Mami – 1878 – Das Haus ohne Lachen

Mami
– 1878–

Das Haus ohne Lachen

Die kleine Sarah ist so tapfer

Lisa Simon

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-925-2

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»Komm, ich helfe dir mit deinen Haaren.« Corinna Jäger blickte lächelnd zu ihrer kleinen Tochter Sarah hinunter, die vor dem Flurspiegel stand und sich mit dem Haargummi abmühte.

»Wir müssen uns beeilen, damit ich nicht zu spät in den Kindergarten komme«, drängte die Kleine und gab ihrer Mutter das Haargummi.

»Und ich muß pünktlich im Büro sein«, ergänzte Corinna amüsiert. »So, jetzt siehst du wie eine kleine Lady aus.«

Wenig später verließen die beiden die Wohnung. Bevor Corinna ihren Dienst bei der Firma Fleige antrat, wo sie als Chefsekretärin arbeitete, brachte sie Sarah morgens in den Kindergarten, der direkt auf dem Weg zum Büro lag. Am Nachmittag holte sie ihre kleine Tochter dort wieder ab.

Was aus ihrer Stelle wurde, wenn Sarah in zwei Jahren zur Schule kam, wußte Corinna nicht; doch sie war sicher, daß ihr Chef, Karl Fleige, eine Lösung finden würde. Seit Corinna die Stelle angetreten hatte, fühlte sie sich in dem mittelständischen Betrieb, der Rasierapparate herstellte, pudelwohl.

Karl Fleige hatte immer ein offenes Ohr für die Probleme seiner Angestellten, und schon oft hatte er ein Auge zugedrückt, wenn Corinna früher das Büro verlassen mußte, weil der Kindergarten eher schloß oder auch, wenn Corinna ganz zu Hause bleiben mußte, weil Sarah krank war.

Es war nicht einfach gewesen, nach der zermürbenden Scheidung von Frank ein neues Leben zu beginnen. Von einem Tag auf den anderen mußte Corinna eine Stellung finden, bei der sie genügend verdiente, um für sich und das Kind den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Nur durch Zufall erfuhr Corinna von der freigewordenen Sekretärinnen-Stelle.

Das war bereits vor zwei Jahren gewesen, und Corinna hatte sich schnell an die Doppelrolle als Mutter und Ernährerin gewöhnt. Traurig war sie allerdings, daß Frank sich kaum noch um seine kleine Tochter kümmerte.

Bis kurz nach der Scheidung hatte er sich am Wochenende öfters blicken lassen, doch die Abstände seiner Besuche wurden immer länger, bis sie ganz aufhörten. Inzwischen hatte er wieder geheiratet und war mit seiner neuen Frau in eine andere Stadt gezogen.

»So, mein Fräulein, da wären wir.« Corinna stieg aus dem Auto und half Sarah, den Sicherheitsgurt zu lösen. »Bis heute nachmittag.«

Die Kleine schmatzte ein feuchtes Küßchen auf die Wange ihrer Mutter und lief winkend zum Grundstück des Kindergartens. Wie immer wartete Corinna, bis Sarah im Gebäude verschwunden war, bevor sie ihren Weg fortsetzte.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, daß sie sich sputen mußte, um pünktlich im Büro zu sein. Auch wenn Herr Fleige nie etwas sagte, wenn sie ein paar Minuten zu spät kam, bemühte sie sich, um halb acht in ihrem Vorzimmer zu sitzen.

*

»Der Chef sieht in letzter Zeit so bedrückt aus«, sagte einige Tage später Inge Kowald aus der Buchhaltung während der Frühstückspause zu Corinna. »Hat er etwas zu dir gesagt?«

Corinna schüttelte langsam den Kopf, während sie schluckweise ihren heißen Kaffee trank. »Nein, das nicht – aber auch mir ist aufgefallen, daß er oft mit seinen Gedanken ganz woanders ist.«

»Hm, Sorgen um seinen Betrieb braucht er sich jedenfalls nicht zu machen, denn das Geschäft läuft besser denn je.«

Corinna sah nachdenklich aus dem Fenster. Jetzt, wo Inge es erwähnt hatte, begann auch sie, sich Sorgen um Karl Fleige zu machen. Er war doch nicht etwa krank? Seine Gesichtsfarbe schien in letzter Zeit tatsächlich ziemlich ungesund auszusehen.

»Ich kann mir auch nicht recht vorstellen, was mit ihm los ist«, sagte Corinna nachdenklich. »Möglicherweise hat er private Probleme.«

»Nun, da wird ihm seine Belegschaft auch nicht helfen können«, gab Inge zurück und sah zur Uhr. »Meine Güte, die Pause ist schon wieder um. Herr Neubauer macht mir bestimmt gleich wieder die Hölle heiß.«

Corinna lachte. »So schlimm wird es schon nicht werden.«

»Abwarten. Sehen wir uns in der Mittagspause?«

»Tut mir leid, aber da muß ich meine Einkäufe fürs Wochenende erledigen. Du weißt ja, daß ich nach Dienstschluß sofort Sarah abholen muß.«

»Ja, ja, die lieben Kinderchen. Ich bin froh, daß meine beiden aus dem Gröbsten raus sind.«

Die beiden Frauen trennten sich auf dem Gang und wünschten sich gegenseitig ein angenehmes Wochenende. Corinna beeilte sich, in ihr Büro zurückzukommen, um all ihre Aufgaben bis zum Feierabend noch zu erledigen.

*

»Mami, fahren wir morgen in den Zoo?« fragte Sarah am Samstagmorgen beim Frühstück. »Wir waren schon lange nicht mehr dort.«

»Du hast recht, mein Schatz. Wenn das Wetter so schön bleibt, geht es in den Zoo.« Liebevoll strich Corinna ihrer kleinen Tochter eine Locke aus der Stirn.

»Und wenn es regnet?« kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Dann lassen wir uns etwas anderes einfallen. Aber jetzt trinke deinen Kakao, sonst wird er kalt.«

»Kann ich dann mit Katja spielen?«

»Sicher kannst du das. Ich habe sowieso noch eine Menge zu tun.«

Als Sarah gegangen war, griff Corinna seufzend zum vollen Wäschekorb. Der gesamte Samstag war für den Haushalt reserviert, für Unternehmungen mit der Kleinen blieb nur der Sonntag – doch darauf freuten sich Mutter und Tochter um so mehr.

Während der eintönigen Hausarbeit mußte Corinna wieder an ihren Chef denken. Was war, wenn Inge nicht auf dem neuesten Stand war und das kleine Unternehmen gar nicht gut florierte? Mußte man damit rechnen, daß Karl Fleige den Betrieb aufgab und alle Mitarbeiter entlassen wurden?

Corinna hielt in ihrer Putzarbeit inne. Wenn das passierte, würde sie sich und Sarah nicht mehr ernähren können! Für eine dreißigjährige alleinerziehende Mutter würde es so schnell keinen neuen Arbeitsplatz geben.

Energisch schüttelte Corinna schließlich den Kopf. Warum sollte sie sich Gedanken über etwas machen, was nur Spekulationen waren und ihr damit das ganze Wochenende verdarben?

Doch trotzdem mußte Corinna immer wieder daran denken. Selbst, als sie mit Sarah bei strahlend schönem Wetter am Sonntag den Zoo besuchten, stahlen sich die Gedanken um ihre Zukunft wieder in den Vordergrund.

»Mami, sieh mal, der kleine Affe steckt seine Hand durch das Gitter. Darf ich ihn mal streicheln?«

Erschrocken zog Corinna die Kleine zu sich heran. »Auf keinen Fall! Auf dem Schild da steht nämlich, daß die Affen bissig sind.«

»Aber der sieht so lieb aus«, beharrte Sarah weiter auf ihrem Wunsch, das kleine drollige Kapuzineräffchen zu streicheln.

»Sei vernünftig, Schätzchen – oder willst du, daß dich der Affe in den Finger beißt?«

»Nein.«

»Na also. Komm, laß uns mal rüber zu den Raubtieren gehen. Ich habe vor ein paar Tagen in der Zeitung gelesen, daß die Löwen Junge bekommen haben.«

»Au ja! Löwenbabys mag ich!« Sarah sprang vor Begeisterung vor ihrer Mutter her, und die war erleichtert, ihre Tochter von den bissigen Affen fortgelockt zu haben.

Später wurde Corinna überredet, auf dem Heimweg in ein Hamburger-Restaurant zu gehen. Mit großem Appetit verzehrte Sarah ihren Hamburger mit Pommes frites.

»Schling nicht so«, ermahnte Corinna lächelnd. »Sonst bekommst du am Ende noch Bauchschmerzen und kannst morgen nicht in den Kindergarten gehen.«

Sarah liebte ihren Kindergarten und die Erzieherinnen, doch noch mehr gefielen ihr die Stunden mit ihrer Mutter. Corinna war sehr froh darüber, daß ihre Tochter sich nicht sträubte, tagsüber von der Mutter getrennt zu sein – denn das hätte es unmöglich gemacht, eine Stellung anzunehmen.

Sarah schlief fast augenblicklich ein, als sie in ihrem Bettchen lag. Sie hatte an diesem Tag so viel gesehen, und bevor sie einschlief, murmelte sie: »Die anderen Kinder werden staunen, wenn sie erfahren, was ich heute alles erlebt habe.«

Corinna küßte das Mädchen sanft auf die Wange. »Schlaf schön.«

Daß ihre Mutter leise das Zimmer verließ, bemerkte Sarah gar nicht mehr.

*

»Frau Jäger, kommen Sie doch bitte gleich zu mir«, wurde Corinna am Montagmorgen von ihrem Chef begrüßt. »Ich muß mit Ihnen reden.«

Sofort sprang Corinna auf und griff nach ihren Stenoblock. Doch Karl Fleige winkte ab.

»Den können Sie hierlassen.«

An seiner Stimme konnte Corinna erkennen, daß es um etwas Ernstes ging. Und mit zitternden Knien nahm sie Karl Fleige in seinem Zimmer gegenüber Platz.

Der sah sie über den Rand seiner Brille fast traurig an, so daß Corinnas Herz schneller zu schlagen begann.

»Tja, wie soll ich anfangen?« Herr Fleige nahm die Brille ab und wischte sich über die Augen. »Es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden, aber nun gibt es keinen Rückzieher mehr.«

»Ich verstehe«, sagte Corinna nickend, obwohl sie gar nichts verstand.

»Frau Jäger, ich habe mit meinem Arzt gesprochen. Sie wissen ja, daß ich nicht mehr der Jüngste bin und mir seit einiger Zeit mein Herz zu schaffen macht.«

»Sicher.«

»Nun, nachdem mir Dr. Arler ohne Umschweife gesagt hat, daß ich nicht mehr lange zu leben hätte, wenn ich mich nicht endlich zur Ruhe setzen würde, habe ich mich entschlossen, den Betrieb zu verkaufen.«

Corinna saß wie erstarrt da, konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte. Schließlich räusperte sie sich und fragte mit tonloser Stimme: »Und was bedeutet das für Ihre Belegschaft?«

»Gut, daß Sie darauf zu sprechen kommen, Frau Jäger. Sie und Ihre Kollegen und Kolleginnen müssen keine Angst um Ihren Arbeitsplatz haben. Ich habe bei den Kaufinteressenten zur Bedingung gemacht, daß die gesamte Belegschaft übernommen wird.«

Corinna atmete hörbar auf.

»Der Grund, weshalb ich mit Ihnen zuerst über den Verkauf spreche ist, weil Sie auch mit dem neuen Besitzer am meisten zusammenarbeiten werden.«

»Und… haben Sie bereits einen Käufer gefunden?« fragte sie zaghaft.

»Ja, am Wochenende haben der neue Besitzer und ich die Verträge unterzeichnet. Glauben Sie mir, mein ganzes Herz hängt an dem Betrieb, aber wenn die Pumpe nicht mehr mitspielt…«

Corinna brachte ein klägliches Lächeln zustande. Ihr gefiel es ganz und gar nicht, künftig unter einem anderen Chef zu arbeiten – doch war dies immer noch besser, als ihre Stelle zu verlieren.

»Michael Kirschner ist ein guter Geschäftsmann, und ich bin sicher, er wird den Betrieb in meinem Sinne weiterführen. Sein Vater besaß vor Jahren selbst eine eigene Produktionsfirma, und Herr Kirschner hat alles von der Pike auf gelernt. Ich bin überzeugt davon, daß meine Mitarbeiter mit ihm zufrieden sein werden. Er ist noch sehr jung und dementsprechend dynamisch – und wird besonders bei den Damen beliebt sein. Sicherlich werden Sie von Ihren Kolleginnen beneidet werden, Herr Kirschners Sekretärin zu sein.«

Corinna wußte, daß Karl Fleige sie trösten wollte, und nickte zustimmend. »Wann werden Sie es den anderen sagen?«

»Heute nach der Mittagspause. Bitte geben Sie an alle Abteilungen weiter, daß sich alle Mitarbeiter in der Halle treffen – und bitte erwähnen Sie vor niemandem die Neuigkeit. Ich halte es nämlich für das beste, wenn die Leute es von mir persönlich erfahren. Erstens bin ich ihnen dies schuldig und zweitens möchte ich eine Panik vermeiden. Sie wissen ja selbst, wie das ist, wenn man nur die Hälfte mitbekommt.«

»Natürlich.« Corinna erhob sich. »Wird der neue Besitzer auch da sein?«

»Nein, er wird den Betrieb nächste Woche übernehmen. Bis dahin müssen Sie leider noch mit mir altem Kauz vorlieb nehmen.« Er lächelte wehmütig.

Mit gesenktem Kopf verließ Corinna das Chefbüro. Karl Fleige war mehr als ein Vorgesetzter für sie, er hatte sich oft genug als väterlicher Berater erwiesen. Wie mochte wohl der neue Besitzer sein?

*