Über das Buch

Paul, der mit seinen Eltern im Norden Australiens lebt, erhält Klavierunterricht bei Eduard Keller, einem Lehrer, der ungewöhnliche Methoden bevorzugt. Das Kind ist verstört und fasziniert zugleich. Eduard Keller kommt aus Österreich, Paul entwickelt die fixe Idee, er müsse ein Nazi gewesen sein. Doch erst viele Jahre später wird Paul verstehen, wovor Eduard Keller bis ans Ende der Welt geflüchtet ist. Peter Goldsworthy erzählt die Geschichte der Freundschaft zwischen einem alten Mann und einem kleinen Jungen, erzählt von erster Liebe, Erwachsenwerden, vom Schrecken der Erinnerung und der Sehnsucht nach dem Glück.

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Peter Goldsworthy

MAESTRO

Roman

Aus dem Englischen von Susanne Costa

Deuticke

Für vier Pianisten:

meine Eltern Jan und Reuben, meine Tochter Anna und die beste Lehrerin, die ich kenne, Eleanora Sivan.

Österreich hat durch seine politischen Blamagen erreicht, daß man in der großen Welt auf Österreich aufmerksam wurde und es endlich einmal nicht mehr mit Australien verwechselt.

Karl Kraus

DARWIN, 1967

Der erste Eindruck?

Irreführend, natürlich. Wie immer. Aber unvergesslich: die Glutröte des Gesichts — die brennende Röte des Trinkers. Die pockennarbige, sonnengegerbte Haut — billiges, ruiniertes Leder. Und die Augen: Altmänneraugen — feucht, wabbelig, wie Gelee.

Aber dann der Anzug: weißes Leinen, frisch gebügelt. Und — absurd in diesem Klima — der steife Kragen, die Krawatte.

»Herr Keller?«

»Mrs. Crabbe?«

Ich stand hinter meiner Mutter vor seinem Zimmer im Swan, hoch oben auf einem hölzernen Balkon, direkt über dem Biergarten. Das Hotel — ein Wirrwarr brüchiger Holzverschalungen, bewachsen mit Bougainvillea — war voll, und die Trinkenden und der Lärm ergossen sich aus der vorderen Bar in den Garten. Die Treppe hinauf, die zweite rechts, hatte ein Barmann gerufen, und jedes Gesicht in der Bar wandte sich uns zu, und Blicke folgten uns hinauf. Auch ein oder zwei betrunkene Pfiffe verfolgten uns, Pfiffe, die in einem klaren Missverhältnis zur Manneskraft der Kerle standen, wie meine Mutter später meinem Vater berichtete, voll Verachtung.

»Das ist Paul«, sagte sie, und schob mich vor, den Lärm von unten ignorierend.

Die Gestalt im weißen Anzug trat von der Türöffnung zur Seite und hieß uns eintreten.

»Of course. Hat dein Vater gesagt.«

Sein Akzent war stark. Europäisch — so hatte ihn mein Vater vage beschrieben. Eine Stimme, die ihn an Würste auf dem Grill erinnert hatte — ein schwaches, ständiges Prasseln von Zischlauten im Hintergrund.

»Sit down«, zischte die Stimme. »We will talk.«

Ein Problem: Wie soll man den Akzent hier wiedergeben? Sied daun? Es ist verlockend — zu verlockend — in eine comicartige Parodie zu verfallen. Wi will dok …

Wenn ich weniger ein Musiker und mehr ein Dramatiker wäre, könnte ich den Akzent vielleicht wiedergeben. Nein: Wenn ich mehr ein Musiker wäre, wenn ich ein besseres Gehör hätte, könnte ich ihn sicher wiedergeben — irgendeine neue Notation erfinden, um diese seltsamen Melodien auf der Seite festzunageln. Doch das sieht zu sehr nach Schwerarbeit aus. Und könnte zu sehr ablenken. Was zählt ist der Inhalt: was er sagte, nicht wie.

Also, eine Erklärung: Ab dieser Stelle in meinen Memoiren wird Keller — Herr Eduard Keller, der Maestro — so sprechen wie ich.

Das Zimmer hinter der Tür über dem Biergarten war groß, wirkte aber irgendwie enger, kleiner, weil zwei Klaviere darin standen. Ein Pianino und (der Lieblingswitz meines Vaters) ein Flatterding. Diese Klaviere füllten den verfügbaren Raum wie zwei Planeten oder vielleicht wie ein Planet und sein kleinerer Mond; um sie drehte sich alles. Man musste sich etwas anstrengen, um die anderen Möbelstücke bei diesem ersten Besuch wahrzunehmen: Das enge Bett war an eine Wand gedrängt, die Regale vom Boden zur Decke mit Büchern und Noten voll gestopft, ein Waschbecken, ein einzelner Lehnstuhl.

Keller führte meine Mutter zum Lehnstuhl und bot ihr mit förmlicher, manierierter Höflichkeit diesen Platz an; lächerlich, das schon, aber gleichzeitig doch irgendwie natürlich. Rückblickend glaube ich zu hören, wie er die Hacken zusammenschlägt, ganz deutlich — aber das war sicher nicht so.

Er setzte sich zum Flügel — einem Bösendorfer, dem ersten, den ich je gesehen hatte — und wirbelte herum, um uns anzusehen. Das Pianino — ein abblätterndes Wertheim, dessen Lack rissig war und Blasen warf nach zu vielen Jahren zu nahe am Äquator — war meins.

Er zeigte auf den Hocker. Ich setzte mich.

Einige Zeit sagte er nichts, er beobachtete nur. Sein rotes Gesicht glühte über dem weißen Kragen und dem Revers. Irgendeine innere Explosion schien tausende geborstene Blutgefäße gegen die Innenseite seiner Wangen geschleudert zu haben. Von draußen drang der Klang des Donners zu uns herein, aus der Ferne: der Klang des Februars, der tiefsten und dunkelsten Regenzeit. Das Zimmer war stickig, drückend, doch die hölzernen Jalousien, die zwei einander gegenüberliegende Wände bildeten, blieben geschlossen, der Deckenventilator blieb still. Nicht das Flüstern einer Bewegung durchbrach die Schwüle.

Ich hatte das Gefühl, dass ich gerade irgendeinen Test durchlief.

»Hitze«, verkündete Keller plötzlich, »können wir ertragen. Ein bisschen Unbehagen ist notwendig, um aufmerksam zu bleiben. Doch Lärm …«

Er deutete auf die Jalousien, die auf den Balkon hinausgingen — in die Richtung, in der darunter der Biergarten lag.

Meine Mutter lächelte unsicher und betupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch. Schweiß sammelte sich langsam, die Tröpfchen liefen zusammen zu größeren Tropfen, schwer wie Quecksilber. Wir waren neu in Darwin, erst vor knapp einem Monat vom gemäßigten Süden Australiens hierher gezogen: Sie fand das Klima unerträglich.

Kellers rotes Gesicht glänzte ebenfalls von einer dünnen Schicht Schweiß, doch der Leinenanzug sah immer noch gestärkt und frisch gewaschen aus. Hatte er sich extra fein gemacht für das Treffen mit mir? Ich war Kind genug — egozentrisch genug — um das für wahrscheinlich zu halten.

Er starrte mich an; ich starrte tapfer zurück, fasziniert. Ich hatte noch nie jemanden wie ihn gesehen. Er war klein: die Größe der Einwanderer, der Europäer. Wie die Spaghettis. Das Haar über diesem flammenden Gesicht war weiß, schütter, wie Daunen. Auf seine rote Nase hatte er etwas gesetzt, das ich sofort als Zwicker erkannte — obwohl mir vorher nur das Wort untergekommen war, in Büchern, aber nie das eigentliche Ding.

Vor allem erinnere ich mich an die Hände: diese zarten, etwas lächerlichen Hände.

Ich konnte meine Blicke nicht von ihnen abwenden. Klein und dicklich wie aufgeblasene Handschuhe, wurden sie in Richtung der Fingerspitzen schmaler, zart … Die Nägel waren manikürt, die Haut blass und weich und sauber. Wenn sein Gesicht aus grobem Leder bestand, so waren seine Hände aus feinstem Kalbsleder gefertigt: jede Falte, jedes Grübchen sorgfältige Handarbeit.

Die Hände eines Pianisten? Unmöglich. Zu wenig funktionell, bestimmt. Zu … dekorativ. Nicht in der Lage, eine Quinte zu greifen, geschweige denn eine Oktave.

Noch etwas: Der Großteil des rechten kleinen Fingers fehlte. Ein Goldring auf dem Stumpf schien dieses Fehlen noch extra zu betonen.

»Kleine Finger sind unnötig«, verkündete er plötzlich. Verlegen rutschte ich hin und her und sah in eine andere Richtung.

»Ich habe nicht … Ich meine, ich wollte nicht …«

»Ein Luxus«, fuhr er fort. »Kein Pianist vor Chopin hat den kleinen Finger verwendet.«

Er sagte das so oft in den folgenden Jahren, dass mir bald klar wurde, dass der Verlust für ihn viel mehr bedeutete, als er zugab.

»Mozart hat die kleinen Finger nie verwendet«, fuhr er fort und wackelte mit dem Stumpf. »Bach auch nicht. Clementi.«

»Und nach Chopin?«, fand ich meine Sprache wieder.

»Entschuldige?«

»Können Sie Liszt ohne ihn spielen?«, sagte ich laut und ignorierte den warnenden Blick meiner Mutter.

Er antwortete darauf, wie er noch oft antworten sollte, indem er sich abrupt zur Klaviatur umdrehte. Und hier geschah ein Wunder: das erste vieler Wunder oder Taschenspielertricks, die ich in seiner Gegenwart noch erleben sollte. Irgendwie gab diese winzige, verstümmelte Klaue einen mühelos angeschlagenen Lauf von Dezimen von sich.

»Der kleine Finger ist ein fauler Kerl«, lächelte er, als er die Hand von der Klaviatur hob, und wackelte mit dem Stumpf noch einmal vor meinem Gesicht. »Man kann ihn trainieren, das schon. Vielleicht werden wir deinen trainieren. Aber man kann ohne ihn auskommen.«

Er griff nach mir und packte meine kleinen Finger — einen mit jeder Hand.

»Wenn wir ihm sagen, dass man ohne ihn auskommen kann, wird er sich vielleicht mehr anstrengen.«

Ein Witz? Es wurde immer schwieriger, das zu sagen. Meine Mutter brachte eine Art amüsiertes Geräusch zustande.

»Wie alt sind diese Hände?«, fragte er, immer noch meine Finger umklammernd, und drehte sie hin und her.

»Wie bitte?«, sagte ich.

»Diese Hände — wie alt?«

»Paul ist fünfzehn«, warf meine Mutter ein.

»Große Hände«, sagte er. »Schwer zu kontrollieren. Aber wir haben Zeit.«

»Soll ich etwas spielen?«, schlug ich vor.

Er lächelte mich zum ersten Mal an, ein kurzes, winziges Lächeln.

»Nein«, sagte er. »Ich habe solche Hände schon gehört. Ich weiß, wie sie klingen.«

Ich warf meiner Mutter einen Hilfe suchenden Blick zu, aber sie wich meinen Augen aus.

»Heute werden wir nur schauen«, fuhr er fort. »Hände anschauen. Und Finger.«

Er begann gleich zu erklären, in einer Sprache, die mir simpel und schulmeisterlich vorkam, dass fünf sehr unterschiedliche Persönlichkeiten an der menschlichen Hand hingen.

»Sie sind enge Freunde. Ein Freundeskreis. Aber auch enge Rivalen.«

Sein Daumen grub sich schmerzhaft in das Fleisch meines Oberarms. Ich biss mir auf die Lippen, versuchte nicht zu schreien. Ich konnte fühlen, wie meine Mutter in ihrem Sessel herumrutschte, aufgeschreckt.

»Der Daumen ist … zu stark. Ein Gockel, ein Angeber. Der Sultan im Harem. Er muss an seinem Platz gehalten werden.«

Er lehnte sich amüsiert zurück und beobachtete mich, wie ich den blauen Fleck an meinem Arm rieb.

»Doch vielleicht ist das genug für diese Woche. Nächste Woche … der Zeigefinger.«

»Also werden Sie ihn nehmen?«, fragte meine Mutter.

»Wir werden sehen.«

*

Zu Hause betupfte meine Mutter ihre Stirn mit einem nassen Flanelltuch, das sie zu diesem Zweck im Kühlschrank aufbewahrte.

»Ich erteile dir hiermit die Erlaubnis«, sagte sie leise mit gerötetem Gesicht, lächelnd, »alle zukünftigen Klavierstunden allein zu besuchen.«

Sie öffnete die Jalousien so weit wie möglich, legte das nasse Flanelltuch wieder in den Kühlschrank und füllte geeiste Zitronenlimonade in zwei Gläser. Eine Zeitlang saßen wir da und nippten schweigend, das einzige Geräusch die klirrenden Eiswürfel im Glas und der Deckenventilator, der auf höchster Stufe über uns surrte.

Wir nippten immer noch an unseren Gläsern, als Autoreifen über den Kies in der Einfahrt und in den Abstellplatz unter uns knirschten. Wie immer erhob sich meine Mutter bei diesem Geräusch und begann, in der Küche herumzukramen — sie holte Schüsseln aus dem Kühlschrank, machte Salate an.

»Nun?«, fragte mein Vater, als er hereinkam.

Die Frage war an mich gerichtet.

»Es war o.k.«

Er stellte seine Aktentasche ab und blätterte die Post am Sideboard durch, um zu sehen, ob sein Adelspatent schon gekommen sei, wie er gerne scherzte.

»Hat es ihm gefallen, wie du spielst?«

»Ich habe nicht gespielt.«

Daraufhin blickte er auf: »Du hast nicht gespielt?«

»Herr Keller hat gesagt, er weiß, wie das klingt«, rief meine Mutter über die schmale Theke hinweg, die die Küche vom Wohnzimmer trennte. »Zitat Ende.«

»Ohne ihn zu hören?«

»Er ist ein Original«, lachte sie. »Weißer Anzug. Tropenhelm.«

»Tropenhelm?«

»Vielleicht hab ich das erfunden. Aber ich mag ihn.«

»Ich nicht«, sagte ich mürrisch. »Er hat mir fast den Arm gebrochen.«

Mir waren die ganze Zeit, seit wir das Swan verlassen hatten, die Ereignisse dieser Stunde durch den Kopf gegangen.

»Ich mein’s ernst. Er ist ein Sadist. Er …«

»Das reicht«, befahl mein Vater, ruhig.

Ich saß da, hielt meine Limonade liebevoll in den Händen, die ich am feuchten, beschlagenen Glas kühlte. Auf dieselbe Weise hatte ich oft im Süden meine kalten Hände gewärmt an einem heißen Getränk. Mein Vater schwieg.

»Warum kann ich nicht bei dir lernen?«, sagte ich, nach einer Weile.

»Müssen wir wieder damit anfangen?«, antwortete er. »Du wirst besser werden als ich. Viel besser.«

Und das ist ein Befehl, flüsterte ich mir selbst zu, lautlos.

»Vielleicht gibt es irgendeinen anderen Lehrer in Darwin«, schlug meine Mutter vor, die Ausgleichende, wie immer.

Er schnaubte: »Es gibt niemanden sonst. Das ist eine Stadt von Besoffenen.«

Anscheinend hatte er keinen guten Tag verbracht. Wieder einmal.

»Der ganze Abschaum im Land ist in dieser Stadt irgendwie nach oben gekommen«, erklärte er, wie er das täglich seit unserer Ankunft tat. »All die Taugenichtse, die Außenseiter. Die, die ihre Frau prügeln …«

»Du wolltest hierher«, schalt sie ihn sanft. »Du hast der Versetzung zugestimmt.«

»Ich habe der Beförderung zugestimmt.«

»Er ist sich nicht sicher«, mischte ich mich ein, »ob er mich will.«

»Er nimmt dich auf den Arm«, sagte mein Vater. »Er hat noch nie einen so Guten wie dich gehabt. Außerdem braucht er das Geld.«

Er zwinkerte Mutter zu und neigte ein imaginäres Glas zum Mund, vielleicht im Glauben, ich würde nicht verstehen.

»Ich habe gehört, er hat teure Angewohnheiten.«

»Seine Physiognomie«, sagte meine Mutter leise, »könnte diese Hypothese untermauern.«

Oft entschieden sie sich, auf diese rätselhafte Weise zu sprechen: in einem privaten Code mit komplizierten Wörtern zum Austausch von Informationen, die nur für Erwachsene bestimmt waren, einem Code, den ich schon lange geknackt hatte.

»Ein Dipsomane?«, sprach mein Vater weiter im Code, vielleicht zum Spaß.

»Eine Anfälligkeit für Bibazität.«

»Ihr meint, er ist ein Säufer?«, entschloss ich mich, ihnen den Spaß zu verderben.

Nach dem Abendessen spielten die zwei vierhändig: Mozart, sein Beruhigungsmittel, wie immer, wenn er gereizt war. Zuerst blieb ich auf Distanz und saß am anderen Ende des Zimmers, immer noch zornig. Doch die Musik zog mich an, wie jedes Mal — ein schöner, starker Sog— und bald stand ich an ihrer Seite, blätterte um und beobachtete, wie ihre Finger über die Tasten glitten.

Ich beobachtete vor allem ihre kleinen Finger — alle vier kleinen Finger — die über die Tasten glitten. Ich glaubte kein Wort von dem, was Keller gesagt hatte.

Während des langsamen Satzes begann der Regen wieder. Er fiel plötzlich, total, eine solide Masse aus Wasser, die auf das Blechdach nieder klatschte. Die beiden spielten weiter — nunmehr zwei Stimmen in einem fehlbesetzten Trio —, aber nach ein paar Takten gaben sie auf und überließen dem ohrenbetäubenden Regen das Solo.

Mein Vater lockerte die Krawatte. In diesen ersten Wochen hielt er noch an der Uniform fest, die im Süden getragen wurde. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

»Der Arsch der Welt«, verkündete er laut.

Er ließ den Klavierdeckel mit einem Knall zufallen.

»Eine Stadt der Säufer, Schläger und Sünder«, sagte er, in einem Tonfall, den er für bedeutende Zitate reserviert hatte.

»Shakespeare?«, fragte meine Mutter.

Er schüttelte den Kopf: »Banjo Paterson.«

Ich liebte die Stadt der Säufer und Schläger auf den ersten Blick. Und vor allem ihren Geruch — die heißen, dampfigen Düfte, die sich um mich legten, als wir in der Dunkelheit aus dem Flugzeug stiegen, in den tiefsten Stunden einer Januarnacht. Feuchte, verrottende Luft. Süß-saure Luft …

Wir verbrachten die wenigen verbliebenen Stunden dieser ersten Nacht in einem Motel, aber ich konnte nicht schlafen. Irgendwann kurz vor dem Morgengrauen riss ich die Moskitonetze zur Seite, stand auf und blickte durch die Jalousien. Nie werde ich diesen ersten Morgen vergessen — den gleißenden Brennofen der aufgehenden Sonne; die riesigen Wolken, die über den Himmel ruderten. In jeder Richtung konnte man den Regen fallen sehen: gigantische Wasserquader in der Ferne, die langsam, schwer vom Himmel fielen.

Von Zeit zu Zeit fiel ein solcher Quader direkt auf uns, weniger ein Regen als eine feste Masse Wasser, die plötzlich da war und wieder verschwand.

Am Vormittag inspizierten wir unser neues Heim: ein nackter Schuhkarton aus Wänden mit Jalousienfenstern und Asbestplatten, der auf hohen dünnen Storchenbeinen über dem nassen Buschwerk hockte.

»Ist es das?« Meine Mutter versuchte, es nicht zu glauben.

»Das ist es.«

»Überprüf noch einmal die Nummer …«

»Das ist es«, wiederholte mein Vater.

»Vielleicht passt der Schlüssel nicht«, hoffte sie.

Später am Vormittag fand ich sie, wie sie am Badewannenrand saß und leise weinte: für das hatte sie eine aus Stein erbaute Villa im Süden zurückgelassen.

Noch später begann sie — nachdem sie sozusagen eine persönliche Krise gehabt und wieder überwunden hatte, mit Gummihandschuhen und Schürze, ihr dickes Haar unter ein Tuch gestopft — das Haus für die Ankunft der Möbel vorzubereiten.

Ich verbrachte den Großteil dieses ersten Tages draußen und lief nur während der Regengüsse gebückt unter das Haus zurück. Ich hielt mich vom Auspacken fern — aus den Augen, aus dem Sinn —, aber ich erforschte die Umgebung. Der Garten war groß und nass und grün, mit immer dichteren Bäumen und Büschen nach hinten zu, wo er ohne sichtbare Grenzen in einen dschungelbewachsenen Graben überging, der nach unten zu den Mangroven und der flachen Küste führte. Ich kletterte neugierig zwischen den schlüpfrigen Büschen hinunter, ich rutschte und glitt durch das dichte Unterholz. Ich hatte noch nie solches Grün gesehen: ein unnatürliches Grün, als ob die Blätter aus einer Art Plastik wären. Riesige Papageien schnatterten in den tropfenden, früchtetragenden Bäumen. Grellbunte Schmetterlinge — kräftige Regenbogenfarben, Chemiekastenfarben, Neonfarben — erfüllten die Luft. Unter jedem Blatt, das ich aufhob, schienen sich Kleinlebewesen zu verbergen: riesige uhrwerkartige Insekten, wie aus einem seltsamen Meccanobaukasten erbaut, oder Larven in der Größe von kleinen, saftigen Säugetieren.

Karikaturhafte Beschreibungen? Wie soll man sonst eine karikaturhafte Welt beschreiben? Die Nachtfalter, die an diesem Abend gegen die Fliegengitter knallten, hatten die Größe von Fledermäusen — weichen, pudrigen Fledermäusen. Und die Fledermäuse, die in der dunkler werdenden Dämmerung die Mangobäume bevölkerten, waren Flughunde. Sogar unser Rasen im Garten — die gezähmteste Vegetation hier — musste praktisch sofort wieder gemäht werden, sobald man damit fertig war … wie ein üppiger grüner Stoppelbart.

Alles wuchs überlebensgroß in diesem dampfigen Treibhaus Darwin, und die Leute waren keine Ausnahme.

Exotische Blüten aus dem Treibhaus.

*

Keller wackelte mit einem Zeigefinger vor meiner Nase. War es unsere zweite Stunde? Unsere dritte?

»Dieser Finger ist egoistisch. Gierig. Ein … ein Gauner. Er stiehlt immer von seinen vier Freunden, lügt, betrügt.«

Er schob den Zeigefinger in seine geschlossene Faust, als ob er die fleischige Klinge eines Schweizer Messers wäre, und gab den Mittelfinger frei.

»Herr Brav«, sagte er und schlug mit dem Finger wiederholt auf das c. »Der Liebling des Lehrers. Er tut, was man ihm sagt. Der beste Schüler.«

Als letzter kam der Ringfinger.

»Er folgt gern seinem besten Freund«, erzählte er mir. »Er … lehnt sich manchmal gern an ihn.«

Er hob die Ellbogen an und drehte sie nach außen.

»Die Finger sind die Schüler. Das ist der Lehrer. Der Ellbogen …«

Ich bemerkte, dass seine Ellbogen — die Ellbogen dieses gebügelten weißen Anzugs — immer schwarz verschmutzt waren. In den folgenden Monaten, in denen ich jeden Morgen am Swan vorbei in die Schule fuhr, kam ich oft an ihm vorüber; er saß an einem Tisch auf seinem Balkon, trank Kaffee und stützte seine Ellbogen auf einen Stapel Zeitungen.

Es wurde zu einem Spiel für mich, während der Stunden, während des endlosen Drills von Tonleitern und Arpeggios, zu versuchen, die verschmierten, verkehrten Schlagzeilen auf den Ellbogen und Ärmeln seiner Jacke zu entziffern. SCHOCK, glaubte ich von Zeit zu Zeit auszumachen. HORROR. UNTERSU… Plus einmal klar: DIE ZEIT, wobei die Wörter dieses Mal nicht nur spiegelverkehrt waren, sondern auch noch in einer fremden Sprache.

»… und das«, fuhr er fort und klopfte mir auf die Stirn, »ist der Direktor. Nun dürfen du und deine zehn Schüler für mich spielen.«

»Chopin?«

Er schnitt eine Grimasse. »Wenn’s sein muss.«

Ich konnte es nicht glauben: »Sie mögen Chopin nicht?«

»Ganz im Gegenteil. Ich mag Chopin sehr gern. Das ist der springende Punkt.«

Ich sagte nichts, wütend. Auch ich würde meine Hände sprechen lassen. Ich ließ sie auf die Klaviatur fallen.

Doch bevor ich einen einzigen Ton gespielt hatte, griff er herüber und packte meine Handgelenke.

»Nein«, sagte er. »Nicht weiter. Ich mag deinen Chopin nicht.«

»Aber ich habe noch nicht angefangen!«

»Du hast natürlich angefangen. Deine Hände sind in der falschen Position. Auch deine Fingerspitzen. Deine Ellbogen. Ich muss mir das nicht anhören. Ich weiß, wie dein Chopin klingen würde.«

»Meine Mutter hat gesagt, er ist exzellent.«

»Deine Mutter ist eine nette Frau, aber sie versteht Chopin nicht ganz. Glücklicherweise versteht sie — im Gegensatz zu dir —, dass sie ihn nicht versteht.«

Er hielt immer noch meine Handgelenke umklammert. Ich kämpfte, um sie frei zu bekommen, aber sein Griff war zu stark.

»Ich will spielen!«, stieß ich hervor. »Meine Eltern bezahlen Sie, damit Sie mir Spielen beibringen.«

»Du bist verwöhnt«, sagte er. »Zuerst musst du lernen zuzuhören.«

Er ließ mich los, schnappte sich meine Ausgabe der Nocturnes vom Klavier und schüttelte traurig den Kopf.

»Auch«, sagte er, »diese Ausgabe … ein Witz. Nicht zu spielen.« Er ließ das Buch in den Abfalleimer zu seinen Füßen fallen.

Die Ungerechtigkeit der ganzen Sache überwältigte mich. Tränen drangen mir aus den Augen, ein Kloß verstopfte meinen Hals.

»Ich will nach Hause gehen«, sagte ich.

»Es steht dir frei, mein Haus zu verlassen«, antwortete er. »Jederzeit. Aber es steht dir nicht frei, in meinem Haus ohne meine Erlaubnis zu spielen.«

Ich holte meine Nocturnes wieder aus dem Eimer und lief aus dem Zimmer, ich lief die Treppen hinunter, am gut besetzten Biergarten vorbei und durch die vordere Bar, die voll war mit Leuten, die sich unter einer Suite höchstens eine komfortablere Hotelunterkunft vorstellen können oder glauben, dass Hörner nur auf der Kuhweide zu finden sind. Ich drängte mich durch auf die Straße und schwor mir, nie mehr zurückzukehren, Tränen der Wut weinend.

*

Wenn ich jetzt hier sitze, diese ersten Erinnerungen an Keller aufzeichne, — sie wieder durchlese und glaube, dass sie richtig sind —, ist es für mich schwer zu verstehen, wie sehr ich diesen Mann letztendlich lieben, von ihm abhängig sein sollte. Damals (und jetzt wieder, wenn ich diese Zeit wieder erlebe) schien mir das — scheint das — unmöglich.

»Ich gehe nicht mehr zu den Stunden«, verkündete ich beim Abendessen.

»Du tust, was dir gesagt wird«, sagte mein Vater.

»Er lässt mich nicht einmal spielen

»Wir müssen ihm Zeit geben«, verhandelte meine Mutter.

»Er ist ein Nazi.«

Ohne Warnung griff mein Vater zu und packte mich heftig am Hemd. Knöpfe sprangen auf. Ein Weinglas kollerte über den Tisch.

»Geh«, sagte er, aber ruhig, weil er die Heftigkeit schon bereute, »in dein Zimmer.«

Meine Mutter klopfte ein wenig später sachte an meine Tür. Ich schob den Kriegscomic, den ich gerade las, in eine Schreibtischschublade und langte nach Latein Mittelstufe.

»Dein Vater steht derzeit ziemlich unter Druck«, sagte sie. »Im Krankenhaus. Und das Klima macht’s auch nicht besser.«

Sie stand hinter mir, ließ ihre Hände auf meinen Schultern ruhen. Mozartklänge strömten aus dem Wohnzimmer: KV283, das Andante, ein ruhiger Fluss.

»Verstehst du, warum er so verärgert war?«

Ich lehnte mich an sie: »Weil ich frech war?«

»Nein«, sagte sie. »Nicht weil du frech warst. Weil du Herrn Keller einen Nazi genannt hast.«

»Das passt ja wohl …«

Ich konnte fühlen, wie sie den Kopf schüttelte, eine Bewegung, die schwach durch ihre Brust übertragen wurde, die sie an mich gedrückt hatte. Ich wusste, dass sie lächelte, gegen ihren Willen.

»Du weißt so viel für dein Alter«, sagte sie. »Und so wenig.«

Sie sprach oft in Rätseln, wenn es ernst wurde.

»Es ist deinem Vater wichtig«, sagte sie, »dass du weiter zu den Stunden gehst.«

Auch das war eine ihrer Sprachgewohnheiten, wenn es ernst wurde. Dein VATER. Nie mein MANN. Oder DAD. Oder JOHN.

»Dein VATER«, murmelte ich unhörbar. »Der Du bist im …«

»Dein VATER hatte nie deine Möglichkeiten«, fuhr sie fort, das Wort VATER dabei immer noch groß geschrieben und ehrerbietig. »Er hat es immer bereut. Du musst das verstehen: Wir haben so viel Zeit während des Krieges verloren. Und nach dem Krieg war keine Zeit für Musik. Wenn er dir zu streng vorkommt, dann deswegen.«

»Aber warum Keller?«

»Müssen wir wieder damit anfangen?«

»Wenn Dad von Keller so beeindruckt ist, soll doch er bei ihm lernen.«

Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr, so, als würde sie irgendeine Entscheidung treffen.

»Er hat gefragt«, gab sie schließlich zu. »Keller hat gesagt, er ist zu alt. Eingespielte Gewohnheiten.«

Wie immer überprüfte mein Vater nach dem Lichtausschalten mein Zimmer. Ich täuschte vor zu schlafen, aber ich spürte seine näher kommenden Schritte, den Boden, der leicht unter meinem Bett vibrierte, und den raschen Kuss auf der Schläfe …

Und ich hörte das Quietschen, als er die Jalousienwände öffnete, und das plötzliche Donnern der Frösche unten in der Schlucht draußen — einen Chor von Millionen Stimmen, die nach der letzten Regenflut feierten. Sie erfüllten den Raum, ohrenbetäubend.

Die Welt zu beschreiben heißt immer, ihre Struktur zu vereinfachen, das Gewebe zu vergröbern: das Besondere im Allgemeinen zu verlieren. Doch während ich hier sitze und schreibe, ordnen sich die Ereignisse meiner Kindheit ganz natürlich zu Mustern, als wollten sie sich selbst in einfache, leicht zu merkende Kategorien einfügen. Die Vergangenheit formiert sich in wohlgeordneten Reihen wie Schüler auf dem Schulhof oder die Linien im Übungsheft eines Kindes, unter den einfachsten Überschriften: Meine erste Klavierstunde. Unser Haus in Darwin. Meine Ferien. Meine Eltern …

Aber vielleicht sollte diese letzte Überschrift aufgetrennt, in zwei Teile gespalten werden: Mum und Dad. Nancy und John.

Abgesehen vom Klavierspiel hatten sie wenig gemeinsam. Wenn ich an meine Eltern denke, sehe ich nur Polaritäten. Hart und weich. Blond und dunkelhaarig. Dünn und dick.

Sie hätten zwei unterschiedlichen Arten angehören können. Wodurch aus mir … was wird? Eine Art Muli?

Die Liste der Unterschiede ist unerschöpflich. Groß und klein. Stoisch — emotional. Ruhig — gesprächig. Macht es etwas aus, wer was war? Vielleicht nicht, aber in diesen Gegensatzpaaren habe ich immer meinen Vater an die erste Stelle gesetzt.

Sie waren über alles unterschiedlicher Meinung — aber leichtfertig, wie zum Spaß. Es war wie ein Spiel, das meine ganze Kindheit lang gespielt wurde, unaufhörlich: die Überlegung, welcher Seite man sich anschließen sollte.

»Der Haydn?«, meine kleine, dunkelhaarige Mutter.

»Ich hätte lieber den Mozart«, mein großer, blonder Vater.

»Es-Dur?«

»G-Moll.«

»Das Allegro?«

»Das Adagio.«

Und so weiter mit Bach und Händel; Schubert, Schumann; Chopin, Liszt — ihre Meinungen so schwarz und weiß wie die Tasten einer Klaviatur. Jenseits der Welt der Musik ging dieser sanfte Krieg weiter; Lieblingsfarben: blau, grün; Lieblingsstädte: Sydney, Melbourne; einmal sogar, ich erinnere mich, Lieblingsgroßkatzen!

»Tiger« — meine Mutter zog sanft an meiner Hand, als wir durch die schmiedeeisernen Tore des Zoos von Adelaide gingen. »Da hinüber.«

»Löwen« — mein Vater zog kräftiger an der anderen Hand. »Echte Großkatzen da drüben.«

irgendein