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DOROTHEE ACHENBACH

Im Schatten des
Mondsterns

ROMAN

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für C., stella lunaris

Inhalt

Aufbruch

| 1966 |

Bekir. In der Sonne des mondsterns

| 1973 |

Bekir. Geborgenheit

| 1979 |

Bekir. Dunkelheit

| 1981–84

Greta. Der roman

| 2017 |

Bekir. Rabenkind

| 1984 |

Greta. Desdemonas Schicksal

| 2017 |

Bekir. Abschied aus Istanbul

| 1984 |

Greta. Desdemonas Schicksal II

| 2017 |

Navid und Greta. Die begegnung

| 2015 |

Kaan. Fremdes Land

| 1984 |

Kaan. Familie Almancı

| 1984 |

Greta. Gläsernes Glück

| 2015 |

Cengiz. Finsternis

| 1983 |

Greta. Gläsernes Glück II

| 2015 |

Tarık. Neue Heimat

| 1962/84 |

Sema. Entwurzelung

| 1954–66 |

Baran. Deutschländer

| 1984 |

Kaan. Chamäleon

| 1984 |

Kaan. Der Aufstieg

| 1988–96 |

Kaan und Ela. Das große Los

| 1996 |

Kaan. Bel Ami

| 2013–15 |

Ulla. Spiel mit dem Feuer

| 2013 |

Kaan. Das Haus

| 2015 |

Navid. Neubeginn

| 2015 |

Navid und Greta. Coup de foudre

| 2015 |

Navid. Heimat

| 2015 |

Greta. Die Stadt am Bosporus

| 2015 |

Navid. Gespenster der Vergangenheit

| 2015 |

Navid. Gespenster der Vergangenheit II

| 2015 |

Greta. Verzweiflung

| 2015 |

Ulla. Verhängnis

| 2015 |

Navid. Gespenster der Vergangenheit III

| 2015 |

Greta. Kaltes Herz

| 2015 |

Navid. Der Sturz

| 2015 |

Yade und Emre. Liebe des Lebens

| 2015 |

Yade. Neue Heimat

| 1966 |

Yade. Große Schwester für immer

| 2015 |

Greta. Herbst

| 2015 |

Greta. Der Detektiv

| 2015 |

Navid. Abgrund

| 2015 |

Greta. Desdemonas Schicksal III

| 2017 |

Navid und Greta. Im Schatten des Mondsterns

| 2017 |

Dank

Folgende Bücher und Artikel habe ich zur Recherche herangezogen (Auswahl)

In deinen Augen sehe ich die Vergangenheit,
die Gegenwart und die Zukunft.

Den Orient und den Okzident.

Die blauen Fluten des Meeres und die
grünen Wellen der Flüsse.

Ich sehe alles Leid und alle Freuden der Welt.

Alle Liebe und alle Bosheit der Menschen.

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Aufbruch

| 1966 |

Nicht mal ein Schrei. Nur ein leises Gurgeln, wie die letzten Tropfen Wasser, die strudelnd im Abfluss verschwinden. Dann Stille.

Lebt es überhaupt? Winzig ist es, schrumpelig, klebrig, rot. Sie schaut nicht hin, will es nicht sehen.

Draußen ist es eiskalt, die kleinen Fenster sind grau und dick vor Eis. Januar. Seit Tagen hat es ununterbrochen geschneit, im November kam der erste Schnee. Noch bis Mai wird er seine weiße, matte Decke über die kargen Felsen und Hügel legen, wird seine Kälte über die Steppe ausbreiten und in die klammen Kammern der ärmlichen Häuser kriechen. Vergebens bemüht sich das kleine Feuer, gegen die Starre anzukämpfen – die Starre im Haus, die Starre in den Gliedern und die Starre in den Herzen der Menschen. Der Ofen ist aus grobem Stein gebaut, im Kessel schwimmt geschmolzenes Schneewasser. Es schimmert trüb.

Ein Tuch wird gebracht, das Kind hineingelegt. Behutsam, wenigstens das.

Es ist ein Junge.

Viel zu früh kam er auf die Welt. Eine Welt, die aus einer Handvoll schiefer Steinhäuser, ein paar Hütten, Schafen und Ziegen besteht. Ein Schaf ist hier mehr wert als ein Kind. Das Schaf frisst nur Gras, braucht nur etwas Wasser, gibt dafür Wolle, Milch und Fleisch. Ein Augenpaar erbarmt sich und schaut das Kind an, schiebt das Tuch vom Gesichtchen, lächelt.

»Ein Würmchen«, ruft es. Yade, trotz der Kälte ohne Schuhe an den Füßen. Großäugig, wunderhübsch. Ihr Kleid, zerschlissen, aus zu dünnem Stoff, war einmal gelb. Sie ist das zweitälteste von jetzt fünf Geschwistern. Yade ist acht. Ihre vier- und sechsjährigen Brüder Baran und Timur liegen in einer Decke zusammengerollt auf einem Teppich am Feuer, Cengiz, der älteste Bruder, schaut draußen nach den Ziegen.

Später wird man sich erinnern, dass an jenem Tag in einer Fabrik in der nächsten Stadt ein Feuer ausbrach und acht Arbeiter ums Leben kamen. Einige Zeilen standen in der Zeitung. Sonst wüsste niemand, dass heute der 31. Januar 1966 ist.

»Bekir«, so flüstert zehn Tage später der Dorfälteste dem kleinen Knaben dreimal in das rechte Ohr. Bekir. Das bedeutete »der Neugeborene, der Reine«.

Eine Nachbarin erbarmt sich, stillt den Jungen, an dessen Überleben kaum einer glaubt. Er weint nicht, wimmert mehr. Yade, die große Schwester, nimmt ihn in den Arm, wiegt ihn wie eine Puppe, summt Lieder, säubert ihn. Die Mutter – geistesabwesend, stumm, passiv. Sie wartet. Wo bleibt ihr Mann? Tarık? Er weiß nichts von dem Kind. Für die einfache Frau ist der Ehemann unvorstellbare Tausende von Kilometern weit entfernt, seit vielen Monaten war er nicht zu Hause, es wird noch Wochen dauern, bis er wiederkommt. Schimpfen wird er. Denn eine große Reise steht bevor, ein Abschied für immer. Abschied aus der Kargheit, der Kälte, der Armut, der Bitterkeit. Endlich. Und dann das Würmchen. Vielleicht überlebt es nicht, so denkt sie jeden Tag. Es ist so klein, so schwach.

Aber es überlebt. Und früher als jedes andere hier geborene Kind, so flüstern die alten Frauen im Dorf, lächelt es. Als ob es dafür einen Grund gäbe!

Yade versucht es immer wieder: »Schau, Mama, wie er die Fäustchen streckt«, ruft sie mit ihrer hellen Stimme, wenn sie ihren kleinen Bruder vorsichtig hochhebt, sein Köpfchen stützt und zur Mutter trägt. Doch Sema wendet den Kopf ab.

»Lass, Yade, nicht jetzt«, sagt sie müde und lässt ihre rauen Hände ineinander verschränkt im Schoß liegen, so als müsse sie sie festhalten, damit sie nicht nach dem Säugling greifen. Yade hält Bekir, flüstert Worte in die winzigen Ohren, geht mit ihm herum und wärmt ihn in ihren Armen.

Er kann schon nach ihren Haaren greifen und vor Freude über Yades Quietschen gurrend lachen, als der Vater zurückkommt. Es ist Ende Mai. Der Schnee ist in diesem Jahr früh geschmolzen, die Luft ist mild, es riecht nach Kräutern. Der krautige Tragant zeigt seine Blütenähren und tupft die Steppe gelb, weiß und purpurn. Violett leuchten die hohen Königskerzen, lila wiegen sich die wie Körbchen geformten Blüten der ersten Flockenblumen im Wind. Tarık ist staubig von der Fahrt in einem Kleinbus mit kaputten Fenstern, sein Schnauzbart vom lehmigen Erdstaub rot gepudert. Lange umarmt er seine Frau, streicht seinen vier Kindern über den Kopf. Wie groß sie geworden sind! Er lacht, nimmt seinen Sohn Baran auf den Arm, dreht sich um seine eigene Achse.

»Wie sehr ich euch vermisst habe, meine Kleinen! Und unsere Yade wird immer hübscher!«, ruft er und betrachtet stolz seine einzige Tochter, deren Haar in zwei dicken, filzigen Zöpfen gebändigt ist.

»Und mein Großer, fleißig wie immer«, lobt er den neunjährigen Cengiz, der ein Bündel Holz hereingetragen hat und die Tränen der Freude über die Rückkehr seines Vaters kaum zurückhalten kann. Tarık hat einen Anzug an, Süßigkeiten und ein paar Kleidungsstücke für die Kinder mitgebracht, für Sema eine Bluse und ein großes, seidenes Tuch.

Yade nimmt seine Hand, führt ihn zu der Decke, auf der der Knabe liegt. Und dann geschieht etwas, das die Mutter weinen lässt – zum ersten Mal nach Jahren lässt sie zu, dass ihr Herz weich wird. Der Vater sieht den Knaben an, sanft hebt er ihn hoch. Und küsst ihn auf die Stirn.

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Ein Versprechen wurde gegeben. Nun kann es eingelöst werden. Sema hat Pakete geschnürt, zwei Koffer und Taschen gefüllt. Sie stehen vor der Hütte. Dann geht Tarık vor, die Familie folgt, Yade presst den kleinen Jungen an sich, den sie mit einem Tuch um sich gebunden hat. Sie gehen einige Hundert Meter bis zur Straße und warten auf den Bekannten, der sie bis zur Bushaltestelle in die nächste Stadt fahren wird. Niemand von ihnen dreht sich noch einmal um, nur Cengiz schaut zu den Ziegen, die er jeden Tag gehütet hat.

Die Fahrt nach Istanbul dauert fast 18 Stunden. Es ist stickig und eng, es riecht streng, der Bus holpert mehr, als dass er fährt, das Baby schreit. Als sie endlich in die große Stadt kommen, pressen die übermüdeten Kinder ihre Stirn an die Fenster. So viele Menschen, Eselskarren, Lastenträger, Busse, Autos und Motorräder. Solch riesige Moscheen. So viel Lärm. Yade weint. Sie hat Angst.

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Leise klopft der Vater an die Tür. Es ist schon dunkel, das Getümmel auf den Straßen hat kaum nachgelassen, hier an der Ecke zu einer gepflasterten Gasse ist es etwas ruhiger. Ein Dienstmädchen öffnet, tritt zur Seite und weist mit gesenktem Blick ins Innere des mehrstöckigen Hauses, in dem eine Etage höher eine weitere Tür offen steht. Sie führt in eine Wohnung. Ein groß gewachsener, grauhaariger Herr kommt Tarık entgegen. Tarık beugt sich vor und küsst ihm die Hand. Der Herr führt ihn durch einen langen Flur in ein geräumiges Wohnzimmer mit einem mächtigen Sofa, elegantem Diwan, samtbezogenen Sesseln und Möbeln aus dunkel glänzendem Holz, überall verteilt stehen Figürchen und gerahmte Fotografien. Der Teppich ist weich, es riecht nach feinem Tabak. Tarık hat noch niemals so ein prächtiges Zimmer gesehen. Das Dienstmädchen bietet Tee und Pistazien an, die Augen immer noch gesenkt.

»Danke, Alina«, sagt der Herr und schickt sie mit einem Wink aus dem Zimmer. Leise sprechen die Männer miteinander. Tarık erhebt sich wenig später, reicht dem großen Mann vorsichtig ein Bündel, das er die ganze Zeit gehalten hat. Er erhält dafür einen braunen Umschlag, verbeugt sich und verlässt das Haus.

Das Bündel im Arm des großen Mannes bewegt sich, ein zarter Laut ist zu hören. Es ist Bekir.

Bekir. In der Sonne des Mondsterns

| 1973 |

»Mamaaaa«, brüllt der Junge, »Mama, guck doch mal, ich habe einen Fisch gefangen!« Stolz hält er ein zappelndes Ding in den kleinen Händen, die Angel ließ er fallen, seine Füße sind nass, die kurze Hose auch, am Boden steht ein blecherner Eimer, der ihm fast bis zu den Knien reicht. Seine Mutter lacht.

»So munter, wie der ist, springt er morgen bestimmt freiwillig in die Pfanne«, ruft sie. Sie sitzen am Tisch ganz außen auf der Terrasse, das Flussufer liegt direkt vor ihnen, eine fast fertige Brücke überspannt unweit die ganze Breite des Bosporus. Sie wird die erste Brücken-Verbindung zwischen Europa und Asien sein, die Bevölkerung ist stolz auf dieses Bauwerk. Langsam verdämmert das Tageslicht auf der europäischen Seite und geht in ein warmes Rot über, einige Autos haben schon die Scheinwerfer eingeschaltet. Ein lauer Wind erhebt sich, und die Mutter zieht die Jacke enger um die Schultern, hier am Wasser wird es schneller kühl. Ihr Mann – sein Haar ist schon fast weiß, auch im Sitzen sieht man, dass er groß gewachsen ist – prostet ihr zu, sie schauen sich an. Es ist schon sein drittes Glas – aber es gibt einen Grund zu feiern.

»Weißt du noch, wie er uns direkt anlächelte, obwohl wir doch Fremde für ihn waren?«, fragt die Frau.

»Ja, Banu, ich weiß es noch wie heute«, antwortet ihr Mann. Wieder erhebt er sein Glas, in dem der letzte Rest Rakı milchige Wellen schlägt: »Auf den Tag, als die Freude bei uns einzog«, prostet er erneut seiner Frau zu.

Sie hebt ihr Glas, an ihrer feingliedrigen Hand schimmert der kostbare Smaragdring, den ihre Mutter ihr zur Hochzeit schenkte und der schon ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter geschmückt hatte. Wie schön sie ist. Ihr dichtes, dunkelbraunes Haar, das sie in einer nach innen gedrehten Welle schulterlang und mit einem breiten Haarband gebändigt trägt, die vollen Lippen, die mandelförmigen, warmen Augen mit dem feinen Lidstrich, das Grübchen am Kinn ihres runden Gesichts, dem die Zeit nichts anzuhaben scheint. Ahmet sieht sie dankbar an.

Beide schauen zu ihrem Sohn, der sich am Ufer immer noch mit dem zappelnden Fisch abmüht, der einfach nicht in den Eimer springen will. Sieben Jahre ist es her, dass der Junge ihnen geschenkt wurde. Er ist klein für sein Alter, aber er läuft schneller als all seine Spielkameraden und löst mit seinem Vater Rechenaufgaben, die sonst erst viel älteren Schulkindern gestellt werden. Sein Lachen ist hell und von ansteckender Fröhlichkeit. Er lacht häufig – auch bei Missgeschicken. Es fällt der Mutter schwer, ihn zu ermahnen, wenn er in seinem immerwährenden Bewegungsdrang Milch verschüttet, trotz ihres Verbots auf dem riesigen Sofa hüpft oder die Treppen so rasch herabeilt, dass er stolpert. Der Junge schaut sie dann mit solch einem flehentlichen Blick an, dass sie nicht anders kann, als ihm nur kurz das Haar zu zerzausen oder scherzhaft den Zeigefinger zu erheben. Überhaupt: die Augen dieses Kindes. Sie kennt niemanden, erwachsen, jugendlich oder Kind, mit solchen Augen. Sie haben die Fähigkeiten eines Chamäleons. Eigentlich von einem moosigen Grün, doch auch blaugrün und glasklar glitzernd vor Freude, wenn sein Vater ihn lobt; oder in unergründlichem Bernsteingelb schimmernd, wenn er nachdenklich aus den Fenstern seines Zimmers auf die gegenüberliegende Hauswand und durch die Mauern hindurchzuschauen scheint. Sie können mit treuem Augenaufschlag milchig schwimmen – dann weiß Banu, dass er schwindelt. Sie werden blitzschnell metallisch hart, wenn er in einem seiner unvermittelten Wutanfälle seine Spielsachen krachend an die Wand wirft und erst aufhört, wenn sich sein Atem beruhigt und Banu ratlos und fast ängstlich ob der Wucht seines Zorns die Tür seines Zimmers geschlossen hat. Manchmal werden die Augen des Jungen ganz dunkel und trübe von einem unbekannten Kummer, den nur er kennt. Dann geht die Mutter zu ihm, nimmt ihn in den Arm, streichelt ihm über den Rücken und flüstert Kosenamen. Es macht sie traurig, dass sie diesen Kummer nie wird heilen können. Niemand wird das können.

Banu hat einmal gehört, dass die Augen das Fenster zur Seele sein sollen. Seit sie diesen Sohn hat, weiß sie, dass es so ist.

Nun steht er vor ihr und reibt sich die Fenster zur Seele. Er ist müde – fast den ganzen, für Mai ungewöhnlich warmen Tag hat er am Wasser gespielt. Morgens mit seinen Kameraden gerangelt und getobt, und jetzt hat er einen langen, anstrengenden und schließlich siegreichen Kampf mit einem widerborstigen Fisch hinter sich. Der hat sich in sein Schicksal ergeben und bewegt die Flossen erschöpft in dem silbrigen Eimer.

Bald wird es ganz dunkel sein, der Vater bezahlt und steht auf. Ahmet misst fast 1,90 Meter, er hebt seinen kleinen Sohn mühelos hoch und trägt ihn nach Hause, der Eimer scheppert leise in Banus Händen. Der Weg ist kurz: Er führt keine 200 Meter die Hauptstraße entlang, dann biegt die Dereboyu Caddesi rechts ab und führt zu ihrem Apartmanı und ihrer großen Wohnung im ersten Geschoss des Eckhauses. Vor nicht allzu langer Zeit standen hier im Viertel noch viele Konaks, jene herrschaftlichen Stadtvillen osmanischer Großbürger aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Sie hatten oft mehr als 20 Zimmer, die in private Räume für das Familienleben – den harem – und öffentliche Räume – selâmlık – aufgeteilt waren. Diese hölzernen, zwei- oder dreistöckigen Villen in Beşiktaş und Nişantaşı waren die letzten Zeugen einer großen Vergangenheit, ganze Clans samt den Bediensteten hatten darin gewohnt. Jetzt zeugen nur noch einige abgebrannte Ruinen von ihrer einstigen Pracht. Nachts geben sie ein gespenstisches Bild ab, tagsüber dienen sie Kindern als begehrter Abenteuerspielplatz. Seit Jahren werden nun moderne, vielgeschossige Wohnhäuser gebaut, in denen verschiedene Familien in den einzelnen Etagen leben – etwas, das es in der Geschichte des Landes noch nicht gab. Doch die explodierende Bevölkerung Istanbuls braucht Platz, jedes Jahr zählt man mehr als 100.000 neue Bürger, die meisten kommen aus den bitterarmen Gebieten im Osten Anatoliens. Die Stadt wächst – auch auf den noch vor 100 Jahren kaum besiedelten, dicht bewaldeten Hügeln nordwestlich des Goldenen Horns. Dort, wo die Sultane in den Jahrhunderten zuvor ihre Schießübungen abgehalten haben, entwickelt sich ein modernes Einkaufs- und Wohnviertel. Die wohlhabenden Schichten bevorzugen die Lage mit Blick oder zumindest mit Nähe zum Bosporus, bald wird die erste Hängebrücke – sechsspurig, eineinhalb Kilometer lang und mit 165 Meter elegant in die Höhe ragenden Pylonen aus Stahl – eingeweiht werden. Nur der Name »Nişan taşı«, Zielstein, erinnert noch an die Zeit, als hier Jagdrevier und Schießübungsplatz der Fürsten war.

Vorsichtig geht Ahmet die drei schwarzen, von vielen Schritten glatt polierten Stufen zum Hauseingang hoch, Banu hat schon aufgeschlossen, das Dienstmädchen Alina wartet in der nächsten Etage an der offenen Wohnungstür. Langsam bewegt der Vater sich nach oben, der Junge ist längst eingeschlafen, sein Kopf liegt auf der Schulter des Vaters, schlaff hängt sein dünner Arm an der Seite herab. Er wacht nicht auf, als er durch den Korridor getragen und vorsichtig in sein weiches Bett gelegt wird, merkt nicht, wie die Mutter ihm die Schuhe abstreift, ihn sorgfältig zudeckt und ihm einen Kuss auf die Stirn haucht.

»Meleğim Bekir iyi uykular. Schlaf gut, Bekir, mein Engel«, verabschiedet sie sich und betrachtet ihn einige Sekunden lang mit innigem Lächeln.

Bekir. Geborgenheit

| 1979 |

Das Gymnasium liegt nur wenige Hundert Meter vom Bosporus entfernt. Einst muss der reich verzierte Bau wohl einem Paşa gehört haben, heute toben über 300 Jungen in den Gängen. Der Direktor sieht es nicht gern – Lärm und Ausgelassenheit sind ihm ein Graus. Wenn seine leicht gebeugte Gestalt irgendwo auftaucht, verstummen die Geräusche, das Gerenne endet, fast jeder Junge versucht, sich unsichtbar zu machen. Im Flüsterton werden Gerüchte ausgetauscht, was mit denjenigen geschieht, die er in sein düsteres Büro bestellt, weil sie gegen die strengen Schulregeln verstoßen haben. Neulich erst traf es Bircan, der auf dem Schulhof in eine Rangelei zwischen Zwölfjährigen verwickelt war. Fast eine Stunde war er im Büro, danach schlich er mit hängendem Kopf und triefender Nase aus der Schule. Er kam nie wieder dorthin zurück. Bekir erzählte es seiner Mutter, Bircan wohnte nur eine Straße weiter. Banu schüttelte ungläubig den Kopf und ging zum Telefon. Sie wählte die Nummer von Bircans Mutter. Als sie wieder auflegte, war ihr helles Gesicht noch blasser als sonst. Sie legte die Hände schwer auf Bekirs schmale Schultern und sah ihn an: »Halte dich an die Regeln, die der Direktor aufgeschrieben hat, hörst du? Versprichst du mir das, Bekir?« Ihr Sohn nickte – selten sprach seine Mutter so ernst zu ihm, für ernste Themen war sein Vater zuständig.

Seine Eltern führen ein angenehmes Leben. Ahmet ist ein angesehener Geschäftsmann, Banu kommt aus einer vornehmen Familie. Am Wochenende gehen sie gerne aus, sie werden zu Empfängen, Cocktailpartys oder Hochzeiten eingeladen. Bekir liebt es, wenn seine Mutter sich den ganzen Tag auf solch eine Festlichkeit vorbereitet. Sie nimmt zwei oder drei ihrer eleganten Kleider aus dem Schrank, hält sie vor sich und dreht sich vor dem hohen Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Stets fragt sie ihren Sohn: »Mein Liebling, welches soll ich anziehen?«

Bekir ist stolz, dass er eine solch wichtige Entscheidung treffen darf. Er bittet seine Mutter, noch mal das eine vor sich zu halten, schaut wichtig drein, geht um sie herum, inspiziert den Stoff. Dann trifft er seine Entscheidung, und Banu sucht in ihrer roten, goldgeprägten Lederschatulle den passenden Schmuck heraus. Ist das Kleid schulterfrei, legt sie ihre mehrreihige, eng am Hals liegende Perlenkette um, ist es höher geschlossen, trägt sie lange goldene Ohrgehänge, die zart klimpern, wenn sie den Kopf bewegt. Und stets schimmert bei besonderen Anlässen der große Smaragd an ihrer Hand. Meist steckt sie ihr Haar aufwendig hoch – das kann sie sehr gut – und schminkt sich sorgfältig. Wenn sie dann strahlend und duftend am Arm ihres Gatten, der Dinner Jacket oder Smoking trägt, die Wohnung verlässt, bleibt Bekir mit dem Gefühl zurück, dass er ein sehr bedeutender Junge ist. Er geht zu Bett in dem wohligen Bewusstsein, dass ihm im Leben nichts Schlimmes geschehen könne.

An den Wochentagen, wenn Ahmet von der Arbeit als Leiter einer Textilfabrik nach Hause kommt, die Schuhe neben der Eingangstür abgestellt, seine Banu begrüßt und mit der Familie das von der Köchin zubereitete Abendessen verspeist hat, begibt er sich in sein kleines, schummriges, mit Büchern gefülltes Arbeitszimmer am Ende des Flurs und nimmt in seinem an den Lehnen abgewetzten Ledersessel Platz. Das Dienstmädchen – alt schon und krumm, bei ihnen angestellt, seit Bekir denken kann – bringt ihm ein Glas stark gesüßten Tee und seine Zigarre. Eine einzige raucht er am Tag, langsam und genüsslich. Stets steht der schwere, kristallene Aschenbecher gesäubert für ihn bereit, die zedernen Zündhölzer liegen daneben.

Das ist die Stunde, in der er seinen Sohn zu sich ruft. Früher hat Bekir sich auf ein großes, ledernes, schon von Rissen raues Kissen zu Füßen des Vaters gekauert, die Beine mit den Armen umschlungen, die Augen aufmerksam Ahmet zugewandt, die Geborgenheit und vertrauensvolle Eingeschworenheit unter Männern genießend. Nun findet er sich zu groß, um auf dem Boden zu sitzen – er ist schon fast 14! Kerzengerade sitzt er seinem Vater gegenüber auf einem einfachen Holzstuhl, berichtet, was er im Unterricht gelernt hat. Er erzählt ungern, dass die älteren Jungs ihn wieder gehänselt haben, weil er immer noch der Kleinste in seiner Klasse ist; er ist stolz, dass er die beste Note in Rechnen hat. Immer.

Er verschweigt, dass ihm Lesen und Schreiben schwerfallen. Ahmet hört seinem Sohn zu, nickt ab und zu mit dem Kopf, schmaucht seine Zigarre, blickt dem zögernd in der Luft verharrenden Rauch hinterher. Man könnte meinen, er sei mit den Gedanken ganz woanders, verschwunden in dem Nebel aus Tabakrauch, der den Raum bald einhüllt. Doch unvermittelt kann er eine Frage stellen oder Bekir ermahnen, wenn er eine abfällige Bemerkung über einen Mitschüler macht oder gar über ein Mädchen aus der Nachbarschaft spricht. Ahmet hört genau zu.

Von seiner Mutter lernt Bekir bedingungslose Liebe und Hingabe – von seinem Vater Respekt und Achtung. Und dass man Letzteres nicht geschenkt bekommt:

»Vergiss es niemals, mein Junge: Wer andere nicht respektiert, wird selbst nie respektiert. Wer die Meinung und Gefühle anderer missachtet, wird selbst missachtet.«

Der Vater spricht nicht viel, aber meist sind es dann solche Dinge, die er dem Jungen in ihrer Zweisamkeit sagt:

»Nicht viele Dinge zählen im Leben. Es sind nur drei: Liebe, Achtung und Vertrauen. Ohne diese drei ist ein jedes Leben armselig, auch wenn du der an Gütern reichste Mann am Goldenen Horn bist.«

»Es gibt immer mehrere Wahrheiten, mein Sohn, es kommt immer darauf an, wo man steht. Wie ein Zimmer, in das die Sonne scheint: Es ist dasselbe Zimmer und dieselbe Sonne. Doch es sieht an jeder Ecke anders aus. Auch die Lüge hat viele Gesichter. Man lügt aus Selbstschutz. Man lügt, um andere zu schützen. Man lügt aus Verlegenheit und aus Bequemlichkeit. Aber lüge niemals – niemals! –, um andere bewusst zu täuschen. Lüge niemals aus Hinterlist und Feigheit! Und lüge dich niemals selbst an. Dann müsste ich mich schämen, dein Vater zu sein.«

Viel später wird Bekir an diese Worte denken. Zu spät. Da erreichen sie ihn schon lange nicht mehr.

Bekir. Dunkelheit

| 1981–84 |

Kaum ein Jahr nach dem Abend, an dem Ahmet seinen Sohn vor der Lüge warnte, stirbt Banu. Es ist vier Tage vor Bekirs 15. Geburtstag. Der 27. Januar 1981. Sie ist 59 Jahre alt, man hatte ihre Krankheit erst erkannt, als keine Heilung mehr möglich war, obwohl Ahmet alles daransetzte, ihr Leben zu retten, sie zu den besten Ärzten brachte und ein Vermögen ausgab, um ihr die kostspieligsten Behandlungen zu ermöglichen. Bekir weiß nicht, welches Leiden es genau war. »Etwas, das nur Frauen angeht!«, bescheidet man ihn barsch, wenn er vorsichtig nachfragt.

Doch er ist nicht dumm, er stellt sich taub und macht sich unsichtbar, hört und sieht aber alles. Er kann sich anschleichen, ohne einen Laut zu verursachen, lauscht an den dunklen Holztüren, die er ohne Knarzen einen Spalt öffnen kann. Versteckt sich hinter dem hohen Sofa und ignoriert den gewebten Stoff, der an seiner Haut scheuert, ignoriert auch den Staub, der Hustenreiz verursacht. Auch die vom Steinboden hinter dem Sofa aufsteigende Kälte macht ihm nichts aus, wenn er dort kauert, und auch nicht die Hitze des im Winter zusätzlich genutzten Kohleofens, wenn er sich wie versteinert in der großen Küche danebenstellt und niemand ihn zu bemerken scheint. Banu war an einem Tumor im Unterleib gestorben, es ging rasend schnell. Aus der fülligen, immer noch schönen Frau wurde innerhalb weniger Wochen ein knochiges Gespenst mit Augenringen und eingefallenen Wangen. Als Bekir sie das letzte Mal sah, war sie zu schwach, um zu sprechen, er sah ihren flehentlichen Blick, sah die Liebe darin. Er strich ihr das nun dünne Haar aus der Stirn und küsste sie sanft. Ihm fielen keine Worte ein.

Banu starb im Krankenhaus, Ahmet hielt ihre Hand.

Bekir sitzt in seinem Zimmer auf seinem weichen Bett mit den vielen gemusterten Kissen und beobachtet den Baum vor seinem Fenster. In heißen Auguststunden spendet er ihm Schatten und filtert das grelle Licht, nun im Winter scheint er ihm mit dieser gespeicherten Wärme und den im Wind flüsternden Ästen Trost zuzurufen. Bekir steht auf, haucht gegen die Scheibe und drückt seine Stirn gegen das beschlagene Glas. Es ist kalt. Der Abdruck, den seine warme Haut hinterlässt, verblasst schnell und verschwindet, als sei er nie dort gewesen. Bekir ist traurig, sicher, er weint, wenn andere in sein Zimmer kommen, über den Baumwollteppich aus Konya zu ihm schleichen und ihn tröstend umarmen wollen. Er tut dies mehr aus Pflichtbewusstsein denn aus Kummer – schließlich weiß er, was sich gehört, wenn die Mutter stirbt. Weiß, was die Menschen erwarten. Sie sind ja so leicht zu täuschen! Aber im Innersten bleibt er seltsam unberührt, als hätte der Schmerz keine Chance, ihn zu berühren. Aber er hing doch so sehr an seiner Mutter! Liebte sie über alles! Er hätte keine bessere, liebevollere haben können. Es macht ihm selbst Angst, doch nur kurz. Er merkt, dass er den Schmerz verschließen kann. Und ahnt, dass das gut für ihn ist. Aber nur für ihn.

Ahmet jedoch bricht es das Herz. Er ist 14 Jahre älter als Banu. Sie war immer da gewesen, 40 Jahre lang Sanftmut, Klugheit und das sanfteste Lächeln der Erde. Selbst im Streit verspritzte sie mit ihrer Zunge kein scharfes Gift – Ahmet wusste von einigen seiner Freunden, dass andere Ehefrauen diese besondere weibliche Gabe sehr wohl verfeinert hatten und sich ihrer mit zornesblitzenden Blicken bedienten. Auch wenn Banu ihm keine Kinder schenken konnte: Nie hätte er sie verlassen. Banu war sein Alles gewesen. Sein Leben. Seine Liebe.

Mit ihrem Tod weicht alles Licht aus der weitläufigen Wohnung an der Ecke der Dereboyu Caddesi. Es scheint, als habe Banu alle Farben mitgenommen: Der große seidene Teppich im Salon ist nun nicht mehr dunkelblau und rot und safrangelb gemustert, sondern grau. Die vielen Fotos, die auf dem Klavier und dem Buffet stehen, offenbaren, was sie wirklich zeigen: längst verstorbene Menschen, längst vergangene Ereignisse. Die kleinen Figuren, Räuchergefäße, silbernen Dosen und gemusterten Vasen, die Banu sammelte und überall in der Wohnung verteilte, wirken wie überflüssiger Nippes. Der schmale Diwan ist ebenso verwaist wie das große Sofa. Der Turbanhalter an der Wand zeigt, was er ist: nutzlos. Aus dem aufwendig geschnitzten und mit Perlmutteinlagen verzierten Couchtisch ist ein spitzzahniges Monstrum geworden. Selbst die Scheinwerfer der Bosporus-Dampfer, deren fernes, mildes Licht abends seinen Weg durch die Vorhänge findet, schimmern unheilvoll, ihr Hupen klingt wie Wehklagen.

Wenn Bekir von der Schule nach Hause kommt, wartet nur noch Alina, das krumme Dienstmädchen. Keine Hände mehr, die ihm durch das Haar wuscheln, niemand mehr, dem er seine kleinen Schüler-Kümmernisse schildern kann oder seine lustigen Einfälle, die die ganze Klasse zum Lachen brachten; kein verständnisvolles Nicken, kein Scherzen mehr. Stattdessen Stille und eine namenlose Leere. Ahmet, der nun in Rente ist, ruft ihn abends nicht mehr zu sich in sein nach Tabak riechendes Arbeitszimmer, jenen kleinen, geschützten Raum, diese Keimzelle von Vater und Sohn, von Meister und Schüler. Ahmet ist um Jahre gealtert, er geht nicht mehr aus, empfängt keinen Besuch. Er ist nicht mehr derselbe.

Bekir muss erkennen, dass dieser stolze, kluge Herr ohne seine Frau plötzlich nichts ist als ein gebeugter, schwacher, sprachloser Mann, der seinem Sohn keine Stütze und kein Ratgeber mehr ist. Bekir ist enttäuscht, er verehrt und liebt seinen Vater und weiß nicht, was er tun soll – kann denn ein trauerndes Kind einem trauernden Vater helfen? Der Junge versteht noch nichts von der Liebe zwischen Mann und Frau, schon gar nicht von dieser seltenen Liebe, die zwei Menschen so sehr zu einem Einzigen macht, dass der eine ohne den anderen verloren ist, nur noch ein Schatten seines Ichs bleibt – nicht mehr vollständig, eine unnütze Hälfte. Ahmet weiß, dass er versagt, doch er findet keine Kraft mehr; der alte Mann weint jeden Abend, wenn ihn niemand mehr sieht.

Stumm nehmen die beiden nun in der Küche und nicht mehr wie früher im Esszimmer an dem polierten, edlen Holztisch ihr Abendessen ein. Es sind Mahlzeiten, die Alina ihnen bereitet hat und die nicht recht schmecken. Danach zieht sich jeder zurück. Ahmet schließt die Tür seines Zimmerchens hinter sich zu; niemand weiß, was er dort tut, was er denkt oder ordnet. Wenn Bekir sich nicht heimlich davonschleicht, um seine Freunde zu treffen, sitzt er verloren im Wohnzimmer in einem grünen, samtenen Sessel und sieht auf einem kleinen Gerät fern oder legt sich auf sein Bett, schaut auf die niemals ruhenden Blätter der Linde vor seinem Fenster und träumt diffus von etwas Neuem, von dem er keine genaue Vorstellung hat.

Das Fundament seiner Existenz wankt unmerklich. In seinem Leben ist das Licht ausgegangen. Es ist nicht das erste, doch das ahnt er noch nicht.

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Bekir lebt bald sein eigenes Leben. Seine neuen Freunde sind nicht die, die sich seine Mutter für ihn gewünscht hätte. Obwohl er selbst aus gutem Hause kommt, schart er Jungs aus Schichten um sich, die seine Eltern verachten. Bauernsöhne von Zuwanderern aus Ostanatolien, die meisten kaum des Schreibens mächtig, mit schlechten Umgangsformen, manche roh. Der Umgang tut der namenlosen Wut gut, die in ihm schlummert. Nach der Schule lungert er mit ihnen an den Ecken des Viertels oder am großen Basar herum, sie rauchen und schauen frech den Mädchen hinterher.

Aber Bekir hat etwas an sich, das den Frauen gefällt. Seine grünen Chamäleon-Augen unter dunklen Locken können herzerweichend treu blicken, sein Lächeln ist von einnehmender Herzlichkeit, immer hat er ein Kompliment auf den schön geformten Lippen. Nicht selten werden ihm sogar unter Kopftüchern verschämte Blicke zugeworfen. Das merkt er genau. Auch seine Mutter war eine Frau gewesen. Er verfehlte seine Wirkung auf sie nie.

Bekir braucht Geld, er möchte sich Zigaretten kaufen, angesagte Klamotten tragen und seinen Freunden imponieren, indem er sie einlädt. Seinen Vater fragt er nicht – der ist ganz in sich versunken, wird seinem Sohn immer ferner, nimmt in Bekirs Augen nicht teil am Leben des Halbwüchsigen. Bekir erkundigt sich bei Händlern im großen Basar, ob er ihnen gegen Entgelt als Verkaufsgehilfe oder Bote behilflich sein könne – gerne engagieren sie ihn, er hat eine einnehmende Art, kommt bei Kunden gut an.

Doch es dauert nicht lange, und im Basar wird über ihn geflüstert: Es scheint ein offenes Geheimnis zu sein, dass Bekir, dieser gut erzogene Junge und heitere Helfer, ein Dieb geworden sein muss. Obwohl es gegen die Ehre eines jeden Laufburschen verstößt, der dort arbeitet, scheut Bekir sich anscheinend nicht, ab und zu in den Läden oder bei Botengängen Sachen verschwinden zu lassen. Immer wieder fehlt etwas, wenn er den Kunden erworbene Gegenstände bringen oder sie von einem Ladenbesitzer zum nächsten übermitteln soll. Nicht jedes Mal, aber doch regelmäßig. Wird Bekir gefragt, wo denn das seidene Tuch aus der Lieferung geblieben sei, der schmale Armreif oder der fein ziselierte kupferne Becher aus dem Regal, schaut er den Standbesitzer groß an, die Augen werden feucht, mit heiserer Stimme versichert er, dass er es nicht wisse, dass er niemals in ein Paket oder eine Tasche hineinschauen oder gar stehlen würde, jeder wisse doch, dass das eine Sache der Ehre sei. Er kann so überzeugen, dass die meisten denken, sie selbst hätten es verschusselt oder verlegt. Und niemand kann ihm je etwas nachweisen.

Im Alter von 16 Jahren ist Bekir zu einem Meister der Täuschung geworden. Er führt ein Doppelleben: das des gehorsamen, seinen Vater ehrenden Sohnes und fleißigen Schülers, der seine Prüfungen halbwegs erfolgreich ablegt. Aber auch das eines von halbseidenen Freunden umgebenen Herumtreibers, der mit kühner Dreistigkeit stiehlt und mit einem Lächeln im Gesicht lügt. Falls er ein schlechtes Gewissen hat, verbirgt er es gut. Auch vor sich selbst.

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Als sein 18. Geburtstag bevorsteht, ruft sein Vater ihn zu sich. Seit Ahmet nicht mehr arbeitet, sitzt er fast den ganzen Tag in seinem kleinen Arbeitszimmer, versunken in dem Sessel, der nun viel zu tief für den doch so großen Mann erscheint. Er raucht schon lange keine Zigarren mehr und liest, wenn überhaupt, nur noch die Tageszeitung. Seine geliebten Bücher verstauben unbeachtet in Regalen oder schief gestapelt auf dem Schreibtisch. Sie interessieren ihn, der immer so wissbegierig gewesen war, nicht mehr. Meist starrt er vor sich hin, die Hände auf den Knien, still. Es ist, als sei mit Banu alles Leben auch aus ihm verschwunden. Als warte er.

Unwillig folgt Bekir der Aufforderung des Vaters. Er ist in den letzten drei Jahren zu einem gut aussehenden jungen Mann herangewachsen, wenn auch immer noch kleiner als seine Kameraden. Wenn er lächelt, ruft eine Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen jedem zu, dass er ein fröhlicher, harmloser, lieber Kerl ist. In der Schule ist er beliebt und anerkannt, er ist witzig, scheint stets gut gelaunt zu sein. Immer hat er Ideen, wie man Lehrer unbemerkt hinters Licht führen kann oder bei Klassenarbeiten schummelt. Erwischt wird er nie. Bekir gefällt es, wenn man ihn dafür bewundert.

Langsam begibt er sich in Ahmets Kammer. Noch immer riecht man den Rauch der unzähligen, hier zu heller Asche verbrannten Zigarren. Bekir kann nur noch wenig anfangen mit diesem Mann, der seit dem Tod seiner Frau kaum noch spricht, sich für nichts mehr zu interessieren scheint – auch nicht dafür, dass die große Wohnung zusehends verkommt und das Geld nicht mehr reicht. Jedenfalls in Bekirs Augen, der es gewohnt war, dass man genug Personal hatte, häufig auswärts zum Essen ging, feierte und Gäste einlud. Das Dienstmädchen bleibt nur, weil es viel zu alt ist für eine neue Stelle und froh, dass sie in einer kleinen Kammer wohnen darf und ihr täglich Brot bekommt. Sie gehört zur Familie wie eine unverheiratete, geduldete Tante, die man kaum mehr wahrnimmt – außer wenn sie ihre Pflichten im Haushalt vernachlässigt. Etwas, das nun häufiger vorkommt.

Der Vater sitzt im Gegenlicht der untergehenden Sonne in seinem Sessel, die schwarze Silhouette leicht vornübergebeugt, wie ein aufmerksamer Zuhörer. Er atmet noch schwerer als sonst – schon lange ist er kurzatmig.

»Komm zu mir, Bekir«, sagt er seinem Sohn. Zu dessen Überraschung hält er dem Jungen die Hand hin. »Setz dich nah zu mir.«

Bekir zieht einen Stuhl heran, der Vater legt ihm seine Hand auf den Schenkel. Sie ist knochig, blauadrig und eiskalt. Bekirs Herz beginnt zu klopfen. Er kann sich nicht erinnern, dass sein Vater je so mit ihm gesprochen hat. Körperliche Nähe war ein Tabu, seit er elf Jahre alt war. Was wird sein Vater ihm sagen?

Leise Furcht kriecht in ihm hoch – hat der schwache, alte und seit Banus Tod häufig kranke Mann etwas gemerkt? Hat ihm jemand gesagt, was hinter vorgehaltener Hand im Basar geflüstert wird? Bekir schluckt. Ahmet ist der einzige Mensch auf der Welt, vor dessen Urteil er Angst hat. Vor ihm möchte er der gute, dankbare, gehorsame Sohn sein. Er schlägt die Augen nieder. Wartet auf seine Vernichtung.

Und sie kommt.

Greta. Der Roman

| 2017 |

Wütend klappt Greta das Laptop zu. »Boah, ich hasse diese Geschichte, ich komme nicht voran! Ich schaffe es nicht!!«, schreit sie die unschuldige Küchenwand an.

Seit Wochen müht sie sich ab mit diesem Roman namens »Fremdes Land«, der ihr literarisches Debüt werden soll, nachdem sie ihr langjähriges Engagement in der Kommunalpolitik aufgegeben hat. Hauptberuflich ist sie Übersetzerin für Italienisch und Französisch, wichtigste Kunden sind eine große Werbeagentur und eine internationale Weinhandlung. Die Idee, einen Roman zu schreiben, war in den letzten Monaten gereift. Es waren politische Ereignisse, die sie sehr beschäftigten. Deutschland musste seit 2015 eine Flüchtlingskrise bewältigen, Diskussionen um Abschiebung, Integration, Ausländerfeindlichkeit und Terrorgefahr dominierten die Medien. Ein Rechtsruck war in der politischen Landschaft zu beobachten – nicht nur in europäischen Nachbarländern wie der Schweiz, Ungarn, Polen oder den Niederlanden, auch in der Türkei bahnten sich unter dem neuen Präsidenten totalitäre Strukturen an. Greta plante einen Roman, der das Thema von gelungener oder nicht gelungener Eingliederung von Ausländern in unsere Gesellschaft als spannende Geschichte von Liebe und Leid erzählt. Um die schillernde Hauptperson herum möchte sie die Schicksale einer Gastarbeiterfamilie vor der Folie gesellschaftlicher Gegebenheiten schildern. Dies jedoch mit den üblichen Zutaten kurzweiliger Bücher – Liebe, Leidenschaft, Verbrechen, Vergehen, Verrat. Doch erst allmählich schälen sich ihre Figuren heraus, noch weiß sie nicht, wohin die Reise des Handlungsstrangs sie führen wird.

»Ganz schön ehrgeizig, Madame Pulitzer!«, kommt ein Kommentar aus dem Wohnzimmer.

Anja, ihre Mitbewohnerin, zieht sie regelmäßig auf und weist auf 100.000 Neuerscheinungen von Büchern hin – und zwar jährlich, allein in Deutschland! Und Hunderte weiterer Manuskripte werden geschrieben und nie veröffentlicht.

»Bücher erwirtschaften allein in Deutschland sicher einen Milliardenumsatz. Und da willst du was zu beisteuern, ja? Mensch, Greta! So was zu schreiben dauert Jahre! Wie willst du das neben deinen Übersetzungen schaffen? Ich seh doch, wie du die halbe Nacht recherchierst. Schreib doch lieber was Lustiges – über mein Liebesleben zum Beispiel!«

Anja grinst so breit, wie ihre Hüften sind – die werden vom Herumlungern auf dem Sofa auch nicht schmaler. Aber Anja ist ein Phänomen: Sie wiegt über 85 Kilo, hat bis zur üppigen Taille reichende, dicke, feuerrote Haare und ist so was von rundherum zufrieden mit ihrem Leben, dass Greta fast die Krise bekommt. Denn Anja hat etwas, was Greta im Moment nicht im Überfluss besitzt: ein unerschütterliches Selbstbewusstsein und – man mag es nicht glauben – Liebhaber bis zum Abwinken. Und nicht mal üble – Greta ist jedes Mal sprachlos, wenn sie nachts im Flur oder morgens in der Küche auf einen gut gebauten Mittdreißiger in – im besten Falle – Boxershorts stößt, der derart zufrieden vor sich hin grient, dass man sich schon denken kann, wieso.