Ein Junggeselle wird Bekehrt

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2017

Copyright Cartland Promotions 1985

 

Gestaltung M-Y Books

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1 ~ 1811

»Nein!« sagte der Marquis von Osminton.

Imogen Harlow stampfte mit dem Fuß auf. Es war ein sehr hübscher Fuß.

Auch ihr Gesicht war schön, doch im Moment war es vor Wut verzerrt.

»Wie kannst du so gefühllos sein ... so selbstsüchtig?« fragte sie.

»So ist mein Ruf«, entgegnete der Marquis lächelnd, »und ich schäme mich dessen nicht.«

»Das solltest du aber!« brauste sie auf. »Du denkst immer nur an dich, nie an jemand anderen!«

»Ich habe vor langer Zeit herausgefunden, daß mein Leben nur dann kompliziert wird«, erwiderte der Marquis bedächtig, »wenn ich an andere Menschen denke. Wenn ich mich dagegen ausschließlich um mich selbst kümmere, läuft alles reibungslos.«

»Nun, im Moment läuft es nicht gerade reibungslos«, sagte Lady Harlow bissig. »Ich sehe nicht ein, warum du den Prinzregenten nicht darum bitten kannst, mich ein einziges Mal zum Dinner einzuladen. Schließlich bist du fast jeden Abend dort.«

»Die kleinen Dinner-Partys des Prinzen sind nur für seine engsten Freunde«, erklärte der Marquis.

»Und wieso sollte ich nicht einer von ihnen werden?« fragte Lady Harlow herausfordernd. »Oder bist du eifersüchtig? Solltest du eifersüchtig sein, Chilton, bin ich beinahe geneigt, dir zu vergeben.«

»Ich bin nicht eifersüchtig, weil ich genau weiß, daß Seine Königliche Hoheit wesentlich ältere Damen bevorzugt. Du bist zu jung, Imogen, damit mußt du dich abfinden. In zehn Jahren mag dich der Regent vielleicht anziehend finden.«

»So alt werde ich in zehn Jahren nun auch wieder nicht sein!« meinte Lady Harlow gekränkt.

Der Marquis lächelte. Er hatte gewußt, daß sie auf diese Provokation eingehen würde. So würde sie zumindest für einen Moment von ihrem Vorhaben abgelenkt sein.

Sie wollte unbedingt ins Carlton House eingeladen werden, wenn sich der Prinz von Wales, der kürzlich ernannte Regent, mit seinen engsten Freunden und den Frauen traf, die er am attraktivsten fand. Derzeit war Lady Hertford, die bereits über fünfzig war, seine Favoritin. Sie hatte Mrs. Fitzwater aus seinem Herzen verdrängt.

Der Marquis war jedoch nicht daran interessiert, Lady Harlow in diesen auserwählten Kreis einzuführen. Obwohl er Imogen im Moment reizend und verführerisch fand, war er sich wohl bewußt, daß diese Liebesaffäre, wie so viele andere, nicht lange dauern würde.

Imogen hatte ihn unbedingt als Liebhaber gewollt, und da ihr Ehemann, Sir George Harlow, die Londoner Gesellschaft und ihre Zerstreuungen verabscheute, war es ihr nicht schwergefallen, sich dem Marquis zu nähern. Währenddessen weilte ihr Mann auf seinem Anwesen in Gloucestershire, wo er Vieh züchtete, das auf jeder örtlichen Viehausstellung Preise gewann.

Imogen Harlow war sich ihrer Schönheit nur zu bewußt, und da ihr Mann sehr großzügig war, war es ihr ein leichtes gewesen, sich in der Londoner Gesellschaft zu etablieren.

Sie wurde ins Devonshire House, ins Bedford House und ins Richmond House eingeladen, wo die großen Gastgeberinnen ihre Gäste unterhielten, aber von der Intimität des Carlton House war sie bis jetzt ausgeschlossen geblieben.

Da sie entschlossen war, ihr Ziel zu erreichen, schlug sie nun einen neuen Kurs ein.

»Ich dachte, du liebst mich, Chilton«, sagte sie mit jener Kleinmädchenstimme, die die meisten Männer unwiderstehlich fanden.

Der Marquis antwortete nicht, und nach einer Weile fuhr sie fort: »Ich weiß, du hast es niemals ausgesprochen, aber du kannst nicht abstreiten, daß ich dich errege und daß wir einige sehr, sehr glückliche Augenblicke miteinander erlebt haben.«

Den Marquis berührten ihre Worte nicht. Er war an Frauen gewöhnt, die eine Bezahlung für das Vergnügen erwarteten, das sie ihm boten. Imogen bildete da keine Ausnahme. Solange es um Juwelen oder andere Geschenke ging, war Osminton äußerst großzügig. Aber diesen Wunsch konnte und wollte er nicht erfüllen.

Zwar kursierten in der Londoner Gesellschaft gewisse Gerüchte über ihn und Lady Harlow, doch beweisen konnte niemand, daß sie eine Affäre miteinander hatten. Und so sollte es auch bleiben.

Also traf er Imogen privat, wann immer er wollte, war jedoch äußerst vorsichtig damit, wie oft und wo sie sich zusammen in der Öffentlichkeit zeigten.

Während sie immer noch auf eine Antwort wartete, trat Lady Harlow auf ihn zu und betrachtete ihn aufmerksam.

Der Marquis von Osminton war einer der am meisten bewunderten Männer der Gesellschaft. Er hatte eine schlanke, athletische Figur mit breiten Schultern und ein markantes, gutaussehendes Gesicht; zudem verfügte er über eine Eleganz, die ihresgleichen suchte.

Darüber hinaus gab es niemanden im Kreise des Prinzregenten, der eine Kutsche schneller und geschickter handhaben und feurigere Pferde reiten konnte oder ein treffsicherer Schütze mit der Duell-Pistole war.

»Ihr genießt nicht nur die Bewunderung der Damen, Chilton«, hatte der Prinz einmal beinahe vorwurfsvoll zu ihm gesagt, »sondern, verdammt, auch die Bewunderung der Herren!«

Der Marquis wußte, daß das stimmte. Gleichzeitig war er sich jedoch auch darüber im Klaren, daß er nicht nur Freunde und Gönner hatte.

Er war dafür bekannt, hart, in mancher Hinsicht rücksichtslos und, wie Lady Harlow gesagt hatte, außerordentlich selbstsüchtig zu sein.

Dies war insofern nicht verwunderlich, als er bereits als junger Mann sowohl einen alten, ehrwürdigen Titel als auch ein enormes Vermögen geerbt hatte.

Seine Besitztümer gehörten zu den prächtigsten von ganz England, und verständlicherweise war er sich seiner eigenen Bedeutung durchaus bewußt.

»Bitte, Chilton!« sagte Lady Harlow nun, als sie vor ihm stand.

Sie wußte wohl, daß er nicht umhinkonnte, ihre aufregende Figur zu bewundern.

Imogen sieht wunderschön aus mit ihren sanften Augen und ihren schwellenden Lippen, dachte der Marquis. Seine dunklen und durchdringenden Augen schienen jedoch hinter ihre Maske zu sehen.

»Das Thema beginnt mich zu langweilen, Imogen. Ich habe nein gesagt, und ich meine nein!«

Seine Stimme hatte einen scharfen Klang bekommen.

Imogens Augen füllten sich mit Tränen.

»Oh, Chilton!« hauchte sie unglücklich mit heruntergezogenen Mundwinkeln.

Der Marquis lachte, und es klang nicht besonders freundlich.

»Gegen Tränen bin ich immun«, sagte er. »Sie lassen mich kalt und machen mich meist ziemlich ärgerlich.«

 Er legte seinen Arm um Imogen und hob mit seiner anderen Hand ihr Kinn an.

»Wenn du aufhörst, mich zu bedrängen«, versprach er, »werde ich dir das Armband schenken, das du gestern in der Bond Street so sehr bewundert hast.«

Einen Moment lang kämpfte Lady Harlow gegen den Wunsch an, ihm entgegenzuschleudern, er könne das Armband behalten. Doch dann sagte ihr ihr Verstand, daß ein weiterer Streit den Marquis nur gegen sie aufbringen und es für sie noch unmöglicher machen würde, das zu bekommen, was sie wollte.

»Ich danke dir«, flüsterte sie mit einer Stimme, die jeden anderen Mann dazu gebracht hätte, sich als Scheusal zu fühlen.

Während sie sprach, warf sie ihm einen verstohlenen Blick aus halbgeschlossenen Augen zu. Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, daß er jede Szene ihres Schauspiels durchschaut hatte. Es war zweifellos nur die Wiederholung einer Vorstellung gewesen, deren einziger Zuschauer er ein Dutzend Mal zuvor gewesen war.

Da sie es nicht riskieren wollte, den Marquis, den sie nicht nur unwiderstehlich fand, sondern der auch einen beachtlichen Stein in ihrer Krone darstellte, zu verärgern, schlang sie ihre Arme um seinen Nacken und zog seinen Kopf zu sich herunter.

»Warum streiten wir, wenn es so viele wunderbare Dinge gibt, die wir einander sagen könnten?« fragte sie sanft.

Der Marquis küßte sie ohne Leidenschaft. Dann, als sie versuchte, ihn festzuhalten, befreite er sich.

»Du mußt nun leider gehen, Imogen«, sagte er. »Ich habe in einer halben Stunde eine Verabredung und muß zuvor noch ein paar Briefe signieren.«

»Werde ich dich heute abend sehen?«

»Ich speise mit dem Regenten, wie du weißt«, antwortete er, »aber wenn Seine Königliche Hoheit mich nicht zu lange aufhält, werde ich auf dem Heimweg noch bei dir vorbeischauen.«

»Du weißt, ich werde warten; du weißt auch, wie sehr ich mich danach sehne, dich zu sehen.«

Der Marquis hörte kaum zu. Es war lediglich das, was er zu hören erwartete, und er ging zur Tür, so daß Lady Harlow nichts anderes übrigblieb, als ihm zu folgen.

Er führte sie durch die prächtige Marmorhalle, in der wundervolle Gemälde von George Stubbs hingen, die die Lieblingspferde seines Vaters zeigten.

An der Tür verneigte er sich und küßte ihre Hand, während sich ein Lakai beeilte, die Tür der Kutsche zu öffnen, die draußen unter dem Säulengang wartete.

Mit vollendeter Höflichkeit — der Marquis war bekannt für seine guten Manieren — wartete er, bis sich die Kutsche in Bewegung setzte. Dann drehte er sich um und ging zurück durch die Halle. Er ging nicht wieder in den Salon, in dem er mit Lady Harlow gewesen war, sondern in sein Arbeitszimmer hinüber.

Es war der interessanteste Raum im ganzen Haus. Die Wände waren mit hohen Bücherregalen bedeckt und mit Gemälden geschmückt, um die ihn der Prinz glühend beneidete.

Der Marquis ging zu seinem großen Schreibtisch, der vor den Fenstern stand, und setzte sich. Während er einen Brief zur Hand nahm, läutete er eine Glocke, die auf dem Tisch stand.

Fast im selben Augenblick wurde die Tür geöffnet, und sein Rechnungsprüfer und Privatsekretär betrat den Raum.

Mr. Dugdale, ein Mann mittleren Alters mit einem intelligenten Gesicht, hatte die Haltung eines Soldaten. In der Tat war er Soldat gewesen, bevor er in den Dienst des Marquis getreten war.

Ohne von dem Brief, den er gerade las, aufzusehen, ordnete der Marquis an: »Senden Sie Lady Harlow Blumen, und bestellen Sie ihr, daß es mir heute abend unmöglich sein wird, ihr meine Aufwartung zu machen!«

Mr. Dugdale schrieb die Instruktionen, die er gerade erhalten hatte, in ein Notizbuch, das er stets bei sich trug.

»Und lassen Sie einen Lakaien das Diamantarmband kaufen, das ich mir gestern bei Hunt und Roskeil in der Bond Street angesehen habe!« fuhr der Marquis fort. »Sie werden wissen, welches es ist.«

»Sehr wohl, Mylord.«

Mehr sagte Mr. Dugdale nicht, aber der Marquis kannte ihn so gut, daß er an seiner ablehnenden Haltung sofort bemerkte, daß er nicht einverstanden war.

Er wußte, daß sein Sekretär, der eher ein Freund als ein Bediensteter war, nicht die geringsten Sympathien für Lady Harlow hegte — ebenso wenig wie für seine zahlreichen anderen Geliebten.

»Ich weiß, was Sie denken, Dugdale«, sagte der Marquis amüsiert. »Und obwohl ich finde, daß dies eine verdammte Unverschämtheit von Ihnen ist, bin ich der Meinung, daß Sie wohl recht haben.«

Mr. Dugdale gab einen kleinen Seufzer von sich, der offensichtlich Erleichterung ausdrückte: »Ich habe nichts gesagt, Mylord«, bemerkte er leise.

»Verflucht, aber ich kann hören, was Sie denken!« erwiderte der Marquis.

Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und schaute seinen Sekretär offen an.

»Was ist nur los mit den Frauen, Dugdale, daß sie keine Originalität besitzen? Sie scheinen alle nach demselben Schnittmuster gefertigt zu sein.«

»Vielleicht, Mylord«, meinte Mr. Dugdale, seine Worte bedachtsam auswählend, »kommen sie, wenn es Sie betrifft, alle aus demselben Grund.«

Der Marquis dachte einen Moment lang nach, dann nickte er.

»Das ist gewiß eine vernünftige Erklärung. Und dennoch finde ich sie irritierend voraussagbar in ihrem Benehmen und peinlich banal in allem, was sie zu sagen haben.«

»Ich kann Ihnen nur beipflichten, Mylord«, sagte Mr. Dugdale ehrlich.

Der Marquis lachte, dann fragte er: »Denken Sie, daß ich meine Suche nach einer passenden Frau ausdehnen sollte?«

»Warum nicht?« antwortete Mr. Dugdale. »Obwohl die Welt so groß ist, sind wir geneigt, uns mit einem sehr kleinen Teil zu begnügen.«

»Sie haben recht«, stimmte der Marquis zu. »Wenn nur dieser verdammte Krieg vorüber wäre! Dann könnten wir ins Ausland gehen. In der Zwischenzeit sind wir auf diese Insel beschränkt, und es gibt nichts, was wir dagegen tun können.«

»Nichts, Mylord«, pflichtete Mr. Dugdale ihm bei. »Und nun wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie diese Briefe unterschreiben würden. Einige davon betreffen das Schloß, und draußen wartet bereits ein Bote, der sie zu Mr. Saunders bringen soll.«

Dies war der Verwalter der riesigen Besitztümer des Marquis in Kent.

Osminton rückte seinen Stuhl zurück an den Tisch und widmete sich den Papieren. Da er wußte, daß er seinem Sekretär blind vertrauen konnte, setzte er seine Unterschrift unter die einzelnen Briefe, ohne sie gelesen zu haben.

Als er damit fertig war, bildeten die Papiere einen ansehnlichen Stapel.

Der Marquis sah auf seine Uhr.

 »Den Nachmittag habe ich nun fast herumgebracht«, murmelte er, »aber ich denke . . .«

Er wurde unterbrochen, als der Butler die Tür öffnete.

»Was gibt es, Adams?«

»Es ist eine junge Dame hier, die Sie gerne sprechen würde, Mylord. Sie sagt, sie sei nicht angemeldet, sie sei Ihnen jedoch sehr verbunden, wenn Sie ihr ein paar Minuten Ihrer Zeit schenkten.«

»Eine junge Dame?« fragte der Marquis.

»Ihr Name, Mylord, ist Alexia Minton.«

Der Marquis sah seinen Sekretär mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Minton?« wiederholte er. »Welche von meinen vielen Verwandten kann das sein?«

Mr. Dugdale überlegte einen Moment.

»Ich kann sie nicht einordnen, Mylord.«

»Dann gehen Sie und finden Sie heraus, wer sie ist!« befahl der Marquis.

Doch als der Sekretär zur Tür ging, änderte Osminton seine Meinung.

»Nein, lassen Sie sie eintreten, und falls ich Sie zu meiner Rettung brauche, werde ich nach Ihnen läuten. In der Regel sind mir meine Verwandten nach etwa fünf Minuten unerträglich.«

Mr. Dugdale nickte dem Butler zu, und nachdem dieser gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte er: »Während Sie die Bekanntschaft der jungen Dame machen, werde ich versuchen, sie im Familienstammbaum zu finden. Vermutlich ist sie keine nahe Verwandte, es sei denn, sie hat ihren Taufnamen geändert.«

»Tun Sie das, Dugdale!« stimmte der Marquis ihm zu. »Um ehrlich zu sein, finde ich es schwierig, ein besonderes Interesse für meine Verwandtschaft aufzubringen, die Gott sei Dank mit den Jahren gelernt hat, mich nicht unnötig zu belästigen.«

Nachdem Mr. Dugdale das Zimmer verlassen hatte, dachte der Marquis schmunzelnd, daß er sein Desinteresse an der Familie Minton deutlich zum Ausdruck gebracht habe.

Auch wenn er das Oberhaupt der Familie war, so hatte er nicht die Absicht, als Vaterfigur oder als »Füllhorn« zu fingieren.

Der Marquis hatte gerade noch Zeit, von seinem Schreibtisch aufzustehen und ans andere Ende des Zimmers bis vor den wunderschönen, von Adam entworfenen Kamin aus Marmor zu gehen, als sich bereits die Tür öffnete und der Butler ankündigte: »Miss Alexia Minton, Mylord!«

Ein Mädchen betrat das Zimmer. Sie bewegte sich sehr anmutig, jedoch in einer Weise, die dem Marquis verriet, daß sie nervös und ein bißchen ängstlich war.

Sie trug einen einfachen, aber hübschen Hut, dessen Rand mit blauem Band eingefaßt war. Als sie den Kopf hob, konnte der Marquis darunter ein kleines ovales Gesicht sehen, das von zwei großen, grauen Augen beherrscht wurde.

Das Mädchen machte einen Knicks und sah ihn unsicher an.

 »Sie sind ... der Marquis .... von Osminton?« fragte sie mit leiser, sanfter Stimme.

»Der bin ich«, antwortete der Marquis. »Und an Ihrem Namen erkenne ich, daß Sie mit mir verwandt sind.«

»Ich bin eine .... recht entfernte Verwandte. Mein Großvater war ein Cousin zweiten Grades Ihres Großvaters.«

Es entstand eine kleine Pause, und nach einer Weile fragte der Marquis: »Ist das der Grund Ihres Besuches?«

 »Nein . . . nicht direkt«, flüsterte Alexia Minton. »Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht... helfen. Und ich hoffte, Sie würden es nicht als Zumutung empfinden.«

»Diese Frage kann ich nicht beantworten, bis Sie mir sagen, was Sie von mir wünschen«, erwiderte der Marquis. »Ich schlage vor, wir setzen uns.«

Er deutete auf einen Stuhl und bemerkte, daß sich Alexia wie ein Kind vor seinem Lehrer auf die Stuhlkante setzte; mit geradem Rücken, die Hände im Schoß gefaltet.

Ihr Kleid war zwar einfach und ein wenig altmodisch, wie der Marquis mit erfahrenem Blick feststellte, aber geschmackvoll. Der dunkelblaue Stoff hob ihren hellen Teint hervor.

Auch ihre Haare waren hell; das sanfte Blond erinnerte an die Farbe eines noch nicht ganz reifen Weizenfeldes.

Als sie sich ihm zuwandte, sah er, wie ausdrucksvoll ihre Augen waren und daß sie immer noch nervös war.

»Nun?« fragte er, während er sich ihr gegenüber auf einem Stuhl niederließ und die Beine übereinanderschlug. »Was kann ich für Sie tun?«

Er sprach in freundlicherem Ton, als er es üblicherweise mit Fremden zu tun pflegte — aus dem einfachen Grund, weil das Mädchen so unerfahren und unsicher wirkte.

»Mein Vater war Oberst Arthur Minton«, begann Alexia leise »Er starb im letzten Jahr nach langer Krankheit. Da ich nun für die Familie verantwortlich bin — meine Mutter starb bereits vor fünf Jahren—, sehe ich es als meine Pflicht an, meine Schwester nach London zu bringen.«

Der Marquis hörte aufmerksam zu.

»Sie ist so wunderschön, daß ich fühle, es wäre ein Fehler, sie in Bedfordshire zu halten, wo wir sehr isoliert leben, und ihr keine Chance zu geben ... die Welt zu sehen.«

»In Wahrheit möchten Sie sagen, daß Sie ihr die Chance geben wollen, einen Ehemann zu finden«, bemerkte der Marquis mit zynischem Unterton.

Alexias bleiche Wangen röteten sich.

»Es hört sich ziemlich . . . direkt an, Mylord, aber ich dachte, daß es richtig sei, das zu tun, was meine Mutter getan hätte, wenn sie noch am Leben wäre.«

»Werden Sie mir erklären, welche Rolle ich dabei spielen soll?« fragte der Marquis neugierig.

»Als ich meine Nachforschungen anstellte«, erklärte Alexia, »erfuhr ich, daß Sie möblierte Häuser in London besitzen. In der Tat war es Ihr Verwalter, der andeutete, Sie könnten ein Haus haben, das ich für die Saison mieten könnte . . . aber ich fürchte, ich kann nicht sehr viel dafür bezahlen.«

Der Marquis sah sie überrascht an. Natürlich wußte er, daß einige seiner zahlreichen Häuser möbliert waren. Solche Angelegenheiten überließ er jedoch stets einem seiner Verwalter. Er wußte auch, daß es Unwissenheit seitens Alexias war — und nicht, wie er es von jedem anderen erwartet hätte, der Wunsch, sich einzuschmeicheln —, daß sie direkt zu ihm gekommen war.

»Schlagen Sie vor, daß Sie sich mit Ihrer Schwester in einem möblierten Haus niederlassen — ohne eine Anstandsdame?« fragte er irritiert.

»Ich dachte«, meinte Alexia leise, »da ich so viel älter bin als Letty, daß ich als Anstandsdame ausreichen würde und daß wir unsere Gouvernante zu Hause lassen könnten. Sie unterrichtet meinen kleinen Bruder.«

»Sie sind also drei!« rief der Marquis aus. »Ich kann Ihnen versichern, Miss Minton — oder darf ich Sie, da wir Vetter und Cousine sind, Alexia nennen? —, daß die ,bessere‘ Gesellschaft, die Sie offenbar anstreben, Sie nicht als angemessene Anstandsdame für eine Debütantin akzeptieren würde.«

»Sind Sie sich dessen ganz sicher?« fragte Alexia besorgt.

»Selbstverständlich!« antwortete der Marquis. »Wie alt sind Sie, daß Sie sich selbst eine solche Aufgabe zutrauen?«

Alexia zögerte, in ihren Augen erkannte er, daß sie ihn belügen wollte. Dann, nach einer Weile, während der sie, wie er glaubte, einen kleinen Gewissenskampf ausgefochten hatte, sagte sie ehrlich: »Ich bin fast einundzwanzig, aber ich dachte, wenn ich sagen würde, ich sei vierundzwanzig oder fünfundzwanzig, könnte das schließlich niemand überprüfen.«

Der Marquis lächelte.

»Ich denke, es würde Ihnen schwerfallen, jemanden zu finden, der Ihnen glaubte, Sie hätten ein derart erhabenes Alter erreicht. — Aber abgesehen davon, sind Sie unverheiratet.«

Alexia seufzte.

 »Ich fürchtete schon, dies könnte ein Hindernis sein«, sagte sie verzagt, dann fragte sie mit einem plötzlichen Leuchten in ihren Augen: »Glauben Sie, daß ich . . .«

Der Marquis schüttelte den Kopf.

»Ich bin nicht rüde oder destruktiv, Alexia, wenn ich Ihnen sage, daß Sie durch einen Ring am Finger nicht wie eine verheiratete Frau aussehen würden.«

Er bemerkte ihren fragenden Gesichtsausdruck, aber er wollte ihr nicht erklären, daß sie derart jung und unschuldig aussah, daß nur die Anwesenheit eines leibhaftigen Ehemannes jemanden davon überzeugen könne, sie sei verheiratet.

»Würde eine Anstandsdame — wenn ich eine finden könnte — sehr teuer sein?« fragte Alexia nach einer Weile.

»Dieser Bemerkung entnehme ich, daß Ihre Mittel in gewisser Weise begrenzt sind«, stellte der Marquis fest.

»Ich habe zwei Jahre lang gespart«, entgegnete Alexia, »seit ich bemerkt habe, wie schön Letty werden würde. Papa und ich wußten, daß sie sehr hübsch war, aber nun ist sie zu einer derartigen Schönheit erblüht, daß ich fühle, sie braucht nur ein paarmal gesehen . . .«

Ihre Stimme erstarb, und sie sah den Marquis hilflos an.

»Ich wußte nicht, daß es so viele Schwierigkeiten geben würde«, fuhr sie leise fort. »Zuerst dachte ich, wir könnten in einem Hotel wohnen, aber die sind sehr teuer, und gestern abend sahen einige Männer Letty in einer Weise an, die ich nicht mochte.«

»Ein Hotel ist sicher nicht der geeignete Ort, von dem aus man eine Debütantin lanciert«, sagte der Marquis bestimmt.

»Glauben Sie denn, Sie haben ein Haus — ein kleines —, das wir für die nächsten zwei Monate mieten könnten?« fragte Alexia schüchtern.

»Und was ist mit der Anstandsdame?« wollte der Marquis wissen.

»Vielleicht wissen Sie jemanden unter Ihren vielen Bekannten . . .«

Alexia machte eine unsichere Geste mit ihren Händen.

Der Marquis überlegte. Er wußte, daß einige der einflußreichen Londoner Damen der Gesellschaft es übernahmen, junge Mädchen in die Gesellschaft einzuführen. In der Regel führten sie gleichzeitig ihre eigene Tochter ein. Die Tatsache, daß die Einführung des fremden Mädchens mit einer finanziellen Transaktion verbunden war, war ein offenes Geheimnis, welches nicht diskutiert wurde.

Dann sagte er sich, daß Alexias Idee keinerlei Aussicht auf Erfolg habe. Er mußte ihr also klarmachen, daß sie eine andere Lösung für ihre Probleme zu finden hätte.

Doch plötzlich stellte er zu seiner eigenen Verwunderung fest, daß er ihr helfen wollte.

In diesem Moment unterbrach Alexia seine Gedanken.

»Würden Sie Letty gerne sehen? Ich habe sie mitgebracht, habe aber den Butler gebeten, sie in einem anderen Raum warten zu lassen.«

»Warum haben Sie das getan?« fragte der Marquis lächelnd.

»Ich hatte Angst, Sie könnten mich für unverschämt halten, da unsere Verwandtschaft doch so entfernt ist, und wenn Sie wütend geworden wären, hätte es Letty gewiß traurig gemacht.«

»Während Sie stark genug gewesen wären, eine solche Behandlung zu ertragen, nehme ich an«, bemerkte der Marquis trocken.

»Ich muß an meine Familie denken«, erwiderte Alexia. »Wie ich schon gesagt habe, wir haben sonst niemanden.«

»Wir haben eine Reihe von Verwandten zwischen uns«, meinte der Marquis.

»Wenn wir die haben, so haben sie sich nie um uns gekümmert. Wir hatten ein oder zwei Cousins, die zu Weihnachten zu uns kamen, weil sie Mama leidtaten; aber nun sind sie sehr alt oder tot, und Bedfordshire ist keine Grafschaft, die reiche oder unternehmungslustige Leute anzieht.«

»Warum leben Sie dort?« wollte der Marquis wissen.

»Papa hat ein Haus von einem Mann geerbt, der mit ihm in Indien gedient hatte. Ich glaube, Papa hatte ihm das Leben gerettet. Der Mann hat nie geheiratet und hat deshalb, als er starb, Papa sein Haus und sein geringes Vermögen hinterlassen.«

»Und Ihr Vater hatte kein Geld?«

»Nur seine Pension. Mama hatte eine kleine Mitgift, aber ich fürchte, davon ist nicht viel übriggeblieben.«

Alexia sah den Marquis an, als ob sie ihn anflehen wollte, nicht zu denken, daß sie verschwenderisch gewesen sei.

»Glauben Sie tatsächlich, daß die Ausgaben für eine Londoner Saison für Ihre Schwester unter diesen Umständen gerechtfertigt sind?« fragte der Marquis nach einer Weile.