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Katharina Nickoleit

Bolivien

Ein Länderporträt

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, März 2019

eISBN 978-3-86284-442-5

Inhalt

Einführung

Die Mühsal des täglichen Überlebens

Das Gefängnis San Pedro als Mikrokosmos der bolivianischen Gesellschaft

Leben in den Anden

Leben in La Paz: Unten und Oben ist Oben und Unten

Gewalt gegen Frauen

Alltägliche Korruption

Vereint erfolgreich sein

Die Geschichte vom Bettler auf dem goldenen Thron

Silber für die Spanier

Zinn für die Barone

Revolution und Militärdiktatur

Öl und Gas für die Konzerne

Reste für die Bolivianer

Der Beginn des Wandels

Che – seiner Zeit voraus

Der Kampf der Cocabauern

Der Wasserkrieg von Cochabamba

Wendejahre

Evo Morales: Lichtgestalt und Schreckgespenst

Cocabauer und Gewerkschaftsführer

Die Gründung der MAS

Auf der Zielgeraden

Der erste indigene Präsident Lateinamerikas

Protest im Halbmond

Bolivianische Sonderwege

Entkolonialisierung im plurinationalen Staat

Cocakekse statt Kokain

Die Legalisierung der Kinderarbeit

Entwicklung unter Evo Morales

Großer Wurf: Der Teleférico von La Paz

Neue Infrastruktur, aber keine Brücke für Tiquina

Evos Versprechen: Kampf gegen die Armut

Das Geld wird knapp

Der Schatz im Salzsee

Privatwirtschaft als Chance?

Auf der Suche nach dem guten Leben

An den Ursprüngen

Gartenarbeit für ein gutes Leben

In der Schule des guten Lebens

Theorie und Praxis

Raubbau für den guten Zweck

Bergbau und Staudämme

Coca im Nationalpark

Grüne Wüste im Tiefland

Fluch und Segen des Quinoabooms

Der Müll und die Mücken

Im Griff des Klimawandels

Der schrumpfende See

Schmelzende Gletscher, Starkregen und Wassermangel

Wassermanagement der Ahnen

Biodiversität gegen Wetterkapriolen

Evo Morales auf dem Weltklimagipfel in Paris

Bolivien, seine Nachbarn und die Welt

Kriege um Rohstoffe und die Sehnsucht nach dem Meer

Die linke Achse Kuba–Venezuela–Bolivien

Der verhasste große Bruder

Neuer Partner China

Das Verhältnis zu Deutschland

Deutsche in Bolivien

Zuflucht für Juden aus dem Dritten Reich

Endstation der »Rattenlinie«

Zeitreise zu den Mennoniten

Religion: Maria als Mutter Erde und umgekehrt

Wallfahrt nach Copacabana

Hochzeitszeremonie ohne Hochzeit

Schamanen und Wunderheiler

Der Siegeszug der evangelikalen Kirchen

Potenzial für eine Diktatur

Widerstand und Gegenwehr

Der Präsident, der nicht aufhören will

Anhang

Dank

Zeitschriften, Literatur, Filme und Hörbuch

Karte

Basisdaten

Einführung

Die Sonne sticht vom stahlblauen Himmel herab, gleichzeitig weht ein eisiger Wind, der durch Mark und Bein fährt. Um uns die kahlen Berge der Anden. Wir sind auf etwa 3600 Metern, die Luft ist dünn und trocken, und meine Kehle brennt. Ich schleife den Koffer über Steine und Dornenzweige, die auf der Straße verteilt liegen, umkurve ausrangierte Kühlschränke und noch qualmende Autoreifen, die den Weg versperren. Nach einer stundenlangen Fahrt waren wir in dem Örtchen Colomi auf der Straße zwischen Cochabamba und dem Chapare in einer langen Schlange aus LKW, Bussen, Privatautos und dazwischen ein Krankenwagen plötzlich stecken geblieben. »Bloqueo«, sagte der Fahrer achselzuckend, »Straßensperre«. Wie lange die Straßensperre wohl dauern würde? »Kann man nie wissen«, meinte er. »Zwei Stunden, zwei Tage, zwei Wochen – schwer zu sagen.« In der Zwischenzeit waren alle anderen Passagiere ausgestiegen und hatten ihr Gepäck vom Dach geholt. »Diese verdammten Cocabauern«, murmelte einer und machte sich auf den Weg.

Cocabauern, die Straßensperren errichten? Gehört das nicht eigentlich in die 1990er Jahre? Schreiben wir nicht das Jahr 2017, mit einem Präsidenten, der damals selber Cocabauer war und genau solche bloqueos organisierte? Was hat sich eigentlich geändert, seit ich vor 20 Jahren das erste Mal nach Bolivien reiste und gar nicht weit von hier in einem bloqueo feststeckte? All das geht mir durch den Kopf, während wir uns der Karawane aus Fußgängern den steilen Berg hinauf anschließen.

Fast mein halbes Leben lang schon komme ich regelmäßig nach Bolivien, und jedes Mal wenn ich in der dünnen Andenluft zu Atem gekommen bin und mir anschauen will, was sich inzwischen verändert hat, habe ich den Eindruck, dass eigentlich noch immer alles beim Alten ist. Sicher, in den Städten sind mehr Autos unterwegs und einige Hochhäuser dazugekommen und ja, inzwischen sind die meisten Hauptverkehrsstraßen des Landes asphaltiert. Doch die cholitas sitzen immer noch in ihren handgewebten Ponchos und Bowlerhüten hinter ihren Marktständen, in der »Hexengasse« von La Paz werden wie früher Lamaföten als unverzichtbare Zutat für den Hausbau verkauft, und nach wie vor gerate ich zuverlässig bei jeder Reise in einen mit einer Straßensperre verbundenen Aufruhr. Wenn ich mich 20 Jahre zurückversetzen will, dann ist Bolivien dafür der perfekte Ort, und Leute, die älter sind als ich, sagen mir, dass man in diesem Land auch locker eine Zeitreise von 50 Jahren machen kann.

Als ich mit Anfang 20 zum ersten Mal nach Bolivien kam, eine Pause von meinem Jurastudium machend, rastlos und auf der Suche, verbrachte ich auf dem Weg zum ständig nächsten, neuen Ziel ungezählte Stunden in schlecht gefederten, muffigen Bussen. Für meine Mitreisenden muss die junge gringuita, wie sie mich nannten, die da völlig allein an fremde Orte unterwegs war, ein merkwürdiger Anblick gewesen sein. Sie schlossen mich vor dem Essen in ihr Gebet ein, und wir teilten uns in den langen, holprigen Stunden Kekse, Mückenschutzmittel, Cocablätter und Geschichten. Ich hatte immer das Gefühl, dass meine Gesprächspartner aufrichtig daran interessiert waren zu hören, wer ich bin und was ich mir vom Leben wünschte, und hatte gleichzeitig nie den Eindruck, dass sie darüber urteilten, mag ihnen mein Leben auch noch so fremd und seltsam vorgekommen sein. Es war vollkommen unwichtig, welchen Status oder Besitz ich hatte, es reichte völlig, dass ich offen war und umgekehrt Interesse an ihrem Leben zeigte. Das war alles, was zählte, und es war eine Wohltat. Bolivien und seine Bewohner erwarten von niemandem, dass er sich verbiegt – und sie verbiegen sich auch selbst nicht.

Zurück in der Straßensperre. Keuchend schleppen wir uns den Berg zum Pass hinauf. Anders als vor 20 Jahren bin ich nicht allein mit Rucksack, sondern mit Mann, Kind und Koffer unterwegs, ich reise nicht mehr ziellos umher, sondern habe eine lange Liste mit Terminen mit Interviewpartnern in der Tasche. Die Faszination für dieses Land, das mich auch nach so vielen Reisen jedes Mal aufs Neue überrascht, ist geblieben. Auch wenn ich mich in Momenten wie diesem frage, warum ich mir das eigentlich antue. »Das wird dich ermüden«, meint ein greises Paar voller Bedauern, das sich mit uns den Berg hinaufschleppt, genauso wie eine Schwangere mit Kleinkind und ein Mann mit Krücken. Die übrigen Passagiere, besser an die Höhe gewöhnt, ohne Handicap und weniger schwer bepackt, sind längst außer Sicht. Links und rechts der Straße stehen die Bewohner von Colomi mit verschränkten Armen am Straßenrand und beobachten mit ausdrucksloser Miene unsere Karawane. Ob dass die Szenerie war, die das Tourismusministerium im Sinn hatte, als es den Slogan »El autentico aún existe« – »Das Authentische existiert noch« – in die Broschüren drucken ließ?

Vermutlich nicht. Und doch ist diese Unangepasstheit, diese Kompromisslosigkeit das, was mich immer wieder nach Bolivien zurückzieht. Wo sonst auf der Welt gibt es Elefantenfriedhöfe für Menschen oder Waschmaschinen, mit denen Kokain produziert wird? Gefängnisse, die zur Touristenattraktion werden, und Priester, die zusammen mit Schamanen Autos segnen? Und wo sonst sagt man den Gästen Sätze wie »Bolivien ist das einzige Land der Welt, das jedem Besucher mindestens eine Straßensperre pro Reise garantiert«?

Letzteres meint die Dame am Empfang unseres Hotels, als wir spätabends schließlich doch noch unser Ziel erreichen. Drei Kilometer sind wir gelaufen und haben auf der anderen Seite der Straßensperre einen Bus gefunden, der mitten in dem totalen Verkehrschaos, in dem Hunderte Autos am steilen Berghang feststeckten, ein atemberaubendes Wendemanöver hinlegte und zurückfuhr. In unserer geordneten, durchorganisierten Welt ist Bolivien einer der letzten Horte des echten Abenteuers. Und genau deshalb lässt es mich nicht los.

Die Mühsal des täglichen Überlebens

Das Gefängnis San Pedro als Mikrokosmos der bolivianischen Gesellschaft

Mitten in La Paz läuft man auf dem Weg durch die Gassen plötzlich nicht an Wohnhäusern vorbei, sondern an einer gut zehn Meter hohen fensterlosen Mauer, deren Putz bröckelt. Sie zieht sich rund um ein Straßenkarree. Nur an der Plaza Sucre gibt es einen Eingang: ein vergittertes Tor, an dem reger Betrieb herrscht. Schulkinder in Uniform machen sich auf den Weg zum Unterricht, Marktfrauen mit bunten Bündeln auf dem Rücken gehen ein und aus. Männer sieht man hingegen erst auf den zweiten Blick: Sie stehen in dichten Trauben hinter dem Gitter, hängen sich an die Eisenstäbe und rufen lauthals, wenn ein Besucher kommt, für den sie eine Nachricht überbringen und so ein paar Centavos verdienen könnten. Das also ist der Eingang zum Gefängnis San Pedro. Um die Jahrtausendwende war es die kurioseste und unter Backpackern angesagteste Touristenattraktion Südamerikas. »Warst du schon im Gefängnis von La Paz? Du musst unbedingt hingehen. Frag einfach nach Tommy.« – Das war der Tipp, der sich wie ein Lauffeuer von Kolumbien bis Feuerland durch die Hostels verbreitete.

»Wen suchst du, wen soll ich für dich holen?«, fragt mich ein halbwüchsiger Junge. »Tommy«, sage ich, und schon saust er los. Kurz darauf steht ein verschlafener Brite vor mir und erklärt die Modalitäten: »Die Tour kostet 30 Bolivianos [etwa 4 Euro], dauert ungefähr zwei Stunden und findet auf eigenes Risiko statt.« Ich bin einverstanden, gebe, weil mein Pass gerade zwecks Verlängerung meiner Aufenthaltsgenehmigung bei der Migración ist, meinen Studentenausweis bei einem der Wächter ab und finde mich kurz darauf auf einem kleinen Platz vor einer Kapelle wieder. Marktfrauen sitzen davor und bieten Gemüse an, ein Kind spielt im Staub, und Hunde schnüffeln im Abfall. Auffallend ist nur, dass ungewöhnlich viele Männer zu sehen sind, die gelangweilt auf einer kleinen Mauer sitzen. Von der plazuela zweigen in verschiedene Richtungen Gassen ab. Zunächst machen wir einen Abstecher ins Büro des Gefängnisdirektors. Er begrüßt mich freundlich und hofft, dass ich meinen Besuch interessant finden möge. Den nächsten Staatsdiener soll ich erst wieder zu Gesicht bekommen, als ich am Ausgang meinen Ausweis abhole. Denn was hinter den Mauern von San Pedro passiert, interessiert das Wachpersonal nur wenig. Rund 1700 Menschen bilden diesen Mikrokosmos der bolivianischen Gesellschaft, eine Stadt in der Stadt, die ihren eigenen, erbarmungslosen Gesetzen folgt.

Tommy McFadden ist Anfang 30 und sitzt vier Jahre und drei Monate Haft ab. Kokainschmuggel. Er führt mich in eine enge, schmutzige Gasse und beginnt zu erzählen. »Hier in San Pedro muss jeder zusehen, wie er überlebt. Du bekommst nichts umsonst, nicht mal was zu essen oder eine Dusche. Auch keinen Schlafplatz.« Das gilt auch für Ausländer. Nach zwei Nächten unter freiem Himmel im eisigen La Paz wurde Tommy schwer krank, hustete Blut, doch der Gefängnisarzt verweigerte die Behandlung, denn er konnte ihn nicht bezahlen. Nur weil ihm ein anderer Häftling einen Kredit gab, überlebte er. Die Tour beginnt im Slum des Gefängnisses. Oder auch in der Ein-Stern-Zone, wie Tommy sie nennt. Baufällige Holztüren führen in dunkle, feuchte Verschläge ohne Fenster. »Die gehören Leuten, die hier früher einsaßen. Manche haben auch gar nichts mit dem Gefängnis zu tun, sondern einfach hier in Immobilien investiert«, erklärt er. 50 Dollar Miete im Monat kostet so ein Verschlag. Viele Gefangene können sich eine doppelte Haushaltsführung nicht leisten, es wäre viel zu teuer, im Gefängnis und auch zusätzlich draußen eine Wohnung zu halten. Deshalb ziehen sie mitsamt ihren Familien ins Gefängnis. Diese können sich frei bewegen, die Frauen können draußen als ambulante Straßenverkäuferinnen Geld verdienen und die Kinder zur Schule gehen. Rund 200 Frauen und Kinder leben hier. Schmutzstarrende Mädchen und Jungen spielen in den Rinnsalen, die durch die Gassen fließen. Die Vergehen, derer sich ihre Väter oder auch die hier einsitzenden Vierzehnjährigen schuldig gemacht haben, sind in vielen Fällen geringfügig, etwa Diebstahl oder Betrug. Nur, wer kann sich schon einen guten Verteidiger leisten?

Nicht allen Gefangenen in San Pedro geht es schlecht. Wer Geld hat, kann sich ein Zimmer kaufen und dabei in Kategorien von ein bis fünf Sternen wählen. Jeder Stern kostet 1000 Dollar. Manche Räume haben einen Balkon, andere eine kleine Küche oder sogar eine Dusche. Verkauft werden sie von den Vorbesitzern, die die Hälfte des Preises an die Gefängnisleitung abführen müssen. Die Fünf-Sterne-Zimmer liegen in einem heruntergekommenen Gebäude im Kolonialstil mit einem großen Innenhof. Unten befindet sich der Eingang zu einem Billardcafé, im Hof stehen die Tische kleiner Restaurants. Mit Kapital und Geschäftssinn kann man es in San Pedro durchaus zu etwas bringen. Die Restaurants, das Billardcafé und die kleinen Läden gehören Gefangenen. Wer kein Geld für eine Existenzgründung hat, muss auf irgendeine andere Weise das Geld für seinen Lebensunterhalt verdienen. »Hemden waschen und bügeln für fünf Bolivianos« (etwa 0,60 Euro), preist ein Schild an. Gefangene arbeiten in den kleinen Geschäften, als Hausangestellte oder als Leibwächter und Schläger der Mächtigen – das Territorium im Gefängnis ist gut abgesteckt, Allianzen zu schmieden ist überlebenswichtig. Das meiste aber dürfte durch Drogenhandel verdient werden, denn Drogen gibt es hier genauso wie Waffen. Eine Weile lang auch das angeblich beste chinesische Essen der Stadt. »Das war, als El Chino hier saß«, meint Tommy und zeigt als Nächstes auf ein dickes, nagelneues Rohr. »Das ist der Abfluss des Pools von Barbachoca«, erklärt er. Der Drogenbaron, in dessen Flugzeug vier Tonnen Kokain gefunden wurden, ließ für sich und seine Familie ein Penthouse auf eines der Gebäude bauen. Hier thront er mit eigens mitgebrachtem Personal hoch über den Elendsgassen und führt via Internet seine Geschäfte weiter.

Und Tommy? Er verdankte es einem Zufall, dass er der Fremdenführer von San Pedro wurde. Die Backpacker, denen er San Pedro zeigte, sicherten sein Überleben. Als ich ihn besuchte, wohnte er in einem Vier-Sterne-Zimmer, vielleicht 10 Quadratmeter groß, mit Fenster zum Hof, kleiner Küche und einem Angestellten, der uns Tee kochte, während Tommy von der crackabhängigen Katze eines Gefangenen erzählte und von den Abgaben auf jede seiner Einnahmen an die Gefängnisleitung. Von dem gefängniseigenen Kokainlabor. Eine Geschichte ist unglaublicher als die nächste. Und sie alle können in dem Buch »Marching Powder« nachgelesen werden, das Tommy nach seiner Entlassung zusammen mit dem Australier Rusty Young schrieb. Das Buch wurde ein Bestseller, sogar die Filmrechte wurden verkauft, und inzwischen ist es unter dem Titel »Marschpulver« auch auf Deutsch erschienen. Dass plötzlich in aller Welt so viele Interna über das Gefängnis bekannt wurden, sorgte bei den Verantwortlichen für einigen Unmut. Touristen ist es seither offiziell verboten, San Pedro zu besuchen, und das Überleben ist für die heute einsitzenden Gringos noch schwieriger geworden. Aber an den Verhältnissen hat sich offenbar nichts geändert. Das zumindest sagte mir bei meinem letzten Besuch in Bolivien ein US-Amerikaner, der kurz zuvor entlassen worden war. Er verteilte Flugblätter, auf denen er einen Vortrag über seine Zeit in San Pedro anpries, mit dem er Geld zur Bezahlung seiner Schulden aus der Haftzeit verdiente.

San Pedro ist für mich eine Art Mikrokosmos Boliviens. Drinnen wie draußen gilt das Recht des Stärkeren, und der tägliche Kampf ums Überleben bestimmt den Alltag der Armen. Wer Geld hat, lebt vergleichsweise komfortabel. Doch sowohl vor als auch hinter den Mauern lebt die überwiegende Mehrheit in Armut.

Leben in den Anden

Seit Stunden rumpelt unser Landrover über die unbefestigte Straße immer weiter in die Berge von Norte Potosí hinauf. Die Baumgrenze haben wir längst passiert, so weit das Auge reicht sind Steine und stachelige Grasbüschel zu sehen. Gelegentlich kommen wir an einer kleinen Schaf- oder Lamaherde vorbei, die von einem Kind oder einer alten Frau gehütet wird. Sie heben die Hand und rufen einen Gruß auf Quechua, eine der beiden häufigsten indigenen Sprachen im Land, und lassen ihren Blick wieder über die kahle Landschaft schweifen. Schließlich haben wir unser Ziel erreicht. Das Dörfchen Pichuya besteht aus vielleicht 50 weit verstreut liegenden Hütten und ist erst seit kurzem mit dem Auto erreichbar, noch vor zwei Jahren kam man nur zu Fuß hierhin. Es gibt eine kleine Schule, deren Schüler heute wie so oft schulfrei haben, weil es im nächsten Dorf, wo der Lehrer wohnt, gerade kein Benzin mehr gibt. Es gibt auch eine Krankenstation, die zwar neu gebaut ist und auf den ersten Blick ganz gut aussieht, jedoch über kein fließendes Wasser verfügt und keine Medikamente vorrätig hat, außerdem ist sie mit nur zwei verrosteten Krankenbetten eingerichtet. Da es vor Ort keine anderen Unterkünfte gibt, verbringen wir die nächsten Nächte hier.

Einer der Einwohner von Pichuya ist Don Demetrio. Er ist Mitte sechzig, hat ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht und trägt einen selbstgewebten Poncho, der aus der Wolle seiner eigenen Schafe gefertigt ist. Sein Häuschen hat er aus Adobeziegeln gebaut, die er zuvor selbst hergestellt hatte, indem er Stroh mit Erde vermengt, die Masse in einer Holzform gepresst und zum Schluss in der Sonne getrocknet hatte. Statt mit Schindeln oder Wellblech ist das Dach mit Gras gedeckt. Seit kurzem hat das Dorf Strom, eine nackte Glühbirne erhellt eines der beiden Zimmer, die Küche wird nur von dem Schein des offenen Herdfeuers erleuchtet. Während sich die drei Enkel daran die Hände wärmen, rührt Don Demetrios Frau in dem von Ruß geschwärzten Topf die Kartoffeln um.

Es wäre falsch zu sagen, dass Kartoffeln das Grundnahrungsmittel der Familien sind, auch Hauptnahrung stimmt nicht. Nein, Kartoffeln sind das Einzige, was hier oben auf 4000 Metern gedeiht, und die Familie isst sie jeden Tag zum Frühstück, zu Mittag und abends. Manchmal gibt es dazu ein wenig Fleisch oder auch ein Ei, aber das ist eher die Ausnahme. Sorgsam aus Feldsteinen aufgeschichtete Mauern schützen die kostbaren Pflanzen vor dem eisigen Wind. Steine sind hier im Gegensatz zu allem anderen im Überfluss vorhanden. Wenn alles gutgeht, erntet Don Demetrio auf seinem halben Hektar pro Jahr zwei Tonnen Kartoffeln. Das reicht, um die Familie ein Jahr lang zu ernähren und um ein wenig Tauschhandel zu betreiben. Geld wird hier oben selten verwendet. Damit sie auch im Winter etwas zu essen haben, verarbeitet Don Demetrio einen Teil seiner Ernte zu chuño, Gefrierkartoffeln. Dazu lässt er sie in den kalten Andennächten durchfrieren und tagsüber in der Sonne trocknen. Zwischendurch zieht er seine aus Gummireifen gefertigten Sandalen über die Hände und presst die noch verbliebene Feuchtigkeit heraus. Schon zu Zeiten der Inka stellte man auf diese Weise chuño her, der viele Jahre lang haltbar ist. »Das ist ein Notvorrat, der uns über schlechte Zeiten bringt«, erzählt Don Demetrio. »Aber die Nächte sind nicht mehr so kalt, die Kartoffeln frieren nicht mehr richtig durch und verderben. Vielleicht liegt es daran, dass wir die Pachamama, die Mutter Erde, nicht mehr so ehren wie früher.« Der Klimawandel hat Bolivien fest im Griff, und das Wetter wird unberechenbarer. Das Leben in den Anden war schon immer hart und entbehrungsreich, doch in den letzten Jahren wird es zunehmend schwieriger, hier zu überleben. »Im letzten Jahr hat es sehr viel geregnet, und die Hälfte der Kartoffeln ist verfault. Wir konnten nicht genügend ernten, um welche verkaufen zu können. Ich glaube, die Ernte reicht diesmal nicht einmal für unsere eigenen Mahlzeiten.«

Don Demetrio ist in Sorge, aber er weiß, dass er nicht verhungern wird. Seine beiden Kinder sind nach Cochabamba gegangen, sein Sohn arbeitet als Tagelöhner im Straßenbau, die Tochter als Hausmädchen. Im Notfall werden sie irgendwie helfen können. »Das Leben hier oben war ihnen zu hart, in der Stadt ist das Leben einfacher, und sie können dort mehr verdienen«, meint er und streicht seiner Enkelin über den Kopf. Ein, zwei Mal im Jahr kommen die beiden mit ihren Partnern in die Berge, um ihre Kinder zu sehen, die sie bei den Großeltern zurückgelassen haben. Sie bringen Nahrungsmittel, Kleidung, Haushaltsgeräte und Geschichten aus einer fremden Welt mit. Einer Welt, die viele Söhne und Töchter aus den Andendörfern in die Elendsgürtel rund um die Städte gelockt hat.

Leben in La Paz: Unten und Oben ist Oben und Unten

In fast allen Städten der Welt bauen die Reichen ihre Häuser in der Höhe, wo die Luft angenehm frisch und die Aussicht gut ist. In La Paz ist das umgekehrt. Hier haben die Armen die beste Aussicht – und die dünnste, kälteste Luft. Auf den oberen Hängen des Talkessels stehen die einfachsten, roh gemauerten Hütten, doch mit jedem Höhenmeter abwärts werden die Häuser ansehnlicher und größer, bis schließlich schöne Stadtvillen das Bild beherrschen. In der Zona Sur, die knapp 1000 Meter niedriger liegt als die Abbruchkante des Talkessels, ist es zehn Grad wärmer als oben, und das Atmen fällt wesentlich leichter. Wer es sich leisten kann, hier zu wohnen, ist in der Regel weiß, und sein Leben unterscheidet sich nur wenig von dem in Europa, abgesehen davon, dass es hier völlig normal ist, mehrere Angestellte zu haben, die sich um den Haushalt, die Kinder und den Garten kümmern.

Die Angestellten pendeln jeden Morgen aus der Höhe hinab in die Welt der Reichen und abends wieder zurück. Die meisten leben in El Alto. Die einstige Armensiedlung von La Paz verdankt ihren Namen »Der Hohe« ihrer Lage auf über 4000 Metern. 1952 lebten hier weniger als 30 000 Menschen, heute ist El Alto eine eigene Stadt, die inzwischen sogar größer ist als das rund eine Million Einwohner zählende La Paz. El Alto wächst beständig weiter, denn aus den Dörfern kommen immer mehr Menschen, die das harte Leben in den Anden nicht mehr wollen und hier ihr Glück suchen. Das ist heute, anders als noch um die Jahrtausendwende, durchaus möglich. Damals waren die Verhältnisse überschaubarer. Die wenigen Weißen stellten die Oberschicht, die indígenas mit ihrem Bevölkerungsanteil von zwei Dritteln die Unterschicht, und die Mestizen, Nachfahren von Indigenen mit Europäern, standen sozial und kulturell irgendwo dazwischen. Seit Evo Morales 2006 Präsident wurde, hat sich das geändert. Dunkelhäutig ist nicht mehr gleich arm, und die Wohlhabendsten kommen inzwischen oftmals nicht mehr aus den klassischen Villenvierteln, sondern nicht selten aus El Alto, wo sich eine neue, indigene Oberschicht gebildet hat, die auch als »Aymara-Bourgeoisie« bezeichnet wird. Sie verdient ihr Geld hauptsächlich mit dem Import und Handel billig in China produzierter Kleidung und Haushaltswaren und, so sagt man hinter vorgehaltener Hand, mit Kokain.

Dass es in El Alto Geld gibt, das sieht man besonders deutlich an den immer größer werdenden cholets. Das sind mehrstöckige Häuser, auf deren Dächern aufgesetzt Villen thronen. In der Regel sind sie bunt und mit geometrischen Mustern aus der andinen Kultur verziert. Gebaut wurden sie von dem inzwischen berühmt gewordenen indigenen Architekten Freddy Mamani. Die größeren kosten schnell mehr als zwei Millionen US-Dollar. Die Angehörigen der neuen Oberschicht mieten darin für Familienfeiern einen der prächtig geschmückten Festsäle, engagieren eine Band und lassen für die Frauen der Familie aufwendige Kleider schneidern. Gern im traditionellen Stil: eine pollera, einen weiten voluminösen Rock aus acht Metern Stoff, und um die Schultern eine manta. Beides tragen die Frauen auch alltags. Doch zu Festen sind die Röcke nicht aus Polyester, sondern aus Samt, Seide oder Brokat, und das Schultertuch ist aus feiner Spitze. Ein bombín, ein Bowlerhut, gehört ebenfalls unbedingt dazu. Bowlerhut? Vermutlich wurde diese klassische europäische Kopfbedeckung Teil der indigenen Tracht, nachdem einst eine größere Lieferung Hüte für die Eisenbahnarbeiter zu klein ausfiel und sie deshalb an die lokale Bevölkerung verteilt wurde. Heute besitzt jede indígena in den Anden mindestens einen bombín und signalisiert damit auch ihren Status: Wird der Hut gerade aufgesetzt, ist die Trägerin verheiratet, sitzt er schief, ist sie ledig. Bei großen Festen wird an nichts gespart, man zeigt, was man hat – auch als Gast. Es ist üblich, kistenweise Bier mitzubringen. Sorgfältig wird notiert, wer wie viel geschenkt hat, und bei der früher oder später kommenden Gegeneinladung wird unbedingt darauf geachtet, dass es wenigstens eine Kiste mehr ist. Auf jedem Fest kommt so deutlich mehr Bier zusammen, als jede noch so durstige Gesellschaft trinken kann. Die Getränkehändler nehmen die Kisten gegen einen Abschlag zurück und machen oft doppelte oder dreifache Geschäfte. Doch wer etwas auf sich hält, der lässt vor den Augen der Gäste alle Flaschen öffnen, um zu zeigen, dass man sich das leisten kann.

Nichtsdestoweniger sind die meisten Einwohner von El Alto arm. Kaum hat man das Zentrum verlassen, ist die Mehrzahl der Häuser unverputzt, und je mehr man sich den Außenbezirken nähert, desto kleiner und armseliger werden sie. Hier leben diejenigen, für die sich der Traum vom besseren Leben nicht erfüllt hat. Kaum jemand hat eine ordentliche Arbeit mit festem Gehalt oder Kündigungsschutz, von Krankenversicherung oder sonstigen Sozialleistungen ganz zu schweigen. Die Menschen schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch, als Tagelöhner auf dem Bau, als fliegende Händler oder sind prekär in Haushalten beschäftigt.

Eine von ihnen ist Doña Alicia, Mutter von acht Kindern. Als Wäscherin verdient sie etwa zwei Euro am Tag. Das muss für sie und ihre Kinder reichen, denn Alicia ist de facto alleinerziehend. Ihr alkoholkranker Mann ist meistens abwesend, wenn nicht, verursacht er mehr zusätzliche Probleme, als dass er etwas zum Unterhalt der Familie beitragen würde. Sie ist 39 Jahre alt, wirkt aber mit ihren wenigen übriggebliebenen Zähnen und den tiefen Sorgenfalten, als sei sie mindestens Mitte 50. Meistens kocht sie für sich und die Kinder eine dünne Suppe, für mehr reicht ihr Geld nicht. Diese Mangelernährung macht die Menschen anfällig für Krankheiten, unter anderem treten immer wieder Fälle der Armutskrankheit Tuberkulose auf. Für Menschen wie Alicia gleicht das tägliche Überleben einem Drahtseilakt, der sofort vollends aus der Balance gerät, wenn irgendetwas Unvorhergesehenes passiert. Als bei Alicias jüngstem Sohn Nierensteine festgestellt wurden, war das für die Familie eine Katastrophe. Die Basisgesundheitsversorgung ist für Kinder unter fünf Jahren und für Personen über 60 zwar inzwischen kostenlos, aber eine Operation gehört nicht dazu und muss privat bezahlt werden, auch in staatlichen Krankenhäusern – von denen es viel zu wenige gibt. Privatkliniken gibt es zumindest in den Städten genug, doch das konnte sich Alicia noch weniger leisten. Sie hat das große Glück, in einem Viertel zu leben, in dem das internationale Kolpingwerk Gesundheitsstationen unterhält. Auch dort müssen selbst die Ärmsten wenigstens einen kleinen Beitrag für ihre Behandlung bezahlen, denn die Zentren müssen sich selbst tragen. Doch für Notfälle gibt es Fonds, sodass ein Teil der Kosten erlassen werden kann. Trotzdem trieb die Erkrankung Alicia noch weiter in den Ruin. »Ich war schon vorher sechs Monate mit der Miete im Rückstand. Als mein Kleiner zwei Wochen lang im Krankenhaus war, musste ich die ganze Zeit bei ihm bleiben und konnte währenddessen kein Geld verdienen. Also musste ich mir noch mehr Geld von den Nachbarn leihen.«

»Da an der Ecke war der Elefantenfriedhof, den sie letzten Monat hochgenommen haben«, meint unser Gastgeber vom Kolpingwerk, als wir von unserem Besuch bei Doña Alicia durch El Alto zurück Richtung La Paz fahren, und zeigt auf ein zweistöckiges Haus aus rohen Ziegelsteinen. Wären die Fenster und Türen nicht mit Sperrholzplatten vernagelt, würde es in dem Straßenzug nicht weiter auffallen. Als wir den Mann verständnislos anschauen, erzählt er uns eine unglaubliche Geschichte von einer Institution, die in El Alto jeder kennt: Für die ganz Verzweifelten gibt es sogenannte Elefantenfriedhöfe. Das sind illegale, versteckt liegende Trinkhöllen, in denen man gegen Vorauszahlung eine Matratze, eine Decke, einen Eimer für die Notdurft und eimerweise billigen Schnaps bekommt. Wer nichts mehr zu verlieren hat, säuft sich hier planmäßig zu Tode. Die Leichen, angeblich gelegentlich auch noch Lebende, die im Koma liegen, werden, so heißt es, an die Bauherren der cholets verkauft, die sie als Opfergabe in die Betonfundamente ihrer Hochhäuser eingießen. Rund 50 solcher Elefantenfriedhöfe soll es in El Alto und La Paz geben, alle paar Monate räumt die Polizei einen von ihnen, doch es entstehen ständig neue.

Gewalt gegen Frauen

In ihrem Unglück hat Alicia immerhin das Glück, dass ihr alkoholkranker Mann meistens nicht da ist. Sonst würde sie womöglich zu den vielen Frauen gehören, die ständig misshandelt werden. Gewalt gegen Frauen ist in Bolivien ein großes Problem. »Ganz gleich, was die Verfassung zum Thema Gleichberechtigung sagt, vom kulturellen Konzept her gehört eine Frau traditionell einem Mann, erst dem Vater, dann dem Partner«, erklärt Beatriz Iglesias, Leiterin des Kolping-Frauenhauses. »In Bolivien bist du nicht Frau Soundso, sondern die Frau von Herrn Soundso.« Es ist die Aufgabe der Frau, ihrem Mann das Leben so angenehm wie möglich zu machen. So sind die Jungen erzogen worden – und auch die Mädchen. Deshalb begehren viele Frauen lange nicht auf, wenn sie von ihren Männern misshandelt werden. »Sie haben bei ihren Müttern und Großmüttern gesehen, dass es nun mal zum Leben einer Frau dazugehört, dass ihr Mann sie herumkommandiert und auch schlägt, wenn nicht alles zu seiner Zufriedenheit läuft. Sie stellen das nicht in Frage, sondern nehmen es hin.« Hinzu kommt, dass eine Frau in Bolivien gesellschaftlich und in der Regel auch finanziell ruiniert ist, wenn sie keinen Mann hat, denn meistens hat sie keinen Beruf erlernt und ist wirtschaftlich vollständig abhängig. Fünf bis zehn Jahre, so sagt die Leiterin des Frauenhauses, dauert es, bis misshandelte Frauen sich dazu durchringen, ihre Männer zu verlassen. Nur wohin? Und mit welchem Geld? Frauenhäuser gibt es nur vereinzelt, staatliche Unterstützung für diejenigen, die sich von ihren prügelnden Männern trennen, gar nicht. Deshalb sieht es Beatriz in ihrem Frauenhaus als wichtigste Aufgabe an, den Frauen Backen, Schneidern und ein paar betriebswirtschaftliche Grundlagen beizubringen, damit sie sich allein über Wasser halten können und nicht aus finanzieller Not in die gewalttätige Beziehung zurückkehren müssen.

Die Situation wird eher schlimmer als besser. Heute, da mehr Frauen arbeiten müssen, um zum immer teurer werdenden Lebensunterhalt beizutragen, verschärft sich die Gewalt, denn es bleibt ihnen weniger Zeit, ihre Männer zu bedienen. Beatriz erzählt von einem Fall, der ihr erst letzte Woche vorgetragen wurde: »Die Frau war arbeiten, und als sie am Abend heimkam, putzte sie das Bad. Es war noch feucht, als ihr Mann nach Hause kam. Er warf ihr vor, sie vernachlässige ihre Pflichten als Ehefrau, respektiere ihn nicht, in dem sie ihm einen feuchten Boden zumute, und schlug sie.«

Die Verwerfungen in der Gesellschaft wachsen und damit auch der Grad der Gewalt. Nicht selten endet sie tödlich. Zwischen 2013 und 2018 wurden in Bolivien mindestens 447 Frauen von ihren gewalttätigen Männern umgebracht, allein im Januar 2018 waren es 14. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Inzwischen spricht man offen von »Feminizid«, der Tötung von Frauen wegen ihres Geschlechts. Meistens gingen den Tötungen jahrelange Misshandlungen voraus, sagt Beatriz Iglesias. Sie gibt Polizei und Justiz eine Mitschuld. »Wenn sich eine Frau nach langer Überlegung schließlich doch zu einer Anzeige durchringt, wird die gern als übertrieben oder als Privatangelegenheit abgetan. Oft überreden die Polizisten die Frauen, die Sache fallen zu lassen. Und nicht selten sorgen die beschuldigten Männer mit Hilfe von Schmiergeldern dafür, dass Anzeigen im Sande verlaufen.« 87 718 Anzeigen gab es von 2013 bis 2016 – und nur 36 Verurteilungen.

Alltägliche Korruption

Umsteigen am Flughafen in Cochabamba. Wir haben zwei Stunden Zeit und setzen uns eine Weile in die Sonne. Ein paar Meter weiter sitzen zwei Jugendliche. Als sie hören, dass wir deutsch sprechen, stellen sie sich äußerst höflich als Eduardo und Juan sowie als Fans von Günter Grass und Friedrich Nietzsche vor. Die beiden kommen oft nach der Schule hierher. Weil man hier entspannt in der Sonne sitzen und Flugzeuge beobachten könne und weil sie hier gelegentlich interessante Gespräche führen könnten. Die beiden sind 17 Jahre alt und würden gern nach der Schule Psychologie studieren. Aber daraus werde wohl nichts. »Meine Eltern bestehen darauf, dass ich Polizist werde«, erklärt Eduardo. »Das Gehalt ist zwar nicht besonders hoch, aber durch die Korruption kann man sehr leicht von der Mittel- in die Oberklasse aufsteigen.«