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Jörg Kastner

1918 – Geheimakte Romanow

Band 1:
Das Haus der Verbannten

Roman

hockebooks

Kapitel 6

Jekaterinburg

Jekaterinburg wurde von der wärmenden Sonne beschienen und Lisette verlangsamte ihre Schritte. Sie genoss ihre Ausflüge in die Welt draußen, die kurzen Besuche im Hotel Amerika. Zweimal in der Woche gab sie sich der Illusion hin, ein freier Mensch zu sein. Es gelang ihr, solange sie dem Ipatjew-Haus den Rücken zukehrte, den Blick abwandte von dem hohen Bretterzaun und den mit weißer Farbe blickundurchlässig gemachten Fenstern im Obergeschoss, die dazu beitrugen, die Villa in ein Gefängnis zu verwandeln.

Immer wieder staunte sie über das Alltagsleben, das sich auf den Straßen abspielte, betrachtete sie die Straßenverkäufer und die Mütter, die mit ihren Kindern am Teich gegenüber dem Ipatjew-Haus spazieren gingen. Ging es den Bürgern von Jekaterinburg ähnlich wie Lisette, benötigten sie die Illusion des Normalen, um Kraft zu finden, in dieser aufgewühlten Zeit zu überleben?

Viele hatten Väter, Brüder und Söhne im Krieg verloren, erst im Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn, dann im Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen. Das Morden war noch längst nicht vorüber. Russland – oder das, was nach dem Friedensvertrag mit Deutschland davon übrig geblieben war – befand sich im Aufruhr. Die Weißen sollten auf dem Vormarsch sein, Truppen mehrerer Fremdmächte im Land stehen. Doch die Menschen hier taten so, als ginge sie das alles nichts an.

Selbst die anfängliche Aufregung um das Haus zur besonderen Verwendung, wie die Villa des Ingenieurs Ipatjew jetzt offiziell genannt wurde, hatte sich gelegt. Nur noch selten kamen Schaulustige zu dem Hügel, an dem das Haus stand, um den Unterkunftsort ihrer einstigen Herrscher zu bestaunen. Meistens waren es Besucher, die ihren Aufenthalt in Jekaterinburg nicht verstreichen lassen wollten, ohne einen Blick auf das Haus zu werfen. Die Jekaterinburger selbst waren längst zur Alltagsordnung übergegangen. In Krisenzeiten schien der Mensch schnell bereit, sich mit dem Ungewöhnlichen abzufinden und so zu tun, als sei es gar nicht vorhanden.

»Schneller, Frau, schneller!«

Die Stimme des jungen Soldaten erinnerte Lisette daran, dass sie keinen Spaziergang unternahm. Sie war nicht frei, konnte ihre Schritte nicht lenken, wohin sie wollte. Die Zeit hier draußen war nur geborgt.

Sie sah ihren Begleiter an, der eher ein Bewacher war. Ein junger Mann mit rötlich blondem Haar und Sommersprossen im flachen Gesicht. Vielleicht ein Bauernsohn, der sich bei den Roten verdingt hatte, damit sie den Hof seiner Eltern ungeschoren ließen. Als er Lisettes Blick bemerkte, nestelte er am Riemen seines geschulterten Karabiners herum, als wolle er sie sanft darauf hinweisen, dass er seine Anordnungen notfalls mit Waffengewalt durchsetzen konnte.

»Gehen Sie schon weiter, Frau, sonst kriegen Sie Ärger!«

Lisette gehorchte und atmete dabei tief durch. Hier draußen war es sehr warm, aber dank eines sanften Windes doch angenehm. Im Ipatjew-Haus mit seinen stets verschlossenen Fenstern dagegen war es heiß und manchmal so stickig, dass einem der Atem stockte. Der Zar hatte um eine Öffnung der Fenster gebeten, aber das schien nicht so einfach zu sein, wie er geglaubt hatte. Die roten Kommissare diskutierten schon seit Tagen über diese Frage. Was Nikolaus zu der Bemerkung veranlasst hatte: »Wie lange mögen sie erst für wirklich wichtige Entscheidungen benötigen, für solche, die unser Russland betreffen!«

Das Hotel Amerika diente, ähnlich dem Ipatjew-Haus, jetzt einem anderen Zweck. Die Bolschewiki hatten hier ihr örtliches Hauptquartier eingerichtet und einige der Kommissare wohnten in dem Gebäude, darunter auch Fjodor Katkow. Die beiden bewaffneten Wachtposten vor dem Eingang musterten Lisette nur kurz. Die Rotarmisten waren bereits an ihre Besuche gewöhnt und die Anwesenheit von Lisettes sommersprossigem Begleiter überzeugte sie davon, dass auch heute alles seine Ordnung hatte.

Katkows Zimmer lag im obersten Stock. Auf dem Gang hing ein großer, mit Goldimitat umrandeter Spiegel. Seitdem das Haus nicht mehr als Hotel fungierte, schien sich niemand die Mühe zu machen, den Spiegel zu putzen. Staub und ein Schmierschleier bedeckten das Glas. Doch konnte Lisette noch genug erkennen, um ihre Frisur ein wenig herzurichten. Oder das, was man unter den gegebenen Umständen eine Frisur nennen mochte. Die Zofe Anna Demidowa, mit der Lisette sich eine Kammer teilte, und sie frisierten sich gegenseitig. Im Ipatjew-Haus taten alle unfreiwilligen Bewohner Dinge, die ihnen niemals in den Sinn gekommen wären. Die Zarin selbst schnitt dem Zaren die Haare.

Der Blick in den Spiegel erschreckte Lisette. Sie hatte Falten bekommen und Ringe unter den Augen. Nicht, dass sie hässlich geworden wäre. Aber ihr Entschluss, auch in der Stunde der Not nicht von der Seite der Zarenfamilie zu weichen, zeigte seine Wirkung. Ihre Jugendlichkeit verabschiedete sich schneller, als sie es jemals geglaubt hätte.

Ihr Bewacher klopfte gegen die Tür und ein kurzes »Ja, herein!« erscholl.

Lisette trat, wie immer, allein in das geräumige Zimmer mit den großen Fenstern. Helles Sonnenlicht fiel herein, ganz anders als die diffuse Helligkeit, die aufgrund der weiß getünchten Scheiben im Ipatjew-Haus herrschte. Dort wusste man nie, ob am Himmel Wolken vorüberzogen, ob Vogelschwärme über die Stadt flogen, ob die Welt draußen noch vorhanden war.

Jekaterinburg und das Haus zur besonderen Verwendung begannen, Lisette zu bedrücken, obwohl sie erst einige Tage hier war, nicht so lange wie der Zar und die Zarin. Lisette war Ende Mai zusammen mit den Großfürstinnen Olga, Tatjana, Anastasia, dem Zarewitsch Alexej und dem Matrosen Nagorny, der auf den kranken Zarewitsch achtgab, aus Tobolsk hergebracht worden.

Fjodor Katkow saß mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem überdimensionalen Ledersessel und las in einem stark angestoßenen Buch. Goethes Faust – Der Tragödie erster Teil, auf Deutsch natürlich. Wenn Katkow nicht gerade die neuesten Verordnungen der jungen Sowjetregierung studierte, las er fast nur auf Deutsch. Er hatte ein paar Semester in Heidelberg studiert, bevor ihn der Krieg nach Russland zurückholte. Seine Liebe zu Deutschland und zur deutschen Literatur war ihm geblieben, obwohl er jahrelang als Offizier gegen die Deutschen gekämpft hatte.

Katkow hatte zum Empfangskomitee der Bolschewiki gehört, das die Großfürstinnen, den Zarewitsch, Nagorny und Lisette am Bahnhof von Jekaterinburg erwartet hatte. Er hatte eine deutsche Ausgabe von Schillers Räubern bei sich gehabt. Lisette hatte ihn darauf angesprochen und sofort hatte sich zwischen ihnen eine angeregte Diskussion über das Drama entsponnen. Kurz darauf hatte Lisette eine Einladung von Katkow erhalten, an einem literarischen Zirkel teilzunehmen. Zirkel war übertrieben, denn außer Katkow und Lisette war niemand anwesend gewesen. So hatten sich die regelmäßigen Treffen entwickelt. Katkow genoss es, mit jemand Kompetentem über deutsche Literatur zu sprechen. Und Lisette genoss es, dem bedrückenden Haus zur besonderen Verwendung für ein paar Stunden in der Woche zu entfliehen. Niemand sonst von den Gefangenen hatte solch ein Privileg.

Katkow stand auf, um Lisette mit einem Handkuss zu begrüßen. Seine ausgesuchte Höflichkeit und seine vollendeten Umgangsformen wollten so gar nicht zu der Rauheit passen, die üblicherweise von den roten Funktionären und ihren Untergebenen an den Tag gelegt wurde. Lisette mochte Katkow, nicht nur wegen seiner Umgangsformen und seinem Hang zur deutschen Literatur. Er war ein anziehender Mann, Ende zwanzig, schlank und mit einem offenen, stets ein wenig neugierig dreinschauenden Gesicht.

»Setzen Sie sich, Fräulein Lisette, und bringen Sie mich auf andere Gedanken«, sagte er in einem Deutsch, das zwar den russischen Akzent nicht verleugnen konnte, ansonsten aber nahezu perfekt war. »Eine Frau wie Sie hätte es wenigstens gelohnt.«

»Was?«, fragte Lisette, während sie auf einer kleinen Couch Platz nahm.

Katkow klopfte auf das Buch, das er auf einen Beistelltisch gelegt hatte. »Das, was Faust alles auf sich nimmt. Aber dieses Gretchen ist so fade, das hätte Goethe dem armen Faust nicht antun dürfen.«

»Sie scheinen Faust richtiggehend zu bemitleiden.«

»Sie nicht, Fräulein Lisette?«

»Warum sollte ich Mitleid mit einem Narren haben?«

»Auch ein Narr ist ein Mensch mit menschlichen Gefühlen. Er empfindet Freude und Angst, er lacht und weint. Und wenn er etwas Weisheit gewinnt, sehnt er sich vielleicht danach, weniger närrisch zu sein.«

»Sie hätten Philosoph werden sollen, Fjodor Grigoriwitsch, nicht Offizier und Kommissar der Bolschewiki.«

»Das wollte ich, aber der Krieg kam dazwischen. Auf dem Schlachtfeld gibt es nicht viel Verwendung für Philosophen.«

»Sie sollten ihr Studium wieder aufnehmen.«

»Wo? In Deutschland, das sich nicht recht entscheiden kann, ob es mit Russland in Frieden leben oder es unterwerfen soll? Oder hier in meiner Heimat, wo die Menschen gegeneinander kämpfen, weil die einen die Roten und die anderen die Weißen sind? Wo soll ich die Muße hernehmen, mich der Philosophie zu widmen?«

Während er zu einer Anrichte ging, auf der ein Samowar stand, betrachtete Lisette seinen leicht schleppenden Gang. Er zog das linke Bein kaum merkbar nach. Ein Andenken an einen Bajonettstich, den ihm ein deutscher Soldat zugefügt hatte. Katkows linke Wange wurde von einer roten Narbe geteilt. Auch ein Kriegsandenken, diesmal an den Säbelhieb eines weißrussischen Kosaken. Für Lisette verkörperte Katkow das Russland von 1918, kriegsmüde, zerschunden und doch optimistisch.

Sie tranken Tee, aßen Quarkkuchen, den Katkow aus einer nahen Bäckerei hatte kommen lassen, und sprachen über Goethes Faust. Wie immer bei Lisettes Besuchen verging die Zeit viel zu schnell und irgendwann erhob sich Katkow, um sich zu verabschieden.

»Ich freue mich immer auf unsere Treffen, Fräulein Lisette, und doch hoffe ich, Ihnen auf immer Lebewohl zu sagen.«

»Das hat noch kein Mann zu mir gesagt«, erwiderte sie spöttisch. »Ist diese Art von Komplimenten unter Philosophen üblich?«

»Nicht unter Philosophen, unter Menschen, die einander etwas bedeuten.« Er sah sie ernst an, fast beschwörend. »Fräulein Lisette, Sie müssen nicht zurück ins Haus zur besonderen Verwendung. Ich konnte erreichen, dass sie nach Deutschland zurückkehren dürfen.«

Für einen Augenblick fühlte sich Lisette, als hätte Katkow ihr den Teppich unter den Füßen weggezogen. Die Vorstellung, wieder daheim zu sein, in einem gut durchgelüfteten Haus mit hellen, sauberen Fenstern, hatte etwas Überwältigendes. Aber fast noch mehr beeindruckte sie der Umstand, dass Katkow sich derart für sie eingesetzt hatte. Sie musste ihm wirklich etwas bedeuten.

»Ich kann Ihnen hier ein Zimmer besorgen und schon morgen können Sie mit einem Wagentreck in Richtung Samara aufbrechen«, fuhr Katkow fort.

»Aber Samara befindet sich in der Hand der Weißen.«

»Eben drum. Bitte, nehmen Sie mein Angebot an!«

»Der Zar und seine Familie haben nicht mehr viele Getreue. Ich möchte nicht auch noch Verrat an ihnen begehen.«

»Ist es Verrat, sein Leben zu retten?«

Lisette benötigte einige Zeit, um diesen Satz zu verdauen.

»So schlimm?«, brachte sie endlich hervor. »Steht es um uns wirklich so schlimm?«

»Wäre es nach den Genossen in Moskau gegangen, wären der Bürger Nikolaj Romanow und die Bürgerin Alexandra Romanowa längst nicht mehr am Leben. Ursprünglich sollte die Verlegung von Tobolsk nach Jekaterinburg dem Zweck dienen, sie unauffällig aus dem Weg zu räumen, sodass kein Schatten auf unsere neue Regierung fällt. Aber Moskau ist weit, die Befehle wurden missverstanden, und so ist der Zug mit den ehemaligen Herrschern tatsächlich in Jekaterinburg eingetroffen.«

Jetzt verstand Lisette, warum drei der Großfürstinnen und der Zarewitsch erst später nach Jekaterinburg gebracht worden waren. Ursprünglich war ein Wiedersehen mit ihren Eltern gar nicht geplant gewesen.

»Ich dachte, Russland braucht die Zarenfamilie als Faustpfand für internationale Verhandlungen.«

Katkow nickte. »Das ist ein Argument dafür, sie am Leben zu lassen. Aber was ist, wenn die Weißen den Zaren befreien? Werden dann nicht viele den Glauben an unsere gerechte Sache verlieren?«

»Das klingt fast so, als würden auch Sie eine Ermordung des Zaren befürworten.«

»Ich weiß nicht, ob ich das tun soll. Andererseits hat Nikolaj nicht gezögert, Millionen russischer Soldaten in den Tod zu schicken.«

»Es ist Krieg«, sagte Lisette und wusste, dass dies nur ein schwaches Argument war.

»Ja, es ist Krieg, aber Sie sind kein Soldat, Lisette.« Katkow stellte sich vor sie, legte seine feingliederigen Hände auf ihre Schultern und sah sie beschwörend an. »Retten Sie Ihr Leben, Lisette, und gehen Sie nicht dorthin zurück!«

Sie dachte an das Ipatjew-Haus mit seiner bedrückenden Atmosphäre, an den bettlägerigen Zarewitsch, an die oft im Rollstuhl sitzende Zarin, an Zar Nikolaus, der noch letztes Jahr das größte Reich der Welt beherrscht hatte und jetzt nichts anderes zu tun hatte, als ruhelos im Zimmer auf und ab zu wandern, manchmal stundenlang ohne Unterlass. Lisette sah die rohen Wachen vor sich, die beim Anblick der gefangenen Frauen grinsten und schmutzige Witze machten. Sogar beim Gang auf die Toilette wurden die Gefangenen von den Roten überwacht. Und der Lohn für all das sollte der Tod sein?

Dann dachte sie an die Großfürstinnen, denen sie längst mehr geworden war als eine Gesellschafterin und Lehrerin. Maria, Olga, Tatjana und Anastasia meisterten ihr Schicksal erstaunlich diszipliniert. Wann immer es etwas im Haushalt zu tun gab, packten sie mit an, backten Brot, wischten den Boden oder lasen dem Zarewitsch etwas vor. Die Romanows waren wirklich eine Familie und das hatte Lisette seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr gekannt. Ihr Vater hatte neben der Leitung der Wichart-Werke nur wenig Zeit für sie gehabt.

»Nein«, sagte sie schließlich. »Ich kann nicht fortgehen und die anderen einem ungewissen Schicksal überlassen.«

»An diesem Schicksal ist der Zar selbst schuld. Er war ein Narr, als er persönlich das Oberkommando übernahm und an die Front reiste, nicht darauf achtend, dass sich in der Heimat sein eigenes Volk von ihm abwandte.«

Lisette drückte zum Abschied Katkows Hand und sagte: »Ein kluger Mann hat mir einmal gesagt, auch ein Narr sei ein Mensch mit menschlichen Gefühlen.«

*

Auf dem Rückweg war Lisette in ihre Gedanken versunken. Seltsamerweise dachte sie kaum an ihr Zuhause und ihren Vater, kaum an die vergebene Chance auf eine Heimkehr. Ihre Gedanken kreisten um Fjodor Katkow und darum, was sie ihm bedeuten mochte.

Katkow gefiel ihr, und sie fragte sich nach den Gründen. Vielleicht lag es daran, dass er sie in vielem an Rochus Dorn erinnerte. Beide Männer waren das Gegenteil von Dummköpfen und wussten, was sie wollten. Sie hatte Rochus schon von vier Jahren verloren, hatte seitdem keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt, und doch ging er ihr nicht aus dem Sinn. Auch wenn sie es selbst nicht wahrhaben wollte, sie hegte noch immer starke Empfindungen für ihn.

War Katkow für sie nur ein Ersatz-Rochus? Sie konnte die Frage ebenso wenig beantworten wie die, was Fjodor in ihr sehen mochte. Vermutlich würden sie beide nie Gelegenheit haben, die Antwort herauszufinden. Ihre Lebenswege folgten verschiedenen Bahnen, hatten sich auf dem Bahnhof von Jekaterinburg nur zufällig gekreuzt, weil Katkow einen Band Schiller bei sich trug. Grotesk genug.

Obwohl das Ipatjew-Haus und das Hotel Amerika nur ein paar Minuten voneinander entfernt waren, lagen Welten zwischen ihr und Fjodor. Sie war eine Gefangene und er einer ihrer Bewacher. Ließ er sich mit einer Frau ein, die zu den letzten Getreuen des Zaren gezählt wurde, war sein Ruf bei den Roten ruiniert. Mehr noch, er würde unweigerlich in den Verdacht geraten, ein Verräter zu sein. Und das konnte böse Folgen für Fjodor haben. Wie Lisette heute gelernt hatte, waren die Bolschewiki mit einem Todesurteil schnell bei der Hand.

Angst ergriff sie, Angst um Fjodor Katkow. Hatte er sich bereits zu weit vorgewagt, indem er für Lisette um Erlaubnis nachsuchte, das Haus zur besonderen Verwendung verlassen zu dürfen? Hatte er sich damit verdächtig gemacht, sein Leben längst verwirkt? Als sie merkte, wie sehr sie sich um ihn sorgte, hatte sie plötzlich einen weiteren Grund, Jekaterinburg nicht zu verlassen: Fjodor.

Erst der Anblick des Hügels, an dessen Hang das Haus mit dem großen Lattenzaun stand, ließ sie schwankend werden. Sie blieb stehen und betrachtete das Gefängnis, das so gar nicht zu der idyllischen Umgebung passen wollte. Oben auf dem Hang erhob sich die Himmelfahrtskathedrale, als wollte Gott zeigen, dass er seine schützenden Hände nicht von der Zarenfamilie und ihren Getreuen genommen hatte. Aber Gott hatte in den letzten vier Jahren schon zu vieles zugelassen, als dass Lisette ihm noch hätte vertrauen können.

Vor dem Haus spiegelte ein großer Teich die Sonnenstrahlen wider und die Enten zogen ungestört ihre Bahnen. Der Hauseigentümer, ein Ingenieur namens Nikolai Ipatjew, hatte sein Domizil Hals über Kopf räumen müssen, als die kaiserlichen Gefangenen nach Jekaterinburg verlegt wurden. In Windeseile hatte man aus der komfortablen Villa ein Gefängnis gemacht. Natürlich in Windeseile. Lisette wusste nun, dass Zar und Zarin ursprünglich gar nicht lebend in Jekaterinburg hatten ankommen sollen. Dass Katkow ihr das verraten hatte, sprach für sein großes Vertrauen zu ihr.

»Gehen Sie weiter, Frau!«, trieb der rotblonde Soldat sie an.

Sie passierten die Wachen am Zaun und betraten das Haus, das sie mit einem Schwall heißer, abgestandener Luft empfing. Der große ausgestopfte Bär, der den Eingangsbereich beherrschte, faszinierte Lisette jedes Mal aufs Neue. Er war ein Relikt des Ingenieurs Ipatjew, der sein gesamtes Mobiliar zurücklassen musste. Für Lisette war das ausgestopfte Tier die Verkörperung dessen, was in Jekaterinburg vor sich ging. Der Bär und Zar Nikolaus, beide einstmals mächtig, der eine Herr der Wälder, der andre Beherrscher des russischen Reiches, waren nur Gefangene dieses Hauses am Rande Europas. Wenn Lisette sich richtig erinnerte, lag Jekaterinburg geografisch sogar schon in Asien.

Ihr Bewacher gesellte sich zu seinen Kameraden, die in der Diele saßen und unter rauem Gelächter Karten spielten. Die meisten rauchten und obwohl sie im Dienst waren, machte eine Wodkaflasche die Runde. Einige warfen Lisette begehrliche Blicke zu und grinsten sie herausfordernd an. Sie hatte sich schon daran gewöhnt und achtete nicht weiter darauf. Die Männer wussten, dass sie Gast im »literarischen Zirkel« des Kommissars Katkow war, und das verschaffte ihr, so hoffte sie zumindest, Schutz vor Zudringlichkeiten.

Kaum hatte sie die Diele durchquert und war die Treppe hinaufgegangen, stürmten die Mädchen auf sie zu und fragten sie nach Neuigkeiten aus der Stadt. Es war schon fast ein Ritual. Früher hatte Lisette die vier, auch in Gedanken, immer nur als Großfürstinnen bezeichnet. Aber das gemeinsame Leid hatte sie zusammengefügt. Die vier jungen Frauen in den einfachen bäuerlichen Kleidern, die Häupter mit Kopftüchern bedeckt, erinnerten äußerlich kaum noch an die Großfürstinnen des Hauses Romanow, die vor Kurzem noch als die besten Partien Europas gegolten hatten. Wer sie jetzt sah, mit ihren von der Arbeit aufgerauten Händen, die Fingernägel schmutzig, hätte es nicht geglaubt.

Maria und Olga liefen voran, gefolgt von Tatjana. Sie zog ein missmutiges Gesicht und trug Jemmy, den Schoßhund, auf dem Arm. Immer wieder zupfte sie an Jemmys Fell herum und schimpfte dann auf Anastasia, die Letzte im Bunde und die jüngste Tochter des Zaren.

»Was ist denn, Tatjana?«, fragte Lisette.

»Anastasia hat Jemmy Kletten ins Fell gehängt!«

»Gar nicht wahr, die hat er sich selbst eingefangen«, verteidigte sich Anastasia.

»Aber du hast sie ausgestreut und Jemmy mit einem Wurstzipfel angelockt!«, warf Tatjana ihrer Schwester vor.

Anastasia grinste über das ganze Gesicht. »Ich wollte mal sehen, ob Jemmys Magen größer ist als sein Verstand. Außerdem ist er eigentlich mein Hund.«

Anastasia begann zu lachen, Maria und Olga fielen darin ein. Das war eine typische Situation. Anastasia spielte oft den Familienclown und es wurde ihr nachgesehen. Sie konnte den Bonus des Nesthäkchens für sich verbuchen. Jünger als sie war nur der Zarewitsch, der seit jeher von eher ernster Natur war, was sicher mit seiner schweren Krankheit zusammenhing. Anastasia schien das durch ihre Streiche ausgleichen zu wollen und sie hatte manch düstere Stunde in der Verbannung aufgeheitert. Die drei älteren Großfürstinnen erschienen Lisette als junge Frauen, Anastasia hingegen wirkte mit ihrer Unbekümmertheit und ihrem Spieltrieb auf sie wie ein Kind. Vielleicht hatte sie noch gar nicht recht begriffen, was die Verbannung nach Jekaterinburg für sie und ihre Familie bedeutete, und vielleicht war das auch gut so.

Die Mädchen waren enttäuscht, als Lisette ihnen sagte, es gäbe nichts Neues zu berichten. Den Großfürstinnen wollte sie nicht anvertrauen, was Katkow ihr mitgeteilt hatte. Lisette war sich nicht einmal sicher, ob sie es dem Zaren sagen sollte. Vermutlich sollte er wissen, welches Schicksal Moskau ihm und den Seinen zugedacht hatte. Aber würde das etwas ändern? Würde es Nikolaus nicht alles noch viel schwerer machen?

»Schade«, seufzte Olga. »Ich hätte gedacht, es gäbe wenigstens etwas Tratsch aus der Stadt zu erfahren. Hier sieht man immer nur dieselben Leute, da gibt es bald nichts mehr zu tratschen.«

»Tratsch doch über dich selbst, Olga«, sagte Anastasia. »Da geht dir der Stoff niemals aus.«

Olga tat so, als wollte sie Anastasia die Ohren lang ziehen. Anastasia entschlüpfte ihrem Griff und verschwand im Halbdunkel hinter ihr.

Ihre drei Schwestern beschlossen, bei dem schönen Wetter ihren Nachmittagsspaziergang zu machen. Spaziergang war dafür eine hochtrabende Bezeichnung. Den Gefangenen im Haus zur besonderen Verwendung war das Recht zugestanden worden, sich am Vor- und am Nachmittag jeweils eine halbe Stunde im Garten die Beine zu vertreten. Sie fragten Lisette, ob sie mitkommen wollte, aber Lisette lehnte ab.

»Ich bin müde und lege mich ein wenig hin«, sagte sie, weil sie Zeit zum Nachdenken haben wollte.

Aber auf dem Weg zu ihrer Kammer wurde sie von Anastasia abgefangen, die wie ein Springteufel plötzlich vor Lisette auftauchte. Lisette war auf einen neuen Scherz vorbereitet, aber Anastasia wirkte auf einmal sehr ernst.

»Ich bin froh, dass die anderen im Garten sind. Ich möchte mit Ihnen reden, Fräulein Lisette. Ich glaube, Ihre Kammer ist leer. Die Demidowa ist auch in den Garten gegangen.«

Anastasia hatte recht, sie hatten den kleinen Raum für sich allein. Lisette legte ihren Strohhut ab und setzte sich zusammen mit der jungen Großfürstin aufs Bett.

»Also, Anastasia, was möchtest du wissen?«

»Ich möchte wissen, was Sie bedrückt.«

»Mich bedrückt? Wie kommst du denn auf so etwas?«

»Sie beschäftigt etwas, Fräulein Lisette, etwas Schlimmes, nicht wahr? Das habe ich gleich gesehen, als sie eben zurückkamen.«

Jetzt wirkte Anastasia gar nicht mehr wie ein Spaßvogel und auch nicht mehr wie ein unreifes Mädchen. Ihr ernster Blick ruhte prüfend auf Lisette, die in diesem Augenblick begriff, dass Anastasia allen etwas vorgespielt hatte, ihren Eltern und ihren Geschwistern, den wenigen übrig gebliebenen Bediensteten und den Wachen. Der Clown war nur eine Maske aus ihrer Kindheit, die Anastasia behalten hatte und aufsetzte, um allen das schwere Los ein wenig zu erleichtern. In Wahrheit aber war sie ebenso erwachsen wie ihre älteren Schwestern, vielleicht die Erwachsenste von allen. Sie hatte verstanden, dass das Lachen zum Leben gehörte, zum Überleben.

»Es ist nichts, Anastasia, wirklich nicht«, sagte Lisette und bemühte sich ebenso besänftigend wie aufrichtig zu klingen.

»Es geht um uns, richtig?« Anastasia wandte den Blick von Lisette ab und starrte zum Fenster, als könne sie hinter die geweißte Scheibe sehen. Leise fügte sie hinzu: »Ich weiß, dass wir sterben werden.«

Kapitel 7

Norddeutschland, nahe der Nordsee

Die Abenddämmerung setzte ein und der dichte Wald zu beiden Seiten der einsamen Landstraße schuf eine düstere Atmosphäre. Stumm wie ein Fisch saß Karl am Steuer und lenkte den großen Daimler einem Ziel entgegen, das man Dorn bislang verschwiegen hatte. Der Chauffeur schien den Weg zu kennen. Er hatte während der ganzen Stunden, die sie unterwegs waren, noch keine Anweisung erhalten, weder von Gottfried Wichart zur Linden noch von Major von Lauenberg, der neben Karl auf dem Beifahrerplatz saß. Die Straße war nicht besonders gut in Schuss und bei jedem Schlagloch, durch das der Daimler rumpelte, ließ der Major ein leises unwilliges Stöhnen hören. Schließlich verlor er seine Beherrschung und raunzte Karl an, er möge gefälligst etwas vorsichtiger fahren.

»Die Straße ist schon recht finster, ich kann nicht alle Löcher sehen.«

Mehr sagte Karl nicht. Aber die Art, wie er sprach, ließ deutlich erkennen, dass er sich zu Unrecht gerügt fühlte.

Dorn beugte sich zu Lauenberg vor. »Nur die Ruhe, Herr Major, es kann ja nicht mehr allzu weit sein bis Nordholz.«

»Was?« Die Frage des Majors hörte sich an wie das erschrockene Kläffen eines Wachhunds. »Wer hat Ihnen gesagt, wohin wir fahren, Herr Oberleutnant?«

»Niemand, diese Herrenrunde ist ja schweigsam wie ein Friedhof um Mitternacht. Aber ich kann zwei und zwei zusammenzählen und Straßenschilder lesen. Hannover, Bremen, Lehe, da ist wohl klar, dass wir zum Marine-Luftschiffplatz von Nordholz fahren. Sie hätten es mir auch gleich sagen können.«

»Vielleicht hätten Sie es sich noch anders überlegt. Immerhin haben Sie drei Tage benötigt, um sich zu entscheiden. Und das, wo Seine Majestät der Kaiser persönlich Sie um Hilfe gebeten hat!«

»Seine Majestät dürfte gewusst haben, dass ich nie wieder ein militärisches Luftschiff führen wollte.«

Lauenberg ließ nur ein verächtliches Schnauben hören. Offenbar hielt er Dorn nicht für diskussionswürdig, vermutlich nicht einmal für satisfaktionsfähig.

»Sie gehen nicht auf Bombenfahrt, Dorn«, sagte Wichart, der zu Dorns Linken im Fond saß. »Ihre Mission ist nicht das Vernichten, sondern das Retten von Menschenleben.«

»Nur deshalb bin ich hier.«

Dorn dachte an die quälende Entscheidung, über die er so lange mit sich gerungen hatte. Nie wieder ein Luftschiff über Feindgebiet führen, nie wieder in die Situation kommen, Frauen und Kinder – und sei es auch nur unwissentlich – zu bombardieren. Das hatte er sich nach dem Bombenabwurf auf das Internat geschworen. Und selbst die persönliche Bitte des Kaisers hätte nicht ausgereicht, um ihn schwanken zu lassen. Doch da war dieses Gesicht, das ihn in seinen Träumen Hilfe suchend ansah und bei dessen Anblick sein Herz zerspringen wollte. Das Gesicht, das er einmal liebkost und geküsst hatte. Der Gedanke, dass Lisette sich vielleicht in Lebensgefahr befand, ließ ihm keine Ruhe. Deshalb hatte er Ja gesagt.

»Warum Nordholz?«, fragte Dorn, an Wichart gewandt. »Sie haben in Berlin doch die besten Voraussetzungen zum Bau eines Luftschiffs.«

»Zum Bau ja, zur ausreichenden Erprobung nur bedingt. Jedenfalls dann, wenn alles der Geheimhaltung unterliegen soll. Berlin hat zu viele Augen.«

»Der Adler ist ein außergewöhnliches Luftschiff«, ergänzte Lauenberg. »Geschulte Augen könnten das erkennen und der Rückschluss auf eine außergewöhnliche Mission läge dann nicht fern.«

Dorn gab ihnen recht. Das abgelegene Nordholz und die nahe Nordsee boten weitaus bessere Möglichkeiten zu unbemerkten Testfahrten.

Der Wald lichtete sich, wich Äckern und Wiesen. Möwen kreisten am dunkler werdenden Himmel, die Küste war nicht mehr weit entfernt. Dorn selbst war noch nicht in Nordholz gewesen, hatte aber als Offizier der Reichsmarine natürlich von dem Stützpunkt gehört.

Der Daimler bog um eine scharfe Kurve und der Stützpunkt lag vor ihnen. Die großen Hallen, die Baracken und die Wachtürme zeichneten sich als dunkle Silhouetten vor der im Meer versinkenden Sonne ab. Hohe Mauern und Drahtverhaue umgaben den Platz und bewaffnete Patrouillen in der Uniform der Marine-Infanterie gingen das Außengelände ab. Eine Streife führte Hunde bei sich.

Karl bremste vor dem geschlossenen Zufahrtstor ab und die Wachen hielten ihre Karabiner schussbereit. Ein blutjunger Leutnant trat an den Wagen und grüßte zackig, als er Dorn und Lauenberg in ihren Uniformen sah.

Der Major reichte ihm ein Schriftstück. »Wir sind auf allerhöchsten Befehl hier, Herr Leutnant.«

Der Wachoffizier studierte das Schreiben, reichte es zurück und nickte. »Ich bin im Bilde, Herr Major. Sie können passieren. Biegen Sie nach dem ersten Barackenkomplex rechts ab und fahren Sie bis zum Ende der Straße. Dort werden Sie erwartet.«

Das Tor wurde auf Anweisung des Leutnants geöffnet und Karl lenkte den Wagen auf den Marine-Luftschiffplatz, auf dem das übliche Kasernenleben nach Dienstschluss herrschte. Einige Männer in Ausgehuniform pilgerten zum Tor, andere saßen vor den Baracken und genossen rauchend und Karten spielend den angenehmen Sommerabend. Als der Daimler anhielt und sie ausstiegen, atmete Dorn die frische, salzige Seeluft ein. Er hörte die Rufe der Möwen und fragte sich, warum all diese Männer hier in Uniform hocken mussten. Wären sie nicht besser mit ihren Bräuten, mit Frauen und Kindern hier gewesen, um die Sommerfrische zu genießen?

Aber das schien in diesem vierten Kriegsjahr so weit entfernt wie die verblassende Sonne am Horizont. Es gehörte zum Irrsinn des Krieges, dass er das Normale fremd und das Absonderliche normal erscheinen ließ. Dorn hatte in Frankreich mehrfach erlebt, dass Kameraden ihren Heimaturlaub abbrachen und vorzeitig an die Front zurückkehrten, weil sie mit dem Alltagsleben daheim nichts mehr anzufangen wussten. Sie fühlten sich dort fremd, oft auch überflüssig, weil notgedrungen ihre Frauen gelernt hatten, die Aufgaben der Männer zu verrichten. Auf den Feldflugplätzen und in den Schützengräben jedoch wurden sie gebraucht. Dort kannten sie ihren Platz, wussten sie genau, was sie zu tun hatten, fühlten sie sich inzwischen heimischer als zu Hause. Eine ganze Generation von Männern verwandelte sich allmählich in Kriegsmaschinen, und Dorn gehörte dazu.

Ein Ordonnanzoffizier trat aus einem zweistöckigen Gebäude, das die umliegenden Baracken überragte, begrüßte sie militärisch korrekt und bat sie, ihm zu folgen. Während Karl sich um den Wagen kümmerte, gingen Dorn, Wichart und Lauenberg mit der Ordonnanz in das Gebäude. Dorn war nicht überrascht, als der Leutnant sie in ein Büro führte, in dem der F.d.L., der Führer der Luftschiffe, an einem mit Papieren übersäten Schreibtisch saß und Konstruktionspläne studierte.

Der Raum war eher zweckmäßig als annehmlich eingerichtet. Der einzige Schmuck bestand aus der Reichskriegsflagge und zwei Wandfotografien. Die eine zeigte den Kaiser in Marine-Uniform, in der rechten Hand ein Fernrohr, den verkrüppelten linken Arm wie so oft scheinbar lässig in die Rocktasche gesteckt. Die zweite Fotografie war handkoloriert: Ein Luftschiff schwebte über dem blauen Meer in einem noch blaueren Himmel. Es sah geradezu idyllisch aus, kitschig, aber es war ein Marine-Luftschiff. Dorn stellte sich beim Betrachten des Fotos unwillkürlich vor, wie das Schiff seine Bombenschächte öffnete und die todbringende Ladung auf eine Stadt prasseln ließ, eine Stadt voller Menschen, Frauen und Kinder.

Strasser stand auf, umrundete den Schreibtisch, begrüßte sie und wandte sich Dorn zu. »Ich freue mich sehr, dass Sie uns helfen wollen, Herr Kapitänleutnant!«

»Oberleutnant, bitte«, korrigierte Dorn.

»Ab heute nicht mehr.« Lächelnd griff Strasser hinter sich und nahm ein zusammengefaltetes Papier vom Tisch. »Das hier ist Ihre Beförderung.«

Dorn bedeutete die Beförderung nicht sonderlich viel. Neue Achselstücke und ein etwas besserer Sold, mehr war es nicht für ihn. Er dachte gar nicht mehr daran, als sie mit Strasser und dem Ordonnanzleutnant über den Platz gingen, um den Adler in Augenschein zu nehmen.

Dorn hatte darum gebeten, das Luftschiff noch an diesem Abend zu besichtigen. Auch wenn er seit drei Jahren nicht mehr an Bord eines Luftschiffs gewesen war, die Faszination dieser Himmelsriesen war geblieben. Jetzt, wo er sich einmal entschlossen hatte, das Kommando über den Adler zu übernehmen, konnte er es kaum noch erwarten, Wicharts neueste Entwicklung zu begutachten. Er fühlte sich wie ein Kind, das sein neues Spielzeug in buntem Papier und mit Schleifen verziert unter dem Weihnachtsbaum sieht und mit fiebriger Spannung darauf wartet, es endlich auspacken zu dürfen.

»Nach rechts, bitte«, sagte der Leutnant an einer Kreuzung. »Es ist die große Halle da drüben, sie ist drehbar.« Er verkündete das nicht ohne Stolz, als hätte er selbst die Halle entworfen.

Dorn wusste, dass eine drehbare Luftschiffhalle enorme Vorteile hatte. Sie konnte so gedreht werden, dass das Schiff beim Aushallen gleich richtig im Wind lag. Ein ungünstiger Wind konnte das ganze Manöver des Aushallens unmöglich machen und ein Luftschiff dadurch über Stunden am Aufsteigen hindern.

Von der Kreuzung aus waren es noch einmal fünfhundert Meter bis zu der Halle. Strasser hatte ihnen angeboten, einen Wagen zu nehmen, aber Dorn und Wichart hatten sich nach der langen Fahrt von Berlin hierher lieber die Beine vertreten wollen. Eingedenk der zahlreichen Schlaglöcher unterwegs hatte auch Major von Lauenberg ihnen beigepflichtet.

Im Gegensatz zu den anderen fünf Schiffshallen wurde die drehbare Halle von eigenen Posten bewacht, die vor Strasser salutierten.

Der Führer der Luftschiffe zeigte auf seine Gäste. »Diese drei Herren haben ab sofort ungehinderten Zugang zur Halle.«

Sie traten in die Halle, wo nichts von der abendlichen Beschaulichkeit zu spüren war, die überall sonst auf dem Stützpunkt herrschte. Männer in ölverschmierten Arbeitsanzügen eilten geschäftig hin und her, rollten Fässer, schleppten Kisten und Schläuche. Das alles nahm Dorn nur am Rande wahr. Sein Hauptaugenmerk galt dem Luftschiff, mit dem Wichart, Strasser und der Kaiser so große Hoffnungen verbanden.

Der Adler sah wirklich beeindruckend aus, schien die Halle mit seinen gewaltigen Ausmaßen sprengen zu wollen. Ein größeres Luftschiff hatte Dorn noch nicht gesehen. Dabei wirkte die Konstruktion keineswegs plump, sondern aufgrund der stromlinienförmigen Außenhülle eher elegant.

»Ein hübsches Ding, trotz seiner fast zweihundertfünfzig Meter Länge, nicht?«, fragte Wichart, als habe er Dorns Gedanken gelesen. »Noch existiert nur der Prototyp, aber bei einem Erfolg der Mission, wird die Marine-Luftschiffdivision weitere Schiffe vom Typ Adler in Auftrag geben.«

»So ist es«, sagte Strasser und betrachtete das Schiff mit glänzenden Augen. »Die aufgrund der Schiffsmaße erweiterte Nutzlast erlaubt das Mitführen einer großen Menge Bomben. Unsere Adler werden so lange über England schweben, bis die Industrieanlagen des Feindes nichts weiter sind als ein Haufen rauchender Trümmer. England wird nicht mehr in der Lage sein, sein Volk zu versorgen, geschweige denn, den Nachschub für seine Armeen sicherzustellen. Und das, meine Herren, wird den Sieg Deutschlands bedeuten!«

Strassers Einstellung zu Bombenfahrten war allgemein bekannt. Der Fregattenkapitän meinte tatsächlich, mit seiner Luftschiffflotte die britische Nation und ihre Kampfmoral in Grund und Boden bomben zu können.

Dorn glaubte nicht daran. Er erinnerte sich an ein zusammengerolltes Plakat, das er in Frankreich bei einem abgeschossenen Engländer gefunden hatte. Dorn hatte keine Ahnung, weshalb der Flieger das Plakat mitgenommen hatte. Es zeigte deutsche Luftschiffe, die eine Stadt bombardierten, explodierende Bomben, im Feuer sterbende Frauen, panisch davoneilende Kinder. Und es rief jeden Mann auf, sich zum Kriegsdienst zu verpflichten. »Wer daheimbleibt, unterstützt solche Schandtaten«, hatte auf dem Plakat gestanden. Das war es, was die Bombenflüge bewirkten. Sie hoben die Moral des Feindes, statt sie auszuhöhlen. Hauptmann Korte hatte beim Anblick des Beutestücks gesagt, die deutschen Luftschiffer seien die besten Werber für die britische Armee.

Schlagartig wurde Dorn einiges klar. Er hatte sich gewundert, warum man für die Geheimmission ein so großes Schiff ausgewählt hatte, wo ein kleiner Typ doch unauffälliger gewesen wäre.

Jetzt kannte er die Antwort und sagte sie Strasser ins Gesicht: »Ihnen geht es gar nicht um den russischen Zaren und seine Familie! Sie wollen die Gelegenheit nutzen, um den Adler unter Frontbedingungen zu erproben. Und wenn die Mission erfolgreich ist, wird der Kaiser persönlich sich dafür einsetzen, dass Sie eine ganze Armada dieser neuen Luftschiffe erhalten – Bombenschiffe!«

»Kein Grund, sich zu ereifern, Herr Kapitänleutnant«, erwiderte Strasser gelassen. »Sagen wir einfach, wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Wir alle haben ein Interesse daran, dass die Mission des Adlers erfolgreich ist, Sie eingeschlossen. Außerdem ist der Wunsch meines Kaisers und obersten Kriegsherrn mir Befehl.«

Dorn betrachtete Strassers Gesicht, konnte aber ein kein Anzeichen von Ironie darin entdecken. Trotz der bitteren, desillusionierenden Erfahrungen der Kriegsjahre liefen in Deutschland noch etliche hundertfünfzigprozentige Patrioten herum, und Strasser marschierte eindeutig an ihrer Spitze.

»Fühlen Sie sich getäuscht, Dorn?«, fragte Wichart vorsichtig, fast ängstlich. »Wenn ja, dann sagen Sie es jetzt. Noch haben Sie Gelegenheit, Ihre Entscheidung rückgängig zu machen. Dann muss Ihr Ersatz, der als Erster Offizier vorgesehen ist, das Schiff auf der Fahrt nach Russland führen.«

Aller Augen waren gespannt auf Dorn gerichtet. Er fühlte sich wie eine Fliege, die sich im Netz der Spinne verfangen hatte und nichts tun konnte, ohne sich noch fester im Unheil zu verstricken. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht, nicht ohne Strasser vorher zu sagen, dass er auf die Beförderung zum Kapitänleutnant liebend gern verzichte.

Aber er dachte an Lisette und die Enttäuschung auf ihrem Gesicht, als sie Dorn und Dunja von Brauneck in der vermeintlich eindeutigen Situation gesehen hatte. Er hatte geglaubt, diesen Schaden, für den er sich trotz Dunjas Verhalten mitverantwortlich fühlte, nie wieder gutmachen zu können. Aber jetzt hatte er vielleicht eine Möglichkeit, wenn er Lisettes Leben rettete. In den vergangenen Tagen war er sich darüber klar geworden, dass er noch immer viel für Lisette empfand. Und selbst wenn sie ihn nie wieder ansah, nie wieder ein Wort mit ihm sprach, er wollte, er musste sie retten!

»Ich habe mich entschieden und dabei bleibt es«, sagte Dorn nicht ganz leichten Herzens. »Aber ich muss Sie alle bitten, in Zukunft ganz offen zu mir zu sein.«

»Selbstverständlich«, sagte Wichart und wirkte unendlich erleichtert. »Ich bin sehr froh darüber, dass Sie den Adler fliegen, Kapitänleutnant Dorn. Einen besseren Mann kann ich mir für diese Aufgabe nicht vorstellen.«

Dorn nickte knapp und bat Wichart, ihm mehr über den Adler zu erzählen.

»Das Schiff wird von fünf Maybach HSLu-Benzinmotoren angetrieben«, begann Wichart. »Insgesamt kommen wir damit auf eintausendzweihundert PS. Ein Motor befindet sich hinter der vorderen Kabine, zwei in der hinteren Kabine, wo sie an einen Propeller gekuppelt sind. Die letzten beiden Motoren sitzen in gesonderten Aufhängungen am Rumpf. Wenn wir alle Motoren in Betrieb nehmen, kommen wir auf eine Höchstgeschwindigkeit von einhundert bis einhundertzehn Stundenkilometern. Genauere Daten haben wir vielleicht, wenn Sie von Ihrem Einsatz zurückkommen. Die Marschgeschwindigkeit bei vier laufenden Motoren liegt zwischen sechzig und siebzig Stundenkilometern.«

»Warum hat ein so großes Schiff nicht sechs Motoren?«, fragte Dorn.

Strasser gab die Antwort: »Das wären zwar zweihundertvierzig PS mehr, aber es würde auch ein größeres Gewicht bedeuten.«

»Ein Argument, das ich bei Bombenflügen verstehen könnte«, sagte Dorn. »Aber bei dieser Mission?«

»Vergessen Sie nicht, dass Sie in Jekaterinburg die Familie des Zaren und seine Bediensteten an Bord nehmen müssen«, erklärte Strasser. »Der Zar ist ein Mann mit hohen Prinzipien. Er wird niemanden zurücklassen wollen.«

»Bewaffnung?«, fragte Dorn.

»Zehn Maschinengewehre«, sagte Wichart. »Aber wir überlegen, die Zahl aus Gewichtsgründen zu reduzieren.«

»Es bleibt bei den zehn«, entschied Dorn. »Wir können unterwegs immer noch Ballast abwerfen. Verfügt das Schiff über einen Spähkorb?«

Der Spähkorb war eine äußerst nützliche Erfindung, die Deutschlands Luftschiffer während des Krieges gemacht hatten. Hätte sie Dorn damals schon zur Verfügung gestanden, hätte er den Abwurf der Bomben auf das Internat vielleicht vermeiden können. Eine an einem Stahlseil hängende Gondel wurde mit einer Winde aus dem Luftschiff herabgelassen. Auf diese Weise konnte das Mutterschiff über den sichtschützenden Wolken bleiben, während der Beobachter in der kleinen, unauffälligen Gondel seine Navigationsangaben per Telefon weiterleitete. Die Heeresluftschiffe hatten den Spähkorb standardmäßig eingeführt, die Marine hingegen nicht. Strasser verwendete das Gewicht lieber für zusätzliche Bombenlast.

»Ein Spähkorb gehört nicht zur Ausstattung«, sagte Wichart.

»Warum nicht?«

»Fregattenkapitän Strasser wünscht es so.«

»Eine Gondel, die Winde und das Stahlseil, das alles würde eine halbe Tonne wiegen«, sagte Strasser. »Stattdessen sollten Sie lieber mehr Treibstoff mitführen, Dorn. Es kann zu unvorhergesehenen Zwischenfällen kommen und dann werden Sie über jeden Tropfen Benzin froh sein.«

»Von was für Zwischenfällen sprechen Sie?«, fragte Dorn alarmiert.

»Ich denke dabei an nichts Konkretes. Ihre Fahrt führt über unbekanntes Gebiet und die Russen dürften nicht gerade erfreut darüber sein.«

»Gerade weil es unbekanntes Gebiet ist, benötige ich jede nur denkbare Navigationshilfe.« Dorn wandte sich an Wichart. »Lässt sich ein Spähkorb nachträglich einbauen, und zwar so, dass man ihn mitsamt der Winde notfalls abwerfen kann?«

»Das müsste gehen. Ich werde die Frage mit meinen Ingenieuren besprechen. Allerdings dürfte das ein paar Tage zusätzliche Arbeit erfordern.«

Dorn dachte an Lisette. Er hätte sie lieber heute als morgen aus Russland herausgeholt. Aber eins lernte ein Luftschiffer früh: Große Eile war gleichbedeutend mit einem schnellen Tod.

»Ich will einen Spähkorb haben«, sagte Dorn.

»Abgelehnt.« Strasser sah ihn ernst an. »Reservebenzin ist wichtiger.«

Dorn wandte sich an Major von Lauenberg, der als Verbindungsoffizier zum obersten Kriegsherrn fungierte: »Herr Major, könnten Sie meine Bitte Seiner Majestät mit dem Hinweis vortragen, dass die Frage einer dringenden Entscheidung bedarf? Und würden Sie erwähnen, dass ich einen Spähkorb als für den Erfolg der Mission unerlässlich erachte?«

»Ich werde mich sofort mit Berlin in Verbindung setzen«, versprach Lauenberg und wollte die Halle verlassen.

»Also gut, Dorn, Sie bekommen Ihren Spähkorb«, lenkte Strasser ein. »Aber beschweren Sie sich nicht, wenn der Adler wegen des zu hohen Gewichts flügellahm wird!«

Sie inspizierten den Adler von innen. Für Dorn war es ein eigenartiges Erlebnis, wieder an Bord eines Luftschiffs zu sein. Widerstreitende Gefühle kämpften in ihm. Eine Stimme rief ihm zu, das Schiff umgehend zu verlassen und Nordholz den Rücken zuzukehren. Das war die Stimme der Vernunft. Sein Herz aber schlug schneller, als er über die Laufgänge schritt und sah, wie die Arbeiter dabei waren, Wicharts neue Konstruktion mit Feuereifer zu vollenden. Am liebsten hätte Dorn auf der Stelle das Kommando zum Aushallen erteilt, um mit dem Adler eine Probefahrt zu unternehmen.

»Wie Sie sehen, Herr Kapitänleutnant, wird das Schiff in wenigen Tagen einsatzbereit sein«, sagte Strasser. »Ohne den Spähkorb ginge es noch schneller.«

Dorn ging nicht darauf ein. Er unterhielt sich vornehmlich mit Wichart und stellte Fragen zu Konstruktionsdetails, die ihm wichtig erschienen, um den Adler in der kurzen Zeit, die ihm verblieb, kennenzulernen. Ein Luftschiff war ein kompliziertes Gebilde. Es konnte einen sicher durch die Lüfte tragen, aber es konnte bei einem Fehler auch innerhalb von Sekunden den Tod bringen. Wenn man einmal ein Jagdflugzeug geflogen hatte, konnte man ohne Weiteres auch ein anderes Modell steuern. Ein neues Luftschiff aber musste man in- und auswendig kennen, um es wenigstens halbwegs zu beherrschen.

Deshalb durchschritt Dorn das Schiff vom hinten nach vorn und ließ sich alles zeigen; den Hilfssteuerraum am Heck, die Motorgondeln, das Ersatzteillager, die Benzin- und Öltanks, Generator- und Funkraum, die Mannschaftsräume und die Frachträume, die man mit einfachen Feldbetten zu Unterkünften für die erwarteten Gäste umgerüstet hatte. Alles machte auf Dorn einen erstklassigen Eindruck, aber das war bei einem nagelneuen Schiff auch nicht anders zu erwarten. Es war der äußere Eindruck. Ob er sich bestätigte, würden die Testfahrten zeigen – und der erste Einsatz des Adlers.

Zuletzt nahm Dorn sich die Führergondel vor, wo zwei Mechaniker die Züge für die Manövrierventile und für die Ballastsäcke überprüften. Aber Dorn hatte kaum Augen für ihre Arbeit und auch nicht für die Ausstattung der Gondel. Er blickte ungläubig auf die Person in der offenen Lederjacke, die neben den Mechanikern kniete und ihre Arbeit überwachte. Das kurz geschnittene dunkle Haar ließ ihn in der ersten Sekunde an einen Offizier denken, einen Mann. Schnell erkannte er seinen Irrtum, als er die sinnlich geschwungenen Lippen sah, die Lippen, die er so oft geküsst hatte.

»Bist du also doch gekommen, Rochus.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Dunja von Brauneck erhob sich und betrachtete ihn mit einem spöttischen Funkeln in den braunen Augen. »Du hast lange gezögert. Ich hatte mich schon darauf eingerichtet, selbst das Kommando über den Adler zu übernehmen. Aber natürlich werde ich gern unter dir dienen.«

»Ihren Ersten Offizier muss ich Ihnen wohl nicht vorstellen, Herr Kapitänleutnant«, sagte Strasser.

Gern hätte Dorn Dunjas Bemerkung schlagfertig erwidert, aber er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Seit der geplatzten Verlobung hatte er sie nicht mehr gesehen. Er hatte nicht geglaubt, Dunja jemals im Leben wiederzutreffen, schon gar nicht hier, an Bord eines Wichart-Luftschiffs. Schließlich streckte er die rechte Hand aus, um sie zu begrüßen.

Dunja schien nach all den Jahren noch immer nicht besänftigt zu sein. Sie reichte ihm nicht die Hand. Ihre in schwarzen Handschuhen steckenden Hände blieben unbewegt.

»Seit wann bist du ein Offizier der Reichsmarine?«, fragte Dorn mit deutlich erkennbarem Spott.

Strasser räusperte sich, als sei ihm die Sache unangenehm. »Fräulein von Brauneck bekleidet für die Dauer dieser Mission den Rang eines Oberleutnants zur See. Ihre Hilfe wird uns von großem Nutzen sein.«

»Inwiefern? Ich dachte immer, sie setzt sich lieber in ein Flugzeug.«

»Im Krieg habe ich für Russland auch Luftschiffe befehligt«, erklärte Dunja.

»Das ist nicht der hauptsächliche Grund für ihre Teilnahme«, ergriff Strasser wieder das Wort. »Das Anwesen der von Braunecks liegt nur etwa dreißig Kilometer von Jekaterinburg entfernt. Fräulein von Braunecks Ortskenntnis wird uns eine unschätzbare Hilfe sein.«

Dorn nahm das äußerlich unbewegt zur Kenntnis. Innerlich aber verfluchte er den Tag, als er aus Fritz Kortes Mund die Bezeichnung »Geheime Reichssache« gehört hatte.

Kapitel 8

Dorn wollte allein sein, brauchte Zeit und Ruhe zum Nachdenken. Deshalb lehnte er Strassers Einladung ab, nach dem Abendessen in der Offiziersmesse in trauter Runde mit ihm zusammenzusitzen. Dorn begründete das mit seiner Müdigkeit nach der anstrengenden Fahrt und war froh über diese Ausrede. Der F.d.L. und er lebten in verschiedenen Welten und Strassers Welt war ihm zutiefst zuwider. Also zog Dorn sich in das ihm zugewiesene Zimmer zurück, in das man sein Gepäck gebracht hatte.

Es war ein kleiner, quadratischer Raum mit einem Feldbett, einem winzigen Tisch, einem Stuhl und einer alten Kommode, die zugleich als Nachttisch diente. Der einzige Wandschmuck war die unvermeidliche Fotografie Seiner Majestät, diesmal hoch zu Ross mit ordensübersäter Brust und Pickelhaube. Dorn ertrug den Anblick, der ihn an das Gespräch mit dem Kaiser erinnerte, nur zwei Minuten, dann nahm er das Bild ab und legte es in eine Schublade der Kommode, gleich neben eine für die Reichsmarine gedruckte Ausgabe des Neuen Testaments.

Es klopfte und eine Ordonnanz brachte auf einem silberglänzenden Tablett die Flasche Cognac, die Dorn bestellt hatte. Der Mann hatte gleich vier Gläser mitgebracht, als könne er sich nicht vorstellen, dass die Flasche nur für eine Person bestimmt war. Ein paar knappe Worte und ein nicht ganz so knappes Trinkgeld später war Dorn wieder allein. Er trat zu dem einzigen Fenster, öffnete es und genoss die frische, inzwischen abgekühlte Luft, die salzig schmeckte, nach Meer. Jetzt erst fiel ihm auf, wie stickig es in dem Zimmer gewesen war. Er ging zu dem Tisch, goss sich einen dreifachen Cognac ein und leerte das Glas mit einem Zug zur Hälfte, als erneut jemand an die Tür klopfte.

»Herein!«, knurrte er unwillig, ohne das Glas abzustellen.