Die Klinik am See – 37 – Am Ziel aller Wünsche

Die Klinik am See
– 37–

Am Ziel aller Wünsche

Als Marlene doch noch ein Baby bekam

Britta Winckler

Impressum:

Epub-Version © 2018 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-653-2

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Marlene Eibner ging unruhig in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Wo nur Florian blieb? Sie schaute auf ihre Uhr. Schon fast zehn Uhr! Sie hatte wie üblich den Tisch für das Abendessen gegen sieben Uhr gedeckt. Aber Florian, ihr Ehemann, kam nicht. Erst hatte sie gewartet, dann hatte sie selbst eine Kleinigkeit gegessen und den Tisch wieder abgeräumt.

Marlene seufzte. Wie oft war das in der letzten Zeit geschehen, daß sie vergeblich auf Florian wartete. Er arbeitete zuviel, aber offenbar zog es ihn auch nicht nach Hause. Marlene hatte Verständnis für seinen Fleiß und seinen Eifer. Er wollte das Sägewerk, das schon lange in der Hand seiner Familie war, erhalten und womöglich noch erweitern. Es gab viel Konkurrenz. Um sich zu behaupten, mußte er sich ständig bemühen, mußte neue Kunden gewinnen und gleichzeitig die Beziehungen zum alten Kundenstamm pflegen. Das hatte ihr Florian oft genug erklärt. Sie sah es ja ein, aber daß er sie immer wieder warten ließ, daß er niemals mehr Zeit für sie hatte, das war bitter.

Ihr Leben war leer geworden. Darüber konnte auch nicht das schöne Haus hinweghelfen, das sich die Eibners schon im ersten Jahr ihrer Ehe gebaut hatten. Ursprünglich wohnten die Sägewerksbesitzer auf dem Gelände des Betriebs, es war das Haus, in dem schon Florians Großvater und Vater gewohnt hatten. Aber dieses bescheidene Haus genügte Florian nicht mehr. Er ließ einen prächtigen Neubau im Villenviertel von Gmund errichten. Weil der Hausherr beruflich mit Holz zu tun hatte, war das ganze Haus reichlich damit ausgestattet. Die großzügigen Wohnräume hatten Parkettfußböden, getäfelte Wände und stellenweise schwere Balken an den Decken. Daß es bei aller Größe dennoch behaglich und wohnlich wirkte, war das Verdienst von Frau Marlene. Sie hatte Geschmack bei der Einrichtung bewiesen, hatte einen ausgeprägten Farbensinn und ein sicheres Stilempfinden. Aus ihrem Elternhaus hatte sie ein paar wertvolle alte Möbelstücke und Teppiche mitgebracht, die dem Raum ein eigenes Gepräge gaben.

Nein, es fehlte Frau Marlene an nichts. Sie hatte ein schönes Zuhause mit einem ausgedehnten Garten, sie hatte einen schnellen Sportwagen, sie konnte sich mit Freundinnen treffen, wann immer sie wollte. Marlene hatte einen Mann, der sie liebte und verwöhnte.

Was also wollte sie noch?

Marlene wünschte sich die ersten Jahre ihrer Ehe zurück, wo noch eine herzliche Gemeinsamkeit zwischen ihr und Florian bestanden hatte. Damals war er viel mehr daheim gewesen als jetzt. Alle Ereignisse hatten sie miteinander besprochen, auch die geschäftlichen. Warum hatten sie sich entfremdet, warum suchte Florian Zufriedenheit in der Arbeit und nicht mehr zu Haus?

Marlene kannte den Grund. Es mußte ihre Kinderlosigkeit sein, die mehr und mehr zum Problem geworden war. Anfangs hatten sie auch darüber in aller Offenheit gesprochen, sie hatten gemeinsam Hoffnung und Enttäuschung ertragen. Aber inzwischen glaubte Florian wohl nicht mehr daran, daß sie noch ein Kind haben würden. Sie waren jetzt zehn Jahre verheiratet, Marlene war 35 Jahre alt, ihr Ehemann 45.

Sie hatten sich beide Kinder gewünscht, Florian noch mehr als Marlene. Er wollte unbedingt einen Stammhalter und Erben haben und nach Möglichkeit noch weitere Kinder. Beim Bau des Hauses hatte er zwei große Kinderzimmer eingeplant, darüber hinaus gab es viel Platz unter dem Dach, um später weitere Räume einzurichten.

Die beiden Kinderzimmer waren leer geblieben, und von den Erweiterungsmöglichkeiten unter dem Dach sprach schon niemand mehr. Jahr um Jahr verging, und Marlene war niemals schwanger geworden. Sie hatte in dieser Zeit viele Ärzte konsultiert, die ihr alle nicht helfen konnten. Sie müsse warten, hieß es immer wieder, sie sei organisch völlig gesund. Marlene hatte auch Kurbäder aufgesucht, wo sie Moorbäder bekam. Wie oft hatte sie von den Erfolgen solcher Kuren gehört, wie sehr die Frauen beneidet, die dadurch doch noch Mutter geworden waren. Seit zwei Jahren war sie bei Dr. Lindau in Behandlung, dem Leiter der Klinik am See. Er verordnete ihr Hormone und hoffte mit ihr auf eine baldige Schwangerschaft.

Marlene horchte auf. Wastl, der Airedaleterrier, bellte. Gleich darauf schlug eine Autotür. Endlich! Es konnte nur ihr Mann sein.

»Grüß dich, Florian!« sagte sie erfreut. »Es ist wieder spät geworden. Ich glaube, du arbeitest zu viel. Soll ich dir einen Tee kochen?«

»Tee?« sagte er verächtlich und schüttelte sich. »Ich könnte ein Bier gebrauchen.«

»Möchtest du auch etwas essen?« fragte sie.

»Nein, danke. Ich habe mir eine Bratwurst vom Kronenwirt ins Büro bringen lassen.«

Jetzt war er es, der wie ein Tiger im Zoo auf und ab lief, während seine Frau ihm eine Flasche Bier aus dem Keller holte. Oh, wie er das alles haßte! Diese sterile Häuslichkeit, wo alles seinen Platz hatte und alles gepflegt und ordentlich war. Kein Staubkörnchen war zu entdecken und kein Fußtritt auf dem spiegelblanken Parkett. Er fühlte sich wie in einem Museum, es gab kein Leben hier und keine Freude. Fröhliches Kinderlachen fehlte, selbst streitende und weinende Kinder wären ihm lieber gewesen als diese unnatürliche Stille. Florian stellte sich das Heimkommen vor, wenn ihm zwei oder drei Blondschöpfe entgegenliefen und ihn stürmisch begrüßten. Wie gern hätte er seine Buben auf seinen Knien reiten lassen, hätte mit ihnen im Garten getobt und wäre mit ihnen auf dem See gesegelt.

Aber es wurde ihm täglich mehr bewußt, daß sich sein größter Wunsch nicht erfüllen würde. Schon jetzt mied er sein schönes Zuhause und zog sich in sein Geschäft zurück. Er ging auch Marlene aus dem Weg, der er insgeheim die Schuld an dieser Lage gab. Natürlich sprach er das nicht aus, so ungerecht war er nicht. Seine Frau konnte schließlich genauso wenig für die verfahrene Lage wie er selbst. Aber er konnte es auch nicht verhindern, daß ihm ihre leidende Miene täglich mehr auf die Nerven ging.

»Danke, Marlene«, sagte er, als sie ihm die Flasche Bier gab. »Ich habe noch in meinem Arbeitszimmer zu tun. Geh nur schon ins Bett.«

»Das ist also mein Leben«, sagte sie bitter. »Es besteht nur noch aus Warten. Warten auf dich, auf das gemeinsame Essen am Abend, das dann doch nicht stattfindet.«

»Ich weiß nicht, was du willst, Marlene«, sagte er verständnislos. »Du hast doch alles, was du brauchst und mehr als das. Fahr einmal zum Einkaufen nach München und kauf dir, was du willst. Frauen kaufen gern ein, so sagt man doch. Oder such dir eine ehrenamtliche Beschäftigung in irgendeinem Wohlfahrtsverein. Das lenkt dich ab und macht in der Stadt einen guten Eindruck. Die Frauen der reichen Männer sollten sich schon ein wenig um arme und kranke Leute kümmern. Aber wenn du einen anderen Wunsch hast, dann sag es nur.«

»Laß uns verreisen, Florian. Nur vierzehn Tage. Aber ich möchte nicht in einem Nobelhotel wohnen. Ich möchte mit dir im Gebirge wandern mit dem Rucksack von Hütte zu Hütte, wo es keine Telefonverbindung zu deinem Sägewerk gibt. Oder doch wenigstens ein paar Tage... oder auch nur einen Sonntagnachmittag.«

»Wir sehen uns doch jeden Tag. Wozu da noch eine Reise?« fragte er.

»Hier mahnt dich alles an deinen Betrieb, du kannst dich davon nicht freimachen. Ich möchte noch einmal mit dir so unbeschwert reisen, wie wir das damals taten, nach unserer Hochzeit.«

»Das liegt zehn Jahre zurück!« wies er sie zurecht. »Wir sind nicht mehr in den Flitterwochen. Und ich kann im Augenblick auch den Betrieb nicht allein lassen.«

Da sagte Marlene nichts mehr. Was hatte sie eigentlich von Florian erwartet? Wie schon so oft, dachte sie auch jetzt über eine Trennung von ihm nach. War ein schmerzhafter Schnitt nicht besser für beide als dieses trostlose Nebeneinander? Marlene verbot sich diesen Gedanken sofort. Sie war seine Frau und gehörte zu ihm in guten und in schlechten Tagen. Sie liebte ihn. Nur... welchen Florian liebte sie? Den lebhaften und fröhlichen Florian, der sich vor elf Jahren in sie verliebt und um sie geworben hatte? Der ihr jeden Wunsch von den Lippen ablas? Oder den heutigen, dem es schon lästig war, auch nur einen Spaziergang mit ihr zu machen?

*

Am anderen Morgen fuhr Marlene in die Klinik am See, denn sie hatte einen Termin beim Chefarzt Dr. Lindau. Obwohl er ihr bis heute nicht zu einer Mutterschaft verhelfen konnte, hatte sie größtes Vertrauen zu ihm. Sie hielt ihn nicht nur für einen kompetenten Arzt, sondern schätzte ihn auch wegen seiner menschlichen und verständnisvollen Art.

Dr. Lindau arbeitete als Chefarzt in einem ehemaligen Schloß, in dem jetzt eine Klinik betrieben wurde. Die Eigentümerin, eine frühere Patientin, hatte es ihm zu sehr günstigen Bedingungen überlassen, so daß er sich den Traum von einer eigenen Klinik erfüllen konnte. Er konnte hier eigene Methoden der Therapie erproben und konnte sich auch um die seelischen Nöte der Patientinnen kümmern. Er hatte oft genug erfahren, daß die äußerlich sichtbaren Leiden der Kranken psychische Ursachen hatten.

Ursprünglich hatte Dr. Lindau nur an eine Frauenklinik gedacht, aber im Laufe der Zeit wurden weitere Abteilungen angegliedert. Es kam oft vor, daß ihm ein Notfall gebracht wurde, irgendein Verletzter, der in den öffentlichen Krankenhäusern der Umgebung nicht mehr untergebracht werden konnte. So wurde bald eine chirurgische Station erforderlich. Als Dr. Lindaus Tochter Astrid, eine junge Kinderärztin, den Kinderarzt Dr. Mertens heiratete, wurde auch eine Kinderstation angeschlossen, die das junge Ehepaar leitete. Natürlich war die Klinik mit allen modernen Diagnosegeräten und mit einem Labor ausgestattet.

Als Frau Marlene Eibner in Auefelden beim Schloß eingetroffen war, eilte sie ohne Umwege in die obere Etage, wo sich das Sprechzimmer Dr. Lindaus befand. Sie hatte schon viele Konsultationen hinter sich und kannte sich hier aus. Heute war sie angemeldet.

»Entschuldigen Sie, Frau Eibner«, sagte ihr Marga Stäuber, die Sekretärin des Chefs. »Dr. Lindau wurde zu einer Operation gerufen, dadurch verschieben sich alle Termine. Vor Ihnen ist noch eine junge Frau an der Reihe.«

»Ich habe Zeit«, sagte Marlene müde. Sie hatte eine schlechte Nacht verbracht. Sie fühlte sich wie zerschlagen, als sie morgens aufstand, traf aber Florian nicht am Frühstückstisch. Er war schon zeitig in seinen Betrieb gefahren. Es berührte sie kaum noch.

Im Wartezimmer saß ein junges Mädchen, oder eine junge Frau. Sie wirkte blaß und verängstigt. Sie hatte das Gespräch zwischen Marlene und der Sekretärin mitangehört und sagte darum:

»Wenn Sie es eilig haben, dann lasse ich Sie vorgehen. Ich bin sowieso nur eingeschoben. Mir ist es ganz angenehm, wenn ich noch etwas warten muß. Dann kann ich mir noch ein wenig überlegen, was ich sagen soll.«

»Haben Sie Angst?« fragte Marlene lächelnd. Die andere nickte nur und schaute sorgenvoll auf die Hände in ihrem Schoß.

»Das brauchen Sie nicht«, sagte Marlene und hoffte, sie könnte das junge Ding ein wenig aufmuntern. »Dr. Lindau ist ein wunderbarer Arzt. Man geht niemals ungetröstet von ihm.«

»Wirklich?« Das Gesicht des Mädchens belebte sich. Sie ist sehr schön, dachte Marlene, vor allem ihre Augen sind es. Sie müßte nicht so ernst sein…

»Erwarten Sie ein Kind?« fragte die Junge.

»Nein«, sagte Marlene. »Leider nicht.«

»Bedauern Sie das? Aber ich nehme an, daß Ihr Mann froh darüber ist, nicht wahr?«

»Ganz und gar nicht. Er liebt Kinder und wünscht sich sehr ein Kind oder auch mehrere.«

»Das hört man selten. Um ehrlich zu sein, ich habe es noch nie gehört.«

»Vielleicht kennen Sie noch nicht sehr viele Männer«, meinte Marlene.

»Das ist wahr.«

Frau Stäuber steckte ihren Kopf in Wartezimmer und rief:

»Frau Breitinger, der Chefarzt ist aus dem OP zurück und erwartet Sie.«

Gehorsam erhob sich die Angesprochene und schickte noch einen jammervollen Blick zu Marlene hin, die ihr freundlich zunickte.

Dr. Lindau stand schon in der Tür und empfing die junge Patientin mit Handschlag.

»Sie sind Elisabeth Breitinger, nicht wahr?«

Und als sie schüchtern nickte, fuhr er fort:

»Nehmen Sie doch Platz. Was führt Sie zu mir?«

»Ich erwarte ein Kind. Aber ich kann es nicht austragen. Bitte, helfen Sie mir, Herr Dr. Lindau.«

»Hmm«, machte Dr. Lindau nachdenklich. Es war doch immer wieder dasselbe. Diese vertrauensvollen jungen Mädchen fielen auf irgendeinen Nichtsnutz herein, der sie hernach mit ihren Problemen alleinließ. Er wußte, daß diese Patientin eine Abtreibung wünschte, obwohl sie es noch nicht ausdrücklich gesagt hatte. Er lehnt diesen Eingriff ab und würde ihn auch nicht ausführen. Aber er wollte das junge Mädchen nicht mit einer schroffen Antwort abweisen und sie womöglich zu einer Verzweiflungstat treiben. Es galt jetzt, sie zu beruhigen und ihr Mut zu machen.

»Wie soll ich Ihnen helfen?« fragte er vorsichtig.

»Ich bitte Sie um eine Abtreibung.«

»Und warum?«

»Weil... weil ich nicht verheiratet bin und weil mein Freund nichts wissen will von dem Kind.«

»Soll ich einmal mit ihm sprechen, Frau Breitinger?«

»Nein. Es geht nicht. Wir können noch nicht heiraten und können auch noch kein Kind aufziehen. Ich bin noch Schülerin. In drei Wochen mache ich mein Abitur und im Oktober will ich mit dem Studium beginnen.«

»Das Abitur können Sie auf jeden Fall machen. Vielleicht müßten Sie Ihr Studium um ein halbes Jahr verschieben. Das ist nicht so schlimm, das haben andere auch geschafft.«

»Aber der Ja..., ich meine, mein Freund ist auch erst in der Ausbildung. Er will selbst noch studieren. Wir haben beide nichts, kein Geld, keine Wohnung.«

»Sie werden doch irgendwo wohnen?«

»Bisher wohnte ich bei einer Großtante in Gmund. Meine Mutter hat einen kleinen Bauernhof in den Bergen. Ich habe einen Stiefvater, der mich nicht mag. Er wollte nicht, daß ich in die Höhere Schule gehe, und auch nicht, daß ich studiere. Ich sollte lieber daheim arbeiten, dort gäbe es genug zu tun. Da hat mich die Tante aufgenommen. Jetzt, als ich ihr meine Lage erklärt habe, hat sie mich auf die Straße gesetzt, und die Mutter hat mir geschrieben, ich könnte mit dem Kind auf keinen Fall zu ihr. Ihr Mann würde es nicht dulden.«