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Svea Kerling

Die Equipe

Der letzte Sitzkreis

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Über die Autorin

Svea Kerling, als Sonntagskind anno 1974 in Kroatien geboren, verbrachte ihre Kindheit in einer kleinen Gemeinde inmitten der hügeligen Landschaft im österreichischen Weinviertel.

Heute lebt die Autorin mit Kind & Katz unweit der österreichischen Bundeshauptstadt.

https://www.sveakerling.com/

Weitere Bücher der Autorin

»Schwarz oder Weiß - Borderliner kennen kein Grau«

Orange Cursor Verlag ISBN 978-3-902963-22-2

Eine Auseinandersetzung mit der Normalität und den verschiedenen Blickwinkeln auf die scheinbar erlebte Realität

»S. Kerling meets E. A. Poe«

tredition Verlag ISBN 978-3-7345-3593-2

Erzählungen über Irrsinn, Trauer, Tod und Träume

Svea Kerling

Die Equipe

Der letzte Sitzkreis

© 2017 Svea Kerling

Illustration: Petra Bichler

Lektorat, Korrektorat: Bianca Weirauch

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

978-3-7439-6198-2 (Paperback)

978-3-7439-6199-9 (Hardcover)

978-3-7439-6200-2 (E-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Nach dem Tod ist vor dem Tod.

Peter Rudl

Prolog

Alle Menschen streben von

Natur aus nach Wissen.

Aristoteles

Keiner da; ich stehe mitten im Raum. Ein Raum, nicht groß, nicht klein. Hell. In seiner Mitte Stühle mit blauen Sitzauflagen, eine davon wirkt bereits stark abgenützt.

Ich sehe ihn vor mir sitzen. Er sitzt immer dort; den Block auf seinem Schoß, sein Blick oft leer. Hoffend. Resignierend. Das Leben – so scheint es – ist eine üble Sache. Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, darüber nachzudenken. Ich muss schmunzeln, richte meinen Hut, schiebe den Stuhl zurecht und nehme Platz. Es macht keinen Unterschied, ob ich sitze oder stehe.

Die Tür wird aufgehen und sie werden hereinkommen. Sie werden sich setzen und sie werden aufstehen und sie werden gehen. Das tun sie immer – und er? Er wird immer sitzen. Er wird immer warten. Den Block stets bereit. Ähnlich einem Regisseur, darauf hoffend, dass seine Schauspieler zurückkommen.

Doch sie kommen nie zurück. Das Schauspiel bleibt geschlossen.

Ich setze mich also hin und beginne zu sinnieren. Ich mag diese Zeit vor dem Drama. Die Zeit der Ruhe. Die Gedanken fließen durch mich hindurch. Gilt doch seit Aristoteles die Betätigung des Geistes als des Menschen höchstes Glück.

Mir fällt meine Studienzeit ein. Aristoteles, hmm … ich krame in meinem Geist. Da ist es ja wieder. Altgelerntes. Wenn Aristoteles das erleben könnte, er wäre wohl verzückt. Menschen, die nicht ins Theater gehen, um anderen zuzusehen, sondern Menschen, die sich gleichsam als Akteure, Regisseure und Statisten einbringen und in einem lebendigen Stück aufgehen. Abtritte mit Bomben – oder aber in aller Stille. Und diejenigen, die das Schauspiel bestimmen und von der Outlinie aus durch ihre Reaktion das Spiel befeuern.

Wie schön. Nemesis, die Freude der Nachahmung. Die erlebte Wirklichkeit noch einmal nachstellen können, aber nicht, um sie im erlebten Zustand noch einmal zu erleben, sondern um die Varianten der alternativen Varianten herauszufinden. Kluger Kopf, der Kollege aus Griechenland. Um sich zu schockieren, eine Reflexion in den Affekten hervorzurufen, die gleichsam zu einer Läuterung führt.

Ich muss wieder schmunzeln. Läuterung. Ja, ja. Wahrheit ist der akzeptabelste Irrtum, Herr Kollege – aber wenn das Ihre Wahrheit ist … Leider auch die meines Freundes, der sich stets Mal für Mal um eine Läuterung seiner Darsteller bemüht, die Reflexion sucht und nicht erkennt, dass er sich selbst dabei in die Irre führt. Wie der Hamster im Rad. Ein Schritt noch, aber dann. Eine Kuppel noch, aber dann.

Ach, Freund Unfried, welch passender Name. Hättest du bloß nie bei Freud studiert, aber auch Jung wäre dir nie bekommen. Diese Suche nach der Wahrheit, dem Wort, das hilft. Hilft? Wobei? Dieses Verhängen in der Antriebsursache, dieser Versuch, aus einer Induktion eine Deduktion zu erreichen. Die Angst vor dem Unvermeidbaren. Widersprüche. Und der hoffnungslose Versuch, aus Erfahrungen allgemeingültige Leitsätze zu erstellen.

Ich lächle vor mich hin. Will weiter eindringen in die Ideenleere von Platon, von Aristoteles, die ich stets als angenehmes geistiges Warm-up empfunden habe, als plötzlich und viel zu früh sich die Tür wie von selbst öffnet und eine für mein Empfinden sehr dicke Frau mit leicht ungepflegtem Erscheinungsbild hereintritt. Ihre Handtasche steht ihrer Trägerin in ihrem Volumen in nichts nach. So steht sie mitten im Raum.

Ob dies die Gruppe Blümchen Unfried sei, fragt sie mich. Nein, das ist die Gruppe täusche dich täglich selbst, Vaihinger, aber ich lasse es und nicke bloß. Sie wirkt sehr zufrieden. Drückt ihre Handtasche eng an sich und unter leichtem Stöhnen – ich weiß nicht, ob es von ihr ausgeht oder von den Sesselbeinen – nimmt sie Platz. Das Schauspiel ist aber noch nicht eröffnet.

Wo immer sich zwei oder mehr in meinem Namen versammeln, werde ich unter ihnen sein. Ich trachte stets nur seitab zu sein. Die Akteure sind nicht meine Aufgabe. Und so füllt sich der Raum. Nach und nach treten sie ein. Grüßen, nicken und gehen herum. Versuchen, sich zu verstecken, und atmen schließlich erleichtert auf, als Unfried hinzukommt. Ein Stuhl bleibt leer. Unfried stellt treffend fest, dass wir – vor der Vorstellungsrunde – noch auf den letzten Teilnehmer zu warten haben.

Ach, ich mag diese Wahrheit, diese Erhabenheit in seinem Gesicht. Ganz Herr der Runde und die Tür öffnet sich. Herein kommt eine junge scheue Frau, die sich sofort entschuldigt und zum letzten verbliebenen Sessel huscht.

Ich höre den metaphysischen Gong schlagen. Das Schauspiel geht los.

So lasset das Drama beginnen, und Unfried erfüllt mir diesen Wunsch.

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Der Mann mit Hut

Sitzkreis I

»Ich finde es furchtbar traurig.«

Fast behäbig ließ Unfried seinen Blick über die Runde schweifen, bevor er sich wieder Hanna zuwandte. »Was genau ist es denn, was Sie so traurig stimmt?«

»Eigentlich alles, obwohl es doch so einfach wäre. Eigentlich ist es gar nicht schwer. Wie soll ich das erklären …«, Hanna sah Unfried bohrend an, als wartete sie auf seine Zustimmung. »Im Grunde suchen wir doch alle bloß nach Liebe. Wir wollen ja nur geliebt werden. Ist doch so. Mehr ist es eigentlich nicht …« Ihr Blick klammerte angstvoll an Unfried. Kein Nicken, kein verachtender Blick, keine kleinste Reaktion von Unfried.

»Eigentlich? Ach bitte, hör doch mit diesem sentimentalen Quatsch auf. Lieben - wenn überhaupt - kannst du nur dich selbst oder das, was du tust. Oder auch das, was du nicht tust, und das, was du nicht bist. Allenfalls lass es bleiben. Und jedes Eigentlich erledigt sich somit von selbst.«

»Warum sagst du das, Kjell? Du kennst mich nicht. Wenn ich als Kind mehr geliebt worden wäre …« Hanna brach mitten im Satz ab. Irgendetwas irritierte sie an Unfried. Zu hastig blätterte er in seinem Notizblock. Zu laut das Rascheln von Papier. Zu starr seine Miene. Fast panisch seine Suche, doch er wurde wohl fündig. Im richtigen Moment. »Sie fühlten sich von Ihrer Familie nicht angenommen. Fühlten sich fremd und ungeliebt. Was würden Sie der kleinen Hanna raten? Aus heutiger Sicht.«

»Aber ich weiß doch gar nichts. Ich …«

Kjell machte eine verächtliche Handbewegung und fiel Hanna wirsch ins Wort. »Du hast doch soeben gesagt: Wenn ich als Kind mehr geliebt worden wäre. Bla, bla. Oder etwa nicht?«

»Kjell! Kjell, wir wollen einander aussprechen lassen. In diesem Raum begegnen wir einander mit Respekt.«

Kjell grummelte etwas Unverständliches in Unfrieds Richtung. Dieser überhörte es. Wieder. Wissentlich, dass jedwede weitere Diskussion darüber nur mit Haarspalterei an allen Fronten enden würde. Besonders heute hing Unruhe über dem Raum. Wie ein Pendel schien diese Unrast über den Köpfen der Anwesenden zu schwingen. Beiläufig notierte er weitere Ergänzungen in seinen Block; atmete schließlich laut und tief ein und noch lauter aus. Mit einem weiteren tiefen Atemzug schlug Unfried sein linkes Bein über das rechte, klappte den Block beinahe pathetisch zu und platzierte diesen schließlich auf sei nem linken Knie. »Wir wollen jetzt alle tief Luft holen. Einatmen. Und langsam wieder ausatmen. Machen Sie es mir nach. Einatmen …«

Das, was folgte, glich mehr einem Raunen als einem kollektiven Ein- und Ausatmen. Doch das war nicht von Bedeutung. Nicht hier. Wesentlich war das Andocken an alte Verhaltensmuster. Diese Erinnerungen halfen seinen Patienten dabei, mit dem Erlebten besser klarzukommen. Unterstützten diese dabei, abzuschließen.

»Hanna, bitte. Fahren Sie doch fort. Wir alle«, wenngleich ein kurzer Blick zu Kjell dessen Desinteresse verriet, »wollen die Traurigkeit mit Ihnen teilen.«

Hanna biss noch immer nervös auf ihrer Unterlippe herum. Sie presste die Handflächen gegen ihre Oberschenkel, doch ihre Beine wollten nicht aufhören zu zappeln. Mit gesenktem Kopf fuhr Hanna fort: »Ich verstehe einfach nicht, warum sie mich nicht lieben konnte. Ist Blut denn nicht dicker als Wasser? War ich ihr wirklich so egal? Hätte sie mich damals doch sterben lassen.«

»Sie sprechen von Ihrer Mutter?«

»Ja, sie warf mir immer wieder vor, egoistisch zu sein, nur an mich zu denken und schuld zu sein an ihrem Elend. Ich würde mich nicht um andere – nicht um sie – kümmern. Wa-rum …«, Hanna japste nach Luft, »warum ich ihr Leben ruiniert hätte und warum ich nicht schon bei der Geburt hätte sterben können.«

Scheinbar unbeeindruckt von Hannas Worten tätigte Unfried weitere Notizen in seinen nunmehr wieder aufgeklappten Block. Unfried schwieg. Alle schwiegen. Alle warteten. Sie warteten auf eine Antwort Unfrieds.

Valerie unterbrach die bedrückende Stille. Sie saß rechts neben Hanna und obwohl sie mit ihren Gedanken am weitesten entfernt schien, war doch sie es, die ihren Arm um die linke Sitznachbarin legte. »Süße, ich bin sicher, sie hat es nicht so gemeint.«

»Wenn die Emotionen hochgehen, sagen wir Dinge, die wir im Nachhinein bereuen. Wir tun Dinge, die wir nicht tun sollten. Wir wollen es gar nicht tun, aber es passiert. Wir lügen jeden an. Wir lügen uns selbst an. Was bleibt uns sonst? Wer will der Wahrheit schon ins Gesicht sehen? Ich meine, ich möchte nicht einmal mir selbst ins Gesicht sehen. Ist doch so, oder? Wer braucht schon die Wahrheit. Macht uns nur mürbe und mürbe sollten doch nur Weihnachtskekse sein.«

Hanna und Valerie hoben irritiert die Köpfe. Ihr beider Blick wanderte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Sie gehörte zu dieser alten Frau, die bis dato noch kein Wort gesprochen hatte. Stets war sie damit beschäftigt, in ihrer großen Einkaufstasche nach Essbarem zu kramen. Ein schier unerschöpflicher Vorrat schien darin verborgen zu sein.

Die Blicke aller hier Sitzenden waren nunmehr auf sie gerichtet. Sie saß immer knapp einen halben Meter abseits vom sonst fast perfekt symmetrischen Sitzkreis.

Unfried nickte in sich hinein. »Wir sind ein ganz gutes Stück vorangekommen. Ich bin stolz auf Sie alle.« Unfried war sichtlich mit sich zufrieden, doch weit davon entfernt, diesen Umstand zu genießen. Dazu war auch keine Zeit.

Kjell brannte währenddessen eine Frage auf der Zunge. »Nichts für ungut, alte Frau. Gut gebrüllt, möchte man meinen. Fast philosophisch anmutend, aber …«, er wiederholte sich theatralisch ausladend mit einem Blick zu Hanna, »aber … was ist jetzt mit diesem Liebesgedöns, Hanna? Dieses Dings mit mangelnder Liebe. Keiner Liebe. Keinem Familienzusammenhalt. Es interessiert mich, Hanna. Die Alte kann mich mal.« Kjell wandte sich an die alte Frau und zwinkerte ihr zu. »Vielleicht würdest du ja. Aber ich müsste verneinen. Ich steh nicht auf Cremetorten. Eventuell auf Cremeschnittchen. Du verstehst, Verehrteste?« Kjell schien tatsächlich auf ihre Antwort zu warten, doch die kam nicht. Bevor Kjell ansetzen konnte, in seinen Ausführungen fortzufahren, war es Unfried, der das Wort an sich riss. »Ich bin mir sicher, Hanna wird eine gute Antwort parat haben. Doch, Kjell, ich frage nunmehr Sie, da Sie es doch sind, der den Familienzusammenhalt erneut thematisiert. Ist es die Familie, von der Sie sich nicht loslösen können? Mehr noch. Ist es die Familie, die Sie hier bei uns hält? Wir sollten darüber sprechen, meinen Sie nicht?«

Kjell rollte mit den Augen und setzte zu einer Antwort an. »Ich …«

Unfried schnitt ihm zum wiederholten Male das Wort ab. »Sie haben das Füreinander-Da-Sein schon als Kind vermisst. Liege ich richtig mit meiner Annahme?«

Kjell war sichtlich genervt. Von Unfried. Von Hanna, von ihrem Zappeln. Demonstrativ rutschte er mit seinem Stuhl nach hinten. Nein, er war nicht genervt. Es machte ihn vielmehr rasend. Rasend vor Wut und Ärger. Was dachte der Idiot, wen er vor sich hatte? Eines dieser verlorenen Schäfchen, die nach einem Hirten Ausschau hielten? Nein, er wusste genau, wohin sein Weg führte. Nur welcher gottverdammte Weg hatte ihn hierhergeführt? Er wusste es nicht. Noch nicht. Unfried hatte seinen Stolz verletzt. Seine Eigenständigkeit. Wie konnte er das tun? Das durfte er nicht. Insbesondere nicht vor diesem Haufen Schwachköpfen. Vor allem nicht. Überhaupt nicht. Gar nicht. »Ich rede nicht von Liebe. Ist das soweit klar? Ich rede von Zusammenhalt. Nur davon. Familie oder nicht. Von Respekt. V o r einander. Respekt.« Kjell nickte, um seinen Worten die erforderliche Zustimmung zu erteilen. »Genau – Respekt. Respekt heißt das Zauberwort. Ein Fremdwort für jeden von euch. Für jeden, der dazu verdonnert wurde, an dieser Hirnwäsche hier teilzunehmen. Hätte. Täte. Fahrradkette. Interessiert doch kein Schwein, was ihr da alle für einen Scheiß ablasst. Nebenbei«, Kjell stierte zu Unfried, »ist mir das alles hier zu eng. Der Raum ist zu eng. Zu klein. Zu stickig. Ich brauche Platz. Ich brauche Luft. Ihr schneidet mir hier die Luft ab. Ihr alle.«

Unfried musterte kurz den Raum, um dann eine weitläufige Geste mit der rechten Hand zu vollführen. »Es gibt genug Platz für uns alle. Jeder von uns findet hier seinen Raum.«

»Nein! Oh nein!« Kjells Stimme klang hoch und laut. »Schieben Sie sich diesen Eso-Quatsch sonst wohin, geehrter Herr Unfried. Hier gibt es keinen Platz für mich. Wir sind hier zusammengepfercht wie Schweine in einem Viehstall. Ich brauche frische Luft. Ich brauche Bewegung. Der Mist hier bringt mich um.«

Unfried schaute ihn mit leicht geneigtem Kopf fragend an. »Ist es so?« Er kniff dabei seine Augen zusammen und für einen kurzen Augenblick schien es so, als wären dort nur zwei kurze Einschnitte. Klitzekleine Schnitte; genau dort, wo Augen hätten sein müssen. Unfried fixierte Kjells Blick. Keine Chance für Kjell, dieser Fixierung zu entkommen. Verdammt, wie stellte er sich bloß an? Was hielt ihn hier? Wer war dieser Kauz, der sich einbildete, ihm sein Leben vorbeten zu dürfen, und ihm ungeniert Löcher in den Bauch starrte.

»Wir wissen nicht, was Schweine interessiert und was nicht. Ob diese Tiere unser Leben generell interessant finden würden. Wie viele von Ihnen interessiert es denn schon, ob es die Schweine interessiert. Kjell, um Ihre Worte nochmals zu wiederholen und für mich, ob ich Sie richtig verstanden habe: Sie vermissen den Respekt.«

Kjell durfte seinem Drang nicht nachgeben, dieser Situation entkommen zu wollen. Zu fliehen. Vor Unfried zu fliehen. Nein, er war durch und durch ein Alphatier. Kein Schwächling. Was hatte er hier überhaupt zu suchen, hier mitten unter diesen Schwachmaten. »Tu ich. Aus vollster Überzeugung. Menschen ohne Respekt vor sich selbst kann ich nicht ernst nehmen. Werden dick und fett, als ob sie nicht schon hässlich genug wären. Die alte Schachtel dort ist das beste Beispiel. Hier sollte man sich der Thematik Vollverschleierung nochmals annehmen.«

Unfried schüttelte vehement seinen Kopf. »Das tut jetzt nichts zur Sache. Wir wollen hier weder politische noch religiöse Diskussionen entfachen, Kjell.«

»Ach so?« In Kjell stieg Übelkeit auf. »Anscheinend wollen wir hier gar nichts, außer dass wir einander alle lieb haben. Hätten Sie das gern? Dass wir einander die Patschhändchen reichen und uns gegenseitig beweihräuchern, wie toll wir alle sind und alle anderen da draußen uns nur Böses wollen? Vielleicht steuert die fette Lady ein paar Kuchen bei und wir werden alle so dick und fett wie sie. Fressen wir die Probleme einfach weg. Ich für meinen Teil aber habe keinen Bock auf Gruppenkuscheln. Mit mir sicher nicht. So ein Kackhaufen hier.«

Stillschweigen.

Kein Raunen.

Kein Schaukeln.

Kein Wippen.

Kein Atmen.

Die Stille im Raum war plötzlich zu einem greifbaren Etwas geworden. Man hätte diese schneiden, einpacken und in Kisten zu einem Turm stapeln können.

Kjell wirkte, als ließe ihn dieser Wandel völlig kalt. Er nahm die plötzliche Veränderung im Raum nicht wahr. »Ihr alle hier quasselt von Liebe. Wollt geliebt werden. Freunde, Familie und das ganze Gesocks. Unsere Körper bestehen um ein Vielfaches mehr aus Wasser als aus Blut. Ob Blut nun dicker oder dünner ist, wen interessiert das? Ich wiederhole mich nochmals. Wen interessiert dieser Scheiß? Kein Schwein. Sorry, alte Frau, aber dein Blut scheint ohnehin zu dick zu sein, um das Hirn mit Sauerstoff zu versorgen …«

»Kjell, Sie reden sich in Rage. Wollen wir nicht …?«

»Nein, Sie Freud-Verschnitt. Nein, verdammt, wir wollen nicht, und nein, verdammt, wir haben nicht alle genügend Platz hier.« Es glich einem verzweifelten Hilferuf, den Kjell herausbrüllte.

Alle warteten auf eine Reaktion Unfrieds. Sein Kritzeln in den Notizblock hatte etwas Provokatives für Hanna. Er würde doch diesen persönlichen Angriff auf sie alle, explizit auf die alte Lady, nicht unkommentiert im Raum stehen lassen. Würde er?

Nein, würde er nicht.

»Vielleicht interessiert es kein Schwein. Mag sein, dass Sie recht haben. Bis dato waren nicht so viele Schweine hier in dieser Runde. Es liegt mir also fern, mich darüber zu äußern. Im Übrigen esse ich kein Fleisch. Aber egal«, Unfried machte eine abfällige Handbewegung, »vielleicht interessiert es ja jemanden von uns. Mich zum Beispiel. Mich interessiert es. Sehr sogar. Sie fordern Respekt ein und selbst kümmern Sie sich – um es mit Ihren Worten auszudrücken – einen Scheiß darum, ob Sie jemanden mit solchen Aussagen verletzen.«

»Ja, es kümmert mich einen Dreck. Einen Scheißdreck, um genau zu sein. Ich habe wenigstens so viel Eier, es zuzugeben. Es kümmert mich einen Dreck. Ihr kümmert mich einen Dreck. Alle. Wie es euch geht, kümmert mich einen Dreck. Ihr seid alle …«

Valerie unterbrach seinen Satz. »Möchtest du es denn nicht auch wissen? Interessiert es dich denn gar nicht? Nicht einmal ein wenig? Ein kleines bisschen?«

War es zuvor still gewesen, war es jetzt das Nichts, das sich im Raum ausbreitete und sich wie ein Schleier auf die Runde legte. Doch allein der Kloß, den Valerie hinunterwürgte, genügte dem Nichts und es lockerte seinen Griff. Missgestimmt mochte man meinen, doch es war seiner Sache nicht im Ge ringsten überdrüssig. Etwas hungrig. Vielleicht. Kjell sah sich einer Gruppe perplex blickender Gesichter gegenüber, spürte ihre ihm so verhassten Blicke. »Verdammt noch mal. Ist es hier gang und gäbe, mir permanent ins Wort zu fallen? Was soll der Scheiß? Doktor Freud tut es die ganze Zeit. Jetzt du.«

»Sorry.«

»Ist okay, Val«, Kjells Ausdrucksweise änderte sich abrupt, »du bist jung, du weißt es nicht besser. Noch nicht. Trotzdem machst du dir ständig Sorgen und Gedanken um andere. Immer dein Wunsch, alle retten und erretten zu wollen. Das ist nicht deine Aufgabe. So lieb du auch bist, du kannst nicht alle Seelen retten. Und ihr«, Kjell deutete nacheinander mit seinem Finger auf jeden der übrigen Anwesenden, »lasst mich mit eurem Mist bloß in Ruhe. Ich habe von eurem ganzen Selbstfin-dungsscheiß die Schnauze so was von voll. Ständig um euch selbst besorgt. Ständig auf der Suche nach dem Sinn eures erbärmlichen Lebens. Schon mal überlegt, ob das Leben selbst nicht schon die Schnauze voll hat? Von euch? Dass es euch ausgespuckt hat, weil es sinnlos ist? Ihr und euer verkacktes Leben.«

»Entschuldige, das wollte ich nicht. Tut mir leid«, murmelte Valerie.

»Nein, Val, es muss dir nicht leidtun. Absolut nichts muss dir leidtun. Hör nur damit auf, dich ständig zu entschuldigen, und um Gottes willen hör damit auf, alles und jeden verstehen zu wollen. Oft ist ein Arsch einfach nur ein Arsch. Und oft ist hässlich und fett einfach nur hässlich und fett.«

»Doch«, Valerie knickte ein, »es tut mir ehrlich leid.«