Saskia de Coster

Eine echte Mutter

Roman

Aus dem Niederländischen
von Isabel Hessel

Tropen

Impressum

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert
von der Flanders Literature.

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Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Nachtouders«
im Verlag Das Mag Uitgevers, Amsterdam

© 2019 by Saskia de Coster und Das Mag Uitgevers

Für die deutsche Ausgabe

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung einer Illustration von © A-Digit/Gettyimages und finepic®

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50454-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11586-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Das habe ich noch nie vorher versucht,
also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe.

Pippi Langstrumpf

Streng wie ein Gott nickt ihnen der Junge zu. Wortlos lesen die beiden Frauen Steine vom Strand auf und schleudern sie mit verzweifelter Hingabe in die Brandung, so lange, bis sie sich japsend gegenüberstehen und die Steine auf dem Meeresgrund einander von den beiden Verrückten erzählen, die sie vollkommen sinnlos von ihrem Platz genommen haben.

IM BETT IN ANTWERPEN, VIER MONATE VOR DER ABREISE

Saskia: Also gut, wir verreisen. Ich buche dann mal unsere Tickets.

Juli: Du und Flüge buchen? Das glaube ich dir nicht.

Saskia: Stimmt, buch du sie lieber. Lass uns ruhig den Planeten zerstören, damit wir mit unserem Kind ans andere Ende der Welt kommen. Er wird sich später eh an nichts erinnern.

Juli: Wir könnten auch mit dem Schiff fahren.

Saskia: Dann sind wir da, wenn Saul groß ist.

(In der Nacht darauf)

Juli: Sie sind in deinem Postfach. Man muss sogar für einen Einjährigen bezahlen, diese Halsabschneider.

Saskia: Moment mal. Echt? Hast du gebucht? Wir verreisen wirklich?

Juli: Natürlich verreisen wir wirklich. Du hast doch Ja gesagt.

AM ABEND VOR DER ABREISE

»Wie hast du das damals gemacht?«, frage ich Julis Mutter. Es ist der Abend vor unserer Abreise, Julis Vater schenkt seiner Tochter und mir noch einmal vom selbstgemachten Limoncello nach. Das Babyfon schweigt.

»Wie ich was gemacht habe, Saskia? Limoncello?«

»Wie hast du ein Kind zur Welt gebracht und dann großgezogen?« Diese Frage erfüllt meine eigene Mutter immer mit Stolz; obwohl sie zwei Kinder geboren hat, ist sie auch jetzt noch rank und schlank. Spitzenleistung. Die Antwort meiner Mutter: Disziplin. Für Julis Mutter ist ein Kind ein Kind, daran ist nicht zu rütteln. Das erledigt das Kind schon selbst, es ruckelt an allem herum, zieht Sachen aus den Regalen, lockert Windeln, nimmt sämtliche Zimmer mit seinen Spielsachen in Beschlag. Julis Mutter sagt ständig, als junge Mutter bekomme man vor allem gute Ratschläge im Überfluss: »Schafft euch eine ordentliche Waschmaschine an«, hat sie uns bereits während der Schwangerschaft ans Herz gelegt. Sie erzählte uns von Müttern, die ein Leben lang hinter ihren Kindern herlaufen, um irgendwelche Flecken mit einem Lappen zu entfernen, vorsichtig Scherben zusammenzufegen, und die ihrem Nachwuchs mit Trost und warmem Kakao zur Seite stehen, wenn der sich trotz aller Liebesmühe verletzt und blutet.

Wie sie was gemacht habe?

»Schwanger werden, ein Kind austragen.«

»Na ja, gemerkt habe ich es eher zufällig. Meine Tage blieben aus, und dann verging eine Weile. Und dann fängt man an zu rechnen. Ich bin vor Schreck fast umgefallen, als mir plötzlich klar wurde, dass ich schwanger war. Mein Körpergeruch hatte sich verändert. Am Vorabend hatte ich mit meinen Freundinnen ordentlich einen draufgemacht, Portwein, Champagner und Cognac durcheinandergetrunken und bis zum Umfallen getanzt. Am nächsten Morgen dachte ich, ich sei tot und in der Hölle gelandet. Furchtbar. Ich roch meinen eigenen Schweiß, da wusste ich, dass ich schwanger war, dass da jemand Winziges in meinem Bauch war, und ich hätte sonst was gegeben, wenn ich mich an dem Abend nicht hätte überreden lassen, tanzen zu gehen. Vor lauter Panik bin ich zum Arzt gerannt. ›Herr Doktor‹, habe ich gesagt, ›ich bin schwanger, das brauchen Sie mir nicht erst zu sagen, das weiß ich schon. Aber ich habe ein Riesenproblem: Das Kind wird schwerbehindert.‹ Der Arzt bewahrte Ruhe: ›Nun machen Sie sich mal keine Sorgen. Das eine Mal betrunken sein ist nicht schlimm. Da hat Ihr Kind sicher nichts abbekommen. Oder wer weiß, vielleicht hat es ihm ja sogar geschmeckt, haha.‹ Die Ärzte sahen das damals nicht so eng. Ich machte mir aber trotzdem Sorgen. Monatelang habe ich mich elend gefühlt, weil ich Angst hatte, ich würde ein behindertes Kind bekommen.«

»Und stattdessen wurde es ein Genie«, sagt Juli.

»Dabei war das Ganze nicht gerade mein Traum«, sagt Julis Mutter. »Ehrlich gesagt wollte ich es bis zum Schluss nicht wahrhaben. Aber als ich das Kind im Arm hatte, war ich vom Fleck weg verliebt. Und das bin ich heute noch.«

Der Limoncello entfaltet seine besänftigende Wirkung bei Mutter und Tochter, während Julis Vater auf dem Sofa sitzt und fernsieht.

»Früher war das so. Damals gab es keine Ultraschallbilder, wir kannten nicht einmal das Geschlecht unseres Babys.« Julis Mutter sieht uns an. »Heutzutage können die Ärzte einfach alles. Sogar sechzigjährige Frauen bringen noch Kinder zur Welt. Zwei Frauen können zusammen ein Kind bekommen. Wenn mein Vater das wüsste, der würde sich im Grab umdrehen. Nicht, weil er was dagegen hätte, nein, er würde sich nur vor Lachen nicht mehr einkriegen. Schwangerwerden war nicht das Problem, die eigentliche Qual war die Schwangerschaft. Und dein Vater …«

Julis Vater schaut kurz auf.

»Was ist mit mir?«

»Ich sagte, das Schwangerwerden war kein Problem …«

»Ich brauchte sie bloß anzusehen, und schon war sie schwanger!«

»Überall hatten wir Eimer aufgestellt«, fährt Julis Mutter fort, während sie noch einmal nachschenkt. »Tag und Nacht habe ich mich übergeben, als hätte ich neun Monate einen Kater von diesem einen Abend Portwein und Champagner.«

»Vergiss den Cognac nicht«, ergänzt Julis Vater, der die Geschichte auswendig kennt. »Ich brauchte sie bloß anzusehen, und schon war sie schwanger!« Er wiederholt sich, um ein Lachen zu ernten. Seine Frau war einundzwanzig, als sie ein Kind bekam, eine Tochter mit weißblondem Haar und gletscherblauen Augen. Diese Tochter war allerdings fünfzehn Jahre älter als ihre Mutter damals bei der Geburt, als sie endlich einen kleinen blonden Sohn zur Welt brachte. Die Zeitspanne von nahezu einer ganzen Generation hat sie mit belanglosem Zeug verbracht, hat Literatur studiert, sich neu orientiert, ist lesbisch geworden und zur Kommunikationschefin einer politischen Partei aufgestiegen. Das mit dem Schwangerwerden ging nicht so ohne weiteres. Es brauchte mehr als den Blick eines Mannes.

Vom ersten Tag an behandelten Julis Eltern ihren Enkel wie einen kleinen Prinzen. Eigentlich hatten sie die Hoffnung längst begraben. Zwar hatten Saskia und Juli jahrelang einen gemütlich vor sich hin schnarchenden Mops gehabt, aber das sei natürlich nicht dasselbe, hatten sie gemeint. Eines Tages allerdings dämmerte es auch Julis Eltern: Als ihr Vater gerade ein Stück Grillfleisch in die flache Schnauze des gierigen, dauerhungrigen Mopses steckte, sagte er nüchtern: »Wir müssen uns wohl mit ihm hier zufriedengeben, oder?«

Heute halten sie ihren Enkelsohn für ein Wunder. Sogar die Tatsache, dass er noch kein Wort sagt, ist aus ihrer Sicht ein Segen: »Sobald sie sprechen können, geben sie Widerworte.«

Julis Eltern schenken noch einmal nach und vergießen Freudentränen über das, was ihre Töchter so alles zustande bringen. Ich zählte sofort zur Familie, das ist jetzt schon sieben Jahre her. Sie sind unglaublich warmherzig und tolerant, während in ihren Kreisen die Fahne der Intoleranz gegen jedwede Art von Minderheit weht und sie, ohne mit der Wimper zu zucken, eine rassistische Partei gewählt haben.

Sie sind schon wieder ein Stück weitergetorkelt auf dem Weg zur Trunkenheit, ich versuche, Schritt zu halten. Sie reden jetzt über die sündhaft teuren Hobbys dieser Irren, in die die Regierung auch noch Geld hineinpumpe, diese Künstler glaubten wohl, sie könnten sich alles erlauben, ach Quatsch, doch, …

Ich bin auf einmal ziemlich müde, sehne mich fort von dem Schnattern und Schnauben, ein paar Wochen fort von der Veranda namens Flandern, in die freie Natur Kanadas, zu Leuten, die sich sogar an der Supermarktkasse noch mit Worten zu Tode knuddeln.

Ich nehme mein Handy, schicke ihr eine letzte Nachricht.

»Künstler sind allesamt Schmarotzer.«

»Karl ist auch ein Künstler«, sagt Juli.

Ich bekomme sofort eine Antwort, lese die Nachricht und lösche sie.

»Ach Quatsch, nein, Karl ist anders. Karl«, sagt Julis Mutter, »ist ein Schatz von einem Mann und trotzdem ein angesehener Künstler, er kann ja auch nichts dafür, man wird so geboren, stimmt’s, Saskia, schreiben liegt dir doch auch im Blut, und Karl, ja, wären bloß alle Männer wie er.« Sie schaut zu ihrem Ehemann hinüber. Wir verstummen kurz, denken liebestrunken an Karl.

Karl war gerade wegen der Samenspende bei uns in Belgien, da kam ich eines Abends nach Hause, und es roch zu meiner Überraschung überall nach Fleisch. Auf turmhohen Pumps stelzte eine bis zur Unkenntlichkeit gestylte Version von Julis Mutter durch die Wohnung. Ein Dekolleté wie ein V, tief wie die See, ihr Kuss hinterließ einen paris-cherry-rosafarbenen Abdruck auf meiner Wange. Wie konnte es anders sein? Am Tisch saß ihr Held, ihr Gott Karl, vor einer Lammkeule. Unseren vegetarischen Firlefanz könne man nach einer derart langen Flugreise niemandem antun, erst recht keinem echten Kerl wie Karl, meinte die Frau, die aus einer Metzgersfamilie stammt. Genussvolle, üppige Mahlzeiten will Julis Mutter ihren Lieben vorsetzen. Sie sorgt derart übertrieben für unser leibliches Wohl, dass sie sich erst zufriedengibt, wenn unsere Schlagadern bersten und sich unsere Bäuche wölben. Die Devise meiner eigenen Mutter lautet hingegen: Lieber etwas weniger, Hauptsache, es schmeckt.

»Über diese Insel, auf der Karls Familie lebt«, zerschneidet Julis Mutter die Stille, »lässt sich online kaum etwas finden.«

»Das sind Hippies«, sagt Julis Vater, der auf seinem Laptop bereits alles recherchiert hat. »Die lassen sich’s dort sicher gut gehen.«

Überschwänglich freuen sich Julis Eltern über alles, was ihrem Leben ein bisschen Farbe verleiht. Weil es jetzt ja dieses eine Kind gebe, ein hübsches blondes noch dazu, wollen sie mich dazu überreden, meinerseits eins zu bekommen. »Einen Blondschopf und eins mit schwarzem Haar, wäre das nicht toll, ein Geschwisterchen?« Sie ermutigen uns auch in regelmäßigen Abständen, doch bitte zu heiraten, weil dann so viele nette Schwule auf die Hochzeitsfeier kommen würden, mit denen könne man wenigstens ordentlich feiern. So einfach kann das Leben sein, wenn die eigenen Prinzipien nur ein Floß sind, das man auf hoher See den Strömungen überlässt.

Mit einem Mal – ist es der Alkohol oder eine göttliche Eingebung? – fällt Julis Mutter wieder ein, dass sie ihren Enkel mit anderen wird teilen müssen.

»Wir werden nur eine Stippvisite bei Karls Familie auf der Insel machen«, sagt Juli. »Wir wollen ihnen Saul zeigen und dann nach Alaska weiterreisen.«

»Ihr dürft ihn dort nie aus den Augen lassen, merkt euch das«, sagt sie. Besorgt nippt sie an ihrem Limoncello. »Schließlich weiß man nie. Ich verstehe auch immer noch nicht, wieso ihr keinen Rückflug gebucht habt.«

»Hoffentlich lernt er dort sprechen, das können die Amis ja so gut«, sagt Julis Vater.

»Der Kinderarzt meint, es sei nicht ungewöhnlich, dass Saul noch nicht spricht«, sagt Juli. »Wir sollen ihn einfach beobachten.«

»Den Kleinen wirklich keinen Moment aus den Augen lassen«, wiederholt Julis Mutter stirnrunzelnd, »wir sollten das ganz nüchtern angehen. Man hört ja so oft von Entführungen. Im Kreis der eigenen Familie, versteht ihr?«

»Ach was, höchstens nimmt ihn ein Bär mit.«

»Gibt es da etwa Bären?!«

»Ja, und Geier, habe ich gerade irgendwo gelesen«, sage ich.

»Geier?!« Ihre Augen sprühen Funken.

»Und Wölfe«, sagt Juli. »Und Dinosaurier.«

»Mach dich nur über deine Mutter lustig. Kauft doch bitte eure Rückflugtickets. Dann kann ich euch am Flughafen abholen. Und jetzt trinken wir noch ein letztes Glas, zum Abgewöhnen.«

Während Juli in den Keller verschwindet, um eine zweite Flasche des selbstgemachten Limoncellos heraufzuholen, nimmt mich ihre Mutter beiseite.

»Ich würde ihn wirklich nicht aus den Augen lassen.« Ihre kräftige Fahne schlägt mir entgegen. Dabei sieht sie mich an wie ein Geist, ganz weggetreten. »Die Gefahr lauert überall.«

IM BETT IN JULIS ALTEM KINDERZIMMER

Saskia: Was hast du denn hier getrieben? Die Matratze ist ja total durchgelegen.

Juli: Viel an die Decke gestarrt. Ein Wunder, dass das Bett noch steht. Aber leise jetzt, sonst wacht er auf.

Saskia: Entschuldige.

Juli: Wem schreibst du denn um die Uhrzeit noch?

Saskia: Mir selbst. Das sind Notizen.

Juli: Leg das Telefon weg und lass uns endlich schlafen, Alaska wartet.

IN DER NACHT VOR DER ABREISE

Schon bald höre ich die beiden in dem stockdunklen Zimmer gleichmäßig atmen. Zwei Rhythmen, die einander abwechseln, ein Gespräch in Träumen, eine Mutter und ihr kleiner, tagsüber noch stummer Sohn. Oder ist es die Nacht, die mit sich selbst redet? Traumschwaden ziehen vorbei. Ein Ährenfeld, ich liege unter der Erde. Ein Riese stampft darüber hinweg und lässt mich aus dem Schlaf hochfahren. Ich liege in der staubflockigen Hitze eines durchhängenden Bettes und lausche. Ich denke an den Morgen, an unsere Reise. An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Ich brauche Luft.

Um Juli nicht aufzuwecken, schiebe ich mich behutsam unter der klumpigen Daunendecke hervor. Meine Füße suchen festen Boden, finden stockdunklen Teppich. Meine Hände halten sich krampfhaft an einem klobigen Nachtschränkchen fest, gleiten wie über Blindenschrift an einem Schreibtisch entlang, auf dem ein Drucker steht, über die Raufasertapete, um dann wiederum die polierten Konturen des massiven Schwarzeichenschrankes zu ertasten. Ich drücke die Tür einen Spaltbreit auf und schlüpfe hinaus. Einen Fuß vor den anderen setzend, wacklig auf den Beinen wie eine uralte Frau, schleiche ich die Treppe hinunter. Über allem liegt nächtlicher Nebel, betäubt die Schlafenden. Bei jedem Schritt kann ich in ein dunkles Loch stürzen.

Ich knipse das Licht an, jetzt erkenne ich dieses Haus für eine Nacht wieder. Unten in der Diele warten unsere gepackten Koffer. Der Kühlschrank erschaudert, irgendetwas zieht durch seine kalten Gelenke.

Im Wohnzimmer schaut mich der Name unseres Sohnes an. Zum ersten Geburtstag ihres Enkelkindes hatte Julis Mutter sämtliches Zinn, das sich in ihrem Haus fand, zusammengetragen und erhitzt. Zierteller, Schilder, die den Ruhm kleiner Gemeinden mit Größenwahn besingen, und pseudomittelalterliche Trinkbecher wurden zu seinem Namen umgeschmolzen, vier Buchstaben werden von einem horizontalen Band aus schwerem Metall mit dem erklärten Ziel zusammengehalten, das Ganze an der Tür zu seinem Kinderzimmer zu befestigen. Sein zinnener Name war allerdings ein solches Schwergewicht, dass die Tür aus den Angeln krachte. Jetzt hängt er hier, sicher festgenagelt: SAUL.

Die Geister verstorbener Großeltern starren mich aus ihren Rahmen an, adrett herausgeputzt in Anzug oder sittsamer Sonntagskleidung erheben sie Champagnergläser. Fotos von Julis Eltern als dem perfekten Paar bei einem Nachtischbüfett, vor dem Hintergrund eines prasselnden Wasserfalles. Ich bleibe vor dem Foto eines kleinen Nackedeis stehen, der sonnengebräunt auf einem Schafsfell vor einem Kingsize-Bett liegt; wegen des Kamerablitzes haben seine Haare die Farbe von Vanilleeis bekommen, das Weiß des Schafsfells strahlt lichterloh. Die spindeldürren Kinderarme hat sie um die Storchenbeine geschlungen. Es ist Juli. Schräg darunter hängt ein Nacktfoto von Saul, der zu dem Nacktfoto seiner Mutter aufschaut.

In wenigen Stunden bricht der neue Tag an. In der Garage wartet die neuste Errungenschaft von Julis Eltern, ein waschechter Mercedes. Morgen früh bringen sie uns damit zum Flughafen. Sollen sie nur fahren, ich komme nicht mit. Ich verstecke mich unter der Motorhaube.

Das erste Jahr mit Baby haben wir auf wundersame Weise überlebt. Wir haben Krankheitserreger und Wecker bezwungen. Wir haben Kratzhandschuhe und zu kleine Windeln gekauft. Wir haben es geschafft, sowohl uns als auch ein Kind am Leben zu erhalten. Jetzt werden wir einen Monat zusammen sein, ohne dass uns Beipackzettel oder die Zeit im Genick sitzen. Julis Sabbatical wollen wir dazu nutzen, Karls Familie einen Besuch abzustatten und von dort aus nordwärts zu ziehen. Vor langer Zeit haben wir uns eine Reise nach Alaska versprochen. Juli meint, dort kämen Eiswürfel aus dem Wasserhahn.

Wir fordern uns gegenseitig immer gerne dazu heraus, das Unmögliche zu tun. Wie Radrennfahrer in einem Peloton wechseln wir uns an der Spitze ab. Mal fährt die eine voran, mal die andere. Indem wir uns gegenseitig anstacheln, kommen wir weiter als alleine. Wie an jenem Morgen, als wir durch Berlin streiften und dachten: Wir halten einfach an, wenn wir nicht mehr können. Um Mitternacht waren wir immer noch unterwegs und hatten, ohne es zu merken, achtzig Kilometer zurückgelegt. So etwas finden wir lustig, andere nicht. Die denken: Diese Verrückten kennen keine Grenzen. Diese Frauen machen sich gegenseitig kaputt. Aber wir wissen es besser. Manchmal kennen wir tatsächlich keine Grenzen. Man bedenke nur, wie viele Grenzen man überschreiten muss, um ein Kind zu zeugen, wenn man ein Frauenpaar ist. Wer sich da brav innerhalb der Grenzen der Natur bewegt, erreicht gar nichts.

Ich nehme mein Notizbuch zur Hand und schreibe. Geschichten für Saul.

NOTIZBUCH

Schau, hier falle ich zwischen die Seiten und trete als dritte Person wieder hervor. Besser für den Abstand.

Papier sei geduldig, sagte Saskias Mutter immer. Mehr noch, Papier lüge. Damit meinte sie in erster Linie Werbeprospekte, die beige Sofagarnituren zu Spottpreisen an den Mann bringen wollen. Kinder würden lügen, das hat sie auch gesagt. Besonders ein Kind, das sich den lieben langen Tag Geschichten ausdenke. Damit war Saskia gemeint. Saskia erinnert sich, wie sehr sie es als Kind genoss, den Leuten einen Bären aufzubinden, und zwar nicht, weil sie sie hereinlegen, sondern weil sie herausfinden wollte, ob es auf dem Papier möglich wäre, fünfzehn Tage in einem Ballon über den Eisbären zu schweben und ihre Sprache zu erlernen, um zu testen, ob Frau Hilde von der dritten Klasse das glaubte, kurzum: Saskia wollte wissen, wie formbar die Welt war.

Als zerbrechliches, noch kindliches Mädchen, das es nicht in die Teenager-Clique schaffte, schrieb sie einmal einen leidenschaftlichen Brief an ihre einzige Freundin in der Klasse, eine Art Aufschrei des Herzens. Sie wollte den Gedanken, dass sie zu nichts tauge, loswerden, was an sich schon ein triftiger Grund war, jemanden zu mobben. In diesem bockigen, dunklen Kind verbarg sich ein echter Mensch, ein Ich. Im vollsten Vertrauen gab sie ihren Brief, der mehr ein Glaubensbekenntnis an sie selbst war, dem zwergwüchsigen Mädchen. Ihr Körper würde sich nie zu dem einer Frau entwickeln, irgendwas mit den Hormonen, flüsterte man sich zu. Sie war diejenige, die das große Geheimnis als Erste erfahren durfte, nämlich dass Saskia Schriftstellerin war. In ein paar Jahren würde das sowieso jeder wissen. Für die Dauer eines Mittags schwebte Saskia durch die Schulflure und schloss sich nicht mal zum Weinen auf der Toilette ein. Bis der Wicht ihr triumphierend unter die Nase rieb, alle hätten sich über ihren Brief, der inzwischen vervielfältigt worden sei und an sämtlichen Klotüren hinge, schlapp gelacht. Damals erlebte sie am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, »wenn man einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet bekommt« (gekränkt und erstaunt schrieb sie in ihr damaliges Tagebuch: »Es ist wahr! Kalt und nass und bibbernd«). Ihr Körper wurde von ein paar Worten berührt.

Später von weichen Händen, von unsanften Bordsteinkanten und messerscharfen Klingen, von einem Skalpell. Aber dennoch bleibt sie ein Außenseiter, was ihren eigenen Körper betrifft. In ihr ist nie ein Kind herangewachsen. Was sie auch nicht wollte.

•••

Noch bevor sie ihre Geschichtchen erfand, machte es ihr große Freude, die Welt einer Reihe von Tests zu unterziehen.

Was für ein Spaß es doch ist, den Löffel so oft fallen zu lassen, bis ihn jemand aufhebt, wieder und wieder. Manchmal würde sie am liebsten immer noch in einem Kinderstuhl sitzen und den ganzen Tag lang ihren Löffel fallen lassen.

•••

Vor vier Monaten, als Saskia erbitterte Kämpfe mit ihrem Roman ausfocht – sie hatte Lust, das Manuskript wütend in die Ecke zu schleudern, weil es ein lebloser Pfuhl stillstehender Wörter war –, stellte Juli sich neben sie an den Schreibtisch und sagte: »Wir verreisen. Widerstand zwecklos.«

Eine Stunde später schlug Saskia, die sich wieder beruhigt hatte, vor, dann eben bei Karl vorbeizuschauen. Schließlich sei er Sauls biologischer Vater und habe seinen einjährigen Sohn immer noch nicht gesehen.

Karl hatte sie wiederholt auf eine paradiesische Hippie-Insel an der kanadischen Westküste eingeladen. Er selbst wohne nicht mehr dort, aber seine Familie. Karls Mutter, eine in die Jahre gekommene Hippiefrau, den großen, modernen Städten abgeneigt, werde die Insel nicht mehr verlassen und würde Saul furchtbar gern einmal sehen. Ihr Ehemann sei vor vier Jahren gestorben. Juli war einverstanden, weshalb sie den Besuch in ihren Roadtrip von Victoria nach Alaska einplanten. Endlich Zeit füreinander. Und für Saskia eine gute Gelegenheit, die Geschichte, in der sie gerade feststeckt, vorübergehend loszulassen. Und ein Tagebuch für Saul zu beginnen.

An die Jahre, die für die Persönlichkeitsstruktur am entscheidendsten sind, die ersten, erinnert man sich im besten Fall nur schemenhaft. Sie will Szenen aus Sauls Leben aufschreiben. Später kann er dann alles nachlesen und wird gar nicht anders können, als zu glauben, dass sich alles um ihn dreht. Um sein Leben. Ihr Geschenk für ihn.

Das erste Jahr mit Kind hat sich ordnungsgemäß an die Regeln des ungeschriebenen Handbuchs Erstes Jahr mit Kind gehalten. Ungeschrieben deshalb, weil keine Mutter während des ersten Jahres mit Kind einen freien Moment findet, es zu schreiben. Das geht schon seit Generationen so. Und Generationen von Müttern davor sahen in einem solchen Buch überhaupt keinen Nutzen. Wenn Mütter heutzutage trotz allem einen Augenblick für sich finden oder ihn erzwingen oder von ihrem Partner oder der mitfühlenden Oma geschenkt bekommen, schlafen sie vor dem Fernseher ein oder genehmigen sich lieber ein Glas Wein, statt Buch zu führen.

Was für ein Glück, dass man im ersten Jahr keine Sekunde Zeit hat, länger über etwas nachzudenken, sonst würde man das Kind manchmal wohl einfach zum Sperrmüll stellen, wie ein bedeutender Philosoph behauptet. Welcher noch gleich? Ach ja, richtig, Julis Mutter. Im ersten Jahr hat es kaum Fragen gegeben. Nur tausenderlei Zweifel und Widerhaken, die plötzlich irgendwo hervorkommen wie rosa gefärbte Unterhosen aus der Waschmaschine, wie Tränen der Erschöpfung, wie an Saul gerichtete Stoßgebete, wie Rotz auf einem Kopfkissen.

•••

Zwischen dem Innen und Außen eines Körpers liegen Welten. Ein Unterschied wie zwischen einem Phantasma in einem Bauch oder einem Baby auf einer Spielmatte. So etwas kann Saskia sich kaum vorstellen: Ihr Körper hat ihr noch nie monatelang wehgetan oder sie irgendwie in ihren Handlungen eingeschränkt. Sie hat nie erfahren, was es bedeutet, wenn so ein kleiner parasitärer Körper von dem eigenen ganz und gar Besitz ergreift und ihn auslaugt.

Julis Mutter sagte heute Abend, dass ein Körper so ein Kind nicht vergesse. Dass sie glatt wieder stillen könne.

AM MORGEN DER ABREISE

Jeder Morgen ist wie eine neue Geburt. Das Leben auf der Erde beginnt mit einem überraschten Schrei: »Wer hat mich hier landen lassen?« In der Ferne weint auf einmal ein Baby. Ist das Saul oder das Kind der Nachbarn?

Auf dem Arm seiner schlaftrunkenen Oma kommt ein weinender Saul ins Wohnzimmer. Julis Mutter ist noch so jung und als Mutter um einiges überzeugender als ich. Ihr Enkelchen befindet sich noch in einem wolkigen Zwischenreich auf dem Weg zum Tag. Diese Leichtigkeit, mit der sie das Kind dirigiert, ihm den Speichel vom Mund wischt, es mir hinhält.

»Geh mal zu Mama«, sagt Julis Mutter. Er sieht mich mit ernsten Augen, aus denen Weisheit spricht, an und äugt nach einer Welt hinter mir, wo die Wahrheit wohnt oder seine echte Mama gerade mit etwas beschäftigt ist. Nickend gibt er mir die Erlaubnis, seine Windel zu wechseln. In der Küche spült Juli einhändig eine Kinderflasche mit kochendem Wasser aus, während sie mit der anderen Hand die letzten Textnachrichten für ihre Arbeit per Telefon in die Welt diktiert.

Mein Schwiegervater fährt den nagelneuen Mercedes sichtlich nervös aus der Garage. Wie immer schimpft er über die zu schmale Garage, die zu frühe Stunde, die zu schweren Koffer und die Ledersitze, die zu weiß für zwei Schludriane mit einem Baby, das gerade Blaubeerbrei gegessen hat, sind.

Unter seinem abwesenden Blick beladen wir den Wagen. Ein Rollkoffer für uns, und für unterwegs Tragetaschen und ein Koffer mit Rasseln, Milchflaschen, einem Dutzend Ersatzbodys, gefühlten achtzig griffbereiten Windeln, drei Wolldeckchen, fünfzehn Paar Socken und Pullis und Schnuller, und nicht zuletzt ein Junge im Strampelanzug mit einem Pinguin darauf.

»Habt ihr auch sicher nichts vergessen?« Julis Mutter hat Vaters Platz hinter dem Steuer übernommen. »Pässe, Sauls Pass, Flugtickets, Geld?«, zählt sie auf. »Alles dabei? Seid ihr sicher? Unterlagen, Bargeld?« Wiederholungen bilden den Motor dieses Haushalts. »Wenn ihr erst in Alaska seid, könnt ihr nicht einfach etwas nachholen.«

Saul lacht auf seinem Thron. Wir winken Julis Vater zu. Mit hängenden Schultern verschwindet der Mann im Bademantel wieder in der Garage, der Vorhölle seiner Verbannung, wo er vor seinem Fernsehgerät weiter um etwas trauern wird, ein Leben, das er vergessen hat. Jetzt überkommt auch mich bleiernes Heimweh. Abschied nehmen fällt mir generell schwer, erst recht um diese Zeit, wie dem kleinen Kind in mir, das in den Urlaub fährt und seinen Heften und Hütten im Wald Auf Wiedersehen sagen muss, um sicher niemals zurückzukehren.

Der Mercedes schneidet das flache, flämische Land in zwei Hälften und wirft es achtlos hinter sich.

»Habt ihr alles? Seid ihr sicher?« Julis Mutter dreht sich hinter dem Steuer noch einmal zu uns um. Ein tödlich erschöpfter Igel reibt sich an meiner Schädeldecke.

NOTIZBUCH

Ob Saskia ein Kind wolle.

»Wie bitte? Ein was?«, ruft sie über die Musik hinweg.

Sie war noch nie gut im Antworten. Ihr Blick wird trübe, der Mund trocken, sie weiß, dass die anderen auf ihre Antwort warten. In ihr erhebt sich ein Sturm. Sie redet Unsinn.

Leute mit Fragen löchern, sich Notizen machen, mit der Kälte in den Knochen am offenen Fenster stehen, sich munter unter einer Daunendecke auf die vielen unbekannten Geschichten freuen, sich mit nichts als einer großen Flasche Cola und einer Rolle Klopapier einschließen, um das ultimative Stück zu schreiben, große Fragen ausklammern, intime Bekenntnisse löschen, das kann sie.

Wie lautete die Frage noch gleich?

Ob sie ein Kind wolle, sie, ja, sie. Denn schließlich wollen alle Kinder.

»Ich? Ein Kind?«, fragt sie. Sie befindet sich im Wohnzimmer eines Paares, das gerade zum ersten Mal die gemeinsame Miete gezahlt und von der Mutter des Mädchens eine Nudelmaschine zum Einzug bekommen hat. »Ich? Bestimmt nicht. Kannst du dir mich als Mutter vorstellen?«

Sie eignet sich nicht für eigene Kinder. Sie lacht ihrer Bekannten mit den schlanken Fingern aufmunternd zu. Und dann stimmen die anderen in das Gelächter ein: »Haha, klar, du als Mutter … absurder Gedanke, haha, nicht auszudenken, das wäre ganz schön unverantwortlich.«

Ein Mann im weißen Hemd prustet derart unkontrolliert los, dass er sie dabei mit dem Ellenbogen anstößt und Rotwein verschüttet.

»Gibt es denn einen Grund, weshalb du kein Kind willst?« Die Bekannte mit den schlanken Fingern setzt sich neben sie aufs Sofa. Saskia fühlt sich in der Klemme. Sie überlegt, ob sie mit einer nachvollziehbaren erfundenen Geschichte von einer Vergewaltigung, Unfruchtbarkeit oder der Angst vor ihren eigenen pädophilen Neigungen kommen soll, schweigt aber bloß. Wer eine Frage nicht beantworten will, tut gut daran, das Mysterium einfach wirken zu lassen.

•••

Meistens kann auch sie die Stimme problemlos ignorieren, aber an diesem Abend, am Samstag, den 11. Mai 2013 auf ihrer eigenen Party (Quelle: ihr Tagebuch), kommt die Stimme aus dem Mund eines frisch diplomierten Psychologen.

»Alle wollen Kinder«, sagt der Psychologe. »Warum willst du keins?«

»Ich will schon ein Kind«, sagt Saskia.

So ein niedliches Marzipankind, ein batteriebetriebenes Schmusetier, ein Tamagotchi oder ein kleines Meerschweinchen, das man mit etwas Wasser und ein paar Körnern in einen Käfig sperren kann, die Anschaffung eines solchen Kindes könnte sie sich vorstellen.

Aber ein echtes Kind, ohne Käfig, geboren ohne Windeln, das allerdings ständig welche braucht: Nein, danke. Das ist ihr doch etwas zu lebensecht.

Es gibt einen biologischen Grund, weshalb sie keine Kinder will, vermutet Saskia. Anders lässt sich das nicht erklären. Sie empfindet ihn nicht, den Hormonschub, den unwiderstehlichen Drang, den Ruf des Körpers, der in biblischen Geschichten von sich selbst redet, als wäre er ein Obstbaum (»Dieser Leib soll Frucht tragen«), oder dafür sorgt, dass echte Frauen in ihre Tagebücher schreiben: »Dieser Körper will ganz alleine ein Kind zeugen, mit nur sich selbst, einer Samenzelle und Google für drängende Fragen während der Schwangerschaft.« Echte Frauen, Freundinnen von Saskia, haben einen Körper, der einem Diktator gleicht, er verlangt Kinder von ihnen, und die Frauen haben zu parieren.

Sie ist weder für noch gegen Kinder. Nicht einmal so weit reichen ihre Gefühle. Kinder, also die echten, mit zehn Zehen dran, von denen man manchmal meint, es seien bloß acht, und fieberhaft zu zählen anfängt, echte Kinder lassen sie einfach nur kalt. Als sie bei einer lesbischen Freundin, die gerade eine Emma bekommen hat, auf Babybesuch ist und sie das kleine Bündel für ein Foto in die Hände gedrückt zu bekommen droht, wehrt sie das freundlich dankend ab. Was würde geschehen, wenn sie die kostbare Fracht fallen ließe, dann bräche diese zwar nicht unbedingt in tausend Stücke, aber Saskia wäre auf jeden Fall um eine schöne Freundschaft ärmer. Sie kennt sich selbst gut genug, um zu wissen, dass sie aus purer Nervosität zittern und zappeln und vergessen wird, das Kind im Nacken zu stützen, weshalb es ein Schleudertrauma bekommt und sein restliches Leben mit einer hautfarbenen Halskrause herumlaufen muss.

Einzelne Fragmente aus ihrem Tagebuch:

Was gegen Kinder spricht

 die toten Zimmerpflanzen; die Fische, die ich drei Wochen mit Cornflakes gefüttert habe und dann in die Tanne unter dem Fenster geworfen habe (unfähig, Lebewesen zu versorgen etc.)

 schwanger sein bedeutet: Ein Alien wächst in deinem Körper heran, ein Wesen, das dich von innen ausdehnt und sich dort breitmacht, während du nichts zu melden hast, ein Hausbesetzer unter deinem Dach, den du nicht auf polizeilichen Befehl rauswerfen kannst, und dann, nach neun langen, total auslaugenden Monaten, musst du das lebensgroße Monster mit seinen kleinen Klauen und den gemein tretenden Füßen und einem Kopf vom Umfang eines Luftballons da auch noch herausgepresst kriegen. Physisch ein Ding der Unmöglichkeit, das schon seit Tausenden von Jahren allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit trotzt (offizielles Krankheitsbild: Schwangerschaftsangst).

 keine Zeit, muss schreiben (Autorin)

 eigentlicher Grund: Ich ich ich (ich).

DIE ABREISE

Unsere Taschen liegen nackt und ungeschützt auf einem Gepäckband am Flughafen. Bemüht gelangweiltes Sicherheitspersonal untersucht unsere Sachen mit archäologischem Instinkt. Schweigsam graben sie in den Koffern, auf der Suche nach Beweismaterial, eigenartigen Gegenständen, dem Antlitz der Gefahr zwischen Stillpads und Feuchttüchern. Schnell noch eine Nachricht auf einen anderen Planeten (mit einem einzigen weiblichen Bewohner) schicken, den Planeten Affäre.

Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue nach oben, geradewegs in ein rot blinkendes Auge, das Bilder frisst und weiterleitet. Alles wird registriert. Wir sind fast raus aus dieser Beklemmung, fast im Land der Freiheit. Es fühlt sich an, als streife man einen nassen, hautengen Badeanzug ab, um nackt ins Wasser zu springen.

Eine untersetzte Frau mit Headset steht parat, um uns zu kontrollieren. Sie kann uns den Durchgang verweigern, es liegt in ihrer Macht, uns für unbestimmte Zeit einen Schreck einzujagen. Sie ist von Gesetzen durchdrungen, die Maße unserer Koffer sind entweder zu groß oder zu klein oder ich muss zum Drogentest, weil ich vor lauter Erschöpfung noch blöder aus der Wäsche schaue als sonst.

Bevor die von Berufs wegen misstrauische Frau fragen kann, in welcher Beziehung wir zueinander stehen, habe ich ihr die offiziellen Beweisstücke bereits ausgehändigt. Von meiner Schnelligkeit überrascht, nimmt sie die Dokumente entgegen, kneift die Augen zusammen. Schwarz auf weiß und selbstverständlich stehen wir zu dritt auf diesem Stück Papier, eine eingetragene Partnerschaft, mit Kind. Seit dem Tag, an dem Juli im Rathaus eine simple Unterschrift leistete und mir lebenslänglich als Sauls Mutter gab. Ich konnte nicht glauben, dass Juli das tat, ohne irgendeine Gegenleistung von mir zu erwarten. Mit welcher Selbstverständlichkeit und großzügigen Liebe Juli, die sich zu diesem Zeitpunkt noch mühsam von den Folgen der Geburt erholte, unserem neuen Leben entgegenblickte. Ein Komet raste durch meinen Kopf. Lebenslang werde ich bei ihr in der Kreide stehen. Im täglichen Leben überzeugen Saul und ich allerdings nicht gerade als Mutter und Sohn. Eine Schwarzhaarige, die gelegentlich für eine Jüdin gehalten wird, mit einem kleinen, charmanten, arisch-blonden Gott.

Die Zollbeamtin erkundigt sich nach dem Grund unserer Reise. Als wäre es nicht ihr Job, den Leuten die Hölle heißzumachen. Ihr Blick bohrt sich in die Dokumente, diesmal liest sie voller Misstrauen.

»Wir fahren nach Alaska«, erkläre ich.

»Und ich nach Moskau«, sagt sie. »Ich bin die Reiseleiterin dieser Gruppe und glaube nicht, dass ihr dazugehört. Aber nette Familie.«

Juli gluckst vor Lachen. Ich sehe mich von oben, wie ich mich mit dem ganzen Zeug abplage, mir selbst im Weg stehe, mit der Garderobe des Königs stolpere – die perfekte Besetzung für die Rolle des Dorftrottels.

•••

»Er ist zu schwer«, stellt die Stewardess fest. Die Passagiere sind über den Flugzeugbauch verteilt. Wie angekündigt hängt bei unseren Plätzen ein Babybettchen an der Trennwand zur Businessclass. Ich versuche, das schlafende, dreizehn Kilogramm schwere Kind dort hineinzuzwängen.

Ihm steht eine Reise bevor, die sehr viel länger dauern wird als ein Arbeitstag in einem sauerstoffarmen Büro ohne Internet.

»Er ist zu schwer«, wiederholt die Stewardess unerbittlich.

»Er sieht zwar kräftig aus«, sage ich, »aber …«

»Zehn Kilo ist das zugelassene Maximalgewicht«, herrscht mich die Stewardess an.

»Kinder, die mehr wiegen, müssen auf den Schoß genommen werden.«

»Er wiegt exakt zehn Kilo«, sage ich. Die Stewardess versucht angestrengt, mich zu ignorieren. Juli schaltet sich ein.

»Er wiegt exakt zehn Kilo«, sagt sie und küsst ihn stolz auf sein dickes Näslein.

Ein einziger Augenaufschlag genügt, und die Stewardess gibt sich zufrieden. »In Ordnung, Mama.« Für eine echte Mutter macht sie eine Ausnahme. Die darf die Fakten dieser Welt so verdrehen, dass sie zu ihrem kräftigen Kind passen.

Wir heben ab, verschwinden in der höchsten Wolkenschicht und werden zu einem weißen Sahnestreifen am Horizont. Irgendwo zeigt ein kleiner Junge nach oben. »Guck, Mama, ein Flugzeug«, sagt er und fragt: »Wann werden wir so klein, dass wir in ein Flugzeug passen?«

Saul gelingt es eine Weile, wach zu bleiben. Neben mir schaut Juli in eine Welt aus japanischen Anime-Figuren. In den nächsten Stunden werde ich mich ungeniert schlechten Filmen hingeben und in Frauenzeitschriften blättern, in denen sehr viele Rezepte mit noch mehr »Ohnes« stehen und Ratschläge mit zu vielen »Du Selbsts« und »Beinahes«. Ich lese ein Interview mit einer Mutter, die offenbar meint, Mutterschaft sei eine ästhetische Erfahrung, die man mit anderen Müttern teilen müsse. Als wären Mütter plötzlich nur noch dazu da, dahinzuschmelzen, wenn sie niedliche Babyaugen sehen. Unterdessen läuft der Film weiter und das Ende der Welt rückt näher. Die Roboter sagen einander, dass sie für immer zusammenbleiben werden. Ich glaube ihnen.

Über Ontario gibt es Turbulenzen, wir werden gründlich durchgeschüttelt. Saul brüllt im freien Fall. Juli, zart, wie sie ist, hebt ihn sofort aus seinem Bett. Sie streichelt die butterweiche Stelle hinter seinem Ohr. Mühelos hilft sie ihrem Sohn, wieder einzuschlafen.

NOTIZBUCH

Nichts ist von vornherein klar. Nichts erwartbar. Sie wusste nichts, als sie und Juli auf einmal, von einem Moment auf den anderen, Eltern wurden.

Sie wusste nichts. Sie weiß nichts.

Sie weiß nicht, wie viele Sekunden man sein Kind allein lassen darf.

Sie weiß nicht, wie sehr sich ein Nachrichtenbild von einem blutigen Anschlag einem Babyverstand einprägt.

•••

Was für ein Schreck, als sie die grobe Naht entdeckten, an der sein Ohr am Kopf festgenäht war, als sie sich geschockt fragten, wer ihn misshandelt und am Ohr gezogen habe, als sich die Rötung auf dem Weg in die Notaufnahme zu einem fleischfressenden Bakterium auswuchs, das sich in Nullkommanichts durch ein Baby fressen könne, das hatte Saskia gelesen … Sobald sich der Arzt des Kleinen annahm und ihm eine fetthaltige Salbe für die trockene Hautstelle verschrieb, trollte sich besagtes Bakterium sofort wieder.

Sie weiß nichts.

Sie zweifelt an den einfachsten Dingen, weil sie vergessen hat, wie es war, ein Baby zu sein. Sie weiß nicht, ob sich ein kleines Kind, das wie ein Bowlingkegel aus dem Sitzen heraus umkippt, dauerhafte Hirnschäden zuziehen kann.

Sie weiß es nicht. In einem Jahr lernt man nichts.

Im nicht existenten Handbuch, das keine Mutter schreiben würde, weil sie keine Zeit dafür hat, würde stehen, dass man nach einem Jahr etwas aufatmen könne. Normalerweise. Dieses Wort taucht jetzt öfter auf – normalerweise.

Im Handbuch würde auch stehen, das Baby sei bei der Geburt normalerweise etwa fünfzig Zentimeter groß, bei einem Schädelumfang von fünfunddreißig Zentimetern. Dass er beziehungsweise sie mit acht Monaten Zeigefinger und Daumen wie eine Pinzette benutzen könne. Saul konnte es nicht. In diesem Fall rät das Handbuch: keine Panik. Dann gelte es, die Abweichung von der Norm als solche hinzunehmen, oder sie zumindest liebevoll zu tolerieren. Hauptsache, keine Panik.

Wenn jemand »keine Panik« zu ihr sagt, hört sie die Verneinung nicht. Dann muss sie an ihre Mutter denken, wie die in einem Aufzug, in dem alle anderen seelenruhig auf die Ziffer über der Aufzugtür schauten, hyperventilierte und schrie: »Ganz ruhig! Keine Panik! Wir kommen wieder raus!«

Keine Panik! Ich komme raus!

Hat Saul das neun Monate lang in seiner immer enger werdenden Behausung gedacht? Das ist für Saskia das Schlimmste: neun Monate lang mit dem eigenen Körper ein Haus zu bilden, das zwar eng, aber maßgeschneidert und mit allem Komfort für den kleinen Bewohner ausgestattet ist. Man mauert ihn liebevoll ein, und dann klopft der kleine Parasit urplötzlich an die Tür und verlangt, herausgelassen zu werden, und richtet auf seinem Weg jede Menge Schaden an, wobei er den Körper zuvor schon ordentlich geplündert hat, und man hat eine Heidenangst, dass der Ausgang zu schmal ist.