Die Liebenden von Valmont

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2017

Copyright Cartland Promotions 1985

 

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

1.

„Er ist da! Er ist endlich eingetroffen!“

Mit einem Brief in der Hand stürmte Larisa in das Schulzimmer, und alle Gesichter wandten sich ihr zu.

Lady Stanton, in ihrer Jugend eine ungewöhnliche Schönheit, wirkte jetzt ein wenig welk, doch ihre vier Töchter glichen griechischen Göttinnen.

Der verstorbene Sir Beaugrave Stanton hatte ihre Schönheit auf die Tatsache zurückgeführt, daß er von der griechischen Antike nicht nur fasziniert, sondern geradezu besessen gewesen war. Aber ihr helles Haar hatten die Mädchen zweifellos Lady Stantons skandinavischen Vorfahren zu verdanken. Die klassischen Züge und vollkommen proportionierten Gestalten jedoch hatte ihr Vater ihnen vererbt.

Dem einseitigen Interesse des Vaters war auch zuzuschreiben, daß alle vier Mädchen griechische Vornamen hatten.

Larisa wurde nach der Stadt genannt, in der er sich bei seinem ersten Griechenlandbesuch aufgehalten hatte, während Cynthus, Athene und Delos jeweils den Namen der Frauengestalt aus der griechischen Antike trugen, über die er zur Zeit ihrer Geburt gerade ein Buch schrieb. Sir Beaugraves einziger Sohn, der jetzt den Titel trug, hieß Nicias, was ihm höchst peinlich war, weshalb der Name schon während der Schulzeit des Jungen in das weniger ausgefallene „Nicky“ umgewandelt wurde.

Nicky schien an dem Brief, den Larisa jetzt der Mutter übergab, nicht minder interessiert als seine Schwestern.

Tiefes Schweigen senkte sich über das Schulzimmer, während die Familie fast atemlos darauf wartete zu erfahren, wie sich Larisas und damit auch Nickys Schicksal gestalten würde.

Es war Larisa gewesen, die obwohl nicht die älteste, so doch die praktischste, die ganze Familie aus ihrer Niedergeschlagenheit aufgerüttelt hatte, als sie nach Sir Beaugraves Ableben festgestellt hatten, daß sie völlig mittellos waren.

Zu seinen Lebzeiten hatte sich ausschließlich er um die finanziellen Angelegenheiten gekümmert. Zwar hatte er immer Vorsicht und Sparsamkeit gepredigt, doch erst nach seinem Tod hatten sie begriffen, wie ernst ihre Lage war.

„Ist dir klar, Mama“, hatte Nicky ungläubig gefragt, „daß Papa sein ganzes Kapital aufgebraucht hat?“

„Ich habe diese Dinge immer ihm überlassen“, hatte Lady Stanton erwidert.

„Aber du hast doch gewußt, daß er in solchen Dingen hilflos war“, fuhr Nicky vorwurfsvoll fort. „Er lebte in einer anderen Welt, und die einzige Währung, die ihn interessierte, war die der alten Griechen.“

„Ja, ich weiß, ich weiß“, antwortete Lady Stanton unglücklich, „doch es langweilte deinen Vater, über Geld zu sprechen, und wir hatten ja immer genug zu essen und konnten die Dienstboten pünktlich entlohnen.“

„Nur, weil er seit Jahren das Kapital angriff“, sagte Nicky heftig. „Und jetzt ist nichts mehr da, Mama. Verstehst du? Nichts.“

Eine Zeitlang war die Familie zu betroffen, um zu begreifen, welche Folgen das haben konnte.

Sie lebten in einem schönen, großen Landhaus in Gloucestershire, das seit drei Jahrhunderten im Besitz der Familie Stanton war. Es stand hoch auf einem Hügel, und der Park fiel sanft in das Tal ab, in das sich ein kleiner Weiler mit einer normannischen Kirche duckte.

Trotzdem fühlten die Stanton-Töchter sich nicht von der Welt abgeschieden. Sie hatten ihre Reitpferde und verstanden sich so gut, daß sie die Gesellschaft von Nachbarn und Freunden nicht vermissten, die so weit entfernt wohnten, daß sie nur äußerst selten zu Besuch kamen.

Es war Nicky, der sich, als er heranwuchs, über einen Mangel an Unterhaltung beklagte und deshalb von Oxford begeistert war. Trotzdem arbeitete er hart, denn er war schon von Kind an für den diplomatischen Dienst bestimmt. Nach dem Tod seines Vaters mußte er sich mit der Tatsache abfinden, daß er sein Studium in Oxford nicht fortsetzen konnte und daher auch nicht die nötige Qualifikation für den von ihm erwählten Beruf haben würde.

„Was kannst du denn sonst anfangen, wenn du nicht Diplomat wirst?“ fragte Larisa.

„Den Farmarbeiter spielen, falls wir es uns leisten können, das Land zu behalten“, antwortete er bitter.

„Ich bezweifle, daß jemand es kaufen würde“, warf Lady Stanton ein. „Es ist zu abgelegen. Außerdem haben hier immer Stantons gelebt.“

„Dann bin ich der erste Baronet, der es nicht tun wird“, entgegnete Nicky.

Da mischte sich Larisa ein.

„Wir werden etwas tun müssen - wir alle -“, sagte sie entschieden, „damit Nicky sein Studium in Oxford abschließen kann.“

Die Mutter sah sie ungläubig an.

„Was können wir denn tun?“ fragte Athene.

Sie war siebzehn und ein Jahr jünger als Larisa.

„Darüber müssen wir eben nachdenken“, antwortete Larisa.

Sie hatten tagelang überlegt und leidenschaftlich argumentiert, bevor sie endlich einen Plan faßten, dem alle zustimmten. Lady Stanton, Athene und Delos, die erst fünfzehn war, sollten in ein kleineres Haus umziehen, das zu ihrem Besitz gehörte. Das große Haus sollte abgeschlossen, die Dienerschaft, bis auf das alte Kindermädchen, entlassen, das Land an Farmer verpachtet werden. Die neunzehnjährige Cynthus war mit dem Sohn eines ortsansässigen Landedelmannes verlobt und wollte bald heiraten. Da ihr Verlobter nur einen kleinen Monatswechsel von seinem Vater bekam, konnte sie ihre Familie auch in Zukunft nicht finanziell unterstützen, wollte aber auf ihre Mitgift verzichten.

Während die Diskussionen noch hohe Wellen schlugen, überraschte Athene alle damit, daß sie eines Morgens allein fortging und mit der Neuigkeit zurückkam, sie habe eine Stellung gefunden.

„Das ist doch unglaublich!“ rief Cynthus, und Lady Stanton fragte nervös: „Was ist das für eine Stellung, Athene?“

„Die alte Mrs. Braybrooke hat mich als Gesellschafterin und Sekretärin engagiert.“

Lady Stanton war entrüstet, weil Athene gehandelt hatte, ohne sie zu fragen, doch die Tochter erwiderte ungerührt, sie habe gewußt, daß die Mutter es ihr verbieten würde, weil Mrs. Braybrooke in ihren Augen neureich und nicht standesgemäß sei.

„Wieviel zahlt sie dir?“ erkundigte sich die praktische Larisa.

„Höre und staune! Einhundert Pfund im Jahr, und ich brauche nur drei oder vier Stunden täglich zu arbeiten.“

 „Das ist zu viel, das kannst du nicht annehmen“, sagte Lady Stanton rasch.

„Ich habe angenommen, Mama“, antwortete Athene. „Und da ich selbst keinen Pfennig von diesem Geld brauche, kann Nicky alles haben.“

„Das ist sehr lieb von dir, Athene“, sagte Nicky, „und es beruhigt mich sehr, daß du weiterhin bei Mama wohnen kannst.“

Er sah die Mutter bedeutungsvoll an, und sie verstand, was er ihr sagen wollte. Athene war das ungestümste, impulsivste Mitglied der Familie, und Lady Stanton hatte ihrem Sohn bereits anvertraut, daß sie sich sehr um ihre zweitjüngste Tochter sorgen würde, falls sie einmal von zu Hause fortginge.

Mit dem blonden Haar und den übermütigen blauen Augen war sie so bildhübsch, daß jede Mutter sich um ihre Zukunft gesorgt hätte.

Natürlich sorgte sie sich um alle ihre Töchter. Sie hatte immer gehofft, sie würden eine ebenso vergnügliche und unbeschwerte Jugend verleben wie sie. Doch schon als Cynthus, die älteste heranwuchs, wurde ihr klar, daß für Amüsements und modischen Firlefanz kein Geld vorhanden war, obwohl sie den Ernst der Situation damals noch keineswegs ahnte.

Da Cynthus heiraten und Athene eine Stellung antreten würde, wartete Larisa jetzt mit ängstlicher Spannung darauf, daß die Mutter ihnen den Inhalt des Briefes mitteilte, der eben aus London eingetroffen war. Larisa hatte sich an ihre Taufpatin, Lady Luddington gewandt und sie gebeten, ihr eine Stellung als Erzieherin zu verschaffen. Als Lady Stanton sich an ihren Schreibtisch setzte, um den Brief in der eleganten Handschrift zu lesen, hoffte sie beinahe wider alle Vernunft, ihre alte Freundin würde Larisa zu einem kurzen Besuch nach London einladen.

Larisa hoffte nichts dergleichen.

Sie war Lady Luddington einmal begegnet, als sie fünfzehn war, und ihr war sofort klar gewesen, daß diese weltgewandte, elegante Frau mit ihrer künstlich erhaltenen Schönheit sich mit den gesellschaftlich unbedeutenden, aber bildschönen Stantons nicht belasten würde.

Larisa war die klügste von Sir Beaugraves Töchtern.

Sie waren alle sehr intelligent, und der Vater hatte ihnen eine, wenn auch ein wenig einseitige, so doch sehr gute Erziehung zuteilwerden lassen, und sie waren daher viel belesener und gebildeter als andere Mädchen ihres Alters und ihrer gesellschaftlichen Stellung. Griechisch in Wort und Schrift, Französisch, Geschichte und Geographie hatte ihnen der Vater gründlich beigebracht, die einzigen Wissenslücken hatten sie in der Mathematik, die ihn langweilte.

„Ich werde mir ein einfaches Arithmetik Buch kaufen müssen, Mama“, sagte Larisa unsicher lächelnd. „Als Erzieherin kann ich meinen Schülern kaum beibringen, mit den Fingern zu rechnen, wie ich es im Augenblick noch tue.“

„Du wirst das Zeug bald kapiert haben“, erklärte Athene fröhlich, wurde von der Mutter jedoch sofort wegen ihrer vulgären Ausdrucksweise gerügt.

„Auch wenn wir arm sind, können wir uns wie kultivierte Menschen benehmen“, stellte Lady Stanton würdevoll fest.

„Ich beneide dich nicht gerade um deine Stellung als Gouvernante“, sagte Athene zu Larisa, als die beiden Schwestern allein waren. „Es ist eine gräßliche Stellung. Für den Salon bist du nicht gut genug, für das Dienerzimmer zu gut.“

„Was sollte ich denn sonst tun?“ fragte Larisa. „Das Wichtigste ist doch, daß ich keine Ausgaben haben werde und jeden Pfennig Nicky geben kann.“

Dagegen gab es keinen Einwand.

Larisa wußte jedoch, daß es für sie gar nicht so leicht sein würde, eine Stellung zu finden. Erstens war sie zu jung, und zweitens war sie zu schön. Welche Dame der            Gesellschaft holte sich freiwillig eine solche Gefahr ins Haus?

Doch heute, nach zehn langen Tagen, war endlich das Antwortschreiben von Lady Luddington eingetroffen, das Lady Stanton jetzt mit einem Seufzer in den Schoß sinken ließ.

„Was schreibt sie, Mama?“ fragte Athene eifrig, bevor Larisa etwas sagen konnte.

 „Hat sie einen guten Vorschlag?“

„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, sagte Lady Stanton zweifelnd.

„Laß hören, was sie schreibt“, bat auch Larisa.

Lady Stanton nahm den Brief wieder zur Hand und begann zu lesen:

„Meine liebe Margaret, Dein Brief war eine große Überraschung für mich, da ich gestehen muß, daß ich die Todesanzeige Deines Mannes in der Morning Post übersehen habe. Ich kann daher nur noch verspätet mein Beileid ausdrücken. Ich weiß, wie sehr Ihr Euch geliebt habt und wie sehr er Dir fehlen wird.

Mit um so größerem Bedauern habe ich daher zur Kenntnis genommen, daß meine Patentochter Larisa sich wegen Eurer finanziellen Schwierigkeiten um eine Stellung umtun muß. Du fragst mich, ob ich sie einer mir bekannten, gut beleumdeten Familie trotz ihrer Jugend als Gouvernante empfehlen könnte. Ich habe mir lange den Kopf zerbrochen, ob unter meinen Bekannten jemand ist, der eine Erzieherin für seine Kinder sucht. Unglücklicherweise kenne ich in England niemand, der ein achtzehnjähriges Mädchen engagieren würde. Man zieht für eine solche Position Damen gesetzteren Alters vor.

Zufällig jedoch besuchte mich kürzlich meine liebe und hochgeschätzte Freundin, die Comtesse de Chalon. Sie erwähnte beiläufig, ihr Bruder, der Comte de Valmont, suche für seinen Enkel eine englische Gouvernante.

Das bedeutet, daß Larisa in Frankreich, in Valmont-sur-Seine leben müßte. Da mir Eure Familie am Herzen liegt, meine liebe Margaret, habe ich mich sofort erkundigt, ob Larisa im Haus des Comte ausreichenden weiblichen Schutz genießen würde - bei einer gewöhnlichen Gouvernante stellt dieses Problem sich natürlich nicht -, und die Comtesse versicherte mir, daß die verwitwete Schwester des Comte, eine Madame Savigny, bei ihm auf dem Schloß lebe. Außerdem führe die ganze Familie ein sehr zurückgezogenes Leben auf dem Lande.

Das ist es, was Du Dir für Larisa wünschen würdest, davon bin ich überzeugt, da die Verlockungen und Extravaganzen von Paris, das man jetzt ,die verderbteste Stadt der Welt nennt’, für ein junges Mädchen höchst umpassend wären.

Überdies erfuhr ich von Comtesse, daß der Comte de Valmont schon mehr als sechzig Jahre zählt und, obwohl ein noch immer gutaussehender Mann, seit jeher für seine Strenge und sein Verantwortungsbewußtsein gegen seine Angestellten bekannt ist.

Ich glaube, meine liebe Freundin, daß Du Larisa ohne Sorge in eine solche Umgebung entlassen kannst, und auf meine Empfehlung hat die Comtesse ihrem Bruder geschrieben und nachdrücklich betont, daß Deine Tochter hervorragend geeignet sei, sich mit der Erziehung seines geliebten Enkels zu befassen.

Hoffentlich ist Larisa sich im klaren, daß es für ein so junges Mädchen eine hohe Auszeichnung ist, eine solche Stellung zu bekommen, und daß sie sich benehmen wird, wie es sich für eine Stanton und für eine vollendete englische Lady geziemt.

Ich denke und ich bete in diesen traurigen Zeiten für Dich, meine liebe Margaret, und verbleibe mit großer Zuneigung

 Helen“

Schweigen senkte sich herab, nachdem Lady Stanton zu Ende gelesen hatte, und dann rief Athene impulsiv: „Frankreich! Du gehst nach Frankreich! Du meine Güte, hast du ein Glück. Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle.“

„Ich bin gar nicht sicher, ob ich einen solchen Vorschlag akzeptieren werde“, sagte Lady Stanton mit besorgter Miene.

„Aber warum denn nicht, Mama?“ rief Cynthus.

„Es ist so weit weg“, erwiderte Lady Stanton unsicher. „Und Helen Luddington kann sagen, was sie will, aber Valmont-sur-Seine liegt ganz in der Nähe von Paris.“

„Larisa wird bestimmt kein Geld haben, um sich in dieser sündhaften Stadt amüsieren zu können“, warf Nicky ein. „Aber ich muß sagen, ich beneide sie.“

„Dazu“, meldete sich zum ersten Mal Larisa zu Wort, „ist kaum ein Anlaß gegeben. Erstens werde ich sehr zurückgezogen auf dem Lande leben, und zweitens müssen wir ja noch abwarten, ob der Comte mich überhaupt engagiert.“

„Ja, natürlich“, pflichtete Lady Stanton ihr eifrig bei. „Vielleicht schickt er eine Absage oder antwortet gar nicht auf den Brief der Comtesse.“

Die Aussicht schien sie beinahe zu freuen.

Larisa jedoch wußte, daß sie sich, wenn der Comte sie nicht engagierte, an ein Stellenvermittlungsbüro für arbeitslose Gouvernanten wenden mußte. Ihr war ein bißchen wehmütig zumute, wenn sie daran dachte, wie jetzt, so bald nach dem Tod des Vaters, die Familie auseinanderfiel.

Daß es eines Tages soweit kommen mußte, war ihr unvermeidlich erschienen, als Cynthus sich verlobte, und sie hatte gedacht, daß einmal auch sie Liebe schenken und Liebe empfangen würde. Dann, aber nur dann wäre sie bereit gewesen, ihre Familie zu verlassen und in eine Welt hinauszutreten, von der sie so wenig wußte.

Doch trotz ihrer romantischen Träume von einer großen Liebe war Larisa das praktischste von allen vier Stanton-Mädchen. Auf jeden Fall hatte sie viel mehr gesunden Menschenverstand als ihre reizende, hilflose Mutter, die von ihrem Mann völlig abhängig gewesen war.

„Wie, Larisa“, fragte sie verzweifelt, „soll ich es je fertigbringen, ohne Köchin und ohne Dienerschaft in einem winzigen Häuschen zu leben?“

„Du hast Nana“, antwortete Larisa, „und Delos kocht sehr gern. Außerdem ißt du ja wie ein Spatz, Mama, und ihr müßt nicht so große Mahlzeiten zubereiten wie zu Papas Lebzeiten.“

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, von hier fortzugehen, hier bin ich zu Hause“, rief Lady Stanton und blickte sich in dem Salon mit der hohen Decke, dem schönen georgianischen Kranzgesims und den eleganten Türen um, die auf die Terrasse führten.

„Ich weiß, Mama“, sagte Larisa mitfühlend, „aber eines Tages hättest du Nickys junger Frau weichen müssen, und das Witwenhaus, das wir zum Glück ja vermieten konnten, wäre für dich und die beiden Mädchen viel zu groß gewesen.“

„Ich liebe große Häuser“, erklärte Lady Stanton schmollend und setzte hastig hinzu: „Aber ich muß versuchen, das Häuschen hübsch herzurichten. Wir können nichts Häßliches um uns ertragen, nicht wahr?“

„Natürlich nicht“, antwortete Larisa. „Papa hat uns gelehrt, alles Schöne zu lieben. Weißt du noch, wie er sich immer über Möbelschoner, Rüschen und Falbeln lustig machte?“

Lady Stanton lachte mit Tränen in den Augen. Sir Beaugrave hatte sie gelehrt, die unvergleichliche Schönheit der einfachen Linien der griechischen Antike zu schätzen, und im Vergleich zu den überladenen, der viktorianischen Mode entsprechenden Häusern ihrer Freunde, wirkte Redmarley House in seiner georgianischen Einfachheit fast kahl.

Aber die Mädchen wußten, daß es makellos und von zeitlos gutem Geschmack war. Nur Dummköpfe liebten Firlefanz.

Der Brief des Comte de Valmont traf vier Tage später ein.

In der Zwischenzeit war Lady Stanton von so vielen Zweifeln und Ängsten gepeinigt worden, daß Larisa allmählich zu der Überzeugung kam, sie könne eine Stellung nicht annehmen, die ihrer Mutter so großes Herzweh verursachte.

Das Schreiben des Comte war jedoch in gewisser Weise beruhigend.

Kurz und förmlich bestätigte er, er habe von seiner Schwester, der Comtesse de Chalon, erfahren, daß Miss Larisa Stanton sich erboten habe, seinen achtjährigen Enkel Jean-Pierre in der englischen Sprache und anderen elementaren Lehrfächern zu unterrichten. Er wäre Miss Stanton daher sehr verbunden, wenn sie sich so bald wie möglich auf die Reise nach Frankreich begeben wollte.

Er biete ihr ein Gehalt von dreitausendsiebenhundertfünfzig Frances jährlich und lege diesem Brief eine Fahrkarte zweiter Klasse London-Paris bei.

Lady Stanton, fügte der Comte hinzu, möge ihm Tag und Stunde der Ankunft ihrer Tochter mitteilen, damit er sie vom Gare du Nord in Paris abholen lassen könne.

Es war ein kalter, geschäftsmäßiger Brief, doch er berührte Lady Stanton viel angenehmer als ein überschwenglicher es getan hätte.

„Zweiter Klasse!“ rief Athene. „Nun, jetzt weißt du wenigstens, welcher Platz dir als Gouvernante in Zukunft gebührt.“

„Ich habe nicht erwartet, daß der Comte mir eine Fahrkarte erster Klasse bezahlen wird“, sagte Larisa.

„Papa“, erwiderte Athene, „hat immer gesagt, daß Gentlemen erster Klasse, Geschäftsleute zweiter Klasse und Bauern dritter Klasse reisen.“

„Larisa wird in einem Damenabteil reisen“, sagte Lady Stanton. „Die gibt es in Frankreich bestimmt genauso wie bei uns, und sie wird sich weder mit einem Geschäfts- noch mit einem anderen Mann unterhalten.“

Sie seufzte tief auf.

„Oh Larisa, daß du so weit fort mußt!“

„Ich kann wirklich gut auf mich aufpassen, Mama“, antwortete Larisa.

„Wißt ihr eigentlich, wieviel der Comte Larisa bezahlen will?“ rief Nicky plötzlich. „Einhundertfünfzig Pfund jährlich.“

Die anderen schnappten hörbar nach Luft vor Erstaunen.

„Weißt du das genau?“ fragte Lady Stanton. „Ich habe keine Ahnung, wie der Wechselkurs zur Zeit ist.“

 „Man bekommt ungefähr fünfundzwanzig Francs für ein Pfund.“

„Ist das auch kein Irrtum, will er mir wirklich so viel geben?“ fragte Larisa.

„Er hat es schriftlich festgelegt“, erwiderte Nicky.

„Ach, das ist ja wunderbar!“ rief Lady Stanton. „Dann hast du jährlich zweihundertfünfzig Pfund, Nicky, und kannst dich in aller Ruhe in Oxford auf dein Examen vorbereiten.“

„Das kann ich allerdings“, räumte Nicky ein. „Aber Larisa muß etwas für sich behalten. Sie kann in einem fremden Land nicht ohne einen Pfennig dastehen.“

„Da hast du recht“, pflichtete Lady Stanton ihm bei. „Aber viel wird sie nicht brauchen.“

„Ich werde sehr, sehr wenig brauchen“, warf Larisa ein. „Schließlich habe ich Kost und Logis umsonst, und auf alles andere werde ich eben verzichten müssen, auch wenn ich es mir noch so sehr wünsche.“

„Wenn du nach Paris fährst, kannst du dir trotzdem die Schaufenster ansehen“, meinte Athene.

Lady Stanton zuckte zusammen, als habe sie Paris vergessen gehabt.

„Versprich mir, Larisa“, sagte sie ernst, „daß du nie allein nach Paris fahren wirst.“

„Ich bin überzeugt, daß das niemand von ihr erwartet“, meinte Cynthus. „Wir laufen ja auch in London nicht allein durch die Straßen, warum also sollte Larisa das ausgerechnet in Paris tun?“

„Bestimmt würde man ihr ein Hausmädchen mitgeben, wenn sie etwas für den kleinen Jungen besorgen müßte“, tröstete sich Lady Stanton.

„Sorg dich nicht, Mama“, bat Larisa, „betrachtet es einfach als Abenteuer. Ich verspreche dir, sofort nach Hause zu kommen, wenn ich es unerträglich finden sollte.“

Sie lächelte.

„Ein Plätzchen in eurem Häuschen wird sich immer für mich finden. Nana hat schon beschlossen, daß sie Hühner halten will, also werde ich mich von Eiern ernähren können.“

Nicky sprang auf.

 „Jetzt hört mir mal zu“, sagte er. „Ich bin euch für das, was ihr für mich tun wollt, sehr dankbar, aber eines wollen wir klarstellen. Mama und die Mädchen dürfen nicht darben - in keiner Beziehung. Die Pacht von den Farmen steht ausschließlich euch zur Verfügung. Was mir Athene und Larisa geben, ist für meine Bedürfnisse mehr als genug. Vielleicht können wir auch noch das eine oder das andere Stück aus dem Haus verkaufen.“

Lady Stanton seufzte.

„Der Gedanke ist mir schrecklich.“

„Schlimmer wäre es, wenn wir hungern müßten.“

Nicky lächelte.

 „Und Larisa muß ein paar neue Kleider bekommen. Keine meiner Schwestern darf in abgetragenen Sachen nach Frankreich gehen wie eine Bettlerin. Wartet nur, bis ich mein Examen habe“, setzte er hinzu, „dann verdiene ich genug, um euch alles doppelt und dreifach zurückzugeben.“

Lady Stanton sah ihren Sohn hingebungsvoll an, und nur Larisa wußte, daß sich das zwar sehr ritterlich anhörte, daß Nicky als junger Diplomat aber sehr wenig verdienen würde – zu wenig, um davon zu leben. Sie war der Meinung, daß die meisten jungen Männer in dieser Position über ein Privatvermögen verfügten, doch darüber wollte sie sich jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen. Wichtig war, daß Nicky mit ihrer und Athenes Hilfe sein Studium beenden konnte.

Larisa war nicht so entsetzt wie die übrige Familie, weil Nicky ein paar wertvolle Dinge aus dem Familienbesitz verkaufen wollte. Sie hatte schon mit ihm darüber gesprochen und ihm geholfen, die Bücher auszusortieren, die in London etwas einbringen würden, wenn auch nicht soviel wie der Vater für sie bezahlt hatte.

Außerdem wollte Nicky einem Museum ein paar antike griechische Urnen und andere Keramiken anbieten, die Sir Beaugrave von seinen Reisen mitgebracht hatte.

Die Geschwister sahen die Zukunft nicht mehr ganz so schwarz wie unmittelbar nach dem Tode des Vaters.

Als Larisa an diesem Abend mit dem Bruder allein in der Bibliothek war, um weitere Bücher auszusortieren, die verkauft werden sollten, hatte sie eine Idee.

„Ich glaube“, sagte sie, „Mama leidet darunter, daß wir alle etwas für dich tun können, nur sie nicht.“ Sie hielt inne und setzte dann lächelnd hinzu: „Du weißt ja, sie liebt dich mehr als uns vier Mädchen zusammengenommen.“

„Das stimmt nicht“, protestierte Nicky ohne rechte Überzeugungskraft.

„Natürlich stimmt es, und das weißt du auch. Mütter lieben ihre Söhne immer am meisten, genauso wie Papa seine Töchter dir vorzog.“

„Seine vier Göttinnen. Er konnte sich nie entscheiden, welche von euch er am schönsten finden sollte. Ihr seht ja alle vier großartig aus. Übrigens, Larisa, paß bloß in Frankreich auf dich auf! Die Franzosen haben, was Frauen anbelangt, keinen sehr guten Ruf.“

„Wieso denn?“ fragte Larisa.

„Weil sie es verstehen, die Frauen um die Finger zu wickeln. Mit Handküssen und sehnsüchtigen Blicken aus dunklen Augen. Du wirst fest auf dem Boden der Tatsachen stehenbleiben müssen, sonst gerätst du in Schwierigkeiten.“

„In was für Schwierigkeiten?“

Nicky sah verlegen aus.

 „Also“, sagte er, „ich finde, Mama sollte mit dir sprechen, bevor du abreist.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, worüber du dich so aufregst“, meinte Larisa.

Als sie im Bett lag, begann sie über das nachzudenken, was Nicky gesagt hatte. Wie, fragte sie sich, lieben die französischen Männer? Sie hatte sich schon manchmal überlegt, wie wunderbar es sein müßte, zu lieben und wiedergeliebt zu werden.

„Ich liebe dich.“

Fast konnte sie die tiefe Stimme eines Mannes die drei beseligenden Worte sagen hören. Er würde die Arme um sie legen, sie an sich ziehen, und dann würden seine Lippen die ihren suchen.

Was würde sie empfinden? Würde sie Angst haben? Wie war es, wenn man geküßt wurde?

Sie fand keine Antworten auf diese Fragen.

2.