Die neunjährige Lilly schildert ihr Leben in einem Dorf auf dem Berg Napf, zwischen den Kantonen Bern und Luzern, Ende der fünfziger Jahre. Inmitten von Armut und harten, bäuerischen Sitten verbringt Lilly ihre Kindheit und wehrt sich mit allen Mitteln gegen die Ungerechtigkeit in der Familie, gegen Gewalt und die Zumutungen der Erwachsenenwelt. Alice Schmid, Filmproduzentin aus der Schweiz, ist mit viel Liebe zum Detail ein Erstling von Gotthelfscher Wucht gelungen, anrührend, beklemmend und von großer Glaubwürdigkeit. Eine tief berührende und wahrhaftige Geschichte, deren Witz und Feinfühligkeit lange nachklingen.
Nagel & Kimche E-Book
Alice Schmid
Dreizehn ist meine Zahl
Roman
Nagel & Kimche
Seit ich zählen kann, zähle ich. Das hilft. Dreizehn ist meine Zahl. So oft haut Mutter mich auf den Rücken. Wenn ich vor Angst Bisi mache, zähle ich auch. Bis dreizehn bleibt es warm, danach wird es kalt zwischen den Beinen. Wenn es dunkel ist, pocht es dreizehn Mal an meine Ohren. Das ist der Tod im Treppenhaus. Hinter der Holzwand, wo Mutter und Vater schlafen, giert’s. Dreizehn Mal. Das ist, wenn Vater von der Nachtschicht kommt.
Bei uns auf dem Napf läuft alles verkehrt. Wer auf der Hinterseite des Berges lebt, ist Berner Protestant. Wer vorne lebt, ist Katholik und gehört zum Kanton Luzern. Beides unter demselben Dach verträgt sich schwer. Solange Mutter Protestantin ist, hat sie noch die Fröhlichkeit. Vater ist Katholik, er hat das Schweigen. Das mit meinem schwarzen Herz ahnt kein Mensch, alle bewundern mich, sie sagen zu mir: «So ein lieber Vater. So eine schöne Mutter. Du wirst mal eine wie sie.»
Meine Mutter ist für mich die Größte. Sie dürfte mich immer hauen. Alles gäbe ich für sie, wenn sie mich nur liebhat. Eines Tages wird sie mich lieben, da bin ich mir ganz sicher, weil niemand sie so liebt wie ich.
In meinem Stoffrestenzelt von Mutters Heimarbeit zähle ich auch, mit den Fadenspulen aus Holz von Vaters Versuchen: «Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun.» So viele Jahre bin ich alt. Jede Spule schreibe ich an, mit einer blauen Zahl. Ich stelle sie auf, in einer Reihe, zähle auch die andern, stelle sie in die zweite Reihe hinten dran: «Zehn, elf, zwölf, dreizehn.» Niemand soll erfahren, was ich plane. Nach dem Zählen haue ich die Spulen um. Sie fallen hin, wie die Reihe im Dominospiel.
Angefangen hat alles mit einer Lüge.
In der Schule steht eine Kartonschachtel auf dem Schrank. Sie ist bunter als die von Vater mit den Spulen auf der Küchenbank. Aber Vaters Kartonschachtel kommt erst am Mittag, jetzt ist Morgen. Ich muss schreiben lernen. OMO war mein erstes Wort. So steht es immer noch oben auf dem Schrank.
Kopfrechnen ist mir lieber. Da bin ich hellwach, blitzschnell, nicht zu schlagen. Das kann ich, weil ich jeden Tag Vaters Spulen zähle. Sogar Fräulein Sidler staunt. Bis zum ersten Tag im neuen Schuljahr, als Vreneli sagt, ich sei eine Lügnerin. Wir rutschen alle eine Reihe nach, Vreneli und ich sind jetzt in der mittleren Reihe, zuvorderst kommen neue Erstklässler, und zuhinterst sitzen die Großen von der Sechsten.
Eins nach dem anderen steht auf, wir müssen den Beruf vom Vater sagen. Fräulein Sidler schreibt alles in ihr Buch von jedem Kind. Die meisten sagen: «Mein Vater ist Bauer.» Viertelabnüüni sagt: «Schnapser.» Sein Vater fährt mit Töff und Schnapsmaschine rund um den Napf. Auf seinem Nummernschild wackelt die LU 915. Ob Protestant im Kanton Bern oder Katholik im Kanton Luzern, der Vater von Viertelabnüüni brennt vorne und hinten die Äpfel und Birnen. Fast alle Väter haben einen zweiten Beruf, weil es bei uns so stotzig und schwer ist, als Bauer genügend Geld zu verdienen.
Viele Väter köhlern als Nebenverdienst, Vrenelis Vater ist so einer. Sie hat immer Ruß im Gesicht und an den Beinen. Wenn sie sich bewegt, steigt Duft aus ihren Kleidern wie bei einer Wurst aus dem Räucherkamin. Mein Vater war früher Metzger. Jetzt ist er im Beruf Fabrikant. Eigentlich ist er Erfinder. Ich entscheide mich für die Berufsarbeit und stehe auf: «Mein Vater ist Fabrikant.» Vreneli redet mir ins Wort und steht nochmals auf, obwohl ich dran bin, nicht sie. «Lilly lügt, Fabrikarbeiter ist ihr Vater.» Fräulein Sidler glaubt natürlich mir. Sie lächelt nämlich und schreibt es auf, in ihr Buch. Vreneli kann nicht wissen, dass mein Vater mit seinem Schweigen etwas Besonderes ist.
Ueli gehört auch in unsere Reihe, er steht als Letzter auf und sagt: «Ich habe keine Mutter.» Er versteht nicht, dass es hier um Väter geht. Ueli hat feuchte Augen, als Fräulein Sidler zu uns «Ruhe!» sagt. Sie ist auf der Seite von ihm und sagt: «Jeder Vater hat einen Beruf, auch der von dir, Ueli.» Ueli bringt nicht heraus, was Fräulein Sidler hören will. Er möchte schon. Das sieht man. Er kann nicht. Er starrt ins Leere. Kein Wunder, sitzt er allein in seiner Bank. Keiner mag neben einem Kind sitzen, das so komisch ins Leere schaut wie Ueli.
Auf dem Schulweg starrt er auch. Er geht ein paar Schritte hinter mir. Drehe ich mich um, bleibt er stehen, starrt mich an. Fräulein Sidler gibt ihm Zeit. Wir dürfen nicht lachen. Schließlich schafft er es, und es wird sich noch zeigen, dass es stimmt, was er sagt: «Immer am Morgen.» Dann ist es wieder still. Das mit dem Morgen hätte mich interessiert. Aber Ueli sagt schnell: «Mein Vater darf nie einen Ring tragen.» Etwas stimmt nicht mit ihm. Ich weiß nur, wenn ich nicht schlafen kann, sehe ich aus meinem Doppelstockbett durchs Fenster an der Scheune von Uelis Vater immer Licht. Die ganze Nacht und auch am Morgen.
Jetzt muss ich einen Satz zu OMO schreiben. Mit Tinte aus dem Fass, das vorne im Pultloch steckt. Ich mache es verkehrt, weil ich im Kopf immer noch bei Uelis Licht an der Scheune bin. Vielleicht ist sein Vater auch Erfinder. Ich tunke zuerst die Feder ins Fass und drücke sie erst danach in den hölzernen Halter. Tinte tropft aufs Blatt. Ich blättere auf die nächste Seite. Der dunkle Fleck drückt durch, aufs neue Blatt. Vreneli neben mir ist längst am Schreiben. Ich denke nur an das Wort, das oben auf der Schachtel geschrieben steht.
Immer, wenn es still wird in der Schule, überfällt es mich. Alles wird schwer. Im Nacken sticht ein Schmerz, als stecke ein Metzgermesser drin. Mein Kopf plumpst vorne runter wie der Kopf der Änzilochjungfrau, der bei uns zu Hause schlaff am Nagel hängt. Ich raffe mich wieder auf. Schiele nach links, schiele nach rechts, mit steifem Nacken. Alle sind am Schreiben. Ich atme tief. Niemand, schon gar nicht Fräulein Sidler, darf merken, was mir beim Schreiben passiert. Sie könnte es der Mutter sagen. Ich konzentriere mich, schaue zum Schrank. OMO. Alles beginnt von vorn, die Augen schwer wie Blei, ich schaffe das nicht, mit der größten Anstrengung nicht. Die Augendeckel sind das Schlimmste. Sie schweben, sie zittern, fallen zu. Das kommt nur am Tag. Nachts sind sie federleicht, aufgedreht, pulsieren. Jetzt ist es Morgen, alle Kinder in den Bänken hellwach, auch die Neuen in der vordersten Reihe. Bei mir ist es umgekehrt. Ich kämpfe. OMO gleitet weg vom Schrank, die Schachtel schwebt hinauf zur Holzdiele. Ich sehe die drei Buchstaben wie im Nebel. Jetzt verschwinden sie. Weg sind sie, in meinem Augenschlitz.
Die ganze Schule starrt hinauf zur Kartonschachtel, kratzt mit den Federn Buchstaben um Buchstaben aufs Papier. Vreneli neben mir schreit, steht schon wieder auf. «Fräulein Sidler!» Mehr bringt sie nicht raus. Sie starrt mit schneeweißem Gesicht auf meinen Unterarm, wo die Feder voller Tinte wie ein Angelhaken stecken bleibt. Ich zerre daran, mit meinen geschwärzten Fingern. Die Haut lüpft sich wie das Stoffrestenzelt, in dem ich zu Hause die Spulen zähle. Darunter klemmt die Feder, will nicht raus. Ich spüre den Schatten von Fräulein Sidler, höre ihre Stimme, jetzt habe ich nur noch den Halter in der Hand. Sie schickt Viertelabnüüni die Schnapsflasche holen, aus dem OMO-Schrank.
Zum Glück schaut Fräulein Sidler nur auf meine Feder und nicht auf das Blatt, wo meine Hand wie von allein geschrieben hat. Der Buchstabe O sieht aus wie eine langgezogene Wasserblase, die nach oben drängt. Das M ist doppelt so lang. Es fliegt wie ein Nachthemd über die Linien zum Seitenrand. Beim zweiten O ist es passiert: Mein Körper zuckt zusammen. Die Hand macht einen Ruck, schießt übers Blatt, der Federhalter landet zack in meinem Arm. Immer werde ich schwer. Dauern tut es nur ein paar Sekunden, schlagartig bin ich wieder wach. Die Angst schlägt ein, das Herz fliegt, hat es jemand gesehen, das mit meinem Schlaf? Umblättern, zudecken, und alles beginnt von vorn. Aber so was wie jetzt, das ist mir noch nie passiert.
Fräulein Sidler dreht an meiner Feder. Einfach geht das nicht. Bei ihr kommt die Haut auch mit, die Feder bleibt drin. Erst als sie rundum die Haut mit den Fingern drückt und spannt, kommt die Feder raus. Ueli stöhnt, als Viertelabnüüni Schnaps auf das schwarze Loch leert in meinem Arm. Es brennt wie Feuer. Alle machen «Uäähh!», stehen rund um mein Pult. Ich zähle, beiße auf die Zähne, gebe keinen Ton von mir. Ueli fällt um, liegt ohnmächtig vor mir auf dem Boden. Zum Glück schauen alle auf ihn. Niemand kann mein OMO sehen. Es verdampft auf dem Blatt. Die Tinte vermischt sich mit dem Schnaps.
In der Pause schenkt Ueli mir eine Zwetschge. Ich weiß nicht, will er sich wichtig machen, hat er es gesehen, das mit meinem Schlaf. Er starrt mich an, wie immer, als möchte er mir etwas sagen. Er ahnt nicht, dass ich das mit dem Licht an seiner Scheune sehe, jede Nacht und auch am Morgen. Seine Zwetschge glänzt, mehr schwarz als blau. Er reibt sie ab, am Hosenbein. Ich esse sie, sie ist süß, noch etwas warm. Bei uns auf dem Napf wachsen fast keine Zwetschgen, nur Birnen und Äpfel. Und die landen in der Schnapsmaschine bei Viertelabnüüni. Ich laufe weg, mit der Zwetschge im Mund. Ueli holt mich ein, starrt zu mir hoch wie ein geschlagener Hund, einen halben Kopf kleiner als ich. Er sagt: «Du bist jetzt mein Schatz.» Ich spucke ihm den Zwetschgenstein vor die Füße.
Da, wo die Väter den Nebenverdienst machen, raucht es aus dem Wald. Auf dem Schulweg gehen Vreneli, ich, Ueli und Viertelabnüüni meist zusammen, weil wir am weitesten oben am Napf wohnen und in der gleichen Reihe sitzen. Ich schüttle Vrenelis Arm weg. In der Schule sagen, dass ich lüge, und sich wieder bei mir einhängen, das mag ich nicht.
Unterwegs kommt uns selten jemand entgegen. Manchmal ein Wanderer, der uns fotografiert, oder ein Traktor mit dicken Pneus und einem Ladewagen, auf den wir aufspringen und nach oben fahren. Manchmal sehen wir Uelis Vater auf einen Strommasten klettern. Die Gewitter am Napf können zünftig wüten. Ganze Tannen fallen um, samt ihren Wurzeln, reißen Stromleitungen und Masten mit. Nach einem Gewitter hat Uelis Vater viel zu tun.
Bei der Krete vom Änziloch bläst uns der Biswind entgegen, wir wechseln automatisch die Straßenseite, gehen eins dicht hinter dem andern am Napfhang entlang. Jeder von uns weiß, was im Änziloch unten passiert, wenn es donnert. Auf halbem Weg, beim Kreuz, bleibe ich trotzdem stehen, nur rasch runterschauen. Noch nie habe ich einen Geist gesehen. Irgendwann muss es klappen. Ueli und Viertelabnüüni schauen auch nur kurz, weil der Herr Pfarrer in der Christenlehre uns warnt, wer da runterschaue, werde selber ein Geist.
Manchmal kurvt ausgerechnet dann, wenn wir die Straßenseite zum Kreuz rüber wechseln, Viertelabnüünis Vater mit seinem Töff samt Schnapsmaschine durch den Wald. Mir macht das nichts. Die anderen verstecken sich. Ich bleibe stehen, klammere mich ans Kreuz, das uns an das Böse mahnt, wie der Herr Pfarrer sagt. Vreneli, Ueli und vor allem Viertelabnüüni, weil das sein Vater ist, der da kommt, kriechen auf dem Bauch in die Stauden hinter dem Kreuz, wo es beängstigend gäch in die Tiefe geht.
Viertelabnüünis Vater singt auf seinem Töff. Nicht so schön. Das hat mit dem Schnaps zu tun. Er will mir Angst einjagen, weil ich es wage, beim Kreuz zu stehen. Er sagt: «Mädchen, bleib nicht stehen. Schau nicht runter, da ist es zweimal so hoch wie der Kirchturm. Ich warne dich. Du hängst in den Stauden, bis dir schwindlig und elend wird. Dann verschluckt es dich, das Änziloch. Das schreckliche Änziloch.» Mit jedem Wort kommt mir seine schwarze Nase näher. Ein durchtränkter Zapfen mit Löchern drin. Ich zähle sie. Es weht mir eine Wolke entgegen wie aus der Flasche im OMO-Schrank. Seine Nase berührt beinah meine. Bei dreizehn mache ich «Uäähh». Das hat er nicht erwartet. Ich bin froh, fährt er endlich weiter. Jetzt macht er nochmals einen Schlenker, das LU 915 wackelt, er schaut zurück und ruft: «Denk dran, wer Böses tut, landet selbst dort unten.»
Viertelabnüüni, der seinen Spitznamen vom Nummernschild seines Vaters hat, verliert beinahe das Gleichgewicht hinter dem Kreuz. Aus Angst, ein Geist zu werden, hält Vreneli den Kopf auf den Boden gedrückt. Ihre Zöpfe hängen verwickelt in den Stauden. Ueli ziehen wir an den dünnen Schultern zurück. Es ist immer dasselbe. Er ist der größte Schisshas, wenn es um Väter geht. Bei mir ist es anders, gerade umgekehrt.
Unser Haus steht direkt über dem Änziloch. Bless hat auch Hunger, zerrt an der Kette, springt bellend an mir hoch. Unter der Eingangstür bleibe ich stehen. Ich lausche und zähle, sonst schaffe ich es nicht über die Schwelle. Bis ich auf dreizehn gezählt habe, weiß ich, Mutter ist gut oder schlecht gelaunt. Ich spüre alles, wenn ich auf der Schwelle stehe. Da höre ich Vater schnarchen und das Ticken der Pendeluhr aus der Stube, wo wir sonntags essen und Mutter ihre Heimarbeit näht.
Wenn Mutter gut gelaunt ist, darf ich die langen Fäden schneiden, die sie braucht, für die Krawatten aus Seide. Den ganzen Tag würde ich ihr mit der Kreide Preisschilder und Etiketten markieren. Die Abstände müssen stimmen, auf den Millimeter genau. Mutter mag nicht, wenn ich ihr nahe komme. Dann macht sie sich breit, steht auf von ihrem Stuhl und trägt ihre langen Krawatten aus Seide rüber zum Bügelbrett. Schlagartig kann ihre Stimmung wechseln. Das Gesicht wird hart, ihre Augen stechen wie zwei Gufenknöpfe, mit denen sie ihre Heimarbeit näht. Bei ihr weiß ich nie, woran ich bin.
Jetzt kommt der warme Strom. Ich kann ihn nicht halten, er ist schneller als ich. Mutter steht im Gang mit dem Meterband. Es wippt in ihrer Hand wie das Pendel an der Uhr. Sie schaut auf meine Hände zwischen den Beinen, und wie das Bächlein über die Schwelle rinnt. Sie sagt: «Womit habe ich das verdient?» Alles, was danach kommt, ertrage ich, weil ich zähle. Ich halte mich fest am Wannenrand und zähle Mutters Schläge. Das hilft, denn ich weiß, bei dreizehn ist es vorbei. Am Lavabo wasche ich aus, was nass ist. Ich trockne die Schwelle und den Gang, nackt bis zum Füdli, rot vom Meterband. Meine Schwester Dora und mein Bruder Res gehen wortlos an mir vorbei. Sie schauen mich nicht an. Es ist immer dasselbe. Sie kommen von der Schule, sie haben Hunger, sie essen ohne mich. Immer, wenn es fleischlos ist, was ich auch runterschlucken könnte, essen sie ohne mich.
Ich kauere im Stoffrestenzelt von Mutters Heimarbeit und horche auf die Töne hinter der Wand. Vater ist wach, das höre ich. Weil es jetzt mäuschenstill ist nebenan. Kein Schnarchen. Es ist meine Schuld, ich habe ihn aufgeweckt. Wenn ich nur mit ihm reden könnte. Er würde mich verstehen. Manchmal schaut er mich an, aber er schweigt. Ich weiß nicht, ob er es weiß, das mit mir. Ich bin sicher, er hat mich gern. Jetzt kommt wieder das Würgen, das Zittern in den Schultern. Es schluchzt in meinem Hals. Ich atme ganz schnell, dann wird mir schwindlig in meinem Zelt. Ich lausche auf die Stimmen aus der Küche. Wenn sie reden, tut mir das weh. Sie essen, sie reden, sie haben es schön.
Vater liegt wach. Er lauscht sicher auch hinter der Wand und hört mein Schluchzen nebenan. Jetzt höre ich, wie er das Streichholz an der Schachtel reibt, wie es zischt und eine Flamme macht. Er zündet sich die Zigarette an. Hinter sein Geheimnis komme ich erst, als ich es schaffe, ihn aus dem Schweigen zu holen.
Dora kommt ins Zimmer. Ich beobachte ihren Schatten, wie er über meine Zeltwand geht und vor dem Schlitz stehen bleibt. Ich kann es nicht bremsen. Sie meint bestimmt, ich hätte den ewigen Schluckauf in meinem Zelt. Sie setzt sich an ihren Tisch, sie hat einen eigenen und eine Insektensammlung. Alles im Zimmer gehört ihr. Nur das Doppelstockbett muss sie mit mir teilen. Jeden Tag bringt sie ein neues Insekt nach Hause. Sie ist älter, hat sechs Spulen mehr als ich, weiß schon viel und geht aufs Gymnasium. Am ersten Tag hat sie zwar wieder kehrtgemacht auf dem Schulweg in die Stadt Luzern. Beinahe hätte sie aufgegeben, weil einer im Zug über ihre Waden lachte und sagte: «Gurken gehören ins Fass.» Meine Waden sind nur halb so rund wie ihre. Schön schlank. Vielleicht ist das der Grund, dass sie an mir vorbeischaut und mich nicht sehen will, und weil ich schön bin wie Mutter.
Dora betäubt das Insekt in einem Glas. Dort liegt Watte drin, mit Alkohol getränkt. Ich lausche, zähle, bis sich das Insekt nicht mehr bewegt, nicht mehr an die Glaswand schlägt. Dora sitzt und wartet, Dora schaut ins Glas, jetzt steckt sie sicher das tote Insekt auf eine Gufe. Ein roter Tropfen fällt auf das weiße Styropor. Ich sehe ihn mit geschlossenen Augen fallen. Den Ablauf kenne ich. Manchmal schaue ich heimlich durch den Schlitz von meinem Zelt.
Ich bewundere Dora. Sie ist gescheit. Sie sagt «Mathematik». Ich kann erst rechnen. Dora sagt: «Ich geh auf mein Zimmer», wenn sie in unser Zimmer geht. Mich behandelt sie wie einen Geist. Ich habe das Stoffrestenzelt, wo ich mich verstecke, und ich habe einen Plan. Den kann sie nicht sehen. Leise stelle ich meine Spulen auf und zähle. Nur noch vier, dann ist es so weit.
Warum Mutters Stimmung an anderen Tagen ganz anders ist, weiß ich nicht. An solchen Tagen geh ich ins Haus, ohne zu zählen. Ich fädle Mutter die Fäden ein, mache einen Knopf am Ende, markiere mit der Kreide millimetergenau die Abstände. Manchmal schenkt sie mir einen der Batzen, die sie von der Heimarbeit erhält. Ihr zuliebe werfe ich ihn ins Negerkässeli, wie den Batzen am Freitagmittag, wenn wir wegen dem Hunger in Afrika fasten und nur Suppe essen. Mutter schaut auch gern zu, wie der Kopf auf dem Kässeli nach dem Einwerfen nickt.
Am liebsten schaue ich auf das Bild, das über Mutters Kommode neben der Pendeluhr hängt: Ein Fischerboot zieht auf wilder See ein volles Netz an Bord. Der See hört hinten auf mit einem Strich, danach ist nichts als Leere. Bei meiner Frage nach dem Dahinter komme ich bei Mutter nie weiter. Dampf zischt aus ihrem Bügeleisen. Vielleicht kam ich ihr zu nahe und habe sie berührt. Dann redet sie nicht mit mir. Und doch bin ich mir sicher, es muss etwas sein, hinter diesem Strich.