte der Prinz mit schmeichelnder Stimme, „in meiner Gesellschaft wird Alyna keinen derartigen Faux-pas begehen.“

Lady Maude strahlte ihn an.

 „Nein, Hoheit, dessen bin ich sicher. Das arme Kind braucht einen starken Arm, der sie beschützt. Es war schwierig für uns, seit mein Gatte starb.“

Aber der Prinz hörte ihr schon nicht mehr zu. Seine Blicke schweiften durch den Saal.

Von Alyna war nichts zu sehen.

Lord Dorringtons elegante Equipage, von zwei edlen Pferden gezogen, hielt kurz vor der Brücke an. Ein Diener sprang vom Bock, aber noch bevor er den Schlag öffnen konnte, kam aus dem Schatten der Hecke eine kleine, weiße Gestalt.

„Ich bin ja so froh, daß Sie gekommen sind“, sagte sie atemlos und stieg zu Lord Dorrington in das Innere des Wagens.

„Auch ich freue mich, daß Sie Ihr Versprechen gehalten haben. Wo wohnen Sie?“

„36 Hertford Street“, erwiderte Alyna.

Es war nicht weit von Chelsea zur Hertford Street, wo Lady Maude ein kleines, unbequemes Haus für die Saison gemietet hatte.

„Haben Sie Mama gesehen?“ fragte Alyna.

„Sie wartete mit Lady Glossop auf Sie. Der Prinz war auch dabei.“

„Sie haben ihn also kennengelernt. Können Sie jetzt verstehen, warum ich ...?“

„Ich glaube schon. Aber eines Tages werden Sie heiraten müssen, Alyna. Wenn nicht den Prinzen, dann einen anderen Mann.“

„Ich werde niemals heiraten! Ich hasse Männer! Verstehen Sie, ich hasse alle Männer!“

„Ich muß wohl annehmen, daß Sie große Erfahrung im Umgang mit Männern haben“, sagte Lord Dorrington, und wieder lag leichter Spott in seiner Stimme.

„Sie denken gewiß, ich bin eine dumme Gans. Aber ich habe eine Anzahl von jungen Männern kennengelernt, als ich in Bath war. Einer von ihnen hielt sogar um meine Hand an. Aber weil er kein Geld hatte, sagte Mama, er käme für mich nicht in Frage. Dafür war ich ihr dankbar.“

„Sie hatten in Ihrem jungen Leben mit Männern bedauerliches Pech.“

„Und wissen Sie warum? Weil ich zu klug bin! Das hat Papa gesagt. Ich bin nun eben keine Modepuppe. Aber die Männer, die man mir bisher vorgestellt hat, hatten nichts anderes im Sinn als ihre Kleidung. Es waren alles Narren ... Ich könnte nie mit einem Narren glücklich sein.“

„Warum sind Ihnen bislang nur Narren über den Weg gelaufen?“

„Andere Männer kennenzulernen - dazu werde ich nie die Gelegenheit haben. Kein intelligenter Mann würde damit zufrieden sein, eine Party nach der anderen zu besuchen und sich mit Mädchen meines Alters über Belanglosigkeiten zu unterhalten.“

„Je länger ich Sie kenne, um so mehr überraschen Sie mich!“

„Mama ist fest entschlossen, mich so bald wie möglich zu verheiraten. Ich koste sie eine Menge Geld. Außerdem - eine Tochter in meinem Alter verringert ihre eigenen Chancen für eine zweite Ehe.“

„Es freut mich, daß Sie mir gegenüber so offen sprechen. Ich möchte Ihnen wirklich gern über Ihre Schwierigkeiten hinweghelfen.“

„Wenn ich Geld hätte, würde ich, vielleicht mit meiner alten Gouvernante oder mit Martha, ganz allein irgendwo wohnen und nur viele Bücher lesen.“

 „Ganz allein?“ fragte Lord Dorrington.

„Ja. Ganz allein. Ich würde viel lernen, über andere Völker, über ihre Sprachen, ihre Gebräuche ... Papa wollte mir Italien zeigen.“ Sie seufzte. „Nun werde ich wohl nie Rom sehen...“

„Ein Ehemann würde Ihnen wahrscheinlich gern Rom zeigen“, meinte Lord Dorrington.

„Dann müßte ich einen zu hohen Preis dafür zahlen. Womöglich an einen Ehemann wie den jungen Mann, mit dem ich heute abend tanzte. Er glaubt, Magna Charta sei ein Pferd im Derby!“ Alyna schwieg einen Augenblick. „Es ist schon schwer, die arme, wenig attraktive Tochter von Lady Maude Camberley zu sein“, setzte sie dann leise hinzu.

„Wenig attraktiv?“ fragte der Mann neben ihr, „das glaube ich kaum.“

„Doch. Mama sagt immer, mein einziger Vorzug sei, daß ich jung bin und daß der Prinz junge, blonde, blauäugige Mädchen gernhabe.“

Ihre Stimme klang bitter.

„Sie sind eine sehr seltsame kleine Person, Alyna. Und Sie sind ganz gewiß nicht - unattraktiv“, sagte Lord Dorrington langsam.

„Glauben Sie, ich könnte jemals mit den - den Schönen bei Hof konkurrieren, Mylord?“

„Jeder Mann hat seinen eigenen Begriff von Schönheit, Alyna. Was die Heirat mit dem Prinzen betrifft - das ist ein Kampf, den nur Sie ausfechten können. Ich werde versuchen, Ihnen dabei zu helfen. Aber zuerst müssen Sie mir ein heiliges Versprechen geben.“

„Ein Versprechen, Lord Dorrington?“

„Ich will, daß Sie beim Andenken an Ihren Vater schwören, daß Sie nicht versuchen werden, Ihrem Leben ein Ende zu setzen - es sei denn, ich hätte Ihnen dazu die Erlaubnis erteilt.“

Schweigen herrschte im Wagen.

Dann sagte Alyna: „Und wenn ich Ihnen dieses Versprechen nicht gebe?“

„Dann werde ich dem Kutscher befehlen, umzukehren. Dann werde ich Sie zu Ihrer Mutter fahren.“

Alyna schrie auf.

 „Das können Sie nicht tun!“

„Ganz gewiß werde ich das tun. Geben Sie mir jetzt Ihr Wort?“

In seiner Stimme war etwas Stählernes, und sie wußte, er würde seine Drohung wahrmachen.

„Und ich dachte, Sie seien mein - mein Freund!“

 „Das bin ich auch, mehr als Sie vielleicht glauben. Versprechen Sie es?“

Er nahm ihre zitternde Hand in die seine und sah ihr in die Augen.

„Ich verspreche es.“

„Beim Andenken an Ihren Vater?“

„Beim Andenken an meinen Vater!“

„Ich danke Ihnen, Alyna.“

Er ließ ihre Hand los.

„Ich habe Angst, Mylord.“

„Haben Sie lieber Mut. Wann immer die Nacht am finstersten ist, ist der Morgen am nächsten. Ich habe das Gefühl, als ob die Sonne auch für Sie bald wieder scheinen wird.

 

Nachdem Lord Dorrington Alyna abgesetzt hatte, fuhr er weiter zum Carlton House, der Residenz des Prinzen von Wales.

Alyna war, nachdem ihr der Diener den Schlag geöffnet hatte, ausgestiegen, hatte sich stumm von Lord Dorrington verabschiedet und war die Vordertreppe des Hauses in der Hertford Street hinaufgelaufen. Ein Lakai öffnete ihr die Tür. Bevor sie eintrat, warf sie noch einen Blick auf die Equipage, die gemächlich weiterfuhr.

Lord Dorrington lehnte sich in die Polster des Wagens zurück. In seinem Gesicht lag ein ernster Ausdruck. Er sah weder die hellen Lichter des Klubs in der St. James Road, noch bemerkte er die elegant gekleideten Herren, die versuchten, sich gegenseitig auszustechen, während sie vom White’s Klub zum Brooke’s Klub und von dort zum Watiers Klub überwechselten. Er war noch immer in tiefes Nachdenken versunken, als die Pferde schließlich vor dem Carlton House anhielten. Ohne Eile stieg er aus und schritt durch die große Eingangshalle mit den verschnörkelten Säulen und die breite Treppe hinauf, bis er den Prinzen, der sich in Gesellschaft von vier Herren befand, im Chinesischen Saal fand.

Der Prinz brach seine Unterhaltung ab.

 „Donnerwetter, Dorrington, wo haben Sie denn diesen fabelhaften Rock her?“ fragte er. „Haben Sie einen neuen Schneider entdeckt?“

„Ganz und gar nicht, Sire“, antwortete Lord Dorrington, „ich habe ihn bei Weston machen lassen, nach meinem eigenen Entwurf allerdings.“

„Wenn ich mir das so überlege, ich gebe ein Vermögen für meine Kleidung aus. Aber so gut wie Ihre Sachen paßt bei mir nie etwas!“

Lord Dorrington lächelte unmerklich. Schließlich war es unmöglich, dem Thronfolger des Britischen Empire zu sagen, daß nicht einmal der beste Schneider der Welt für einen Mann, der zweieinhalb Zentner wog, einen tadellos sitzenden und eleganten Anzug anfertigen konnte. Laut sagte er: „Sire, Ihre Erscheinung ist zu jeder Zeit höchst eindrucksvoll.“

Lord Yarmouth wechselte das Thema.

 „Sire, vielleicht können Sie jetzt Lord Dorrington um seine Meinung bitten.“

„Ja, ja, natürlich“, sagte der Prinz, der Dorringtons gutsitzenden Rock schon vergessen zu haben schien.

„Sie haben auf mich gewartet?“ fragte Lord Dorrington.

Er nahm vom Tablett eines Dieners ein Glas Wein und setzte sich, wie es offenbar von ihm erwartet wurde, in einen Lehnstuhl zur Rechten des Prinzen.

Die Männer, die auf vergoldeten, mit gelber chinesischer Seide bezogenen Sesseln um den Prinzen herumsaßen, waren alle enge Freunde des Thronfolgers. Lord Worcester, stets fröhlich und ein guter Spielgefährte, der Herzog von Rutland, ein ernster Mann und großer Pferdekenner, Lord Alvanley, amüsant, mit erstklassiger Bildung, sehr klug und begeisterter Sportfreund. Der vierte Lord Yarmouth, Sohn des Marquis von Hertford, hatte wertvolle Möbel und alte Gemälde zu seinem Hobby erkoren.

„Um was handelt es sich?“ fragte Lord Dorrington und sah sich im Kreis der Freunde um.

Als Antwort hob der Prinz ein kleines, rahmenloses Bild von einem Tisch auf.

 „Sehen Sie sich das einmal an!“ Das Gemälde war offensichtlich sehr alt, seine Farben waren im Lauf der Jahre nachgedunkelt. Lord Dorrington nahm es dem Prinzen aus der Hand und betrachtete es aufmerksam.

„Ich sah das Ding in einem Laden in der Nähe von Piccadilly und kaufte es sofort, denn ich hatte so eine Ahnung, daß unter dem Schmutz etwas von Wert stecken könnte. Was glauben Sie?“