Meine Wahrheit – 15 – 50 Seiten Private Bekenntnisse

Meine Wahrheit
– 15–

50 Seiten Private Bekenntnisse

Diverse Autoren

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-917-7

Weitere Titel im Angebot:

Weitere Titel im Angebot

Geschichte 1

Frauen gestehen

Roman von Anne W. (66)

»Meine Kinder haben mich vergessen, da zog ich in eine Alten-WG.«

Ich war früh Mutter geworden, das war damals einfach so. All die Jahre war ich für meine drei Kinder da gewesen, bis sie auf eigenen Beinen standen. Natürlich hatte ich auch auf meine Enkel aufgepasst, wenn meine Kinder arbeiten mussten.

Warten Sie, Frau Wagner«, sagte der Verkäufer in dem Bauernladen freundlich. »Ich trage Ihnen die Taschen zum Auto.«

»Das ist sehr nett, aber das ist heute gar nicht nötig«, erwiderte ich und wies auf Jonas und Jennifer. »Ich habe heute Verstärkung mitgebracht.«

Meine Enkel hatten noch den Angebotstisch durchstöbert, während ich zahlte. Jetzt kamen die beiden zu mir und übernahmen die Taschen. Mit zwölf und vierzehn konnten sie schon recht gut mit anfassen.

»Oh, das ist ja toll, dass ihr beiden eurer Oma helft«, nickte der Verkäufer anerkennend und wandte sich an mich: »Auf die beiden können Sie stolz sein.«

»Das bin ich.« Ich freute mich über das Kompliment.

Es war ja heutzutage wirklich nicht mehr selbstverständlich, dass Kinder in diesem Alter noch ihrer Oma helfen.

»Ein schönes Wochenende wünschen wir Ihnen noch«, rief Jennifer über die Schulter zurück.

»Danke gleichfalls«, lächelte der Verkäufer und winkte.

Ich platzte fast vor Stolz auf die guten Manieren der Kinder. Immerhin hatte ich als Oma einen großen Anteil an ihrer Erziehung gehabt. Weil meine drei Kinder immer viel gearbeitet hatten, hatte ich lange Zeit alle meine Enkel gehütet und versorgt.

Als wir in meiner Wohnung ankamen, räumte ich die Einkäufe ein und spendierte den beiden ein Eis. Danach fuhr ich sie nach Hause.

Jennifer und Jonas warfen mir eine Kußhand zu und verschwanden im Haus. Mit ihrer Mutter, meiner jüngsten Tochter Silke, konnte ich schon wieder kein Wort wechseln. Wie immer in letzter Zeit hing sie am Telefon und rannte irgendwelchen Geschäften hinterher.

Vor Kurzem hatte ich sie darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns mittlerweile gar nicht mehr sahen. Sie war mit zweiundvierzig arbeitslos geworden, weil die Firma pleite war. Sie hatte sofort einen beruflichen Neustart als Maklerin gewagt. Seither war sie nicht mehr zu sprechen.

»Als Maklerin ist das eben so«, hatte sie schulterzuckend geantwortet.

Nun ja, meine Freundinnen Inge und Waltraud würden sicher mehr Zeit für mich haben. Wir trafen uns jede Woche in einem kleinen Café im Ort. Und genau dorthin fuhr ich jetzt.

»Hallo, Anne«, wurde ich freudig begrüßt.

»Hallo, ihr Lieben.«

»Wie sieht’s aus? Gibt es Neuigkeiten von den Kindern?«, fragte Waltraud gleich neugierig nach.

»Das wüsste ich auch gern«, seufzte ich. »Ich bekomme sie ja nicht mehr zu Gesicht.«

»Aber das kann doch gar nicht sein!«, mischte sich Inge ein. »Kai siehst du doch sicher regelmäßig, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nicht mal den.«

Sie spielte auf meinen Zweitjüngsten an. Er hatte als junger Mann Schwierigkeiten gehabt, seine Arbeit durchzuhalten. Immer wieder hatte er nur irgendwelche Jobs angenommen und die Arbeitgeber gewechselt. Jahrelang hatte ich ihn unterstützt, bis er mit dreißig Jahren endlich eine Ausbildung fertig hatte. Als er gleich danach heiratete, hatte ich dem jungen Paar oft im Haushalt geholfen. Schließlich haben sie ja immer so viel gearbeitet.

Damals hatte ich schon Silkes Kinder Jonas und Jennifer tagsüber versorgt, die ja noch so klein waren. Ich war immer für alle da gewesen. Ich war ja stolz darauf, dass meine Kinder gut in Lohn und Brot standen. Ich hatte nur eine kurze Lehre als Hauswirtschafterin machen können, als ich jung war. Sie sollten bessere Chancen haben. Deshalb unterstützte ich sie nach Kräften.

Sogar Manuela, meine stolze Älteste, hatte meine Hilfe angenommen, als sie mit siebenunddreißig unverheiratet schwanger wurde. Der kleine Dennis war jetzt neun Jahre alt und wurde in der Schule versorgt. Da brauchte sie mich nicht mehr.

Waltraud und Inge sahen sich kurz an, sagten aber nichts.

»Und was gibt’s Neues von deinem Mann?«, fragte ich Inge.

»Oje, hör bloß auf«, winkte sie ab. »Ich müsste schon fast ein schlechtes Gewissen haben, weil ich überhaupt hier bin.«

»Wieso das?«, wollte Waltraud wissen.

»Weil es mittlerweile steil bergab geht. Walters Krankheit hat ihn jetzt vollständig im Griff. Am Montag wird ein Pflegebett geliefert.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte ich ehrlich.

»Danke«, hörte ich ihre betroffene Stimme. »Aber es war ja abzusehen. Der Arzt sagt, er hat noch ein paar Wochen. Mehr wird es nicht mehr werden. Dann bin ich genauso allein wie Waltraud.«

Waltraud und ich legten ihr beide eine Hand auf die Schulter. Wir wussten: Jedes Wort wäre jetzt zu viel gewesen. Inge pflegte ihren Mann schon seit vier Jahren. Sie war mit ihren siebenundsechzig nur ein Jahr älter als ich. Doch obwohl die Alterszipperlein auch ihr zu schaffen machten, hatte sie bis vor Kurzem die Pflege ganz allein bewältigt. Mittlerweile hatte sie aber für einen Tag in der Woche eine Pflegerin organisiert, um überhaupt noch zu unseren wöchentlichen Treffen kommen zu können.

»Auch ans Alleinsein gewöhnt man sich«, versuchte Waltraud, Inge zu trösten.

Doch ich hörte an der Stimme meiner Freundin, dass sie log. Sie litt selbst fürchterlich unter der Einsamkeit. Sie war seit einem knappen Jahr verwitwet.

»Danke«, sagte Inge und drückte dankbar unsere Hände. »Ich schaffe das schon.«

Mein Mann war vor fast dreißig Jahren bei einer Routineoperation durch eine Lungenembolie gestorben. Unsere Kinder hatte ich von da an allein ins Leben und in ihre Berufe bringen müssen. Aber im Gegensatz zu Inge und Waltraud war ich nie allein gewesen. Ich hatte immer meine Kinder und meine Enkel gehabt.

*

Oje, an diesem Abend aber fühlte ich mich einsam. Ich saß ganz allein in dem großen, aufgeräumten Wohnzimmer. Nachdenklich sah ich das Foto von meinem Mann an. Seit seinem plötzlichen Tod stand es auf der Kommode neben dem Fernseher.

»Hättest du das gedacht?«, fragte ich unsinnigerweise das Bild. »Jetzt sind sie alle groß. Sogar unsere Enkel kommen allein zurecht. Und wo bleibe ich dabei?«

Wie ein Schatten legte sich tiefe Traurigkeit über mich. Den Film im Fernsehen bekam ich gar nicht richtig mit. Ich dachte an die schöne Zeit, in der Manuela, Kai und Silke sich immer gefreut hatten, wenn ich kam. Und an die Zeit, als die Enkel nacheinander geboren wurden. Wie ich sie alle versorgt hatte. Doch jetzt waren die Kleinen alle im Alter zwischen neun und vierzehn. Sie kamen allein zurecht. Ein trostloses Gefühl machte sich in mir breit.

Mein Blick fiel auf das Telefon. Die Anzeige des Anrufbeantworters blinkte nicht. Nicht einmal das Lämpchen, das entgangene Anrufe signalisierte, rührte sich. Es hatte ewig niemand mehr angerufen. Selbst Jonas und Jennifer waren heute nur auf meine Bitte hin gekommen, wegen der vielen Einkäufe. Keines meiner Kinder meldete sich von sich aus. Hatten sie mich alle vergessen?

Ich beschloss, meine traurige Vermutung zu testen. Ich würde mich einfach mal eine Weile nicht bei den Kindern melden.

*

Als ich in der folgenden Woche wieder zu dem kleinen Café zu unserem Treffen fuhr, hatte ich ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Ich hoffte, dass meine Freundinnen nicht nach den Kindern fragen würden. Ich wollte nicht darüber sprechen.

Ich hatte tatsächlich die ganze Woche nicht bei den Kindern angerufen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass irgendwann mein Telefon klingeln würde. Aber niemand von meinen Kindern rief an. Es war, als gäbe es mich gar nicht mehr für sie.

Als ich vor dem Café parkte, sah ich schon durch die Scheibe, dass Inge leichenblass wirkte. Schnell stieg ich aus und eilte zu ihr.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich meine Freundin.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, hörte ich ihre ungewöhnlich leise Stimme. »Walter geht es sehr schlecht. Er muss jetzt Morphium bekommen.«

Ich nahm sie in den Arm. Inge und Walter kannten sich fast ihr ganzes Leben lang. Ich ahnte, welches Loch sein Tod in ihr Leben reißen würde.

Gerade sah ich Waltraud hereinkommen. Sie erkannte sofort, dass etwas passiert sein musste. Leise setzte sie sich und legte zusätzlich ihre Hand auf Inges Schulter.

»Walter geht es schlechter«, sagte ich leise zu Waltraud.

Wir sahen, wie Inges Augenlider sich röteten.

»Inge, du musst jetzt an ihn denken«, appellierte ich an ihre innere Stärke. »Er hat Schmerzen, und er braucht dich jetzt.«

Inge riss sich zusammen und nickte. »Ja, du hast recht. Aber so langsam bekomme ich Angst. Was soll ich denn nur machen ohne ihn?«

»Noch ist er ja da. Und wenn es dir schlecht geht, rufst du mich einfach an«, bot ich an.

»Oder mich«, schloss sich Waltraud sofort an.

Inge sah uns dankbar an und zwang sich zu einem Lächeln. »Danke. Ihr seid die besten Freundinnen der Welt.«

»Dafür sind Freundinnen da«, lächelte ich zurück.

An diesem Nachmittag drehte sich alles nur um Walter. Es war nun doch schneller gegangen, als man gedacht hatte. Er konnte sich kaum mehr regen und lag nur noch in seinem Pflegebett. Waltraud und ich konnten nichts tun, außer unserer Freundin Mut zuzusprechen und unsere Hilfe anzubieten.

»Ich danke euch beiden«, sagte sie zum Abschied. »Ich wünsche euch einen schönen Abend. Und grüß die Kinder.«

Es gab mir einen Stich ins Herz. Wie hätte ich meine Kinder grüßen sollen? Ich hörte und sah ja nichts mehr von ihnen. Aber das wollte ich natürlich nicht sagen. Sie hatte schließlich mit ihren eigenen Sorgen genug zu tun.

*

Die folgenden Tage wurden immer trister für mich. Nicht ein einziges Mal hörte ich das Telefon klingeln. Nicht ein einziges Mal hatte sich die Anzeige am Telefon geändert, wenn ich vom Einkaufen nach Hause kam. Und bald würde schon wieder eine Woche vergangen sein.

Übermorgen würde ich mich wieder mit Inge und Waltraud treffen. Und niemand hatte sich auch nur mit dem leisesten Pieps gemeldet. Es war trostlos.

Wieder sprach ich mit dem Bild meines Mannes auf der Kommode: »Siehst du? Sie haben mich vergessen.«

Plötzlich schrak ich zusammen. Es hatte an der Tür geklingelt. Verwundert ging ich in die Diele. Ich erwartete niemanden. Manchmal wollte der Postbote ein Paket für die Nachbarn bei mir abgeben. Aber die Post war heute schon da gewesen. Vorsichtig lugte ich durch den Türspion. Waltraud stand davor. Schnell öffnete ich die Tür.

»Waltraud! Was ist los?«, fragte ich sofort.

Es war nicht üblich, das wir uns ohne telefonische Anmeldung gegenseitig besuchten. Es musste also etwas passiert sein!

»Tut mir leid, dass ich dich so überfalle. Aber vorhin habe ich beim Kaufmann eine alte Schulfreundin getroffen. Sie wohnt ganz in der Nähe von Inge. Sie sagt, heute Morgen wäre der Notarzt bei Inge gewesen.«

»Oje, dann geht es Walter sicher noch schlechter«, vermutete ich.

»Sie haben ihn wohl mit ins Krankenhaus genommen. Was machen wir denn jetzt?«, fragte sie nervös.

»Komm erst mal rein. Dann rufen wir zusammen bei Inge an.«

Waltraud nickte und trat ein.

Ich wählte die Nummer und stellte das Telefon auf den Lautsprecher ein. Inges Stimme klang belegt, als sie sich meldete.

»Hallo, Inge«, begann ich und fragte vorsichtig: »Waltraud und ich wollten nur mal hören, wie es dir geht. Ist alles in Ordnung?«

»Nein«, hörten wir ihre leise Stimme. »Walter geht es sehr schlecht. Er ist heute Morgen ins Krankenhaus gekommen. Ich muss jetzt ein paar Sachen für ihn packen.«

»Können wir dir helfen?«, bot ich sofort an.

»Nein, danke, im Moment nicht«, lehnte sie ab. »Und wir sehen uns ja schon übermorgen wieder. Ich erzähle euch dann, was es Neues gibt.«

»In Ordnung«, stimmte ich mit einem Seitenblick auf Waltraud zu.

Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie sichw ebenso viele Sorgen machte wie ich. Aber Inge war eben so. Sie nahm selten Hilfe an. Da war nichts zu machen. Bevor Waltraud ging, sprachen wir uns ab: Heute Abend würde sie bei Inge anrufen, um ihr ein wenig Halt zu geben. Morgen früh wäre ich dran. Am Abend wieder sie. Unsere Freundin sollte wissen, dass wir für sie da sein würden, wenn sie uns brauchte.

Inge hielt sich tapfer. Ihrem Mann ging es von Tag zu Tag schlechter. Schon einen Tag nach seiner Einlieferung war klar: Für ihn würde das Leid bald ein Ende haben.

»Sollen wir unser Treffen verschieben?«, fragte ich verständnisvoll, als ich mit Inge telefonierte.

»Nein, nein«, wehrte sie ab. »Ich muss auch mal etwas anderes sehen als nuwr meine Wände und das Krankenhwaus. Ich komme natürlich zum Café.«

*

So machte ich mich am nächsten Tag auf den Weg zu unserem wöchentlichen Treffen. Im Hinausgehen fiel mein Blick auf mein Telefon. Eine Sekunde lang fragte ich mich, was wäre, wenn mir jetzt etwas passieren würde. Wie lange würde es dauern, bis meine Kinder merken würden, dass ich hilflos oder gar tot in der Wohnung lag? Doch in meiner Sorge um unsere Freundin schüttelte ich den Gedanken schnell ab. Die einsamen Abende waren schlimm genug. Sie waren mittlerweile sogar kaum erträglich. Da musste ich mich nicht jetzt auch noch mit diesen traurigen Gedanken herumschlagen!

Inge war blass. Man sah, wie sehr ihr die letzten Tage zugesetzt hatten. Waltraud kam kurz nach mir ins Café. Wir sagten nichts. Inge begann, von sich aus zu erzählen.

»Er nimmt fast nichts mehr wahr«, berichtete sie niedergeschlagen. »Ich habe fast mein ganzes Leben mit ihm verbracht. Es ist so furchtbar, allein in dieser Wohnung zu sitzen. Und noch viel schlimmer ist, dass ich ab jetzt immer allein darin sitzen werde. Für ihn wird das Leiden bald zu Ende sein. Dann wird es für mich anfangen.«

»So schlimm muss es nicht werden. Ich habe da über etwas nachgedacht«, wandte Waltraud vorsichtig ein. »Du weißt ja, dass ich die riesige Wohnung behalten habe, nachdem mein Mann gestorben ist.«

Verwirrt sahen Inge und ich unsere Freundin an. Wir wussten, dass Waltraud auf fast hundertzwanzig Quadratmetern in fünf Zimmern lebte. Vielleicht war es auch gerade das, was ihr die Einsamkeit noch schwerer machte. Aber was hatte das jetzt mit Inges Situation zu tun?

Waltraud räusperte sich. »Also, ich habe mir gedacht, dass du bei mir einziehen könntest«, rückte sie mit der Sprache heraus.

Völlig überrascht sah ich von einer Freundin zur anderen. Natürlich! Wir waren doch alle drei einsam! Das war die Idee! Wir könnten doch alle zusammenziehen! Inge wollte etwas sagen, aber ich mischte mich ein.

»Natürlich! Dass wir daran nicht längst gedacht haben! Schließlich kennen wir uns schon seit über dreißig Jahren! Und dass wir uns vertragen, können wir wohl guten Gewissens behaupten«, sagte ich und nickte im Gedanken an diese wunderbare Idee.

»Ähm, ich dachte jetzt, offen gesagt, nur an Inge. Weil sie ja bald auch allein sein wird«, sagte Waltraud und bremste damit meine Euphorie. »Du hast doch noch deine Kinder und die Enkel.«

Als sie meine Kinder und die Kleinen erwähnte, fühlte ich wieder diesen Stich in meinem Herzen. Bisher hatte ich meine Einsamkeit verdrängt, weil es Inge so schlecht ging. Jetzt aber stiegen mir die Tränen mit aller Macht in die Augen.

»Was ist denn los?«, riefen die beiden erschrocken.

Ich spürte, wie die erste Träne meine Wange hinunterlief. Schnell zückte ich ein Taschentuch und schnäuzte mich. Aber auch das konnte den Tränenstrom, der sich jetzt seinen Weg bahnte, nicht mehr stoppen. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mich wieder im Griff hatte. Meine Freundinnen saßen ratlos vor mir.

»Von wegen: Du hast ja deine Kinder«, erklärte ich jetzt. »Meine Kinder haben mich total vergessen. Von denen höre ich überhaupt nichts mehr. Die rufen nicht einmal mehr an. Und das schon seit Wochen!«

»Wieso das denn plötzlich?«, wunderte sich Waltraud.

»Die haben alle Stress in ihren Berufen. Und die Enkel sind jetzt alle so groß, dass die allein zurechtkommen. Die brauchen mich einfach nicht mehr.«

Ich spürte, wie sich schon wieder Tränen in meine Augen drängten. Und jetzt spürte ich die Hände meiner Freundinnen auf meinen Schultern. So wie ich immer auch für sie da gewesen war, so trösteten sie jetzt mich. Schließlich räusperte sich Waltraud noch einmal.

»Also, wenn das so ist, dann sollten wir über eine Dreierwohngemeinschaft nachdenken«, schlug Waltraud vor.

»Ist das dein Ernst?«, fragte Inge.

Man sah ihr an, dass ihr ein solcher Gedanke bisher völlig fremd gewesen war.

»Jawohl, das ist mein Ernst«, bekräftigte Waltraud. »Und zwar voll und ganz. Ich kann meine Einsamkeit schon seit Monaten kaum ertragen. Inge wird in Kürze in der gleichen Situation sein. Und was Anne angeht, muss man den Tatsachen ins Auge sehen.«

»Welche Tatsachen meinst du?«, wollte ich nun wissen.

»Nun ja, du hast einen Wahnsinnserfolg im Leben vorzuweisen: Deine Kinder sind alle erfolgreich in ihren Berufen. Außerdem hast du wohlgeratene Enkel erzogen und könntest glücklich, stolz und zufrieden sein. Das ändert aber alles nichts daran, dass du jetzt genauso einsam sein wirst wie Inge und ich.«

Inge und ich nickten traurig.

»In Ordnung. Ich muss jetzt los«, sagte Waltraud. »Und ihr beide schlaft eine Nacht über meinen Vorschlag, einverstanden? Sagt mir morgen einfach Bescheid, wie ihr euch entschieden habt.«

Inge und ich nickten sofort.

*

Zu Hause dachte ich den ganzen Abend darüber nach. Aber es war egal, von welcher Seite aus man Waltrauds Vorschlag betrachtete. Er war und blieb ungewöhnlich, aber vernünftig.

»Was meinst du dazu?«, fragte ich im Halbdunkel unsinnigerweise das Bild meines Mannes.

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich Waltrauds Vorschlag annehmen würde. Denn bisher sprach ich nur mit dem Bild meines Mannes. Wer weiß, was passieren würde, wenn ich weiterhin so einsam hier in meiner Wohnung leben müsste? Vielleicht würde ich irgendwann anfangen, mit dem Fernseher zu sprechen oder sogar mit den Wänden. Oder ich würde nur noch meine Nachbarn angiften, weil sich sonst in meinem Leben nichts mehr regte? Nein, das wollte ich auf keinen Fall!

Am nächsten Vormittag wählte ich Waltrauds Nummer. »Du rufst genau richtig an«, begrüßte sie mich am Telefon. »Inge hat sich auch vorhin gemeldet. Sie meint, wir sollten uns treffen, um alles zu besprechen. Was meinst du dazu?«

»Ich sehe das genauso«, hörte ich mich selbst im Brustton tiefer Überzeugung sagen.

*

Walter starb schon wenige Tage später. Tatsächlich sind Inge und ich in Waltrauds große Wohnung eingezogen. Jeder hat ein eigenes Zimmer als Rückzugsort. Das große Wohnzimmer und die Küche benutzen wir gemeinsam.

Es klappt hervorragend. Von meinen Kindern höre ich übrigens fast nie etwas. Wer weiß, wann sie sich wieder an mich erinnern werden.

– ENDE –

Geschichte 2

Ohne Gewissen

Roman von Brigitte S. (43)

»Meine Tochter verleugnet ihre kleine Lara, damit sie besser Männer kennen

lernen kann.«