Cassandra Clare
Sarah Rees Brennan

Bittere Wahrheit

Aus dem Amerikanischen von

Franca Fritz und Heinrich Koop

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Simon erwachte im Feenreich. Sein Schädel dröhnte und pochte wie ein Daumen, auf den man sich versehentlich mit einem Hammer geschlagen hatte. Er hoffte inständig, dass ihm niemand mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen hatte.

Er lag in einem sanft schaukelnden Bett, das sich unter seiner Wange etwas kratzig anfühlte. Als er die Augen öffnete, sah er, dass es sich nicht um ein Bett handelte, sondern um eine Fläche aus Zweigen und Moos, die über eine federnde Konstruktion aus Holzlatten verteilt war. Seltsame dunkle Streifen versperrten ihm die Sicht auf den dahinterliegenden Bereich.

Das Feenreich erinnerte an die Moorlandschaft in Devon und sah doch völlig anders aus. Die Nebelschwaden in der Ferne besaßen eine blassviolette Tönung, wie drohende Gewitterwolken. Und in diesen Schwaden konnte Simon Bewegungen wahrnehmen, die eigenartige und bedrohliche Gestalten erahnen ließen. Die Blätter an den Bäumen waren grün, gelb und rot gefärbt, genau wie das Laub in der Welt der Irdischen, doch sie leuchteten zu kräftig … wie Juwelen. Und als der Wind durch sie hindurchfuhr, glaubte Simon fast, Worte verstehen zu können, so als würden die Blätter miteinander flüstern. Das hier war eine wilde, keinen Regeln unterworfene Natur, verwandelt durch Alchemie und Magie.

Im nächsten Moment erkannte Simon, dass er in einem Käfig hockte. Einem großen Käfig aus Holzlatten. Bei den dunklen Streifen, die ihm die Sicht verdeckten, handelte es sich in Wahrheit um die Gitterstäbe seines Gefängnisses.

Wut erfasste ihn. Dabei erboste ihn am meisten die Tatsache, dass sich das Ganze so vertraut anfühlte. Denn er erinnerte sich wieder daran, dass man ihn schon mal auf diese Weise eingesperrt hatte. Und nicht nur einmal.

»Erst Schattenjäger, dann Vampire und jetzt Feenwesen … alle sind total scharf darauf, mich ins Gefängnis zu werfen«, knurrte Simon aufgebracht. »Warum wollte ich noch mal meine Erinnerungen zurückbekommen? Und wieso eigentlich immer ich? Warum muss immer ich der Trottel sein, der im Käfig landet?«

Seine Stimme sorgte dafür, dass ihm der Kopf noch mehr brummte.

»Du bist jetzt in meinem Käfig«, sagte eine andere Stimme.

Hastig setzte Simon sich auf, obwohl das nur dazu führte, dass sein Schädel noch stärker dröhnte und sich das Feenreich um ihn herum zu drehen schien. Dann entdeckte er auf der anderen Seite des Gitters die Kapuzengestalt, der George in der Moorlandschaft nachgejagt war. Simon musste schlucken. Unter der Kapuze war das Gesicht seines Geiselnehmers nicht zu erkennen.

Plötzlich wirbelte etwas durch die Luft, wie ein Schatten, der über die Sonne huschte. Ein anderer Elbe fiel vom Himmel herab; das Laub auf dem Waldboden knackte unter seinen nackten Füßen. Sonnenstrahlen ließen sein platinblondes Haar aufleuchten und spiegelten sich glitzernd auf der messerscharfen Klinge in seiner Hand.

Der Kobold schob seine Kapuze zurück und neigte respektvoll den Kopf. Jetzt konnte Simon sehen, dass er große violette Ohren hatte – wie zwei Auberginen, die an seinem Schädel befestigt waren – und lange weiße Haarsträhnen, die sich wie eine Wolke über seine Auberginenohren legten.

»Was ist geschehen? Und warum beeinträchtigen deine Ränkespiele die Arbeit der Ranghöheren, Hefeydd? Ein Pferd aus der irdischen Welt hat den Weg der Wilden Jagd gekreuzt«, sagte der neu aufgetauchte Elbe. »Ich hoffe doch, dass dieses Ross für niemanden von großer emotionaler Bedeutung war, denn die Hunde haben es nun in ihren Fängen.«

Simon blutete das Herz beim Gedanken an das arme Tier. Und er fragte sich, ob man auch ihn den Hunden zum Fraß vorwerfen würde.

»Ich bedaure es außerordentlich, dass ich die Wilde Jagd gestört habe«, beteuerte der Kobold und neigte den weißen Kopf noch tiefer.

»Das solltest du auch«, antwortete der andere Elbe. »Wer den Weg der Wilden Jagd kreuzt, wird dies stets bereuen.«

»Ich habe hier einen Schattenjäger«, erklärte der Kobold eifrig. »Oder zumindest eines jener Kinder, die sie in Schattenjäger zu verwandeln hoffen. Sie haben mir in der Welt der Irdischen aufgelauert und dieser hier ist mir sogar ins Feenreich gefolgt. Deshalb ist er meine rechtmäßige Beute. Es lag nicht in meiner Absicht, die Wilde Jagd zu stören, und mich trifft keine Schuld!«

Simon fand, dass das eine ungenaue und kränkende Darstellung der Ereignisse war.

»Ach, tatsächlich? Du hast Glück: Ich bin heute guter Laune«, erwiderte der hellhaarige Elbe. »Zeig mir deine Reue und lass mich ein paar Worte mit deinem Gefangenen wechseln – wie du weißt, hege ich ein gewisses Interesse für Schattenjäger –, dann werde ich darauf verzichten, meinem Gebieter Gwyn deine Zunge zu präsentieren.«

»Noch nie war ein Handel so gerecht wie dieser«, stieß der Kobold hastig hervor und rannte davon, als fürchtete er, dass der Elbe der Wilden Jagd seine Meinung ändern könnte. Dabei stolperte er fast über seinen eigenen Mantel.

Simon hatte das Gefühl, damit vom Feenregen in die Feentraufe geraten zu sein.

Der blonde Elbe sah aus wie ein sechzehnjähriger Junge, kaum älter als Marisol und jünger als Simon. Aber Simon wusste, dass das Äußere von Feenwesen keinen Rückschluss auf ihr Alter zuließ. Der Elbe hatte ungleiche Augen: eines schimmerte bernsteinfarben wie die erstarrten Harztränen, die man manchmal im dunklen Herzen der Bäume finden konnte, und das andere leuchtete blaugrün wie seichtes Meerwasser im Schein der Sonne. Der starke Kontrast seiner Augen und das Licht des Feenreichs – durch boshaft flüsternde Blätter grün getönt und mit Sprenkeln aus Katzengold durchzogen – verliehen seinem hageren, schmutzigen Gesicht einen düsteren Ausdruck.

Er wirkte sehr bedrohlich. Und er kam näher.

»Was will ein Elbe der Wilden Jagd von mir?«, krächzte Simon.

»Ich bin kein Elbe«, erwiderte der Junge mit den unheimlichen Augen, den spitzen Ohren und den Blättern in den wirren Haaren. »Ich bin Mark Blackthorn vom Institut in Los Angeles. Es spielt keine Rolle, was die Mitglieder der Wilden Jagd sagen oder was sie mir antun. Ich weiß noch immer, wer ich bin. Ich bin Mark Blackthorn.«

Er betrachtete Simon mit einem begierigen Ausdruck in seinem schmalen Gesicht. Seine dünnen Finger umklammerten die Gitterstäbe von Simons Käfig.

»Bist du hier, um mich zu retten?«, fragte er drängend. »Sind die Schattenjäger endlich gekommen, um mich zurückzuholen?«

Ach, du Schreck. Dieser Junge war Helen Blackthorns Bruder – der Bruder, der genau wie sie ein Halb-Elbe war, derjenige, der seine Familie für tot gehalten hatte und der von der Wilden Jagd verschleppt worden und nicht mehr zurückgekehrt war. Das war jetzt wirklich unangenehm, überlegte Simon.

Nein, das hier war viel schlimmer. Es war einfach entsetzlich.

Simon räusperte sich. »Nein«, sagte er leise, weil es ihm grausam erschien, Mark Blackthorn falsche Hoffnung zu machen. »Es ist eher so, wie dieser Kobold gesagt hat: Ich bin nur zufällig hier gelandet und wurde gefangen genommen. Ich heiße Simon Lewis. Ich … kenne deinen Namen und weiß, was mit dir passiert ist. Tut mir wirklich leid.«

»Weißt du, wann die Schattenjäger mich befreien kommen?«, fragte Mark. Das sehnsuchtsvolle Verlangen in seiner Stimme brach Simon fast das Herz. »Ich … habe ihnen eine Nachricht geschickt … während des Kriegs. Ich verstehe ja, dass der Kalte Frieden alle Verhandlungen mit den Feenwesen schwierig macht, aber die Nephilim müssen doch wissen, dass ich loyal bin und ihnen großen Nutzen bringen könnte. Eines Tages werden sie mich bestimmt holen, aber ich warte nun schon seit Wochen. Verrate mir, wann kommen sie endlich?«

Simon starrte Mark an; sein Mund war wie ausgetrocknet. Seit die Schattenjäger den Jungen hier zurückgelassen hatten, waren nicht nur ein paar Wochen vergangen, sondern mehr als ein ganzes Jahr.

»Sie werden nicht kommen«, flüsterte er. »Ich war zwar nicht dabei, aber meine Freunde waren anwesend und haben mir erzählt, was passiert ist. Der Rat hat eine Abstimmung durchgeführt. Die Nephilim wollen dich nicht zurückholen.«

»Oh«, brachte Mark hervor, ein einziger leiser Laut, den Simon gut kannte: Einen solchen Laut gaben Lebewesen von sich, wenn sie starben.

Mark wandte sich von Simon ab. Sein Rücken krümmte sich; es sah aus, als würden ihm diese Neuigkeiten nicht nur seelische, sondern echte körperliche Qualen bereiten. Auf seinen dürren nackten Armen entdeckte Simon die Narben von Peitschenhieben. Obwohl Simon Marks Augen nicht sehen konnte, schlug dieser die Hände vors Gesicht, als könnte er den Anblick des Feenreichs nicht länger ertragen.

Dann fuhr er herum und fauchte: »Und was ist mit den Kindern?«

»Was?«, fragte Simon verständnislos.

»Helen, Julian, Livia, Tiberius, Drusilla, Octavian. Und Emma«, sagte Mark. »Du siehst, ich habe ihre Namen nicht vergessen. Ganz egal, was tagsüber mit mir geschehen ist, ganz egal, wie verwundet und blutüberströmt oder erschöpft ich auch sein mag – ich schaue jeden Abend hinauf zum Himmel und gebe jedem Stern den Namen eines meiner Brüder oder das Gesicht einer meiner Schwestern. Ich schlafe nicht eher ein, bis ich mir jeden Einzelnen von ihnen ins Gedächtnis gerufen habe. Eher verglühen die Sterne, als dass ich meine Geschwister vergesse.«

Marks Familie, die Blackthorns. Bis auf Helen waren seine Geschwister alle jünger als er, so viel wusste Simon. Emma Carstairs lebte zusammen mit den jüngeren Blackthorn-Kindern im Institut von Los Angeles – die kleine blonde Emma, die der Krieg zur Waise gemacht hatte und die Clary viele Briefe schrieb.