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Für Martina und Annabel

PAUL SAHNER

KARL

Mit Ergänzungskapiteln von Katharina Pfannkuch

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Für Fragen und Anregungen:

4. aktualisierte und erweiterte Auflage 2019

© 2009 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH Nymphenburger Straße 86

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Kapitel 1 bis 25 und Kapitel 30: Paul Sahner

Umschlaggestaltung: Die Werkstatt, München

ISBN Print: 978-3-86882-870-2

www.mvg-verlag.de

INHALT

Vorwort

Danksagung

Pariser Modewoche Herbst 2008

1.Begegnung mit dem »Kaiser«. Standing ovations. Außerirdischer

2.Happy Karl-Day! Geburtstage, Jubiläen. Ich hasse das

1920er Jahre

3.Kondensmilch. Ein Kaufhaus in Berlin. Die Eltern

1930er Jahre

4.Gutshof Bissenmoor. Die Kindheit. Dumm wie Ribbentrop

1940er Jahre

5.Nie ohne meine Krawatte. Rheumaklinik, Doktorphobie, Schule in Bad Bramstedt

1945–1949

6.Glücksklee als Todesfalle. Falscher Boxkampf. Gerne Jude

1950er Jahre

7.Paris. Autodidakt, Mantelpreisträger. Legendenbildung und Märchen

1960er Jahre

8.Saint Germain. Bodybuilding, Ballettschuhe, Gigolos und »Ohrfeigen« für Chloé

1963–1967

9.Götter, Surfer und Schwimmer im Chambre d’amour. Das Bild des Vaters

1968–1969

10.Samba, Satin, Sex-Appeal. Pullis für Sinatra. Ein Tempel mit Art déco

1970er Jahre

11.Andy Warhol. Walk-on-the-wild-side. Der makelloseste Dandy von Paris

1972

12.Café de Flore. Monokel, Monster und einer wie d’Artagnan

1973

13.Saint Tropez. Ein männerfressender Zwilling. Paloma Picasso als Muse

1974

14.Schloss in der Bretagne. Champagner, Rolls-Royce und ein Käfig voller Narren

1975–1979

15.L. A., New York. Partytime. Jack Nicholson, der Freund. Gedanken nach Mutters Tod

1980er Jahre

16.Die Ära Chanel. Drama-Queen. Das magische Jäckchen

1986

17.Monaco. Party, Klatsch und Poltergeister. Mein Freund, der Fürst

1989

18.Liebe, Schmerz und Schicksal. Tod des »Mannes fürs Leben«. Der neue Dorian Gray

1990er Jahre

19.Adelspalais in der Ru de l’Université. Der Tangotänzer, Cola Light – geschüttelt, nicht gerührt

1995–1999

20.Goethe, Faust und die Sinfonie des Grauens. Villa Jako – die Rückkehr der Kindheit

2000er Jahre

21.No deadline for an new life. Slimline von Slimane. Wie riecht Karl?

2004

22.Biarritz, Elhorria. Eine Nacht beim »Kaiser«. Mit Calvados, Hitler und Marlene

2004–2007

23.No-Couture für H&M. Kein Fächer mehr. Die Liebe zu Porzellan

2008–2009

24.Ein Haus in Vermont. Die neue Bescheidenheit. Luxus kennt keine Krise

2009

25.Jahrmarkt der Leidenschaften. Die neue Chance. Nicht untersterblich sein

Die Jahre von 2009 bis 2017

Ein Abschied

2009–2010

26.Cola Light und eine Katze. Keine Angst vor Kommerz. Political Correctness als Fremdwort

2011–2013

27.Ein neuer Star an seiner Seite. Neue Wege für Chanel. Pointierter Karikaturist und sanfter Patenonkel

2014–2015

28.Hemmungsloser Konsum. Karl Lagerfeld, ein Feminist? Visionen und Rückblicke. Pelz-Protest und Katzenliebe

2016–2017

29.Noch immer kein Blatt vorm Mund. »Paris liebt Sie.« Unpolitisch gegen den Strom. Superlative und glamouröse Familienbande

30.Das Lagerfeld-Lexikon: Der »Kaiser« buchstabiert die Welt – ICH habe nachgefragt!

Quellennachweis

Über die Autoren

VORWORT

Karl, gibt es jemanden, den Sie mehr lieben als sich selber?

KARL: Nein, das wäre auch dumm. Die Leute haben mehr davon, wenn ich mich unter eigenen Denkmalschutz stelle.

Sie sind sehr überzeugt von sich.

KARL: Doch, doch, doch. Sie können nicht erwarten, von anderen geliebt zu werden, wenn Sie sich selber nicht mögen.

Sie sind ein Narziss?

KARL: Ich bin nicht verknallt in mich, aber ich komme mit mir aus.

Sind Sie ein guter Mensch?

KARL: Ja, ich finde mich nicht schlecht. Und nein, ich finde mich sehr egoistisch. Mein Egoismus erlaubt mir, anderen zu helfen.

Wie das?

KARL: Mein Selbsterhaltungstrieb ist ein positiver Trieb, weil ich damit auch andere besser erhalten kann.

Sie sind mit sich also rundum im Reinen?

KARL: Doch, doch, doch. Leben und Werk sind nicht zu trennen.

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Ein typischer Dialog, den ich mit Karl Lagerfeld führte.

Er ist ein Mann, der, so scheint es, alles erreicht hat: Macht, Ansehen, Reichtum und Wissen. Sein unerschütterliches Selbstbewusstsein wird nur noch durch sein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein übertroffen. Seine Stärke, die Selbstironie, ist zugleich seine Schwäche, weil man sie leicht mit Koketterie verwechseln kann: »Ich brauche niemanden, um mein Herz auszuschütten. Ich kontrolliere die Situation selbst. Gut, nicht? Ich versuche die Dinge kalt zu analysieren.« Und fragt man ihn, ob er das ist, wofür alle Welt ihn hält, sagt er: »Vielleicht bin ich ja eine Stilikone, aber für den täglichen Gebrauch schwer zu imitieren. Was könnten denn Sie, Paul, damit anfangen, wenn Sie so wären wie ich?« Nichts. Da hat er recht. Er ist ein Unikat mit Charisma. Sein Ego ist grenzenlos, seine Devise: me, myself and I. Selbst einer der klügsten Köpfe Deutschlands, Martin Walser, 82, beschäftigt sich mit Karl Lagerfeld. Ende März interviewte ich den berühmten Schriftsteller in München. Ich erzählte ihm von diesem Buch und fragte: »Wer taugt für Sie eher als Romanheld: Boris Becker oder Karl Lagerfeld?«

Walser rümpfte die Nase: »Boris Becker verkörpert nicht die Spur einen Romanhelden, weil er ein Buch ist, das man schon gekannt hat, bevor man es aufschlägt. Lagerfeld aber hat das Zeug. Weil er kompliziert ist und sich nicht einfach erschließt, weil er voller Widersprüche zu sein scheint, die einen interessieren können.«

Walsers Lagerfeld-Analyse trifft es auf den Punkt: Ein komplizierter, widersprüchlicher Mensch. Zwei Eigenschaften, die ihn so überaus spannend machen. Eine Spurensuche.

DANKSAGUNG

Merci Karl, für Ihre aufrichtige Selbsterkenntnis gegenüber Journalisten oder anderen Sterblichen: »Auch ich war mal ein Mensch wie Sie.« Klingt verrückt, obwohl Sie damit wohl ausdrücken wollen, dass Sie entrückt sind. Schon schieben Sie nach, Ihre Memoiren, zum Schutz der Menschen, über die Sie schreiben, erst nach Ihrem Tod zu veröffentlichen. Darauf zu warten, dürfen Sie Ihren Verehrern nicht antun, einen Mythos sollte man entmystifizieren, solange er noch in voller Blüte steht.

Danke auch an Marcel Reich-Ranicki, dem ich mal zu einem Interview in seine Frankfurter Wohnung in kindlicher Erwartung meine Erstlingswerk Unkenspiele von 1975 mitbrachte, mindestens auf einen Verriss hoffend. Wochen später wollte ich am Telefon von ihm wissen, wie ihm denn das … Er unterbrach mich barsch: »Sowas lese ich nicht, aber meine Frau hat Ihr Buch durchgeblättert. Ich gebe Ihnen einen Tipp: Schreiben Sie mal eine Biografie. Sie kennen doch so viele berühmte Menschen.«

Das war die Idee! Ich erinnerte mich an Hubert Burda, der mich vor über 30 Jahren von München nach Offenburg geholt hatte. Er war damals Chefredakteur der Bunte und gleich am ersten Tag lernte ich von ihm: »Nichts fasziniert den Menschen mehr als der Mensch«. Von der Autoren-Legende Will Tremper geleitet, schrieben wir damals eine zwölfteilige Serie, fast eine Biografie, über Silvia Sommerlath, ein mit Details und Anekdoten gespickter Countdown bis zu ihrer Hochzeit mit Carl Gustaf, dem König von Schweden. Mit von der Partie: Thomas Veszelits, ein Kollege aus gemeinsamen Zeiten bei der Münchner Abendzeitung. Als der Plan für die Lagerfeld-Biografie ausgereift war, erinnerte ich mich an Tommy, der sein leidenschaftliches Recherche-Handwerk in diversen Büchern bewiesen hat.

Wie nun kam ich auf Karl Lagerfeld? Eines Tages traf ich auf Vermittlung meines BurdaKollegen Oliver Kuhn, nebenbei ein grandioser Networker, den Verleger Christian Jund. Über ihn hatte mir sein Autor David R. Rockefeller während eines Interviews erzählt, dass er ebenso unerschrocken wie kreativ sei. Bei Pasta und Pellegrino entdeckten wir schnell, dass Karl Lagerfeld das Objekt unserer gemeinsamen Begierde war, zumal ich das Multitalent von allen Persönlichkeiten am häufigsten besucht und interviewt hatte. Zur Verstärkung schickte Jund mir während der heißen Phase Birgit Sander vorbei. Die kundige Lektorin fand mein bäuerliches Domizil im Chiemgau, Lanzing 1, in ihrem Opel auf Anhieb.

Meine Frau Martina wurde mir zur Muse, weil sie gelegentliche Kritik an meinem Schaffen so geschickt verpackte, dass ich lächelnd korrigierte. Socki, unsere italienische Wildkatze, ließ sich streicheln, wenn ich geschafft war.

Danke auch an Annabel, meine wunderbare Tochter, die jetzt Ekamati heißt, weil sie derzeit in einem hinduistisch-christlichen Ashram ihr Glück gefunden hat. Wenn sie mich besuchte, schmückte sie den Buddha in unserem Garten mit Jasminblüten, mir schenkte sie fernöstliche Weisheiten.

Ein Dankeschön auch an Patricia Riekel und Brita von Maydell – die beiden wissen schon wofür. Und unter guten Kollegen muss man nicht alles an die große Glocke hängen. Zuguterletzt: Dank an alle, die sich angesprochen fühlen.

Paul Sahner, im Juni 2009

BEGEGNUNG MIT DEM »KAISER«.

STANDING OVATIONS. AUSSERIRDISCHER

»Ich bin der Sohn von einem Hamburger Pfeffersack« – schmunzelt Karl süffisant. Als Pfeffersäcke werden noch heute spöttisch hanseatische Händler bezeichnet. In dem Begriff schwingt die Verachtung für reiche, ausschließlich auf Geld und Macht bedachte Menschen mit. Karl kokettiert mit diesem Wort gerne, er provoziert. Pfeffersäcke! Wie das schon klingt. Keiner traut sich, diesen Begriff aufzunehmen, der wie ein Handschuh zum Duell hingeworfen wird. Die Medien verneigen sich vor Lagerfelds Größe, die Branche respektiert ihn, wenige fürchten ihn. »Ein Wort von Karl, und du bist in der Modeszene mausetot«, sagt sogar ein Star unter den Modedesignern, der nicht genannt werden will. Er hängt an seinem Job.

Ob Karl der ideale Deutsche ist? Manche sehen ihn so. Er lebt für die Arbeit, hat eine eiserne Disziplin, durch Fleiß weckt er Neid, macht nie Urlaub. Er doziert wie ein Oberlehrer über die alten Tugenden, aber in seiner Seele ist er ein unverbesserlicher Romantiker. Die deutschen Dichter liebt er sehr, Wilhelm Busch, Eichendorff, Goethe, Rilke, sie alle zitiert er gern. Auch zum Knuddeln ist er jederzeit verfügbar: Als Teddybär. Was für ein Geschenk: Merci, Karl!

KARL: Ich bin nicht allzu lange Kind geblieben, dennoch liebe ich Tiere sehr. Vor allem, wenn sie aus Plüsch und mit Baumwolle oder Polyester gestopft sind. So kann man am besten sicherstellen, dass sie nicht beißen, einen nicht fressen, nicht schlecht riechen und keine Sachen schmutzig machen.

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Die Medienfigur des Jahres 2008.

Schon steinalt und trotzdem jung geblieben. Sein Foto als »King Karl« sieht man mit geschlossenen Augen. Die schwarze, schlanke Silhouette mit den Röhrenhosen, die unten Falten werfen wie eine Ziehharmonika. Das Gesicht mit der Sonnenbrille maskiert, das ist seine Identität. Sein Berufsbild wechselt wie bei einem Chamäleon: Modeschöpfer, Entdecker von Topmodels, Fotograf, Innenarchitekt, Parfümproduzent, Unternehmer, Stummfilmer, Schlossherr, Galerist, Autor, Porzellansammler, Werbewunder, PR-Mann, Verleger, Buchhändler. Einmal ist er sogar Barman bei einer Benefiz-Gala in New York gewesen. Gut gemixt. Da fragt man sich nur: Hat dieser Superman denn gar keine Schwächen? – »Doch«, gesteht er: »Ich bin iPod-süchtig.« Dafür trinkt und raucht er nicht, hält heute sein Gewicht. Das Rezept, wie man so was schafft, hat er als Buch millionenfach verkauft.

Und es geht noch weiter. Das ganze Erfolgsstück über Lagerfeld sprengt jegliche Dimension. Das Leben schreibt das Drehbuch und auf der Besetzungsliste stehen:

Personen in den Hauptrollen

Elisabeth Lagerfeldt, Mutter, das Alphatier

Otto Lagerfeldt, Vater, der Milchmann »Glücksklee«

Coco Chanel, Modeheilige, der Schutzgeist

Pierre Balmain, Couturier, der Lehrmeister

Yves Saint Laurent, Rivale, der selbstverliebte Narziss

Andy Warhol, Pop-Papst, das Übervorbild

Jacques de Bascher, Aristokrat, »Mann fürs Leben«

Antonio Lopez, Illustrator, der Modelscout

Paloma Picasso, Muse 1974, der Zwilling

Inès de la Fressange, Muse 1986, die Drama-Queen

Claudia Schiffer, Muse 1990, die »Clooodia«

Prinzessin Caroline von Hannover, die Ersatzschwester

Baptiste Giabiconi, Dressman, der neue Dorian Gray

… in den Nebenrollen

Martha Christiane Lagerfeldt, die Schwester

Thea Lagerfeldt, die Halbschwester

Joachim von Ribbentrop, Außenminister des Dritten Reiches, das Schreckgespenst

Helmut Newton, Starfotograf, der Foto-Guru

Rainier III. von Monaco, Fürst, der Freund

Ernst August von Hannover, königliche Hoheit, der Pausenclown

Hedi Slimane, Jungdesigner, der Verführer

Mick Jagger, Ex von Jerry Hall, der Survivor

Jerry Hall, Vamp-Model, das Chanel-Taschengesicht

Nicole Kidman, Schauspielerin, die Glamournymphe

Brad Kroenig, Dressman, das Objekt der Begierde

Arnaud Maillard, Ex-Assistent, der Nestbeschmutzer

Bernard Arnault, LVMH-Vorstand, ein guter Freund

Stella Tennant, 1996, das Bad Girl

Devon Aoki, 2004, die japanische Puppe

Toni Garrn, 2009, der Engel mit dem bösen Blick

Carla Bruni, Frankreichs Präsidentengattin, eine alte Bekannte

… als Komparserie für Pelzmoden bei FENDI

Diese Stars führten die Pelze von Fendi nach Lagerfelds Entwürfen vor, trugen sie in Filmen oder als Geschenk auch privat, gaben sich für Produktbilder als Fendi-Fans her. Sophia Loren ließ sich gar als Fendi-Süchtige zitieren.

Claudia Cardinale (1967)

Monica Vitti (1969)

Milva (1970)

Sophia Loren (1972)

Gina Lolobrigida (1973)

Diana Ross (1975)

Paloma Picasso (1979)

Catherine Deneuve (1983/87)

Grace Jones (1986)

Elizabeth Hurley (2001)

Kate Bosworth (2007)

Seit den Neunzigerjahren liegt Lagerfeld übrigens mit den Tierschützern im Clinch. Den Streit über die Pelzmode wischt der »Kaiser« mit einem Argument vom Tisch:

KARL: In einer fleischfressenden Welt, in der Schuhe, Handschuhe, Gürtel, Handtaschen aus Leder getragen werden und auch Reisegepäck aus Leder hergestellt wird, ist die Diskussion über Pelze kindisch. Ich plädiere allerdings dafür, dass man die Tiere nicht brutal tötet, sondern ihr Leben auf eine sanfte, nette Art beendet. Fleisch esse ich nur, wenn es auf dem Teller nicht nach einem lebendigen Wesen ausschaut.

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Den Soundtrack als Untermalung zum Lagerfeld’schen Glamourepos liefert der »Kaiser« selbstverständlich selbst. Sein sprunghaftes Multitasking hat ihn schließlich auch noch Musikpromoter werden lassen. Auf der Doppel-CD My Favorite Songs hört man seine Ohrwürmer: Devendra Banhart, LCD Soundsystem, Super Furry Animals, The Fiery Furnaces, Stereolab und als Kontrast dazu die Punkband Siouxsie and the Banshees, bevor man in die Vierzigerjahre hinübergleitet: Tango, Rumba und Mambo von Xavier »Cugi« Cugat. Als Bandleader des Stammorchesters im Grandhotel Waldorf Astoria wurde er zur Legende. Das Finale lässt Lagerfeld mit Igor Strawinsky ausklingen.

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Paris im Sommer, mein Gespräch mit Karl

Darf ich mich kurz vorstellen? Mein Name ist Paul Sahner – wie Sahne mit R. Ich schreibe nicht für die Ewigkeit. Ich schreibe jede Woche für die BUNTE. Ich bin Berichterstatter. Karl Lagerfeld ist in meiner Laufbahn der Mensch, den ich häufiger als alle anderen interviewte.

Karl, überall feiern Sie Triumphe, Fashion Shows mit Standing ovations … Fühlen Sie sich wie ein Rockstar?

KARL: Unglaublich, unglaublich. Sogar überall, wo ich aus Gefälligkeit hingehe, bekomme ich Beifall. Wirklich unglaublich. Wie gestern auch, ich war bei der Vernissage der Picasso-Ausstellung. Das war wie ein Aufstand. Ich wurde als Hauptperson gefeiert. Dass mittelalterliche Damen mir sagen: »Sie sehen toll aus«, das verstehe ich. Aber dass die jungen Leute so jubeln, wenn sie mich sehen …

Woran liegt das?

KARL: Das weiß ich auch nicht. Ich werde mehr gefeiert als Galliano und all die anderen. Keiner hat so einen Erfolg wie ich. Keiner kann mithalten. Ich kann nicht mehr über die Straße gehen.

Klingt gefährlich!

KARL: Und wie mich erst die Autogrammjäger bedrängen. Aus der ganzen Welt kommt Post mit Signaturwünschen. Das ist ja unglaublich. Ich finde das zum Heulen.

Zum Niederknien eigentlich …

KARL: Natürlich … aber ich kann es mir nicht erklären, warum!

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Rückkehr der alten Zeit.

Mag Karl Lagerfeld noch so sehr betonen, alles in seinem Leben sei nur Zufall, er selbst überlässt dem Faktor Zufall nichts. Jeder seiner Schritte ist genauestens überlegt. Die größte Sorgfalt gilt zweimal im Jahr der Wahl der Location für die Modenschau. Sie spielt eine wesentliche Rolle, denn sie spiegelt den Geist seiner Kollektion wider, schafft einen Rahmen, der für mindestens so viel Gesprächsstoff sorgt wie die Kleider selbst. So ist es auch bei der Herbst/Winter-Präsentation von Chanel, zu der Karl einen erlesenen Kreis am 10. Dezember 2008 eingeladen hat.

Paris, 16. Arrondissement, 5 Rue des Vigens.

An dieser Stelle fällt die Häuserfront zum Erdgeschoss ab. Die schlossartigen Balustraden auf dem niedrigen Dach sahen früher aus wie eine verschnörkelte Porzellantasse zwischen groben Kochtöpfen. Heute jedoch scheint das Haus für das Straßenbild keine Zierde mehr zu sein. Die schmuddelig-weiße Fassade verwittert, die Säulenprofile am Portal angeschlagen, an der Eingangstür blättert der Lack ab. »Le Ranelagh« prangt oben am Sims in krakeliger pinkfarbener Neon-Schrift. Ein vorbeischlendernder Fremder könnte meinen, ein betagtes Kleinkunstkino aus den Sixties wäre hier untergebracht. Da empfiehlt es sich allerdings einzutreten, sich in das Tiefgeschoss zu begeben, um dann aus dem Staunen nicht mehr herauszukommen.

Die massive Kassettendecke ist überbordend dekoriert. Stuck, Wandreliefe und Statuenköpfe schmücken den Saal. Den Bauauftrag erteilte 1755 König Ludwig XV., ein Geschenk für Marquise de Pompadour sollte es sein. Die königliche Mätresse war als Liebhaberin pompöser Dinge bekannt. Der britische Lord Ranelagh, als Landschaftsarchitekt für den umliegenden Waldpark Bois de Boulogne zuständig, übertraf sich bei der Erfüllung der Aufgabe, einen Theaterpavillon »wie ein Schmuckkästchen« zu erschaffen. Nicht mal die Salons in Versailles können bei dieser Innenausstattung mithalten.

Dieses höfische Kammertheater, das auch Marie Antoinette, die österreichische Gattin des Franzosenkönigs Ludwig XVI., liebte, diente lange Zeit als Spielbühne. Es war für die Tanzsuiten von Johann Stamitz und Jean-Philippe Rameau bemessen, daher konnte man darauf nur Ballett aufführen. Die Atmosphäre des kleinen Theaters entzückte später Georges Bizet derart, dass er einen Einakter für diesen Rahmen komponierte. Richard Wagner reiste an, um hier seine Ouvertüre zu »Rheingold« mit 80 Musikern konzertant vorzutragen. Erst 1931 wandelte sich der Saal zum Kino. Der Regisseur Marcel Carné liebte es von allen Pariser Lichtspielen am meisten. 1945 ließ er in diesem grottenähnlichen, mit Fabelwesen verzierten Saal seinen Film Kinder des Olymp erstaufführen.

In den Sechzigerjahren schlug im »Le Ranelagh« ein verschworener Szenekreis sein Kulturdomizil auf. Man redete sich die Köpfe heiß über das wiederentdeckte Jahrhundertwerk Carnés Kinder des Olymp. Was im Pariser Theatermilieu um 1835 seinen Ursprung hatte, nämlich die Beziehungen einer Frau zu vier Männern zugleich, erfuhr noch einmal packende Aktualität. Seinen Gefühlen ungezügelt nachzugeben, sich in die Liebesabenteuer ohne Verantwortung zu stürzen und bei Komplikationen im Trubel des Karnevals zu entschwinden, erschien in den Sixties als erstrebenswert. Das Ziel war, frei zu sein, losgelöst von allen Konventionen.

Modegala Chanel Paris – Moscou.

Das Théâtre Le Ranelagh im Dezember 2008. Über seine Liebe zum Stummfilm hat Karl schon lange geredet. Endlich hat er sich selbst ein Werk geschenkt. In schwarz-weiß. Als Regisseur leistet er ganze Arbeit, alles fügt sich nahtlos ineinander: die opulenten Hüte, die steifen Kragen, die koketten Absätze, das gedämpfte Licht, die bourgeoisen Salons, die gepflegte Langweile, passend zu den leeren Blicken der Akteure. Coco Chanel wird von dem litauischen Model Edita Vilkeviciute vortrefflich dargestellt, ihren Liebhaber, den Großherzog Dmitri Pawlowitsch, verkörpert Brad Kroenig, jener New Yorker Hunne, der schon für Lagerfelds Fotoserien »One Man Shown« über den Dächern von Manhattan posierte. Die Ex-Muse Amanda Harlech und ihre Tochter Tallulah Ormsby-Gore spielen Kundin und Lagerfelds Bodyguard Sebastien Jondeau mimt einen russischen General. Dekadent? Ach was, amüsant, oder wie der Meister es ausdrücken würde:

KARL: Real life.

Das erste Filmbild in der Totalen zeigt Mademoiselle Coco, lässig auf einer Chaiselongue zurückgelehnt. Schnitt. In der Großaufnahme wird eine Zigarette in langer Elfenbeinspitze angezündet. Blick über das Atelier in einer Privatwohnung. Coco beobachtet die Kundinnen bei der Hutanprobe vor dem Spiegel. Über ihre Lippen wälzt sich genüsslich der Rauch. Küsschen, Küsschen. Galanter Abschied für die Damen. Zwischentitel: »Love, love? How much? 150 Francs!« – Die Hüte sind gemeint. Nächste Szene: Ein Loverboy erscheint in der Tür. Den Dialog vermitteln Schriftzüge: »Do you have tickets for Ballets Russes?« – »Strawinsky, Le sacre du printemps?«

Als der Bote eine Hutschachtel fallen lässt, erscheint der Ausruf: »Idiot!« – In der nächsten Sequenz folgen Bilder aus dem Ersten Weltkrieg. Attacke! Kanonendonner. Bajonettsturm aus dem Schützengraben. Das Gruppenbild mit der russischen Zarenfamilie wird mit Rasputin überblendet, Lenin löst ihn ab. Den Winterpalast in St. Petersburg erschüttert der Angriff der Matrosen aus dem Panzerkreuzer »Aurora«. Die Oktoberrevolution rauscht im Zeitraffer durch, danach feiert der Russenadel im Pariser Exil weiter, mit Champagner im Maxim. Die Flapper-Girls wirbeln auf, im Charleston-Rausch tanzen sie quer durch den Salon, ihre frivolen Fransenkleider amüsieren das Publikum.

Der Film behält die Langsamkeit der Stummfilmzeit bei: Kein schneller Schnittwechsel. In Großaufnahmen sieht man, wie der Großfürst Dmitri Pawlowitsch, durch den hohen Hemdkragen beengt, steife Konversation pflegt. Coco fragt: »Dimitri, was denken Sie über den russischen Konstruktivismus?« – Dimitri: »Gar nichts!« – Coco: »Was denken Sie über den französischen Kubismus?« – Dimitri: »Ich denke an russische Folklore.« Wie beim Stummfilm üblich, übermitteln Tafeln uns das Gespräch.

Die Balalaika spielt, die Geige schluchzt – stumm natürlich, was einer gewissen Komik nicht entbehrt. Coco bläst gelangweilt die nächste Rauchwolke zu Dimitri hinüber, die Idee ist geboren: »Ich mache eine Russen-Kollektion für Paris.« – Der Hintergrund ist biografisch: Liaisons mit vermögenden Persönlichkeiten beeinflussten immer wieder Chanels Kollektionen. So gipfelte 1920/21 ihre Bekanntschaft mit Großfürst Dmitri Pawlowitsch, einem Cousin des letzten Zaren Nikolai II., in einer russischen Modesaison. Wie hatte diese ausgesehen? Lagerfeld interpretiert sie als die neue Kollektion für 2009 frei nach seiner Art.

Nahtlos erfolgt jetzt der Übergang vom Film zur Mode-Gala: Mit einem Sprung in die Gegenwart. Der Zuschauerraum versinkt im Rot. Die Polstersessel, der Teppich, die Plüschvorhänge, alles blutrot wie in Draculas Kabinett. So muss es sein, um die 300 geladenen Galagäste in das historische Ambiente, einer Russenmoden-Orgie zu betten. Die Coco-Epoche kehrt für einen Abend zurück.

Die Models, haargenau den Filmdarstellern nachempfunden, entschlüpfen der Leinwand, defilieren über den roten Teppich, besetzen nach und nach die runden Tische auf der Bühne. Die feiernde Salongesellschaft aus dem Film präsentiert sich nun live. In üppigen Pelzen mit riesigen Hüten, als wuchtige Matrioschkas oder als kokette Kosakenbräute. Gold, Tweed, Taft, Muffs, kostbare Stickereien, dicke Mützen und byzantinische Broschen. Cocos legendäre Rubaschka-Blusen mit bestickten Motiven flattern. Die Flapper-Girls schlagen ihre Beine in schimmernden Seidenstrümpfen frech übereinander, die kurzen Röcke rutschen an den Schenkeln hoch. Es leuchtet ein, warum Coco die wuchtigen Russenmäntel und opulenten Pelzkragen nach Paris holte: Aus Notwendigkeit – wie sonst hätten sich die Damen in ihren windigen Kleidchen wärmen können. Bei dem frenetischen Beifall rieselt der Jahrhundertstaub von der Decke. Anschließend genießt Karl ein Bad in der Jubelgemeinde.

Der angewandte Künstler.

Fast alle sind in Chanel-Kleidern erschienen. Emmanuelle Seigner, Isabelle Huppert, Diane Krüger, Marianne Faithful. Auf sie geht Karl höchstpersönlich zu. Er kennt sie schon seit Ewigkeiten, als sie noch in den Sixties mit Mick Jagger zusammen war, der für sie das Lied Wild Horses komponierte. Die Beziehung der beiden scheiterte an Drogen. Marianne wurde abhängig, an Mick jedoch prallte sogar das Gift ab, nichts hat ihn je aus der Bahn geworfen. Absolut immun, ein seltenes Phänomen.

Geschichten wie diese erlebte Karl als Voyeur mit. Alkohol, Drogen, Sexexzesse, all die Dinge, welche die anderen, nie aber er selbst ausprobierte, deren passiv suggestiver Faszination er sich dennoch nicht entziehen konnte. Er selbst definiert diese Haltung folgendermaßen:

KARL: Zwischen mir und dem Rest der Welt steht eine Glaswand.

Über Marianne Faithful, deren österreichisch-ungarische Abstammung mütterlicherseits bis auf den Schriftsteller Leopold Ritter von Sacher-Masoch zurückgeht (dessen literarisches Werk übrigens den Begriff Masochismus prägte) sagt

KARL: Marianne ist toll. Sie hat es leider nicht so gut im Leben hingekriegt, aber für das, was sie erlebt hat, sieht sie immer noch ganz toll aus. Wir sind enge Freunde.

Es ist eine denkwürdige Nacht, jetzt im Dezember 2008. Sie zeigt, welcher Beliebtheit sich Karl erfreut. Die junge Schauspielerin Clémence Poésy kämpft sich im Gewühl zu ihm durch. Man kennt sie aus dem Film Harry Potter und der Feuerkelch. Das sind schon die neuen Zeiten. Umso mehr strahlt Karl. Auch die Youngsters kommen! Eugenie Niarchos, die Fahnenträgerin des neuen Jetset, und Audrey Marnay, ein junges Topmodel, das Gesicht des Jahres 2006. Alle strahlen Karl an, lächeln in die Kameras. Ein Foto mit ihm ist überaus begehrt.

Es ist wie eine Begegnung mit einem Außerirdischen. Außergewöhnliche Menschen, begnadete Genies haben schon immer von sich behauptet, von einem anderen Stern zu sein. So einen möchte man gerne anfassen, vielleicht bringt es sogar Glück. Prinzessin Caroline von Hannover herzt ihren Karl, hält seine mit den Lederfingerlingen beschuhte Hand; es muss sich anfühlen, als würde man einen Marsmenschen begrüßen. Sie kann Karl nicht loslassen, herzt ihn wie einen Teddybär. In solchen Momenten drängt sich die Frage auf:

Karl, wie fühlen Sie sich, so umschwärmt und angehimmelt?

KARL: Ich bin immer der gleiche dumme Hamburger Junge. Als Kind war ich wahnsinnig selbstgefällig. Heute bin ich mir selbst gegenüber gleichgültig, ironisch, distanziert. Ich kann über mich selbst lachen.

Sie heben nicht ab?

KARL: Man hat das Gefühl, die Erdanziehung existiert nicht. Man geht nicht, man schwebt. Ganz eigentümlich.

Wie kommt man von diesem Trip wieder herunter?

KARL: Ich gehe ins Bett und denke an Kleider, schlafe nicht gleich ein, weil mir schon wieder so viele Sachen im Kopf herumschwirren. Wenn ich sieben Stunden später aufwache, bin ich wieder allein, was auch toll ist. Und dann hoffe ich, dass es am Tag gut weitergeht. Denn komischerweise interessiert mich mein Beruf mehr denn je.

Nie Angst, dass Ihnen morgen nichts mehr einfällt?

KARL: Ich lebe von Illusionen. Und ich übe meinen Beruf schon sehr lange aus. Es geht automatisch, was zwar negativ klingt, aber es ist etwas wie Atmen. Für mich völlig natürlich, kreativ zu sein. Je mehr man macht, umso mehr fällt einem ein. Wie bei einem Klavierspieler, je mehr er spielt, umso besser kann er improvisieren. Wenn ich ständig zeichne, finde ich leichter neue Ideen. Man kennt alle Wege und Umwege, wie man eine neue Idee findet.

Wie funktioniert die Kreativität?

KARL: Der Prozess der Kreativität läuft nach einem Schema ab und die Kreativität funktioniert nach einem eigenartigen Mechanismus. Ich erkläre es gleich: Neulich habe ich eine neue Idee für Badeanzüge gesucht. Ich setzte mich hin und sagte zur mir: Jetzt stehst du so lange nicht auf, bis du 50 total neue Badeanzüge fertig hast. Drei Stunden später war ich so weit. Aber ich bin trotzdem nicht aufgestanden. Ich habe weitergezeichnet, Nummer 50, 51, 52 und so weiter. Endlos. Ich konnte überhaupt nicht aufhören. Die Regel Nummer eins dabei: Man darf sich nicht festrennen, eine plötzliche Idee gleich für den Sieg halten. Man muss ständig weitermachen, sich aber auch mit seinen Ideen der Zeit anpassen.

Wie machen Sie das?

KARL: Ganz einfach. Ich betrachte mich als einen Artist appliqué – einen angewandten Künstler. Meine Kollektionen sind keine Kunst, sondern appliqué – zum Anziehen. Ich mache Gebrauchsgegenstände. Ich halte mich wirklich nicht für ein Genie. Ich finde sogar, unter uns gesagt, ich hätte viel mehr aus mir machen können.

Da übertreiben Sie aber!

KARL: Nein, nein, das hat schon meine Mutter gesagt. Um sie zu zitieren: »Du hättest mehr aus dir machen können, aber bei deinem Mangel an Ehrgeiz ist es schon okay, was du geschafft hast.«

Hatte sie recht?

KARL: Ich bilde mir immer ein, ich hätte überhaupt nichts erreicht. Was ich noch schaffen möchte, liegt alles noch vor mir! Ich bin nie mit mir zufrieden.

Anerkennenswert – aber das klingt nach Koketterie.

KARL: Wenn ich alleine bin, kann ich mit mir selbst nicht kokettieren. Ich kann mir ja nichts vormachen. Ich kann anderen Leuten erzählen, was ich will, aber nicht mir selbst. Nein, für mich ist das, was ich mache, ein Weg, wo es kein Ziel gibt.

Weil der Weg das Ziel ist?

KARL: Nicht ganz, denn das wäre schon ein Ziel, das man erreichen will. Ich arbeite nur an dem Weg, damit er besser und besser, für mich auch angenehmer wird, um mich mit dem, was ich mache, auch wohlzufühlen.

Also doch ein Ziel.

KARL: Nein, das Resultat. An dem arbeite ich. Das Ergebnis muss ständig besser werden. Man muss sich selbst täglich neu erfinden. Schön und gut, ein Ziel zu erreichen, aber was macht man danach? Aus Erfolgen lernt man überhaupt nichts, und Perfektion als Ziel ist trügerisch. Bilde ich mir zumindest ein.

HAPPY KARL-DAY!

GEBURTSTAGE, JUBILÄEN.

ICH HASSE DAS

Das gezeichnete Ego.

Auf dem schwarzen Bildschirm schimmert ein Kristall. Wenn der Cursor die Gitterebene rechts oben berührt, taucht eine Silhouette auf. Ein kalkweißes Antlitz. Mit der schwarzen Brille wie ein Phantom. Fährt der Cursor ins linke Feld, wechselt das Licht. Die Haare erstrahlen in weiß. Das Gesicht verdunkelt sich. So tritt Karl Lagerfeld im Internet auf. Eine Kunstfigur. Geboren 1938 in Hamburg, verlautbart seine Homepage.

Andere Quellen nennen das Jahr 1933. Unter anderem berichtet eine populäre Sonntagszeitung, wie Reporter im altkatholischen Taufregister von Hamburg-Winterhude eine Entdeckung gemacht haben: Der Modezar ist in Wirklichkeit fünf Jahre älter, als er angibt. Gleich mehrere Kronzeugen können Lagerfelds Datumsschwindel bestätigen. Einer von ihnen ist Kurt Wagner. Endlich ist seine große Stunde gekommen. Bisher hat sich für ihn kein Reporter interessiert, aber jetzt steht er im öffentlichen Interesse: Als Schulfreund von Karl Lagerfeld. Der Seniorchef eines Holsteiner Schuhladens zieht aus seiner Schatulle jede Menge alte Fotos. Karl muss man darauf nicht lange suchen. Er fällt sofort auf, als am besten angezogener Schüler. Zu den kurzen Hosen trägt er ein korrekt sitzendes dunkles Sakko. Den gestärkten weißen Kragen hält ein Krawattenknoten zu. Kein Mitschüler sonst hat einen Schlips an. Karl ist einzigartig, unverwechselbar, skurril. Aber er ist auch dicklich, sein aufgebauschtes Haar ist viel länger als bei den anderen – so ähnlich könnte man sich den kleinen Beethoven oder Jules Verne vorstellen.

Sein Schulfreund Wagner kann sich für die Echtheit der Aufnahmen verbürgen: Seine Kindheit hat er auf dem Gutshof Bissenmoor verbracht, sein Onkel war dort Verwalter. Die Lagerfeldts als Besitzer dieses Anwesens wohnten vorne in einer feudalen Villa. Die Wagners dahinter im Gesindehaus: »Aber wir haben zusammen auf der Terrasse gespielt«, versichert Wagner den Reportern und legt dafür weitere Beweise vor. Zeichnungen, Kritzeleien. »Wir überlegten, wie man eine Straßenbahn baut, damit wir von unserem Gutshof zu der vier Kilometer entfernten Schule in Bad Bramstedt nicht jeden Tag zu Fuß laufen müssen.« – Der Spiegel greift diese BILD-Enthüllung mit einer kleinen Meldung auf. Die große Schlagzeile lässt noch einige Zeit auf sich warten.

Am 5. Dezember 2006 ist Karl Lagerfeld dann zu Gast in der Sendung Menschen bei Maischberger. Die Moderatorin zeigt Archivmaterial. Ein Gruppenbild dokumentiert ein kürzlich stattgefundenes Klassentreffen. Alle sind gekommen, nur einer fehlt. Wer das ist, zeigen die Kameraden, allesamt in Ehren ergraut, mit einem Foto in der Hand. Auf diesem Bild spielt Karl Lagerfeld als 14-Jähriger mit einer Puppe.

Lagerfeld sieht, was ihm Frau Maischberger unter die Nase reibt, und braust auf: »Ich kenne die nicht! Ich habe nie mit Kindern gespielt. Bitte nehmen Sie mir diese grauenhaften Lustgreise weg!«

Am nächsten Tag schlägt BILD faustdick auf dem Titel zu: »Lagerfeld pöbelt im TV!« – Der Zeitzeuge Karl Wagner bleibt nach wie vor bei seiner Aussage: »Bald wird Lagerfeld 75!«

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Fragen wir ihn doch einmal selbst. Meine Interviews mit Karl waren oft stundenlange Gespräche. Einmal lud er mich für ein paar Tage nach Biarritz ein, auf einen seiner Landsitze. Wir saßen in seinem Park mit wunderbarem Blick auf die Pyrenäen. Ich trank einen seltenen Chablis, »Kaiser Karl«, wie Lagerfeld in der Modeszene genannt wird, nur Wasser. Wir redeten uns mit Vornamen an, aber blieben natürlich beim Sie. Klingt auch eleganter als das kumpelhafte Du. (Hören Sie, Karl … Schießen Sie los, Paul. Der Ton macht die Musik.)

Sie hassen dumme Fragen?

KARL: Dumme Fragen langweilen mich, das Leben ist zu kurz für dumme Fragen.

Mit Verlaub, Karl, aber ich hätte da eine ganz dumme Frage: Den Gerüchten zufolge sind Sie fünf Jahre älter, als Sie selbst angeben. Was denn nun?

KARL: Diese Frage langweilt mich in der Tat beträchtlich, mon ami! Lieber hätte ich Ihnen erzählt, dass ich ausschließlich künstliche Kamine habe, weil ich als Kind fast verbrannt wäre, dass ich täglich meine Bettwäsche wechsle oder dass ich selbstverständlich jeden Tag mein blütenweißes Nachthemd austausche, da man ja nie weiß, was über Nacht alles passieren kann, und ich mich nie gehen lassen mag wie eine alte Schlampe. Ich hätte auch gern ganz ausführlich von meinem Patenonkel gesprochen, dem einzigen Mann, der mich je geohrfeigt hat, und das nur, weil ich als Zehnjähriger nicht wusste, wer Freiherr von Freiligrath war. Ich hätte Ihnen auch detailliert erzählen können, dass meine Mutter mich früher immer maßregelte: »Sprich bitte schneller, damit du mit dem Stuss, den du redest, bald zu Ende kommst.« Nun gut, lauter interessante Sachen hätte ich auf Lager gehabt, aber Sie interessieren sich offenbar brennend für mein wahres Alter.

Brennend nicht, aber ein wenig schon …

KARL: Cher ami, bis jetzt hatten wir eine wunderbare Unterhaltung. Doch jetzt kommen Sie mir vor wie ein Beamter bei meiner Passkontrolle. Aber ganz ernsthaft: Ich finde diese Diskussion um mein wahres Alter äußerst witzig. Altona ist bombardiert worden, mein Geburtsschein verbrannt. Ich weiß nicht einmal, ob ich an einem 10. September geboren bin und als Jahr kommt vermutlich tatsächlich irgendetwas zwischen 1933 und 1938 infrage. Was bringt es, wenn ich mich festlegen würde? Man wird schon auf meine Memoiren warten müssen. Mein Alter ist mir absolut wurst. Ich fühle mich jung, so oder so. Sie können mir gern in den Oberschenkel kneifen, er ist hart wie Holz, durchtrainiert von täglich 20 Minuten Fitness.

Donnerwetter! Ihr Bein ist wirklich knüppelhart. Aber vielleicht können Sie mir noch verraten: Wie feiern Sie Geburtstage?

KARL: Als Kind habe ich Geburtstage gerne gefeiert, aber dann kam der 50. Danach fand ich die Geburtstagsfeste so grauenhaft, dass ich seitdem nie mehr so was erleben möchte. Inzwischen ist der 10. September auch ein schlechtes Datum geworden. Es klingt wie der Tag vor dem 11. September – Nine-Eleven. Soll ich jetzt am Vorabend zu diesem schlimmen Katastrophentag feiern? Auch historisch gesehen ergibt der 10. September kein gutes Datum. Die Kaiserin Elisabeth von Österreich ist am 10. September 1898 in Genf ermordet worden. Der Graf Berghe von Trips, der FormelI-Pilot, verunglückte am 10. September tödlich. Ich hasse Retrospektiven. Ich hasse Geburtstage, ich hasse alles, was damit zusammenhängt, weil ich das unnötig finde.

Was machen Sie an Ihrem Geburtstag, wenn Sie nicht feiern? Fällt Ihnen ein Beispiel ein?

KARL: Einmal war ich in Moskau. Mit Anna Wintour und Donatella Versace für die Eröffnung der russischen Vogue.

Moskau, da floss bestimmt Wodka in Strömen?

KARL: Überhaupt nicht. Ich trinke und rauche nicht.

Haben Sie dann zu Hause nachgefeiert?

KARL: Warum? Was ist denn so besonders an einem Geburtstag?

Aber Sie erzählten mir doch einmal: Fürst Albert von Monaco ist ein besonderer Mensch, der vergisst einen Geburtstag nie! Ich freue mich immer auf das Geschenk von ihm …

KARL: Auf Geschenke freue ich mich auch den Rest des Jahres. Da gibt es keine feste Zeit dafür. Es muss nicht immer ein bestimmtes Datum sein. Wenn ich ein Weihnachtsgeschenk für jemanden schon in Juni finde, kann ich es nicht bis zu Weihnachten behalten. Ich gebe es gleich weg. Aber dann darf sich diese Person nicht wundern, wenn sie zu Weihnachten nichts mehr kriegt.

Also keine Geburtstagsfeier, nicht mal eine kleine im engsten Kreis mit ein paar Freunden?

KARL: Nein, nein, nein. Geburtstage und Jubiläen finde ich grauenhaft. Was feiert man da eigentlich? Dass man älter wird? Für die Kinder ist das schön, sie möchten schnell erwachsen werden. Kinder haben auch Geschenke gern, nützen jeden Vorwand, um welche zu bekommen. Aber als Erwachsener? Ich meine, man soll jeden Tag als einen außergewöhnlichen Tag erleben. Aus dieser Betrachtung heraus ist bei mir auch jeder Tag ein Geburtstag.

KONDENSMILCH.

EIN KAUFHAUS IN BERLIN. DIE ELTERN

Das Motiv.

Auf einer Kondensmilchbüchse erstmals im Jahr 1926 aufgetaucht, kennt es inzwischen fast jeder Deutscher: Glücksklee. Ein Markenklassiker wie Nivea, Persil, Aspirin oder Schwarzkopf. Für Elisabeth Bahlmann erschien dieser Glücksbringer leibhaftig in der Person von Otto Lagerfeldt aus Hamburg. Schon 50 ist er, als er ihr begegnet. »In Berlin, in einem Kaufhaus arbeitete Elisabeth Bahlmann als Verkäuferin, dort hat sie Otto kennengelernt«, behauptete ein Verwandter von Karl. Seine Aussage steht im krassen Gegensatz zu Karls bisherigen Darstellungen über seine Mutter:

KARL: Eine aristokratische Künstlerin, meine Mutter war eine Violinistin, sie war liberal und sehr modern für ihre Zeit. Schon 1919 flog sie selbst ihr eigenes Flugzeug.

Jeder Journalist, der es hören will, mich eingeschlossen, bekommt diese Version zu hören. Verbrämt mit einem Schloss voller Diener, draußen Pferde auf der Koppel, auf denen seine Mutter wie eine Gräfin ritt.

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Lücken im Archiv.

Am 20. Mai 1998 erzählte mir Karl in Paris von seiner Mutter.

KARL: Ich fand Hamburg immer bildschön. Nur wurde mir als Kind von meiner Mutter dreimal am Tag wiederholt: »Hier gehörst du nicht hin.« Sie erzählte mir vom Berlin der Zwanzigerjahre, sie schwärmte davon, was für ein Leben es dort gab, aber Berlin war ja nach dem Krieg kaputt. Sie wollte diese Stadt deshalb auch nicht wiedersehen. Sie wollte in ihrem Kopf das Bild bewahren, als sie dort noch jung, frisch und glücklich gewesen war. Sie wollte nicht die Ruinen sehen.

Berlin, aha! Was Karls Mutter dort machte, ist meine nächste Frage, aber Karl lässt sich nicht in die Karten gucken. Ich gehe zum nächsten Stichwort über:

Memoiren, können wir damit rechnen?

KARL: Vielleicht schreibe ich sie. Eigentlich – viel Lust habe ich nicht. Wenn ich meine Erinnerungen schreibe, dann nur, weil mir ein amerikanischer Verlag wahnsinnig viel Geld dafür bietet.

Wann fangen Sie an?

KARL: Ich weiß noch nicht. Die Zeit. Wenn eine Autobiografie, dann werde ich das Buch selbst schreiben. Auf Englisch, weil ich es wohl auf Englisch am besten kann. Die Engländer haben Humor, die Deutschen nicht. Deshalb will ich auch keine Übersetzung. Weder ins Deutsche, noch ins Französische. Wenn die Leute in Frankreich oder in Deutschland meine Autobiografie lesen wollen, aber kein Englisch können, sage ich: »Dann ist das Buch nicht geeignet für sie!«

Warum nicht?

KARL: Weil die Geschichte ganz anders war wie all das, was man über mich kennt. Das ist ja das Amüsante an der Geschichte. Aber ich bin mir nicht sicher, dass ich die wahre Geschichte veröffentlicht haben will, solange ich lebe. Ich schreibe oft und dann schmeiße ich’s wieder weg. Komisch, nicht?

Und was Sie so schreiben …

KARL: Ist alles auf Englisch. Komisch, nicht?

Wie klingt es für Sie, wenn Sie lesen, was Sie auf Englisch geschrieben haben?

KARL: Ganz gut. Ich finde, ich schreibe ganz gut in Englisch. Aber das ist nicht entscheidend. Wenn es um meine Memoiren geht, die können, solange ich lebe, nicht veröffentlich werden.

Werden Sie derart skandalös?

KARL: Gar nicht, nur wird nicht alles drin sein, was die Leute gerne lesen wollen. Ich will niemandem einen Gefallen tun.

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Kontakte nach Amerika.

Das Puzzle für das Lebensbild seines Vaters lässt sich leichter zusammensetzen als das der Mutter. Ein Foto von ihm zeigt Karl in seinem Buch Die 3D Diät, aufgenommen 1914 in Wladiwostok. Wie ein russischer Graf sieht er aus, mit Eleganz und Schneid, knapp 35 Jahre alt. Unter seinem dicken Schnauzbart zeichnet sich ein leicht süffisantes Lächeln ab. Das mittelkurze Haar gescheitelt, akkurat hinter den Ohren mit Brillantine gefestigt, trägt sein Vater einen hohen Kragen, genauso, wie der Sohn es heute pflegt. Was der Patriarch Lagerfeldt zumindest beruflich getrieben hat, kann man aus einigen Firmenunterlagen herauslesen, die noch existieren. Mühsam zugänglich, kleinteilig über Deutschland und Amerika zerstreut. Was man findet, ergibt ein wahrhaft abenteuerliches Profil.

Wo der Nachweis fehlt, ist nur die Behauptung, er wäre ein gebürtiger Schwede, wie Sohn Karl erzählt. Stockholm oder Hamburg, ich belasse dabei das Fragezeichen. Das Geburtsjahr 1878 stimmt dagegen. Über die Eltern und deren Kindheit ist nichts offiziell bekannt. Die Ausbildung besorgt das Leben. Als 16-Jähriger heuert Otto Lagerfeldt (mit »dt«) auf einem Schiff an. Es ist ein Kaffeefrachter, der aus fernen Ländern die Bohnen für die Hanseatische Rösterei J. J. Darboven transportiert. Zwischen Hamburg, Santos und New York schippert der »Schwede aus Hamburg«, so sein Sohn, neun Jahre lang auf hoher See.

Am 16. April 1906 kommt Otto Lagerfeldt in San Francisco an. Zwei Tage später bricht dort die bisher größte Naturkatastrophe Amerikas aus: Ein verheerendes Erdbeben. Die Telegrafentechnik macht bereits die Bildübertragung möglich. Die ganze Welt sieht die Verwüstung. Noch schlimmere Schäden als die Erschütterungen des Meeresgrabens vor der Küste verursacht das anschließend ausgebrochene Feuer in der Stadt. Die von gerissenen Stromleitungen sprühenden Funken zünden das aus den geborstenen Leitungen herausströmende Gas an. Von 400 000 Menschen verlieren fast 300 000 ihr Obdach.

Etliche Schiffe, die in San Franciscos Hafen vor Anker liegen, kentern. Darunter auch der Hamburger Frachter, mit dem Lagerfeldt ankam. So muss er vorerst an der Westküste bleiben. Doch er weiß, was zu tun ist. In der Lebensmittelbranche gut bewandert, reist er in die Ortschaft Kent im US-Bundesstaat Washington. Die Bedeutung dieses versteckten Ortes an der kanadischen Grenze geht auf einen mächtigen Konzern zurück: Pacific Coast Condensed Milk Company, gegründet 1899. Die Marke »Carnation« (übersetzt: Nelke) tritt bald einen Siegeszug über ganz Amerika an. Schon in wenigen Jahren gibt es kaum ein amerikanisches Frühstück ohne die »kondensierte Kuh in der Dose«. Der hemdsärmelige Gründer Elbridge Amos Stuart will mit seinem Produkt weltweit expandieren. Ein Globetrotter wie Otto Lagerfeldt kommt ihm da wie gerufen und im Handumdrehen wird er als Handelsreisender eingestellt. Er wird später seinem Sohn Karl viel von diesem Milchpionier der amerikanischen Gründerepoche erzählen, der wie alle seine Zeitgenossen keine Grenzen für seine Ziele kannte. Der Patriarch Lagerfeldt hat ihn lebenslang als Vorbild in Erinnerung behalten.

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Der Spion, der keiner war.

Als vor dem Ersten Weltkrieg in Sibirien eine verheerende Rinderseuche ausbricht und dadurch Milch Mangelware wird, hilft der amerikanische Kondensmilchkonzern die Hungersnot in Russland zu bekämpfen. Otto Lagerfeldt ist für die Lieferungen aus Amerika verantwortlich. Die Schiffsladungen mit den »Carnation«-Konserven kommen im Hafen von Wladiwostok an.

In den Wirren der 1917 ausgebrochenen Oktoberrevolution gerät er in Kriegsgefangenschaft, weil er für einen amerikanischen Spion gehalten wird. Karls Vater gehört allerdings nicht zu den Leuten, die vor dem Leben kapitulieren. Es gelingt ihm zu fliehen und mit ein paar Brocken Russisch schlägt er sich auf eigene Faust durch das riesige, vom Bürgerkrieg heimgesuchte Zarenreich bis nach Hamburg zurück. 1919 nimmt er telegrafisch bei dem westpazifischen Milchriesen »Carnation« die Handelsbeziehungen wieder auf.