Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Dank

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Miriam Rademacher

 

 

Banshee Livie

Band 1: Dämonenjagd für Anfänger

 

 

Fantasy

 

Banshee Livie (Band 1): Dämonenjagd für Anfänger

So hat sich Livie ihren Tod nicht vorgestellt. Sie bekommt einen Job, der aus Heulen und Scharade besteht, einen altklugen Kollegen mit sexy Stimme, aber ohne Gesicht und eine staubige Dachkammer ohne Internetanschluss. Livie ist jetzt die Banshee von Schloss Harrowmore und hat in ihrer Rolle als Schutzgeist die Aufsichtspflicht über eine der tollpatschigsten Familien Englands. Als dann auch noch ein nachtragender Dämon auftaucht, um eine uralte Rechnung zu begleichen, ist Livies Tod endgültig aufregender als es ihr Leben jemals war.

 

 

Die Autorin

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasy-Romane, Krimis und ein Kinderbilderbuch veröffentlicht.

www.sternensand-verlag.ch

info@sternensand-verlag.ch

 

1. Auflage, Oktober 2017

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2017

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Martina König

Satz: Sternensand Verlag GmbH

Druck und Bindung: Smilkov Print Ltd.

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-906829-55-5

ISBN (E-Book): 3978-3-906829-54-8

 

 

 

 

Dieses Buch ist jenen gewidmet,

die jetzt mit einem Lächeln an mich denken.

Ich euch auch.

 

Prolog

 

Eine Nacht in England vor mehr als tausend Jahren

 

Die prächtige Halle von Schloss Harrowmore glich einem Trümmerfeld. Die einst geschmackvoll arrangierten Möbel sammelten sich wie Treibgut an den steinernen Wänden. Zwischen geborstenen Bänken ragten die vier hölzernen Beine eines Tisches empor und erinnerten an Zahnstocher auf einer Käseplatte. Zwei Fenstertruhen hatten sich zu einem bizarren Gebilde aufgetürmt und in der hintersten Ecke schwellte ein zusammengeschobener Teppich.

Kaum etwas in diesem Raum schien die letzten Minuten unbeschadet überstanden zu haben.

Eine Handlaterne, die Badria hoch über seinen Kopf hielt, warf als letzte Lichtquelle ihren zitternden Schein auf den kahlen Stein des Fußbodens.

Nur wenige Schritte von ihm entfernt entdeckte er Helenas weiß gekleidete Gestalt regungslos auf dem kalten Boden, das Gesicht von ihm abgewandt.

Atmete sie? Fast glaubte er, das Heben und Senken ihres Brustkorbes sehen zu können. Doch bevor das Gefühl der Erleichterung ihn überkommen konnte, regte sich das Etwas zu seinen Füßen.

Angewidert senkte Badria den Blick. Ghorm, oder vielmehr das, was von ihm noch übrig war, schaute aus triefenden gelben Augen zu ihm auf. Die Haut seines Gesichtes, angeschwollen und rot, schien sich aufzulösen. Bläschen waren auf Wangen und Stirn erschienen, die zerplatzend nässende Krater in der Haut zurückließen. In ihnen klebten Strähnen seines blonden Haares.

Auch sein Körper veränderte sich zusehends. Die zu Klauen verformten Hände stützten sich zitternd auf dem Steinboden ab. Sein schwarzer Radmantel verhüllte gnädig seine gekrümmte Gestalt und war gleichzeitig ein Rest der Eleganz, mit der Ghorm kurz zuvor siegessicher in diese Halle getreten war.

Er rang nach Atem. »Du wirst diesen Abend bis an das Ende aller Zeiten bereuen, Druide«, ächzte er und richtete sich langsam vor dem Mann in der grob gewebten Kutte auf.

Badria war nicht mehr jung. Das lange, im Nacken zu einem Knoten geschlungene braune Haar zeigte erste graue Strähnen. Das Leben hatte den Druiden viel gelehrt, doch auf Momente wie diesen war er nicht vorbereitet worden. Um Ghorm in die Schranken zu weisen, hatte er ein unkontrollierbares Inferno heraufbeschworen und noch immer lagen der Geruch von Schwefel und flirrender Staub in der Luft.

Ghorm atmete schwer, als er fortfuhr. »Nur ein Druide, ein eichenkundiger Mistelzupfer, und du wagst es, dich mir in den Weg zu stellen? Wagst es, meine Pläne zu durchkreuzen? Glaube nicht, dass ich dir das jemals vergesse, Badria.«

Der Druide war sich bewusst, dass Ghorm vor seinen Augen zerfiel. Voller Abscheu erwiderte er: »Hast du wirklich geglaubt, ich würde brav mit ansehen, wie du sie zugrunde richtest? Ich habe dich gewarnt. Hast du das vergessen? Jetzt bereue du lieber, solange du noch Zeit dafür hast. Dein Leben neigt sich erkennbar dem Ende zu.«

Speichel floss Ghorm über die hängenden Mundwinkel. Er wischte ihn mit seinen Klauen beiseite. Immer schwerer schien es ihm zu fallen, seine Worte deutlich zu formulieren. »Dieses Leben … Mag sein, dass es hier endet. Doch andere werden folgen und ich werde dich finden. In jeder Zeit, in jedem Leben werde ich dich finden, und dann werde ich mit dir abrechnen! Ich nehme dir diesen Tod ausgesprochen übel, Druide.«

Ein Lächeln bar jeder Freundlichkeit zuckte über Badrias Gesicht. »Ich mache es dir leicht. Ich bleibe dem Blut treu. Wann immer du mich suchst, komm hierher. Ich werde Harrowmore zu meinem Heim machen. Denn Helena und ich werden heiraten.«

Schmerzhaft zog sich seine Kehle bei diesen Worten zusammen. Hatten Helena und er wirklich noch eine Zukunft? Doch Badria wollte jetzt nicht daran zweifeln, dass sie überlebt hatte. All das hier musste einen Sinn gehabt haben. Es musste!

Er straffte die Schultern und fuhr mit fester Stimme fort: »Was auch immer du von ihr übrig gelassen hast, sie wird meine Frau. Und wir werden dieses gemeinsame Leben genießen. Sobald du durch diese Tür hinausgekrochen bist.«

Es war der pure Hass, der Ghorms Gesichtszügen das letzte bisschen Menschlichkeit raubte. Von Wut geschüttelt, bäumte sich das Wesen noch einmal zur vollen Größe auf. In diesem Moment überragte er den Druiden um Haupteslänge und stürzte sich auf ihn. Doch dieser hatte den Angriff erwartet.

»Ja, komm nur, Ghorm, komm nur! Lass es uns zu Ende bringen!«, schrie Badria und warf dem Unhold die brennende Laterne direkt in sein deformiertes Gesicht.

Glas, so dünn wie Papier, zersplitterte, Funken stoben und ölgenährte Flammen leckten über Haut und Stoff. Ghorm schrie auf und presste sich die Klauen auf sein abstoßendes Antlitz. Mit dem Rest seiner schwindenden Kraft riss er sich den brennenden Mantel von den Schultern und taumelte an Badria vorbei zum Ausgang.

Er ertastete einen der schweren eisernen Ringe im Holz, riss die hohe Eingangstür auf, wankte hinaus in die Nacht und verschwand im Nebel.

Badria ließ ihn gehen. Ghorm und sein Schicksal bedeuteten ihm nichts mehr. Er hatte den Kampf um Helena gewonnen.

Er wandte sich dem noch schwelenden Mantel und den brennenden Überresten der Laterne zu seinen Füßen zu und trat beides aus. Nun lag die Halle von Harrowmore im Dunkeln.

Ein blasser Streifen Mondlicht, der durch die offene Eingangstür hereinfiel, würde Badria bis zur Dämmerung genügen müssen. Doch heute Nacht brauchte er den Weg bis zu seiner armseligen Hütte unter der Eiche nicht durch das Dunkel zu finden. Er würde hierbleiben. Bei Helena. Heute und in allen Nächten, die noch folgen würden.

Noch immer lag sie still auf dem kalten Steinboden. Er tastete sich zu ihr hinüber, ließ sich auf die Knie herab und griff zögernd nach ihren schmalen Schultern. Deutlich fühlte er die Wärme ihrer Haut und hörte ihren regelmäßigen Atem.

Alle Anspannung fiel von ihm ab. Helena würde leben. Und was immer Ghorm ihrem Körper angetan hatte, der Druide würde es ertragen können und hoffte, dass auch sie es konnte.

Er zog sie in seine Arme und wartete. Wartete auf die Dämmerung, bis er ihr ins Gesicht blicken konnte.

Kapitel 1

 

England, an einem Herbsttag im Jahre 2017

 

Nun komm schon, Livie! Wir sind gleich da!«

Ich konnte nur stumm nicken. Seit Stunden folgte ich meiner Tante Ethel über morastige Wirtschaftswege immer tiefer ins urwüchsige Großbritannien. In den Teil des Landes, wo Straßen kaum so breit wie ein einzelner Wagen waren und wo sich hinter niedrigen Mauern aus Feldsteinen die Natur in variantenreichem, aber langweiligem Grün präsentierte. In jenen Teil des Landes, wo die meisten Einwohner vier statt zwei Beine hatten.

Wieder einmal.

Seit nunmehr acht Jahren ließ ich mich von Tante Ethel während unseres gemeinsamen Herbsturlaubs zu den ›echten Spukorten‹ unseres Landes verschleppen. Wir hatten schon die ›Mühle von Willington‹ besucht, ohne Opfer einer Poltergeistattacke zu werden, hatten am ›Silent Pool‹ in Surrey gestanden, wo Prinz Johann zwei unschuldige Kinder getötet hatte, und waren über die Ruine des ›Borley Anwesens‹, des gespenstischsten Platzes Englands, getrampelt.

An all diesen Orten erlebte ich nun schon seit Jahren exakt das Gleiche: Tante Ethel rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn in der Gegend herum und atmete ›magische Kräfte‹, und ich stand wie eine Idiotin daneben und sehnte mich nach ›fish and chips‹.

Niemals, wirklich niemals war ich an einem dieser verfluchten Plätze einem Gespenst begegnet. Tante Ethel natürlich auch nicht, aber hinterher schwor sie stets Stein und Bein, dass sie die Magie dieser Orte gespürt, aufgesogen und verinnerlicht hatte. Es war nicht immer leicht mit Tante Ethel.

Dieses Mal hatte es uns beide in ein winziges Kaff nahe der schottischen Grenze verschlagen. Natürlich hatte Tante Ethel die Reiseroute festgelegt und mich wie jedes Jahr vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie hatte mich einfach während der Arbeitszeit in meinem Büro angerufen, weil sie ganz genau wusste, dass ich dort weder Zeit noch Ruhe hatte, um größere Einwände zu erheben.

Seit zwei Jahren arbeitete ich für dieselbe Futtermittelfabrik. Es war ein freudloser Job zwischen Aktenordnern und Telefon, der mich nicht ausfüllte. Den Wechsel der Jahreszeiten konnte ich daran festmachen, mit welchem Rohstoff mir die Aussicht zugeschüttet wurde, da die Lieferanten sich einen Spaß daraus machten, die noch feuchte Ernte direkt vor meiner einzigen Lichtquelle zum Trocknen aufzuhäufen.

Mais hatte verhindert, dass ich mein Büro lüften konnte, als Tante Ethel mir am Telefon von einer Druideneiche erzählt hatte. Das Geheimnis habe sie einem Besoffenen in einem Londoner Pub entlockt.

Einer was bitte? Aber gut, liefen wir eben ein bisschen durch die schottische Landschaft. Frische Luft und Bewegung konnten meiner Figur und meinem Teint nur guttun und schließlich ging es hier ja nicht nur um mich. Die Hauptsache war es doch, Tante Ethel vor Glück strahlend erleben zu dürfen.

»Oh Livie, sieh nur! Das da vorn muss sie sein!«

Olivia heiße ich. Doch das hatte Tante Ethel noch nie wirklich interessiert. Seit meinem fünfzehnten Geburtstag vor vier Jahren versuchte ich, ihr klarzumachen, dass ich mich den freundlich gemeinten Verstümmelungen meines Vornamens entwachsen fühlte. Bisher jedoch ohne nennenswerten Erfolg.

Tante Ethels dürre Gestalt hatte etwa zweihundert Meter vor mir eine Vollbremsung hingelegt. Der Wind zerrte an ihren rot gefärbten Haaren, als sie mit dramatischer Geste auf einen Baum in der Mitte eines abgeernteten Kornfeldes deutete.

Toll. Hoffentlich war’s wenigstens eine Eiche, das hob die Chancen, rechtzeitig zum Abendbrot wieder in unserem schmuddeligen Gasthaus zu sitzen.

»Tante Ethel? Sind dir eigentlich die dicken schwarzen Wolken da hinten aufgefallen? Vielleicht solltest du der Drudeneiche schnell allein einen Besuch abstatten, bevor das Unwetter über uns hereinbricht. Ich warte hier auf dich, dann geht es schneller. Ich bin ja doch viel langsamer als du.«

Tante Ethel war mit ihren knapp sechzig Jahren nahezu unverschämt fit. Sie hängte mich schon mein ganzes Leben lang locker ab, während ich mich stets bemühen musste, sie nicht aus den Augen zu verlieren oder am Wegesrand zu kollabieren.

»Ach Herzchen, natürlich kommst du mit mir. Das Unwetter zieht gar nicht in unsere Richtung, glaub mir. Außerdem ist es eine Druideneiche und keine Drudeneiche, Süße.«

Ich schnaufte gottergeben und fügte mich in das Unvermeidliche. Tante Ethel folgend, verließ ich den Weg und nur Augenblicke später versanken meine Turnschuhe schmatzend im feuchten Ackerboden.

Ich fluchte innerlich. Warum um alles in der Welt musste ausgerechnet meine Tante so ein verrücktes Hobby haben? Was versprach sie sich davon? Gut, sie behauptete, die Magie dieser Orte körperlich spüren zu können. Sie glaubte fest daran, die Besuche dort würden ihre Aura aufladen. Aber was genau war eigentlich eine Aura?

Ich seufzte und hielt den Kopf gesenkt, um mein Gesicht vor dem aufkommenden Wind zu schützen.

»Wenn du ein, zwei Kilo abnehmen würdest, Livie-Maus, würden dir unsere Wanderungen auch nicht so zusetzen und du könntest das alles hier mehr genießen.«

»Ich habe schwere Knochen, Tante Ethel.«

»Natürlich, Liebes. Die hast du von deiner Mutter geerbt. Ich kenne keinen Menschen, der so schwere Knochen hatte wie deine Mutter. Kein Wunder, dass sie ertrunken ist.«

An dieser Stelle ist wohl eine Erklärung angebracht.

Tante Ethel war gar nicht meine richtige Tante. Zumindest waren wir nicht blutsverwandt. Sie war meine Patentante, die beste Freundin meiner verstorbenen Mutter. Seit dem Tag, an dem meine Mutter bei einem Tauchausflug zu berühmten Schiffswracks vor der schottischen Küste einfach nicht mehr aufgetaucht war, hatte Tante Ethel meine Erziehung übernommen.

Sie und meine Mutter waren ein Leben lang füreinander da gewesen. Mama hatte Händchen gehalten, als Tante Ethels Eltern schnell nacheinander verstarben, und Tante Ethel hatte meine Mutter getröstet, als mein Erzeuger mit der Blondine von nebenan verschwand. Die beiden Frauen hatten von Kindesbeinen an aneinandergeklebt, nur tauchen war meine Mutter ohne Tante Ethel gegangen.

Mama hatte das Tauchen geliebt. »Unter Wasser ist der einzige Ort, wo endlich mal alle die Klappe halten, Livie«, hatte sie immer zu mir gesagt. Na ja, wenn man Tante Ethel zur besten Freundin hatte, konnte das Bedürfnis nach Ruhe schon mal eigenartige Blüten treiben.

Als meine Mutter dann einfach nicht mehr aufgetaucht war, damals war ich zwölf, hatte Tante Ethel wie selbstverständlich all ihre Aufgaben und Pflichten übernommen. Heute war sie die einzige Familie, die ich kannte. Sie hatte mich durch die Schulzeit begleitet, war mein seelischer Beistand beim ersten Liebeskummer gewesen und mein einziger Halt während der trostlosen Weihnachtsfeiertage.

Ich war immer ein unsicherer Teenager gewesen und Tante Ethels Art von Komplimenten hatte daran nicht wirklich etwas ändern können. Sie behauptete stets, ich entspräche exakt dem weiblichen Schönheitsideal, nur eben nicht dem aktuellen.

Tatsächlich glich ich einem Stummfilmstar. Ich hatte ein rundes Gesicht mit Puppenaugen, Knopfnase und Staunemund, umrahmt von aalglatten schwarzen Haaren. Dabei hätte ich so gern hohe Wangenknochen und ein Profil gehabt, das diesen Namen auch verdiente.

Mit vierzehn war ich bemüht gewesen, aus der Not eine Tugend zu machen. Doch als mein erster Schwarm meinte, ich würde ihn an Betty Boop erinnern, jene kurvenreiche schwarz-weiße Cartoonfigur der frühen Dreißiger mit Kulleraugen und rutschendem Strumpfband, schloss ich die Lippen, gewöhnte mir wieder an, zu blinzeln, und ließ die Haare auf Schulterlänge wachsen.

Welches junge Mädchen wollte schon mit einer Comicfigur verglichen werden? Außer vielleicht mit Wonder Woman. Wonder Woman wäre extrem in Ordnung gewesen.

Auch die Mode stellte mich immer wieder vor unlösbare Probleme, denn die üppigen Kurven und den kleinen Bauchansatz hatte ich ebenfalls von so mancher Schwarz-Weiß-Diva übernommen. Das ließ sich zwar in formlosen Matrosenkleidchen und Charleston-Hängerchen gut kaschieren, doch die Hüfthosen und Hotpants meiner Epoche blieben eine Herausforderung.

Schnell hatte ich mich zeitlebens für Jeans und Blusen entschieden, fest davon überzeugt, dass die wahre Liebe mich auch in einem Mehlsack erkennen würde.

Doch inzwischen begann ich zu fürchten, dass meine große Liebe bereits blind an mir vorbeigehastet sein musste. Inzwischen hätte ich mich sogar mit einer dritt- oder viertklassigen Liebe arrangiert, doch selbst die ließ auf sich warten. So war Tante Ethel noch immer meine einzige Familie.

Gerade näherte sie sich tanzend der Eiche und summte unverständliches Zeug. Dann rief sie: »Oh ja! Spürst du es, Livie? Spürst du die Macht der Erde und die Kraft des Baumes? Hier haben die Druiden ihre magischen Rituale abgehalten! Ich fühle es!«

»Na großartig, Tante Ethel. Können wir dann umdrehen? Das Gewitter, das nicht in unsere Richtung ziehen wollte, ist seltsamerweise gleich hier. Es grummelt schon ziemlich laut und ich glaube, ich habe gerade einen Tropfen auf die Nase bekommen!«

Das war nicht gelogen. Tatsächlich war der Tag inzwischen so finster wie ein Kellerloch, dank der gewaltigen Wolkenberge, die den Himmel verdunkelten. Der Wind riss so heftig an mir, dass ich meine eigenen Worte, die ich meiner Tante entgegenbrüllte, kaum noch verstehen konnte.

Doch Tante Ethel hatte zu singen und zu klatschen begonnen, umarmte den alten Baum und hopste übermütig auf mich zu. »Komm, Livie-Schatz! Spüre die Magie! Kannst du sie fühlen?«

Immer wenn meine Tante diese Worte zu mir sagte, gab ich mir wirklich Mühe. Ich lauschte in mich hinein, ich schnüffelte wie ein Hund in der Luft herum, doch nein, ich spürte nichts. Keinen Funken Magie, keine Aura, keine Geister, gar nichts.

Aber um Tante Ethel eine Freude zu bereiten und schnell wieder ins Trockene zu kommen, rief ich mit gespielter Begeisterung: »Oh ja, Tante Ethel! Ich glaube, ich kann es spüren. Wahrhaftig! Echt magisch! Glaubst du, wir brauchen lange, bis wir wieder bei unserem Mietwagen sind?«

Ich war nicht überzeugend genug gewesen. Tante Ethel sah mich misstrauisch an und schüttelte traurig ihr krauses Haupt. »Livie-Hase, an einem Ort wie diesem solltest du besser nicht lügen. Man weiß nie, was da passieren kann.«

Ich heuchelte ein reuevolles Lächeln. Nie hatte ich versucht, meine Tante davon zu überzeugen, dass es keine magischen Kräfte oder Geistwesen gab. Ich akzeptierte ihre Eigenarten. Zähneknirschend zwar, aber ich akzeptierte sie. Und das aus einem einfachen Grund: Tante Ethel akzeptierte auch die meinen. Sie gab sich immer noch mit einer Patentochter ab, die in etwa die gleiche Spiritualität aufbrachte wie ein Frühstücksbrötchen.

Wie um Tante Ethels Warnung zu unterstreichen, grollte nun ein langer Donner und ein Blitz zerriss mit seinem grellen Licht die schwarzlila Dunkelheit über unseren Köpfen, auf den ein weiterer Donner folgte.

»Okay, Tante Ethel. Ich lüge nie wieder an einem magischen Ort, aber lass uns jetzt bitte gehen! Ich kriege langsam Angst.«

»Gewitter muss man nicht fürchten, Prinzessin. Das sind nur elektrische Entladungen.«

»Ich fürchte mich aber vor elektrischen Entladungen!«

»Dann betrachte es als Naturschauspiel, Liebes. Sieh nur, was die Elemente alles für dich inszenieren.«

»Vielen Dank, ich verzichte. Lass uns bitte endlich gehen!«

»Olivia Eleanor Emerson! Bei Gewitter läuft man nicht übers freie Feld. Hat man dir das auf deiner Schule nicht beigebracht?«

Offensichtlich waren meiner Tante soeben die albernen Kosenamen für mich ausgegangen. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie der Welt der Mythen und Sagen für eine kurze Weile den Rücken zugekehrt hatte, um mich in der Wirklichkeit zu besuchen.

Wie schön.

»Aber wir müssen über das freie Feld! Es gibt keinen anderen Weg zu unserem Auto. Und ein Auto ist bekanntlich der sicherste Ort bei Gewitter.«

»Unter Bäumen ist man auch geschützt, Kind. Und unter diesem speziellen Baum wird uns sicher kein Leid geschehen.«

»Irgendwie glaube ich nicht so recht, dass ein paar olle Druiden, die seit Ewigkeiten tot sind, uns beschützen können.«

Tante Ethel seufzte und sah mich traurig an. »Eines Tages, meine liebe Olivia, wirst du dir wünschen, es gäbe etwas mehr Magie in deinem Leben. Was willst du deinen Kindern denn in diese Welt mitgeben? Reine Realität ist doch nicht mehr als trocken Brot für die Seele.«

Tante Ethel brachte gern bei allen möglichen Gelegenheiten meine noch ungeborenen Kinder ins Spiel. Und das, obwohl ich sie schon einige Male darüber aufgeklärt hatte, dass Kinder üblicherweise nicht vom Himmel fielen. Doch sie lächelte mich dann stets nur auf eindringliche Weise an und erinnerte mich daran, dass sie keinen Mann gebraucht hatte, um an eine Tochter wie mich zu geraten. Darauf erwiderte ich nichts mehr. Auch ich hatte ja die Hoffnung auf die große Liebe noch nicht aufgegeben.

Vielleicht war mein Held wirklich nur aus Versehen in der Rush Hour an mir vorbeigehechtet und es gab ihn wirklich. Vielleicht würde ich eines Tages Kinder haben und im Gegensatz zu Tante Ethel selbst bekommen dürfen.

Möglich war es natürlich. Aber hier und zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir das absolut nicht vorstellen. Zumal erneut ein greller Blitz aufleuchtete und der Donner gleichzeitig wie ein Bergrutsch durch die Wolken polterte.

»Tante Ethel? Im Volksmund heißt es, Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen. Das hier ist eine Eiche.«

»Also das ist wirklich ein blöder Aberglaube, Olivia. Eine Statistik hat zweifelsfrei ergeben, dass Eichen nicht häufiger vom Blitz getr…«

Und dann erzitterte die Erde unter meinen Füßen, grellblaues Licht zuckte vor meinen Augen und irgendjemand schrie.

Ich? Tante Ethel?

Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich mich inmitten dieses blauen Lichtes befand und einen seltsamen metallischen Geschmack im Mund hatte. Dann wurde alles dunkel um mich herum und jemand rief meinen Namen.

Doch ich konnte nicht antworten. Es war, als hätte ich vergessen, wie man Wörter bildet. Dann wurde das Rufen durch das Brausen des Windes übertönt und ich versank immer tiefer in der alles verschlingenden Dunkelheit.

 

Kopfschmerzen. Ich hatte unglaubliche Kopfschmerzen. Was immer passiert war – und irgendetwas war mit Sicherheit passiert –, es hatte mir nicht gutgetan.

Wo war ich? Lag ich in einem Krankenhaus? Hatte ich einen Unfall gehabt? Konnte ich es riskieren, ein Auge zu öffnen, oder würde das Licht der Welt meine Kopfschmerzen in neue Dimensionen treiben?

Spontan entschied ich mich für ein leises Stöhnen. Wenn irgendwo da draußen eine mitfühlende Seele an meinem Krankenbett saß, gab ihr das die Gelegenheit, meine Hand zu ergreifen und ein paar beruhigende Worte in mein Ohr zu flüstern. So etwas wie: »Alles wird gut, Olivia. Die besten Chirurgen Englands bemühen sich darum, dein Gesicht zu rekonstruieren.«

Nein, lieber doch nicht. Das wäre kein besonders beruhigender Text.

Besser wäre: »Livie! Was hast du nun schon wieder angestellt?«

Ja, was hatte ich denn angestellt?

Ich war mir keiner Schuld bewusst. War ich, ohne zu gucken, über eine Hauptverkehrsstraße gerannt und von einem Linienbus gerammt worden? War ich beim Rauchen von Tante Ethels Balkon gefallen?

Tante Ethel.

Vage stieg eine Erinnerung in mir hoch. Tante Ethel tanzend und singend auf einem matschigen Acker. Tante Ethel, die mit der kratzigen Rinde eines alten Baumes schmuste.

Ethel, Baum, Gewitter, Blitz.

Die einzelnen Gedanken bildeten eine Kette, an deren Ende die Antwort auf alle Fragen lauerte.

War ich etwa vom Blitz getroffen worden?

Ein kühler Luftzug ließ mich frösteln und ich fragte mich, ob in diesem Krankenhaus kuschelige Decken Mangelware waren. Sollte ich nicht warm und wohlig in einem Bett auf meine Genesung warten? Warum war es hier so lausig kalt?

Auch mit dem Laken schien irgendetwas nicht zu stimmen. Es war gar nicht glatt! Und es kitzelte an den Ohren! Handelte es sich überhaupt um ein Bettlaken?

Probeweise bewegte ich ein paar Finger und stellte erfreut fest, dass ich dabei keinen Schmerz empfand.

Mit noch immer fest geschlossenen Augen tastete ich nach einem Klingelknopf für die Krankenschwester, den eine umsichtige Pflegerin sicher in Reichweite meiner Arme deponiert hatte. Doch alles, was ich zu fassen bekam, waren Blätter und Grashalme.

Irritiert runzelte ich die Stirn. Das Klopfen hinter selbiger nahm zu, doch es half nichts.

Ich musste es riskieren.

Langsam, ganz langsam, öffnete ich das rechte Auge.

Schwarz hoben sich die kahlen Äste der Druideneiche vom blauen Nachthimmel ab. Hatte sie nicht vor dem Gewitter noch braunes Herbstlaub getragen?

Was zur Hölle war hier geschehen?

Der Schreck, der mir beim Anblick des Nachthimmels in die Glieder gefahren war, brachte mich augenblicklich zur Besinnung. Ich riss beide Augen auf, schnappte nach Luft und hob den Kopf.

Das war ein böser Fehler. Wie ein Feuerwerk explodierte der Schmerz direkt hinter Stirn und Augen.

Was war hier los? Warum hatte man mich hier liegen gelassen? Wo war Tante Ethel? War sie verletzt?

Beide Hände an den pochenden Schädel gepresst, richtete ich mich halb auf. Da hörte ich in unmittelbarer Nähe die dunkle Stimme eines Fremden. »Das wurde aber auch Zeit.«

»Wer sind Sie?«, presste ich hervor und schloss erneut vor Schmerz die Augen. »Sind Sie mein Arzt?«

Ein leises, überaus angenehm klingendes Lachen war die Antwort. »Du brauchst keinen Arzt, Olivia. Vertrau mir.«

»Warum sollte ich das tun?«, antwortete ich und legte so viel Selbstbewusstsein, wie ich unter diesen Umständen zusammenkratzen konnte, in den Klang meiner Stimme.

Wie kam der Kerl darauf, dass ich keinen Arzt brauchte? Schließlich fühlte sich meine Schädeldecke so an, als wollte sie sich unerlaubt vom Rest meines Kopfes entfernen! War er ein Verrückter, der mich entführt hatte? Und wenn ja, hatte er eine Aspirintablette?

»Mein Kopf tut so unglaublich weh.«

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als sich eine angenehm kühle Hand in meinen Nacken legte. Ich hielt inne und genoss dieses unerwartet gute Gefühl.

»Besser so?«, fragte der Fremde und ich brauchte einen Augenblick, um festzustellen, dass es tatsächlich besser war. Sehr viel besser sogar. Außerordentlich besser.

Ich wandte mich dem Wunderknaben mit den heilenden Händen und der angenehm männlichen Stimme zu. Ein Aufschrei des Entsetzens entfuhr mir. Neben mir im Gras saß eine Art Mönch, gekleidet in eine Kutte von der Farbe getrockneten Blutes, die Kapuze so tief in die Stirn gezogen, dass ich kein Gesicht erkennen konnte.

»Wer zur Hölle sind Sie? Und wo ist meine Tante?«

»Fort«, sagte die Kapuze neben mir und schien auf einen Punkt irgendwo weit entfernt in der Dunkelheit zu starren.

»Fort? Was soll das heißen, fort? Holt sie Hilfe? Sollen Sie bei mir wachen?«

»Nein.«

»Nein? Was, nein?«

Die Kutte seufzte ungeduldig. »Deine Tante ist fort. Sie kommt nicht wieder. Sie holt keine Hilfe. Du brauchst keine Hilfe.«

»Aber Sie brauchen vielleicht Hilfe, guter Mann. Meine Tante würde mich doch niemals einfach hier liegen lassen und abhauen!«

Entrüstet starrte ich den Fremden an und neigte den Kopf, um einen Blick unter seine Kapuze werfen zu können. Doch er, meine Absicht erahnend, wandte den Kopf von mir ab.

»Hat sie auch nicht.«

»Nein?«

»Sie hat dich begraben.«

Ich schwieg verblüfft. Konnte es sein, dass Tante Ethel mich in der Obhut eines Geisteskranken zurückgelassen hatte? Ich überlegte. Ja, das konnte definitiv sein. Sicher war es das Beste, den Fremden nicht zu reizen.

»Begraben, ja? Tja, dann ist wohl alles in Ordnung. Dann werde ich besser mal nach Hause gehen. Vielen Dank fürs Aufpassen und nichts für ungut. Wir sehen uns bestimmt noch mal. Irgendwann.«

Bei diesen Worten war ich langsam von einer sitzenden in eine stehende Position gewechselt und schickte mich an, zu gehen. Fast erwartete ich, dass der Kuttenknilch mich aufhalten würde, doch nichts geschah. Er blieb einfach im Gras sitzen.

Nach einigen zögerlichen Rückwärtsschritten drehte ich mich um und rannte quer über das Feld dem Wirtschaftsweg entgegen, über den Tante Ethel und ich gekommen waren.

Bodennebel waberte gespenstisch um meine Füße und ein blasser Halbmond beleuchtete die unheimliche Szenerie. Kalte Herbstluft kroch mir unter die klammen Kleider. Immer mehr hatte ich das Gefühl, Tage und Wochen des Herbstes unter dieser Eiche verbracht haben zu müssen. Die letzte Wärme des Spätsommers war genauso verschwunden wie das goldbraune Laub des Eichenbaumes hinter mir.

Bald hatte ich den Weg erreicht und rannte wie gehetzt durch die breiten Spurrillen. Eigentlich war ich immer extrem unsportlich gewesen, doch ich wollte schnellstmöglich fort von diesem Ort und der Kutte. Nur weg.

Nach einigen hundert Metern ging mir die Puste aus. Keuchend blieb ich stehen und sah mich um.

Keine Spur von dem Auto, mit dem Tante Ethel und ich hierhergekommen war. Natürlich nicht. Bestimmt hatte Ethel es mitgenommen. Schließlich wollte sie auf dem schnellsten Weg Hilfe für mich holen!

Etwas langsamer trabte ich weiter.

Wie weit war die Landstraße entfernt? Und wenn ich sie erreichte, würde ich ein Auto anhalten können? Fuhren hier nachts Autos? Oh bitte, lieber Gott: Lass diese einsame Landstraße ein Geheimtipp für Alkoholsünder am Steuer sein. Ein beliebter Schleichweg. Ich will hier einfach nur weg!

Keine Viertelstunde später hatte ich eine befestigte Straße erreicht, die einsam und verlassen in der Dunkelheit lag. Ratlos sah ich nach links und rechts. Wohin sollte ich mich wenden?

Da hörte ich plötzlich ein Motorengeräusch näher kommen und über eine Anhöhe schoben sich die Scheinwerfer eines Fahrzeugs.

Ich jubelte laut auf: »Ja! Rettung! Hier bin ich!«

Ich sprang auf die Mitte der Fahrbahn und ruderte mit beiden Armen. Doch das Auto hielt unverändert auf mich zu.

»Hallo? Anhalten, bitte! Hallo!«

Mit einem Sprung zur Seite rettete ich mich vor dem Rover in einen Graben. Der Fahrer hatte nicht mal leicht abgebremst.

»So wird das nichts.«

Ich wirbelte herum. Hinter mir hob sich gegen den dunklen Nachthimmel die schwarze Silhouette des unheimlichen Mönchs ab. Stehend war er gut einen Kopf größer als ich und wirkte wie eine Gestalt aus einem alten Gruselroman.

»Ach ja?«, fauchte ich nun eher wütend als ängstlich. »Und wie, bitte, wird es was?«

»Du musst dich konzentrieren. Spann deinen Hintern an und balle die Fäuste. Sonst kann er dich nicht sehen.«

Hatte die Kutte gerade wirklich über meinen Hintern gesprochen?

Egal.

In der Ferne erklang erneut das Motorengeräusch eines Fahrzeugs. Ein Kleinbus erschien auf der Anhöhe.

Ich warf dem merkwürdigen Fremden noch einen zweifelnden Blick zu und hüpfte erneut wie Rumpelstilzchen über den Asphalt.

»Konzentrieren und Muskeln anspannen, Livie!«

Der Wagen kam mit unverminderter Geschwindigkeit näher.

»Muskeln anspannen!«

Er bremste immer noch nicht.

»Livie! Tu, was ich sage!«

Da ballte ich die Fäuste und kniff den Hintern zusammen.

Fast augenblicklich quietschten die Bremsen des Kleinbusses. Jemand schrie. Dann wurde der Rückwärtsgang eingelegt und mein Retter verschwand genau in die Richtung, aus der er gekommen war.

»Du hast ihm Angst gemacht«, tönte die Kutte vom Straßenrand her. »Sehr gut. Das ist ein guter Anfang.«

»Ich verstehe das nicht«, flüsterte ich verwirrt, während ich weiter in die Richtung starrte, in die das Auto verschwunden war. »Wieso ist der Fahrer geflohen? Habe ich mich vielleicht in ein Monster verwandelt oder so was Ähnliches?«

»Eher so was Ähnliches.« Er legte den Kopf schief und schien meinem Blick zu folgen.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. »Aber ich muss zu meiner Tante! Ethel wird vor Sorge um mich sterben!«

Die Kutte seufzte. »Sie hat dich bereits begraben, Livie. Begraben und betrauert.«

»Mein Name ist Olivia. Ich bin eine erwachsene Frau von neunzehn Jahren und ich bin hier«, flüsterte ich trotzig und sah an mir herunter. Bluse, Jeans und Turnschuhe. Alles wie immer. Oder doch nicht?

Ich sah zur Kutte hinüber, die traurig ihre Kapuze schüttelte. »Nein, Livie. Das bist du nicht. Tut mir leid für dich.« Das Mitleid in seiner Stimme hielt sich in Grenzen.

Angst kroch mir den Rücken hinauf. »Ach, und wo bin ich dann, hm?«

»Für deine Tante liegst du unter einem Stein, der deinen Namen trägt. Sie hat dich neben deiner Mutter beisetzen lassen. Es war eine sehr stimmungsvolle Trauerfeier. Aber deine Seele blieb unter der Druideneiche zurück, als dein toter Körper in einem Zinksarg abgeräumt wurde. Du hast ziemlich lange gebraucht, um wieder ein Bewusstsein zu entwickeln. Ich habe darauf gewartet, dass du aufwachst.«

»Mein Körper liegt neben dem meiner Mutter? Bist du sicher?« Meine Angst und meine Verunsicherung wuchsen so sehr, dass ich jegliche Erziehung vergaß und ihn jetzt ebenfalls mit ›du‹ ansprach.

»Er ist nicht mehr wichtig. Diese Form deines Daseins hat geendet. Es ist vorbei.«

»Was ist vorbei?«

Doch ein Teil von mir wollte die Antwort auf diese Frage gar nicht hören.

»Dein Leben als Mensch. Das Leben als ungläubige Nichte, das Leben als ledige Büroangestellte ohne Perspektive. All das liegt hinter dir.«

Einen Moment lang war ich sprachlos. Und dann wurde ich wirklich wütend auf diesen unverschämten Kuttenträger, der meinte, mehr über mich zu wissen als ich selbst.

Demonstrativ stemmte ich die Hände in die Hüften. »Jetzt hör mir mal gut zu, du gruseliger Monstermönch! Ich weiß nicht, wer du bist und wie du dazu kommst, mich einfach ungefragt beim Vornamen zu nennen, aber ich weiß ganz genau, dass ich dir nicht ein Wort glaube!«

Wieder nahte ein Auto.

In meiner immer größer werdenden ohnmächtigen Wut schleuderte ich dem Fremden entgegen: »Ich bin also tot, ja?«

»Ja.« Er nickte mit Nachdruck.

»Mausetot?«

»Wenn du so willst.«

»Na, dann kann ich ja einfach hier auf der Straße stehen bleiben, wenn das Auto kommt! Ich bin ja schon tot!«

»Genau.«

»Und der Wagen wird nicht halten, nein? Wird er durch mich hindurchfahren, oder was?«

»Wenn du es so haben willst.«

Das Auto kam näher. Wieder erschienen die Lichtkegel zweier Scheinwerfer über dem Hügel.

Halb rasend vor Hilflosigkeit und Zorn, baute ich mich breitbeinig auf der Fahrbahn auf.

»Na, das wollen wir doch erst mal sehen«, stieß ich grimmig hervor und starrte in die herannahenden Scheinwerfer.

Gleich würde der Fahrer hupen.

Ich warf einen schnellen Blick auf die Kutte, die unbewegt am Straßenrand stand. Nein, der Kerl würde keinen Finger rühren, um mich von der Fahrbahn zu schubsen. Ich musste darauf vertrauen, dass der Fahrer kein volltrunkener Idiot war.

Wenn er es nicht war, dann musste er jetzt bremsen.

Jetzt.

Bremsen.

Oder zumindest ausweichen.

Ausweichen. Ausweichen!

Aus…

Mit einem leisen »Plopp« schob sich die Motorhaube in meinen Bauchnabel und kam auf der anderen Seite knapp über meinem Hintern wieder heraus. Ein leichtes Ziehen verriet mir, dass der Sportwagen durch mich hindurchgerast war und seinen Weg ungerührt über die Landstraße fortsetzte.

Ich blickte den roten Rücklichtern nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Ein Gefühl der Taubheit machte sich in mir breit. Dann setzte ich mich einfach dort, wo ich gerade stand, auf die Straße und begann zu weinen.

Ich weinte ziemlich lange. Ich weinte um mich. Um Tante Ethel und um meine wenigen Freunde. Ich weinte um meine Zweizimmerwohnung in Kensington und um meinen neuen Wintermantel, den ich nun nie würde tragen können.

Ich weinte so lange, dass meine Kopfschmerzen wieder aufzogen.

Erst als mir jemand sanft auf die Schulter klopfte, hob ich den Kopf.

Vor mir kniete der Kuttenkerl.

»Wir sollten reden«, sagte er und hielt mir eine blasse Männerhand hin, um mir beim Aufstehen zu helfen. Misstrauisch fixierte ich die schlanken Finger, die sich mir entgegenstreckten. Noch immer konnte ich unter der Kapuze nicht einmal die Spitze seiner Nase erkennen, doch wenn sein Gesicht seiner Stimme in nichts nachstand, musste er ausgesprochen attraktiv sein. Aber welcher attraktive Mann würde ein hübsches Gesicht unter einer überdimensionalen Wolltüte verbergen?

»Bist du der Tod?«

Er lachte sein melodisches Lachen. »Manchmal ja und manchmal nein. Das kommt ganz drauf an.«

»Worauf kommt es an?«

»Einzig und allein auf dich.« Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Darauf, wie gut du deinen Job machst, zum Beispiel.«

»Meinen Job?«

»Ja, Banshee. Deinen Job.«

Ratlos ruhte mein Blick auf der Kapuze. Wer oder was war eine Banshee?

Kapitel 2

 

Die Kutte und ich kehrten schweigend zur großen Eiche in der Mitte des Ackers zurück, wo ich erwacht war. Obwohl ich mir nicht ganz sicher war, ob man aus dem Tod überhaupt erwachen konnte. Möglicherweise sollte ich nicht vom Ort meines Erwachens, sondern vom Ort meiner Wandlung sprechen.

Ich seufzte. Alles war mir plötzlich fremd geworden. Die Welt um mich herum, die Worte, ja sogar ich selbst kam mir fremd vor. Wer war denn der fremde Mann unter der Kutte neben mir und wie würde es jetzt weitergehen?

Mir war so elend bei alledem, ich hätte schon wieder losheulen können.

Da schob sich eine blasse Männerhand aus dem Ärmel des rotbraunen Mönchsgewandes und ergriff meine. Sacht strich sein Daumen über meinen Handrücken und ich spürte, wie ich innerlich ganz ruhig wurde.

Misstrauisch geworden, zog ich meine Hand zurück. »Wie machst du das?«

»Was meinst du?«

»Du manipulierst mich, indem du mich berührst! Findest du das fair?«

»Fair? Es ist hilfreich, das ist alles.«

Enttäuschend. Für einen kurzen Moment hatte ich seine Berührung als zärtliche und verstehende Geste interpretiert. Stattdessen wurde hier unerlaubt auf meine Gefühlswelt zugegriffen. Unverschämtheit!

Auf der anderen Seite: Wer möchte schon von jemandem angeflirtet werden, dessen Gesicht er nicht kennt?

Ich versuchte, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Seine Berührung war angenehm gewesen, warum also nicht einfach nehmen, was ich kriegen konnte? Also hielt ich ihm meine Hand wieder hin. Was machte es schon, wenn ich manipuliert wurde? So mancher Mensch wurde es jeden Tag und genoss es auch noch.

Als wir die knorrige Eiche erreichten, sank ich ins feuchte Gras. All die neuen Eindrücke hatten eine Menge Kraft gekostet, und davon besaß ich auch jetzt nicht mehr als vor meinem Tod. Die Kutte ließ ihren großen und vermutlich ausgesprochen männlichen Körper neben mir ins Gras sinken und schwieg.

Nach und nach schwand das Dunkel der Nacht und machte dem unfreundlichen Grau eines frühen Tages Platz. Wie würde mein Dasein nun aussehen? Durfte ich mich noch von meinen Freunden und Tante Ethel verabschieden? Ach nein, für die war ich ja tot und bereits begraben. Was für ein Elend.

Erneut spürte ich Tränen in meinen Augen aufsteigen.

»Und was nun, Kutte?«, fragte ich schniefend. »Muss ich jetzt in meinen Sarg abdampfen, damit ich nicht zu Staub zerfalle?«

»Was nicht da ist, kann auch nicht zu Staub zerfallen.« Er wandte mir seinen Kopf zu. »Übrigens heiße ich nicht Kutte.«

»Sondern?«

»Nenn mich Walt. Das ist in Ordnung.«

Ich nickte. »Walt. Das klingt weder besonders teuflisch noch übernatürlich.« Und überhaupt nicht sexy, ergänzte ich in Gedanken.

Er zuckte mit den Schultern. »Livie ist auch nicht gerade der Brüller.«

»Ich heiße Olivia«, sagte ich, verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn an. »Und ich fände es nett, wenn mich wenigstens in diesem Leben jemand genau so nennen würde.«

Walt reagierte nicht, doch ich spürte fast körperlich das spöttische Zucken seiner Mundwinkel.

Ich konnte es nicht leiden, nicht ernst genommen zu werden.

»Also, Walt, was wird nun aus mir? Gibt’s hier in der Nähe vielleicht so eine Art Untotenwohngemeinschaft? Und was zum Henker ist jetzt eigentlich mein Job?«, fragte ich mit frostigem Unterton in der Stimme.

Walt schien mir allerdings auch weiterhin leicht amüsiert, als er antwortete: »Endlich. Ich dachte schon, du fragst nie.«

»Also?« Ich machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Also, Olivia, du bist eine Banshee und ich bin dein persönlicher Schicksalsbote. Wir zwei werden von jetzt an zusammenarbeiten. Das macht uns nicht automatisch zu Freunden, aber zu einem Team, und als solches sollten wir uns vertragen. Wie wäre es also, wenn du deine verbalen Klauen einfährst und wir erst mal einen Waffenstillstand vereinbaren?« Seine Stimme klang etwas frostiger als zuvor.

Ich schluckte und fühlte mich aufs Unangenehmste durchschaut. Für meine nächste Frage wählte ich einen versöhnlicheren Tonfall.

»Und was genau ist nun eine Banshee, und was tut sie?«

Schließlich hatte ich mich in den letzten Jahren nur vom Schreibtisch aus mit Futtermitteln beschäftigt und irgendwie fürchtete ich, dass mein neues Leben rein gar nichts mit Büroarbeit zu tun haben würde. Hätte ich nur Tante Ethel öfter konzentriert zugehört, dann hätte ich vielleicht das eine oder andere Wissenswerte über Banshees erfahren.

»Ah, noch eine gute Frage.« Walt nickte. »Ich sehe schon, unser Gespräch kommt langsam in Gang.«

»Würde es dir viel ausmachen, meine guten Fragen auch zu beantworten?«

Ich konnte es zwar nicht sehen, aber ich war mir sicher, dass der Mann namens Walt unter seiner Kapuze grinste.

»Banshees beklagen die Toten«, begann er. »Sie weinen und klagen, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Manchmal stehen sie aber auch nur stumm als Mahnung am Wegesrand.«

Mein Gesicht musste wie ein einziges Fragezeichen aussehen.

»Ich bin so eine Art Klageweib? Eine bezahlte Jammerliese? Ein gebuchter Trauerkloß?«

Was für Aussichten! Niemand, der bei Verstand war, konnte mir allen Ernstes eine solche Aufgabe übertragen!

»Da wären noch ein paar interessante Details.« Walt hob seinen Zeigefinger mahnend in die Höhe.

»Na hoffentlich«, erwiderte ich ungeduldig.

»Erstens«, der Zeigefinger zuckte kurz in meine Richtung, »wirst du für deine Dienste nicht bezahlt, und zweitens leben die Toten, die du beweinst, noch.«

Ich war mir nicht sicher, ihn richtig verstanden zu haben.

»Äh … Das bedeutet, ich bin so eine Art Frühwarnsystem?«

»Exakt.« Seine Stimme drückte Wohlwollen aus. Er hielt mich nicht mehr für völlig begriffsstutzig.

»Ich könnte also Unfällen vorbeugen?« Das klang in meinen Ohren schon eher nach einer sinnvollen Beschäftigung.

»Indirekt.« Walt ließ seinen Zeigefinger sinken. »Da gibt es ein paar Regeln, an die du dich halten musst.«

»Was für Regeln?« Ich hoffte inständig, es waren nicht zu viele. Spiele mit komplizierten Regeln verstaubten bei mir zu Hause unbenutzt im Regal.

Und schon war sein Zeigefinger wieder da, kam auf mich zu und stoppte kurz vor meiner Nasenspitze. »Du darfst unsichtbar heulen und klagen oder sichtbar schweigen. Entweder oder.«

»Okay.«

Zum ausgestreckten Zeigefinger gesellte sich ein Daumen. »Du kannst keinem menschlichen Wesen mit Worten sagen, in welcher Form die tödliche Gefahr auf deine Schützlinge lauert. Mit keinem Wort.«

»O…kay.«

Auftritt: Mittelfinger. »Du darfst dich niemals an die gefährdete Person direkt wenden, sondern immer nur an die nächsten Verwandten.«

»Ok… Moment mal!« Ich schob seine Hand beiseite. »Wozu soll das denn gut sein? Ich gehe doch auch nicht zum Schuster, um Brötchen zu kaufen.«

»So sind die Regeln.« Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch, aber ich versuchte es trotzdem.

»Hat es Sinn, zu sagen, dass diese Regeln albern und dumm sind?« Ich sah ihn auffordernd an, erhielt aber keine Antwort. Also fuhr ich fort: »Was passiert, wenn ich einfach doch mal Klartext rede?«

Er schnaubte leise. »Sinnlos. Sie würden kein Wort verstehen. Alles, was aus deinem Mund zu ihnen durchdringt, klingt nach Heulen und Jaulen.«

»Also kann ich diese Regeln gar nicht brechen?« Meine Augen wurden groß.

»So ist das.«

»Toll, ich komme mir vor wie ein kaputter Fernseher.« Kopfschüttelnd verdrehte ich die Augen gen Himmel. »Entweder Bild ohne Ton oder Ton ohne Bild. Tja, nur dass keiner versteht, was ich ihm sagen will. Das war früher irgendwie auch schon so. Und was geschieht, wenn ich versage? Wird mir dann der Nachtisch gestrichen oder werde ich gefeuert?«

»Weder noch. Strafversetzt trifft es eher. Und für gewöhnlich stellt so eine Versetzung keine Verbesserung dar.«

Ich versuchte, mir auszumalen, was das Wort Strafversetzung alles beinhalten konnte, und verzog das Gesicht.

»Ich merke, du hast es verstanden«, sagte die Kutte mit einem amüsierten Unterton in der Stimme.

Ich seufzte. »Und wieso ich? Wieso bin ich nicht einfach tot?«

Die Kutte – Walt – stand auf und ging zu dem Stamm der alten Eiche. »Dieser Baum ist fast einhundertfünfzig Jahre alt.« Fast schon liebevoll glitten seine Hände über die Rinde. »Sie ist ein Spross der Eiche, die vor ihr hier an dieser Stelle stand. Und auch davor stand hier eine Eiche. Sie stand hier schon zur Zeit der Druiden, der mächtigen Magier unserer Geschichte. Damals war die ganze Gegend hier noch dicht bewaldet.« Er wandte sich mir wieder zu. »Kannst du dir das vorstellen? Wer an einem solchen Ort stirbt, der fällt nicht einfach tot um und das war’s dann. Die Magie ist jetzt ein Teil von dir. Und du bist Teil dieser Magie.«

Also hatte der Besoffene aus dem Londoner Pub Ethel tatsächlich die Wahrheit erzählt. Nicht zu fassen.

»Und was bedeutet das jetzt für mich?«

»Alles, Livie.« Walt breitete die Arme aus, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, was seine theatralische Wirkung nicht verfehlte. »Denn der Druide, der an dieser Stelle vor über tausend Jahren Misteln von einer Eiche schnitt, heiratete in die Familie Harrowmore ein. Seitdem steht das Geschlecht der Harrowmores unter dem Schutz uralter Magie. Die Harrowmores haben deswegen eine persönliche Banshee, die Todesfälle ihrer Familie ankündigt. Seit heute bist du diese Banshee, Livie.«

Ich sah ihn mit großen Augen an und wartete auf mehr Informationen. Doch Walt schien der Meinung zu sein, mich ausreichend aufgeklärt zu haben.

»Aber warum? Hat die letzte den Job geschmissen?«

»Sie durfte ihn schmeißen, weil du ihn ja jetzt machst. Und sie hat sich wirklich darüber gefreut. Sie darf jetzt für eine ältere Dame an der Südküste weiterheulen. Tolles Klima dort. Du bekommst an ihrer Stelle die Harrowmores.«

»Man kann befördert werden? Banshee ist ein Job mit Aufstiegschancen? Na das macht Mut.« Ich unterstrich die Ironie mithilfe eines Augenrollens.

Walt schien mein Mangel an Ehrfurcht zu missfallen. Er schüttelte den Kopf. » Diese Beförderung, wie du es nennst, kann ziemlich lange ausbleiben. Sie erfolgt nur, wenn jemand nachrückt. Fast zweihundert Jahre lang ist niemand mehr an diesem Ort gestorben, der auf magische Weise mit dem Geschlecht der Harrowmores verbunden ist. Und dann kamst du. Und stellst dich bei Gewitter unter eine Eiche. Wo doch jeder Dummkopf weiß, dass man Eichen bei Gewitter meiden soll.«

»Genau das habe ich auch zu Tante Ethel gesagt«, stimmte ich ihm zu. »Ich habe gesagt, Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du … Warum eigentlich?«

Walts Stimme hatte einen leiernden Tonfall angenommen, als er antwortete: »Weil Buchen in Gruppen zusammenstehen. Eichen stehen häufig ganz allein auf Feldern. So wie diese hier.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter zum Baum. »Das einzige geeignete Einschlagsziel für einen Blitz weit und breit. Er brauchte nur noch vom Baum auf dich überzuspringen. Das war nahezu eine Einladung.«

»Aber warum hat es denn nicht Tante Ethel erwischt? Die hätte sich ein Loch in den Bauch gefreut, als Banshee aufzuwachen!«

»Schicksal«, lautete die knappe Erklärung.

»Na vielen Dank auch.«

Ich schwieg eine Weile trotzig vor mich hin und bohrte mit den Fingern in der weichen Erde. Dann wandte ich mich meinem neuen Freund zu. »Und was für eine Rolle spielst du jetzt in dieser Geschichte?«

»Ich kenne das Schicksal der Harrowmores. Ich werde es dich wissen lassen, wann es für dich Zeit wird, aktiv zu werden.«

Voller Ehrfurcht sah ich zu ihm auf. »Dann bist du so eine Art Gott?«

Die Kutte erbebte vor unterdrücktem Gelächter. »Ich bin nur ein Bote. Genau wie du.«

Ich dachte eine Weile über alles nach, was er mir erzählt hatte. Dann fragte ich: »Gibt es viele Harrowmores?«

»Es ist überschaubar.« Wieder eine eher knappe Antwort.

»Dann ist das wohl ein ziemlich ruhiger Job, hm?«, hakte ich nach.

Die Kutte hüstelte und wechselte das Thema. »Wie sieht es aus, Livie? Wollen wir noch lange hier unter der Eiche rumhocken oder bist du bereit für dein neues Zuhause?«

»Kann ich nicht einfach zurück in meine Wohnung und du meldest dich dann bei mir, wenn es was zu tun gibt?«

»Du bist tot«, erinnerte Walt mich.

»Ich könnte ja ein bisschen in meiner leeren Wohnung spuken«, schlug ich vor und intonierte ein paar Variationen des Wortes ›Buh‹.

»Vergiss es, Livie. Das ist nun wirklich der mieseste Job, den man haben kann.«

»Oh. Okay.«

Spukgespenster rangierten also unter Banshees, oder wie hatte ich diese Bemerkung zu verstehen? Mir schien, ich hatte noch viel zu lernen.