Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:
bettina.cramer@mvg-verlag.de

© 2011 by mvg Verlag, ein Imprint der FinanzBuch Verlag GmbH, München,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096

Umschlaggestaltung: Ruth Botzenhardt, München
Umschlagabbildung: Harry Schnitger, Berlin
Satz: HJR, Sandra Wilhelmer, Landsberg am Lech
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Cover-Make-up: Angelika Grzesko, Berlin
Bettina Cramer trägt auf dem Cover Bekleidung von Schumacher

Weitere Infos zum Thema

www.mvg-verlag.de
Gern übersenden wir Ihnen unser aktuelles Verlagsprogramm.

VORWORT

Dies ist ein Buch über die Liebe. Liebe ist das Wort, das mir immer wieder durch den Kopf geht, wenn ich meine Frau mit unseren Kindern sehe. Diese unendliche und bedingungslose Liebe.

Nicht einmal zwei Jahre sind die Kinder jetzt alt. Sie können noch nicht richtig sprechen. Aber auch ohne Worte ist da dieses Verständnis, diese Selbstverständlichkeit. Eine Geste, ein Ton – die drei verstehen sich intuitiv. Es muss ein besonderes Band zwischen Mutter und Kindern geben, vom ersten Tag an, unsichtbar und stark. Dies ist ein Buch der Wahrheit. Es zeigt meine Frau von ihrer wirklichen Seite. Fernab lächerlicher Klischees und Schubladen. Es zeigt nicht die »Promifrau« vom roten Teppich, nicht die Societylady, die ihr so viele andichten wollen. Es zeigt die wahre »Ti«, die Familie und Freunde so sehr schätzen, die ihre Truppen zusammenhält, bis zur Selbstaufgabe für alle da ist, die ihr wichtig sind. Und deren Leben im März 2009 komplett auf den Kopf gestellt wurde. Auch mein Dasein hat die Geburt von Carla und Luis verändert. Und das war nicht immer leicht. Plötzlich verschoben sich Prioritäten, stand ich selbst nicht mehr im Mittelpunkt meines eigenen Lebens. Jeder Tag, alle 24 Stunden – fortan Hoheitsgebiet der Kinder.

Viele Väter, die ich kenne, haben es mir vorhergesagt: Es ist nicht leicht, sich darauf einzustellen.

Gerade die ersten Monate war ich für Bettina mehr Last denn Hilfe. Sie würde das nie so sagen, aber es ist die Wahrheit. Väter werden da praktisch nicht gebraucht. Alles, was Babys zum Leben brauchen, gibt’s bei Mami. Ich stand oft hilflos daneben, überflüssig, machte vieles falsch. Füttern dauerte oft ewig, das Geschrei, meine Geduld, meine Nerven – nach einem langen Arbeitstag war das Maß schnell voll. Ja, da war durchaus ein »Fremdeln«.

Heute ist das anders. Beide sind quicklebendig, voller Power und Freude. Es gibt heute nichts Schöneres, als nach einem langen Arbeitstag nach Hause zu kommen und von Carla und Luis empfangen zu werden. Zu toben, zu kuscheln, mit ihnen laut zu lachen. Jetzt ist da auch dieses Verständnis, diese Selbstverständlichkeit. Eine Geste, ein Ton, wir verstehen uns intuitiv. Es gibt heute auch ein besonderes Band zwischen den Kindern und mir. Dies ist ein Buch über die Liebe.

Michael Cramer

HEUTE IN BERLIN GEBOREN

Das Wasser spritzt in alle Richtungen, es sprudelt nur so aus der Duscharmatur an der Wand. Aus der Brause kommt allerdings kein Tropfen. Ich muss aber duschen! Mir wird flau im Magen vom starken Lilienduft und den Gedanken an den Tag, der vor mir liegt. Zehn riesige, rosafarbene Lilien stehen in einer Vase vor der Dusche, neben der Toilette, unter dem Waschbecken. Für vier Quadratmeter eindeutig zu viele, schon im Krankenzimmer konnte ich den sonst so geliebten Duft nicht ertragen. Unzählige Liter Berliner Wasser laufen ungenutzt in den Abfluss, während ich, ungeduscht und von Lilien betäubt, überlege, wie ich mich am elegantesten durch die engen Schiebetüren der winzigen Kabine zwänge, um irgendwo anders in der großen Klinik noch eine andere Dusche zu finden. In einer Stunde bekomme ich nämlich Zwillinge.

»Micha!! Die Dusche ist kaputt, irgendwas ist geplatzt, kannst du im Schwesternzimmer mal fragen, wo ich noch duschen kann?« Zum Glück ist mein Mann schon da. Um halb sieben stand er in der Tür, ein bisschen blass um die Nase. Verständlich, schließlich wird er heute zum ersten Mal Vater. Ich habe eigentlich ganz gut geschlafen in Anbetracht der Tatsache, dass ich einen Mega-Bauch, eine abklingende Bronchitis und einen Kaiserschnitttermin habe.

So beschrieb ich meinem Tagebuch meine Gefühle vor zwölf Stunden: »Morgen werde ich Mutter! In zwölf Stunden holt mich meine Hebamme Monika ab, um mich zum OP zu bringen, dann folgt die PDA und um acht Uhr der Kaiserschnitt. Vom Professor persönlich durchgeführt. Ich kann’s nicht glauben, nichts dagegen unternehmen, würde meinen Puls gern wissen, sicherlich hoch, mein Kopf ist jedenfalls rot und mein Herz schlägt schnell. Wie dem Wolf bei ›Rotkäppchen‹ schneiden sie mir morgen den Bauch auf, um meine kleinen Muckel rauszureißen! Ich würde sie noch gern in mir behalten. Was kaum einer verstehen kann. ›Wieso, willst du sie denn nicht sehen? Es nimmt sie dir doch keiner weg!‹, höre ich immer wieder. Doch! Das Leben. Mit großer Wahrscheinlichkeit werde ich nie wieder Wesen in mir haben, die sich bewegen, Schluckauf haben, schlafen, treten, sich strecken, zuhören, Purzelbäume schlagen, immer ganz nah bei mir sind. Gerade blubbert es in meinen Lenden, als würden kleine Mäuschen hin und her laufen. Jetzt ist ein kleiner Delfin dort, wo eigentlich mein Magen sein müsste, aufgetaucht, um mich kurz zu kitzeln, eine Welle zu hinterlassen und wieder im Bauchozean unterzutauchen. Und das soll morgen alles vorbei sein? Natürlich bin ich wahnsinnig gespannt, wie unsere Kinder aussehen, welchen Charakter sie haben. Ich hoffe so sehr, dass sie gesund sind, niedlich, hübsch, wohlgewachsen, na eben alles, was Eltern sich erhoffen. Dennoch, gerne hätte ich gehabt, dass sie von selbst entscheiden, wann sie auf die Welt wollen, und gerne hätte ich ihnen mit meiner Kraft dabei geholfen …«

»Guten Morgen, Frau Cramer! Ich hab von Ihrem Problem gehört. Sie können im Schwesternumkleideraum duschen. Ach ja, heute ist schon viel los, Ihr OP-Termin wurde um eine Stunde verschoben. Der Professor hat noch drei andere vor Ihnen«, teilt mir eine Schwester unaufgeregt mit. Aha. Na gut. Jetzt habe ich sieben lange Jahre auf diesen Moment gewartet, da werde ich die eine Stunde auch noch verkraften.

Im Schwesternumkleideraum stelle ich fest, dass es noch kleinere Duschkabinen gibt. Bei 113 Zentimetern Bauchumfang – vor 20 Minuten gemessen – müssen 13 eben vor der Tür warten, bis sie dran sind. Ich dusche ausgiebig, wasche mir die Haare. Meine Kinder sollen ihre Mutter doch gepflegt kennenlernen und wer weiß, wann ich das nächste Mal die Arme ohne Schmerzen bis zum Kopf bekomme. Scheiße, habe ich Angst vor dem Kaiserschnitt. Ich hasse Operationen, hatte noch nie so eine große und ich möchte nicht aufgeschnitten werden! Eine Woche haben jetzt alle mit mir getextet, ob oder ob nicht. Was besser für die Kinder ist, was nicht. Ich wollte vom Anfang bis fast zum Ende der Schwangerschaft eine natürliche Geburt. Bis vor einer Woche sprach nichts gegen diesen Wunsch. Doch dann stellte meine Frauenärztin vorigen Montag fest, dass unser Mädchen ungefähr 500 Gramm leichter ist als der Boy. Sie schickte mich noch einmal zum Spezialisten. Der Feindiagnostiker schallte, maß und rechnete sehr, sehr lang und genau. Verzog dann die Stirn. Und sagte:

»Also, eigentlich alles okay, bis auf ein paar Parameter, aber dazu will ich jetzt nichts sagen, das muss nichts bedeuten.«
»Herr Doktor, was ist los?«, fragte Micha direkt.
»Na ja, ich will da den Kollegen nicht ins Handwerk pfuschen, sie sind ja bei dem ›Zwillingspapst‹ von Berlin, am besten, der guckt sich das noch mal an.«
»Herr Doktor! Raus mit der Sprache!«
»Also, bei Ihrem Mädchen, da könnte die Versorgung im Kopf nicht so gut sein.«
»Und was heißt das?«
»Ach, ich will da nicht …!«
»Bitte!«
»Also, wenn Sie mich fragen – warum warten Sie eigentlich noch? Sie sind in der 38. Woche, beide Kinder sind groß, für Zwillinge sehr groß. Es kann nur noch schlechter werden. Die Versorgung nimmt manchmal in kurzer Zeit rapide ab.«
»Sie raten uns also, nicht die natürliche Geburt abzuwarten, sondern einen Kaiserschnitt zu machen?«, fragte ich zögernd nach.
»Ja.«
»Wann?«
»Morgen.«
»Wieso denn so schnell, was kann denn im schlimmsten Fall passieren?«, wollte Micha wissen.
»Dass Ihre Frau ein totes Kind im Bauch hat.«

Am nächsten Morgen waren wir samt Hebamme in der Klinik. Dort stellte man zwar auch fest, dass unser Junge größer und schwerer als das Mädchen ist, Auffälligkeiten bei der Versorgung konnte aber keiner messen. Jedoch wollten die Experten hier dem vielgeschätzten Feindiagnostik-Kollegen auf keinen Fall widersprechen und so verhielten sie sich sehr zurückhaltend. Michael und ich waren total verunsichert. Selbst meine erfahrene Powerhebamme meinte, wir müssten ganz allein entscheiden, wie weiter. Also wurde erst einmal entschieden, dass die Frau mit dem dicken Bauch in der Klinik bleibt, weil sich nämlich zusätzlich zu den neuen Sorgen über Nacht ein wunderbar rasselnder Husten samt Bindehautentzündung eingenistet hatte. Und damit könne man ja auf keinen Fall operiert werden.

Drei Tage und unzählige Anitbiotika-Infusionen später, kam mich mal wieder der Herr Professor in meinem Zimmer besuchen. Ich bin Kassenpatientin, aber den Luxus, vom Prof persönlich entbunden zu werden, plus Einzelzimmer haben wir mir »gegönnt«.

»Frau Cramer, wie wollen Sie denn nun entbinden?«, fragte er mich zum ungefähr 300. Mal in den vergangenen Tagen. Dabei erhellte ein herrlich verschmitztes Kleine-Jungs-Lächeln sein Gesicht. Er war ein alter Fuchs, hatte noch ein Jahr bis zur Pension, besser: zum Lehrauftrag an einer Elite-Uni in den USA. Er hatte schon alles gesehen und wusste genau, was in mir vorgeht. Und natürlich wusste er auch ganz genau, wie ich entbinden wollte.

»Herr Professor, wie oft haben Sie mich das jetzt schon gefragt?! Sie wissen doch: Ich will meine Babys auf natürlichem Weg bekommen. Aber Sie sind der Experte. Ich höre auf Sie!«

Er atmete tief durch, schaute aus dem Fenster, auf dessen Brett er saß, und dann auf seine baumelnde Füße. »Ich bin auch immer für den natürlichen Weg, aber …«

»Professor, bitte, was ist das Beste für die Kinder?« Schweigen. Nach einer Minute Überlegen fing er an: »Also, wenn Sie meine Tochter wären …«
»Wunderbar! Das gefällt mir! Egal, was Sie jetzt sagen – so machen wir es!«
»Also, wenn es meine Tochter wäre, Ende dreißig, erstgebärend mit Zwillingen, dann würde ich ihr auf jeden Fall zu einem Kaiserschnitt raten. Der birgt das geringste Risiko für die Kinder, besonders für das zweite. Das ist kleiner, zarter. Ihm kann so eine Geburt sehr zusetzen, es könnte im Bauch umkippen, unterversorgt werden und …«
»Entschieden. Wann?«
»Montag, als Erste um sieben.«
»Ach, zweite oder dritte reicht auch, ich bin keine Frühaufsteherin.«
»Okay, um acht. Schönes Wochenende!«

Während mir die PDA gelegt wird, quassle ich wie ein Wasserfall oder wie meine defekte Duscharmatur. Mache Witzchen, erzähle schwachsinnige Geschichten, unterhalte den ganzen OP-Saal. Ich bin so aufgeregt. Schon vor dem Einstich in den Rücken habe ich solche Angst. Vor Jahren bin ich bei einer PDA ohnmächtig geworden. Dieses Mal geht alles glatt, es tut sogar weniger weh als erwartet. Langsam legen mich die zwei Hebammen und zwei Schwestern auf den OP-Tisch, die Arme abgespreizt vom Körper. Wie gekreuzigt. Der Professor kommt rein, begrüßt mich nett. Wo bleibt Micha? Anästhesisten, eine Chirurgin, Schwestern, alle bereiten sich vor. Endlich kommt der werdende Papa, ganz in Grün und sogar ziemlich optimistisch lächelnd, auf mich zu. Und mir wird schlecht.

»Du bist ganz blass, Bella!«
»Oh, ich glaube, ich werde ohnmächtig, ich hab solche Angst und mir ist so übel.« Sofort habe ich eine Spuckschüssel aus Pappe vor dem Gesicht und eine extrem kalte Flüssigkeit in der Vene.
»Das kriegen wir wieder hin, ich gebe ihr ein Mittel dagegen«, höre ich den Anästhesisten aus der Ferne sagen. Und tatsächlich: Sekunden später wird das Rauschen in meinen Ohren weniger und meine Lebensgeister kehren zurück.
»Ah, jetzt geht’s wieder! Zum Glück, wäre ja peinlich, wenn meine Kinder ihre Mutter als Erstes kotzend erlebt hätten!« Für schlechte Scherze reicht es wieder.

Vor uns wird ein grünes OP-Tuch als Sichtschutz hochgezogen und dann wird es still. Da ich auf keinen Fall hören will, wie mein Bauch aufgeschnitten wird, fange ich ein Gespräch mit dem Chef an.

»Herr Professor, Monika hat mir gesagt, Sie machen die besten Kaiserschnitte!«
»Alles Lüge! Sie sind mein erster in diesem Jahr.«
»Ach so, deswegen die Assistenzärztin. Können Sie vielleicht auch gleich mal nach meinem Blinddarm gucken? Der macht mir ab und zu Probleme.«

Die Stimmung ist gut. Ich schaue Michael in die Augen und für kurze Zeit gibt’s nur uns und die wunderbare Tatsache, dass wir gleich Eltern sein werden. Er drückt meine Hand und gibt mir Kraft. Im Fernsehen bei den Doku-Serien sehen die werdenden Mütter immer so entspannt und optimistisch aus – und so tapfer. Ich aber fühle mich klein, schwach und hilflos. Ich will nicht, was mit mir in diesem Moment passiert, und kann doch nichts dagegen tun. Der doofe Spruch »Raus kommen se alle!« fällt mir ein. »Tja, aber wie?«, denke ich. Eigentlich könnte es nicht besser laufen. In ein paar Minuten oder Sekunden sind unsere Kinder auf der Welt. Ohne Schwerstarbeit ihrerseits, dafür wahrscheinlich mit einem großen Schreck. Die Geschichten zweier befreundeter Zwillingsmütter kommen mir in den Sinn. Beide hatten auf natürlichem Weg angefangen zu gebären und dann musste doch noch geschnitten werden, da bei der einen die Kraft nach 14 Stunden nicht mehr reichte und bei der anderen das zweite Kind im Bauch umgefallen war.

Dann bemerke ich wieder, was bei mir abläuft: Es wird geschoben, gerüttelt, gedehnt. Der Tisch, auf dem ich liege, neigt sich. Meine Füße werden höher gestellt, wohl um es dem Professor leichter zu machen.

Ich finde das alles so grauenhaft. Wie konnten Schiffer, Beckham und Co. nur wegen der Planbarkeit oder sonstigen für mich nichtigen Gründen einen solchen Eingriff einer natürlichen Geburt vorziehen? Sicher, eine normale Entbindung ist ebenfalls schmerzhaft, anstrengend und manchmal traumatisierend. Aber »natürlich«! Das hier ist die schlimmste körperliche Erfahrung meines Lebens.

»Wie weit die wohl sind?«, flüstert Micha nach ungefähr fünf bis zehn Minuten. »Also, ich sehe schon den ersten Kopf«, antwortet der Anästhesist. Und bevor ich mir dieses Bild richtig ausmalen kann, hören wir ihn. Den ersten Schrei unseres Sohnes. Um 9:37 Uhr brüllt Luis Cramer sein neues Leben an. Sekunden später, heller und zorniger, schreit unser Mädchen. Carla. Ein Moment, den Micha und ich nie vergessen werden.

Und endlich, endlich sehe ich meine Kinder. Unsere Hebamme Monika hält uns Luis hin. Klein, gekrümmt, faltig und blond. Ich habe einen blonden Sohn. Er sieht ganz anders aus als erwartet und ist mir doch sofort vertraut. Carla kommt als Zweite über den Sichtschutz geflogen. Und wirklich: Sie sieht aus wie ein Vögelchen, welches aus dem Nest gefallen ist. Dunkles, feuchtes Haar, ein großer aufgerissener Mund, die Händchen zu Fäusten geballt. Sie ist nicht die hübsche kleine Puppe, die ich erwartet habe, hat ein Mal im Gesicht und einen empörten Ausdruck. Aber, Cramerin, wie egal ist das Aussehen!? Deine Babys sind putzmunter, gesund und voller Power auf die Welt gekommen. Freue dich! Eigene kleine Menschen, ganz so, wie sie sind und sein sollen, wunderbar!

Und schon ist meine eben gewonnene Familie weg. Micha darf mit beiden zu den Kontrolluntersuchungen, während ich zugenäht werde.

»Ach übrigens, Frau Cramer, Ihr Blinddarm ist in allerbestem Zustand, ich hab ihn mir gerade mal angeschaut«, höre ich vom Professor hinterm Vorhang. Ich lache laut auf und bin glücklich. Auch über den Blinddarm.

»Marie passt nicht! Das ist auf keinen Fall eine Marie! Glaub mir, Bettinchen. Ich erkenne zwei Minuten nach der Geburt den Charakter eines Kindes. Und das hier ist keine liebe Marie, sondern eine Kämpferin!«, stellt Monika klar, als sie mir die beiden neuen Menschen 20 Minuten später in den Aufwachraum bringt. »Luis ist ein ganz lieber, gelassener Junge. Seine Schwester hingegen – holla! Ich kann dir genau sagen, wie das später sein wird: Luis sitzt im Kinderzimmer in der Ecke und sagt: »Carla, geh du mal zu Mama und frag, ob wir dürfen!« Gut. Damit hat sich Marie als Zweitname erledigt. Leona, die Löwin, passt offenbar besser.

Während dieser ersten Charakterstudie legt Monika mir die Babys an die Brust. Noch benebelt vom Kaiserschnitt und der doch sehr konkreten Wesensbeschreibung meiner Kinder schaue ich an mir runter und denke »Wie praktisch, deshalb hat frau zwei …« Carla und Luis wissen sofort, was zu tun ist. Nur mein Körper muss noch verstehen, dass er sich Wehen sparen kann und gefälligst mit der Milchproduktion beginnen soll.

Zwei Betten weiter wacht eine Frau langsam aus der Narkose auf. Kaum hat sie die Augen auf, ruft sie die Schwester.

»Sagen Sie bitte, ich bin gerade operiert worden. Können Sie mir sagen, ob ich meine Gebärmutter noch habe?«
»Det kann ick Ihnen nich sajen, det müssen Se die Ärzte frajen.«

Ich bin gerührt. Was für eine unendlich traurige Frage aus meiner Sicht, denn für mich stand immer fest, dass ich Kinder haben wollte. Ein Leben ohne Kinder erschien mir einsam, kalt, leer. Wie wohl der Lebensplan dieser Frau aussieht? Hat sie schon Nachwuchs? Wünscht sie sich noch welchen? Oder auch nicht? Ist dieser Wunsch ab heute unerfüllbar? Noch mehr als zuvor wird mir klar, welches Wunder für mich vor einer Stunde geschehen ist. Ich betrachtete diese winzigen Köpfe an meiner Brust und kann einfach nicht realisieren, dass sie ab jetzt ein Leben lang zu uns, zu mir gehören, dass ich Mutter bin. Werde ich das packen? Sie lieben, beschützen, erziehen, leiten, trösten, stärken, begleiten, laufen lassen können? Ja, ja, ja! Alles in mir schreit »Ja, ich will!«, und ein unbeschreiblich warmes Glücksgefühl breitet sich aus. Tränen laufen mir langsam übers Gesicht. Sie kitzeln. Ich kann sie nicht wegwischen. In jedem Arm liegt ein Kind.

Hallo Welt! Am 16. März in Berlin geboren:
Carla Leona Cramer, 50 Zentimeter, 2.790 Gramm
Luis Caesar Cramer, 53 Zentimeter, 3.480 Gramm
Bettina Cramer, Mutter!

»3, 2, 1– WIR SIND DRAUF!«– MEIN ALLTAG VOR DEN KIDS, ALS TV-MODERATORIN IN DEN DREIßIGERN

Mutter. Wann wollte ich eigentlich Mutter werden? Zu unterschiedlichen Zeiten. Flexibel verschiebbar – nach hinten. Mit 20 stand fest: Wenn ich 25 bin, bekomme ich das erste Kind, mit 25 verschob ich es auf 30.

Ich weiß noch ganz genau, wie eine gleichaltrige Kollegin mit 21 vor mir stand und unglücklich flüsterte: »Du, Bettina, stell dir vor: Ich bin schwanger! Was soll ich denn jetzt tun?« Hätte sie mich gefragt, ob sie sich die Arme oder doch lieber die Beine eingipsen lassen soll – meine Reaktion wäre ungefähr die gleiche gewesen. Ich konnte es nicht fassen. Schwanger? Mit Anfang 20? Das war für mich so unvorstellbar, so abstrakt … so »zukunfttötend«.

Ich hatte zu der Zeit selbst mal »nicht aufgepasst« und war danach zwei Wochen in heller Aufregung. Wen habe ich damals in Gedanken nicht alles angefleht. Mein Liebstes und Teuerstes – von der Stereoanlage über sämtliche Michael-Jackson-Platten bis hin zu meinen langen Haaren – hatte ich den hohen Mächten angeboten, wenn sie nur verhindern würden, dass ich schwanger wäre. Ich war es nicht. Stereoanlage und Platten holte sich keiner ab, dafür schnitt ich mir aus Dankbarkeit einen Pony.

Aber zurück zu meiner Kollegin Nicole. Sie war im zweiten Monat und ich wollte ihr helfen, wollte mich in ihre Lage versetzen, einen Rat finden.

Wir hatten beide feste Freunde, waren glücklich liiert. Beide arbeiteten wir in der Kosmetikabteilung eines Warenhauses. Und zumindest ich für meinen Teil hatte unendlich viele Pläne. Die Mauer war gerade gefallen, die Welt stand mir offen, ich hatte auf gut Deutsch »Hummeln im Hintern«. Die Welt wollte ich sehen, Karriere machen, mein eigenes Geld verdienen, unabhängig von einem Mann leben können, Spaß haben. Ich wollte das Leben genießen und spürte, dass ich mit 21 auf keinen Fall die Ruhe für ein Kind hätte. Denn drei Dinge hatte ich mir schon sehr früh gewünscht: 1. Einen glücklichen Kindsvater! Die Vorstellung, dass ein Mann zu mir sagt: »Was, du bist schwanger? Von mir? Und nun?«, fand ich grauenvoll. 2. Ich wollte die innere Ruhe für ein Kind. Nicht mehr das Gefühl haben, vieles zu verpassen. Und 3. Wenn schon Kinder, dann bitte zwei auf einmal. Zwillinge! Die Vorstellung schwanger zu sein, Bewegung im Bauch zu spüren gefiel mir nämlich gar nicht. Deswegen fand ich es ungemein praktisch, das mit einem Mal »abzuhandeln«.

Wie konnte ich Nicole helfen? Wenigstens ein bisschen? Ich hatte eine Idee: Die halbe Nacht verbrachte ich an meinem Schreibtisch und bastelte für Nicole ein großes Pro-und-Kontra-Bild. Alle Gründe für ein Kind: die bedingungslose Liebe, das Wunder Leben, der Spaß mit ihm, die Knuddel-Momente, das schöne Familienleben, die Sicherheit im Alter, der Vorteil einer jungen, fitten Mutter – all das kam auf die linke Seite. Die rechte Seite zeigte das Kontra, wie ich es sah: Nicole hatte nur eine Lehre abgeschlossen, kaum Berufserfahrung, sie stand jetzt als Beraterin am Kosmetik-Counter. Karriere? Ihr Freund wollte noch keine Kinder, die fehlenden Freiheiten, wenig Geld, die frühe Verantwortung. Und auch den ganzen Stress von vollen Windeln über Koliken bis hin zu durchwachten Nächten versuchte ich bildlich darzustellen. Ich klebte, malte, schrieb bis spät in die Nacht und irgendwann wusste ich selbst nicht mehr, welche Seite ich bevorzugt hätte, ich wollte nur noch ins Bett.

Am nächsten Morgen kaufte ich noch zwei »Uli-Stein«-Pins: Pinguine, die Schilder hochhielten: »Dafür« und »Dagegen«. Auf jede Seite kam eins, dann übergab ich Nici mein Werk. Sie freute sich, war gerührt und weinte. Nicht weil sie meine Bastelei so umhaute, sondern weil sie so ratlos war.

Zwei lange Wochen später teilte sie mir ihre Entscheidung mit: Thomas und sie wollten das Kind bekommen. Sie klang erleichtert und glücklich.

Als sie mich zum ersten Mal mit dem kleinen John besuchen kam, strahlte sie. »Bettina, jetzt hat mein Leben endlich einen Sinn!« Peng! Dieser Satz saß. Nie werde ich ihn und mein ungläubiges Staunen vergessen. Ich konnte gar nicht, überhaupt nicht, null, nada, kein kleines bisschen verstehen, wie eine junge Frau so etwas sagen konnte. Wie soll ein anderer Mensch, noch dazu ein so kleiner, einem Leben Sinn geben? Sicherlich würde er Nicole zum glücklichsten Menschen der Welt machen, zur stolzen Mutter, zur liebevollen Beschützerin, aber ihrem Leben einen Sinn geben? Wie sah es denn nur in Nicole vor dem Sohnemann aus? Waren da keine Menschen, Erlebnisse, Hobbys, Gefühle, Pläne, Träume, die sie erfüllten und ihr Zuversicht und Spaß vermittelten? Ich kann verstehen, erst recht, seit ich selbst Mutter bin, dass sich die Prioritäten im Leben mit einem Kind total verschieben. Die kleinen Menschen rutschen automatisch im Kopf, im Herzen und auch in der Seele bei Mama und Papa an die erste Stelle. Dennoch kann ich Menschen nur bemitleiden, die erst mit einem Kind im Leben einen Sinn finden. Und auch die Kinder sind nicht zu beneiden, welch große Last lastet schon früh auf ihnen. Kinder sollten Bereicherung und nicht Komplettierung sein.

Nach zwei Jahren bekam Nicole den zweiten Sohn. Sie kehrte nicht an ihren Arbeitsplatz am Kosmetikstand zurück. Fünf Jahre später verließ Thomas sie wegen einer anderen Frau. Was aus Nicole und den zwei Jungs geworden ist, weiß ich nicht. Ich wusste nur schon damals ganz genau: Das wollte ich auf keinen Fall erleben.

Ich hatte meinen Freund mit 17 kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er war sieben Jahre älter als ich und lebte in Dresden. Die Entfernung hielt uns nicht voneinander ab. Jedes Wochenende pendelten wir – er zu mir, ich zu ihm. Er studierte, ich war in der Ausbildung zur Außenhandelskauffrau.

Von klein an hatte ich zwei große Leidenschaften: Abenteuer und Rumbasteln. Wenn ich nicht gerade auf Bäume kletterte, Höhlen baute oder Frösche fing, dann malte, nähte oder strickte ich. Am liebsten hätte ich daher auch etwas Kreatives studiert, gerne Modedesign. Doch die Chancen, als Designerin in der DDR frei arbeiten zu können, waren schlecht gewesen. Also entschied der Kopf und nicht das Herz: Ich wurde Außenhändlerin, mit der großen Hoffnung, einmal reisen zu können. Ich landete in einer Abteilung, in der Teppiche und Auslegwaren aus Plauen und Hohenstein-Ernstthal in die Bundesrepublik verkauft wurden. Nicht gerade der spannendste Job der Welt, aber ich liebte die Leipziger Messe, wo es so herrlich »nach Westen« duftete, und träumte davon, irgendwann auch einmal unsere Kunden in Hamburg besuchen zu dürfen. Außerdem hatte ich ein wirklich tolles »Kollektiv«. Zu sechst saßen wir in einem Büro in Berlin, direkt »Unter den Linden«. Ich erinnere mich noch gut daran, wie die lustige Caro immer zu mir sagte: »Tinchen, aus dir wird mal wat. Bei dir kommt noch wat janz Großes! Det spür ick. Kann ick nich deine Managerin werden?« Noch oft sollte ich mich an Caros Prophezeiung erinnern.

1989 begann ich, wie man es in der DDR nannte, Außenwirtschaft zu studieren. Zwei Monate später, ich war gerade 20 geworden, fiel die Mauer. Das Beste, was mir passieren konnte! Ein Wunder! Nie hatte ich damit gerechnet. Die ganze Welt stand mir offen. Nur, was damit anfangen? In meinem Außenhandelsbetrieb sah meine Perspektive nicht besonders gut aus. Klar, mein Zuständigkeitsbereich, der Handel mit der Bundesrepublik, , war nun kein Außenhandel mehr.

Also nahm ich im Sommer 1990 mein Leben selbst in die Hand und die freie Marktwirtschaft beim Wort. Ich bewarb mich spontan bei BMW. Spontan im wahrsten Sinne. Morgens überlegte ich bei einer Tasse Kaffee: was tun? Meine Antwort kam schnell: »Autos verkaufen.« Die interessierten mich schon immer und weit mehr als Teppiche. Welche? »Na, die schicken: Mercedes oder BMW.« Schnell tippte ich meinen Lebenslauf in die Schreibmaschine und dann fuhr ich in der Mittagspause zum Ku’damm. »Hier sind Sie falsch, das ist der Showroom, Sie müssen in die Niederlassung«, hörte ich bei beiden Marken. Da BMW besser per U-Bahn erreichbar war, fuhr ich dorthin. 45 Minuten später saß ich mit dem Innen- und dem Verkaufschef im Vorstellungsgespräch. Die Unterhaltung lief gut, die Herren amüsierten sich köstlich über das kleine Ossi-Mädchen und seine Spontanbewerbung und als das Gespräch ins Russische wechselte, lachten wir, bis uns die Tränen liefen. Da spürte ich: Die haste in der Tasche. Und tatsächlich. Sie sagten mir zwar ehrlich, dass es bis dato keine einzige Auto-Verkäuferin in ganz Deutschland gab, sie das aber klären würden. Im BMW-Innendienst könne ich aber sofort anfangen. Aber das wollte ich nicht. Wenn schon, dann wollte ich ganz nah ran an die edlen Westwagen – in den Verkauf. »Lassen Sie Ihre Unterlagen da, Sie hören von uns, versprochen!«

Es sollte noch einige von diesen »Aktionen« in meinem Leben geben: auf Leute zugehen, fragen, bereit sein, Chancen ergreifen. Die Freiheit, alles machen zu können, jemand sein zu können, der man gerne wäre – ein Ding der Unmöglichkeit in der ehemaligen DDR und für mich eine der schönsten Seiten meines neuen freien Staates. Abgelehnt wurde ich nie, immer öffneten sich Türen.

Als ich an diesem Tag von BMW zurück in mein tristes Außenhandelsbüro kam, voller Vorfreude auf eine Zigarette nach all der Aufregung – da erwartet mich noch größere Aufregung. Caros Stimme überschlug sich fast: »Bettina, en Verlag aus Hamburg hat anjerufen, du sollst dringend zurückrufen, du bist bei irgendenem Wettbewerb anjenommen. Hab ick dir doch imma jesacht, da kommt wat janz Großet!« Hamburg? Wettbewerb? Das sollte doch wohl nicht etwa der Look-of-the-year Modelcontest sein, bei dem ich mich beworben hatte? Doch. Drei Stunden und zig vergebliche Anrufe später – von Ost nach West zu telefonieren war 1990 nicht einfach – wusste ich: Von 12.000 Bewerberinnen war ich unter die letzten zwölf gekommen und sollte am nächsten Tag in Hamburg sein. »Ihre Bewerbung kam so spät und dann haben wir Sie nicht erreichen können«, so die Entschuldigung der Organisatoren für die knappe Einladung. Stimmt, bei mir zu Hause gab es nicht mal einen Telefonanschluss, geschweige denn ein Telefon. Wie sie meine Büronummer rausbekommen hatten, weiß ich bis heute nicht.

Im Traum wäre ich nicht darauf gekommen, dass ich bei einem der größten Modelwettbewerbe der Welt eine Chance bekomme. Die Bewerbung war die Idee meiner Mutter, sie hatte den Aufruf in der NDR Talkshow gesehen. »Tina, Look of the year – das klingt doch gut. Der Name sagt doch schon, da geht es nicht in erster Linie um die Größe, sondern um die Ausstrahlung. Versuch’s doch einfach!«

Mit 14 war ich in der DDR als Model vom Deutschen Modeinstitut entdeckt worden und hatte bis zur Wende mit großem Spaß neben der Schule und der Ausbildung gearbeitet. Mit Modenschauen und Fotojobs verdiente ich mein erstes eigenes Geld. Ich liebte die Branche mit all ihrem Drum und Dran: die herrlichen Kleider – schöner als in jedem Geschäft –, die Choreografien und die coole Musik bei den Schauen, die Zusammenarbeit mit den besten Designern am Modeinstitut und den bekanntesten Fotografen des Landes. Ich sah es als spannendes Hobby. Hauptberuflich Model zu werden, kam mir aber nicht in den Sinn. »Das ist was fürs Herz und fürs Ego, aber der Kopf kommt mir zu kurz«, sagte ich oft. Trotzdem liefen mir die Tränen, wenn ich im Fernsehen Modenschauen aus Paris oder Mailand sah. Einmal da dabei zu sein, war mein größter Traum. Aber diese Welt war so unerreichbar.

Bis zu diesem 25. Juni 1990. Look of the year, heute Elite Model Look, hat Supermodels wie Gisele Bündchen, Tatjana Patitz und Cindy Crawford hervorgebracht. Und nun sollte morgen das kleine Tinchen Müller aus Ostberlin ihre Chance bekommen? Wie verrückt war das denn?

Mit meinen 1,72 hatte ich die Normkörpergröße der DDR-Models, aber würde die auch für eine internationale Karriere reichen? Ich hatte mit dem Mauerfall das Kapitel eigentlich beendet, die Bewerbung bei dem Elite-Modelwettbewerb war mehr ein Spaß, aus dem am nächsten Morgen Ernst wurde. Um sieben Uhr bestieg ich ein Flugzeug nach Hamburg und erlebte einen der aufregendsten Tage meines Lebens.

»Da sind wir, junge Frau.« Links sah ich Wasser, rechts vor dem Autofenster ein riesiges weißes Gebäude, mit blau-weißer Markise, auf der ich die Aufschrift »Kempinski Hotel« lesen konnte. In diesem Moment wurde meine Tür bereits geöffnet.
»Psst … das ist das Kempinski-Hotel. Ich wollte doch zum Hotel Atlantic!«, flüsterte ich meinem Taxifahrer zu.
»Alles richtig, das Atlantic ist ein Kempinski und ich bekomme 38,60 Mark!«

Ich schluckte – so viel Geld! Und so ein schickes Hotel! Ich kletterte aus dem Wagen und schaute an mir runter. Jeans mit Löchern drin, das trug man zu der Zeit im Osten. Aber auch im Westen? Schwarzes T-Shirt, schwarze große Lederumhängetasche, die bis zu den Knien hing, Turnschuhe. Ich hatte »modelmäßig« cool und natürlich aussehen wollen, außerdem sollte es bequem für die Reise sein. Aber Fakt war: Ich kam mir unendlich falsch angezogen vor – für ein 5-Sterne-Luxus-Hotel.

An der Rezeption nuschelte ich verlegen meinen Namen. Schaute man mich missbilligend an? Sahen die, dass ich aus dem Osten kam? Bestimmt. Ich hätte im Boden versinken können. Während lange nach einer Anmeldung für »Müller« gesucht wurde, kamen mehrere Mädchen lachend aus dem Fahrstuhl. Sie waren hübsch, groß und hatten fast alle lange Haare. Mein intensiver Blick verriet der verzweifelten Dame hinter der Theke, dass ich wohl »dazu« gehören müsse. »Sind Sie auch Kandidatin bei Look of the year? Sofort war alles klar und ich bekam meinen Schlüssel zum Zimmer 486. »Sollen wir Ihr Gepäck nach oben auf Ihr Zimmer bringen?« – »Nein, danke. Ich habe kein Gepäck.« Zahnbürste, Schlüpper und ein Stullenpaket hatte ich in meiner schwarzen Ich-passe-hier-überhaupt-nicht-her-Tasche.

»Die vom Wettbewerb sind alle im Saal, den Gang da runter und dann links«, sagte die Dame von der Rezeption mit einem Kopfnicken in die Richtung, in die eben die Mädchen-Gruppe verschwunden war. Mit klopfendem Herzen folgte ich ihnen.

Im Saal war schon mächtig was los: 20 Menschen wuselten hektisch herum, zehn Kleiderständer standen an der Kopfseite, davor stapelten sich auf langen Tischen an die 50 Paar Schuhe, auf einem weiteren Tisch lagen Tücher, Sonnenbrillen, Ketten und Ringe. Ich sprach eine Frau an, die gerade ein Outfit ordnete.

»Guten Morgen, ich komme aus Berlin, mein Name ist Bettina Müller, ich soll mich hier melden.«

Sie musterte mich überrascht und strahlte auf einmal übers ganze Gesicht. »Bettina, das ist ja schön, auf dich warten wir doch noch! Nun sind wir komplett! Bist du denn gut angekommen? Du kommst aus der Zone, äh, also aus Ostberlin, stimmt’s? Ich bin Gritt Sasser von der Für Sie, wir veranstalten den Look gemeinsam mit Elite Paris und dem NDR. Wie groß bist du? Welche Schuhgröße hast du?« Sie redete und redete und mir schwirrte schnell der Kopf.

»Du kannst dir diese Sachen mal anschauen und aussuchen, was dir so zusagt. Ist leider nur noch der Rest, die anderen elf Mädels haben bereits gestern gewählt.«

Ich stellte meine Tasche ab und merkte, was für einen trockenen Hals ich hatte – von der Aufregung, dem Flug und der bangen Frage ›Tina, was machst du hier eigentlich?‹ Denn schaute ich mich um, sah ich nur außerordentlich schöne Mädchen, viele jünger, fast alle größer als ich und: mit ihren Eltern angereist. Sie waren so fröhlich und selbstbewusst. Siegessicher probierten sie ihre schönen Sachen an, komplettierten die Outfits noch mit dem richtigen Schmuck, einem Tuch, passender Tasche. Ich war wirklich in einer anderen Welt gelandet.

Ich nahm mir eine Flasche Wasser und trank die Flasche in einem Zug aus, unterdrückte einen Rülpser und machte mich ans Aussuchen. Ein Tagesoutfit im Marinestil, ein Abendoutfit und einen Badeanzug galt es zu finden. Und das war schwerer als gedacht. Nichts passte mehr so richtig zusammen. Und das, was noch da war, war extrem unvorteilhaft für mich. Nur noch Blazer, Bermudahose und flache Schuhe. Warum hatten die 1,80-Mädchen sich auch noch hohe Pumps gekrallt und für mich 1,72-Muckel nur die flachen über gelassen? Und nicht nur das, die Schuhe gab es nur in Größe 40, ich hatte aber 38. Verzweifelt stand ich vor meiner »Marine«-Auswahl: weiße Leggins (nichts macht Beine dicker!), blau-weiß gestreiftes T-Shirt in Überlänge (nichts macht dicker als große Querstreifen), dazu flache dunkelblaue Turnschuhe in Größe 40 (nichts macht kleiner und lässt die Füße größer aussehen!) – Traumhaft!

Und beim Abendoutfit ging es genauso prickelnd weiter: schwarzer Samtblazer – (der gefiel mir), schwarze Samt-Bermuda-Hose (ging so) und die Krönung? Natürlich: flache schwarze Ballerinas.

»So Mädels, seid mal kurz ruhig, Ruhe bitte, ich möchte euch jemanden vorstellen. Das hier ist Heidi Gross, sie ist die Chefin von Model Management, der Agentur von Elite in Deutschland. Bei ihr kommt die Siegerin unter Vertrag. Aber bis es so weit ist, wollen wir euch den Ablauf des heutigen Tages mal kurz erklären.«

Ab elf Uhr, also gleich im Anschluss, war ein Lauftraining angesetzt, danach von 13 bis 14 Uhr gab es eine kleine Pause. Endlich Essen, ich war so hungrig! Danach Treffen im Wintergarten, um Fragebögen auszufüllen und – wenn gewünscht – Interviews zu geben. Anschließend nochmals einige Durchläufe mit der Choreografie, dann Make-up und Haarstyling und um 20 Uhr sollte es ernst werden. Um 20 Uhr würde ein ganzer Saal voller Mode- und Kosmetik-Redakteure, Leute aus der Industrie, der Mode- und Werbebranche, Promis und andere auf zwölf aufgeregte 17 bis 20-jährige Model-Anwärterinnen schauen. »Müllerin, ist es nicht schön, dass du dabei sein darfst?«, schoss es mir durch den Kopf.

In der Pause ging ich auf mein Zimmer und war sprachlos: Es war so edel, groß und schön – mit Blick auf die Alster und einem großen Marmorbad. Noch nie hatte ich in einem so schicken Hotel gewohnt. Voller Glücksgefühle ließ ich mich auf das große weiche Bett fallen und lachte laut. Anschließend fiel ich mit Heißhunger über meine selbst geschmierten Leberwurstbrote her. Zum Glück hatte ich welche mit, denn Essen war im Ablauf des Wettbewerbs nicht vorgesehen. »Ihr wollt doch keinen Bauch heute Abend haben, oder?«, hatte Frau Sasser lachend geantwortet, als die vorsichtige Frage nach einem Mittagessen gestellt wurde. Ich wollte vor allem keine schlechte Laune vor Hunger haben und auch keine 18 von meinen gerade erst eingetauschten West- Mark für einen Salat im Hotel-Restaurant opfern. Also mümmelte ich zufrieden meine Brote auf dem Kingsize-Bett.

Pünktlich um 14 Uhr trafen wir uns alle im Wintergarten wieder. Dort wurde uns die Chefin von Elite Paris vorgestellt. Wow! Die kleine, aparte, sehr mächtige Dame beeindruckte mich. Wen sie auswählte, der machte Karriere. Offenbar dachten sich das auch alle anwesenden Eltern, denn sofort war die Madame umlagert von Müttern und Vätern, die ihre Töchter feilboten. Wie ich so etwas hasste! Entweder man fällt durch seine Leistung oder in diesem Fall sein Aussehen und sein Auftreten auf oder eben nicht. Was soll da das Anbiedern und Schönreden? Ich verzog mich in eine Ecke und füllte meinen Fragebogen zu Alter, Maßen, Hobbys etc. aus. Doch lange währte die Ruhe nicht, ein Fernsehteam vom NDR fragte, ob es mich interviewen und den Rest des Nachmittags begleiten könne. Schließlich wäre ein Model aus dem Osten ja etwas Besonderes. Gern sagte ich zu.

Nach dem Ablauftraining begutachtete eine Frau Möller mein Haar. »Mädchen, du hast fantastisches Haar, aber wie konntest du dir nur eine Dauerwelle machen lassen? Das geht ja gar nicht in der Modebranche! Außerdem musst du zu deinem ovalen Gesicht und deiner Größe unbedingt eine hohe Stirnwelle tragen. Das streckt!« Innerhalb von einer Minute hatte ich also meine Frisur und die Dame wandte sich der nächsten eingeschüchterten Anwärterin zu. »Wow, du bist persönlich von Marlies Möller beraten worden. Toll!«, sagte die Visagistin vom Vichy-Team später, als sie mich schminkte. »Marlies Möller? Muss man die kennen?« – »Ja, das ist doch Hamburgs Starfriseurin. Die ist richtig berühmt, die Möller. Kannst du dir was drauf einbilden!« Das tat ich nicht, freute mich aber über den offenbar wirklich professionellen Tipp zu meiner Frisur.

Nach dem Schminken und vor dem Umziehen konnte ich noch einmal für fünf Minuten auf mein Zimmer verschwinden. Mir knurrte so sehr der Magen. Aber – oh Schreck – was war da passiert!? Mir wurde ganz heiß und ich lief rot an, als ich mich umsah. Das Bett war aufgeschlagen, meine vorher achtlos im Zimmer verstreuten Sachen lagen fein säuberlich auf dem Stuhl sortiert und meine restlichen Stullen, die waren weg! Wie gemein! Und wie peinlich. Mit Sicherheit war ich der erste Gast mit einem Stullenpaket in diesem ehrenwerten Haus gewesen.

Um kurz nach 20 Uhr gings endlich los: Eva Hermann – die kannte sogar ich von der Tagesschau – moderierte uns an und eine nach der anderen musste im schicken Matrosenlook über den Laufsteg gehen. Rechts und links davon saßen die Gäste, geradeaus die Jury. Diese bestand aus zwei Schauspielerinnen, der Vorjahressiegerin, dem Chef der NDR-Talkshow, dem Chefredakteur der Zeitschrift Für Sie und noch einigen Kosmetik- und Modeleuten. Alles Profis, das gefiel mir. Mein Auftritt gelang, doch als mich am Ende Eva Hermann ansprach und mir das Mikrofon vor die Nase hielt, klopfte mir das Herz bis zum Hals. »Gut gemacht, Bettina. War das dein erster Gang vor Publikum?« Ich erzählte ihr von meinen Modelerfahrungen aus dem Osten und ein leises Raunen ging durch den Saal. »Ah, ein echter Ossi!« Mann, war mir das alles peinlich, aber irgendwann war das Interview vorbei und ich musste mich schnell umziehen. Es folgten die Durchgänge im Badeanzug und in der Abendgarderobe und danach tagte die Jury. Pause. Endlich, wir hatten unsere flachen Bäuche gezeigt und wollten nur noch eins: essen.

Ich bin normalerweise kein Buffet-Stürmer, aber an diesem Abend griff ich den erstbesten Teller und schaufelte ihn voll. »Sie waren sehr gut!«, hörte ich plötzlich einen gut aussehenden Herren mit grau meliertem Haar neben mir sagen. »Mmh, danke!«, murmelte ich zurück, der geräucherte Lachs interessierte mich mehr. Außerdem wollte ich mich nicht anbaggern lassen. Ich kannte die Geschichten von der bösen und verruchten Modelbranche. Mit mir nicht! »Ich meine das ganz im Ernst!« – »Danke, das freut mich sehr, aber entschuldigen Sie bitte, ich muss gleich wieder hinter die Bühne und habe einen Mordshunger«, antwortete ich und verschwand mit meinem vollen Teller im Vorraum.

Keine zwei Minuten später gesellte sich der nächste Herr zu mir. »Und, sind Sie zufrieden mit Ihrem Auftritt?« – »Ja, ist ganz gut gelaufen«, antwortete ich zwischen zwei Bissen. »Glauben Sie, dass Sie gewinnen?« »Gewinnen?! Nee, also bei den vielen schönen Mädchen, nee, unter die ersten fünf zu kommen, wäre schon toll. Aber soll ich Ihnen mal was sagen?« Ich senkte die Stimme. «Ich glaube, das ist hier sowieso ein abgekartetes Spiel!«, raunte ich ihm in verschwörerischem Ton zu. »Abgekartet? Wieso?« – »Ach, Sie hätten das mal heute Nachmittag hier erleben sollen, wie die Eltern ihre Töchter bei den Damen von Elite förmlich angeboten haben. Ich glaube, die Gewinnerin steht schon seit Stunden fest!«

»Da kann ich Sie beruhigen, das ist nicht so!«, entgegnete mein Gegenüber schmunzelnd. »Und ich weiß das aus erster Quelle. Ich bin nämlich der stellvertretende Chefredakteur der Für Sie. Und als Mitveranstalter kann ich Ihnen garantieren, dass alles mit rechten Dingen zugeht!«

Mannomann, hätte der Fettnapf größer sein können? Nein. Zum Glück war der Herr Stellvertreter nicht sauer. Ich entschuldigte mich, wir rauchten eine Zigarette zusammen und ich verschwand wieder hinter der Bühne. Mein Bedarf an Gesprächen war gedeckt.

Das Warten gestaltete sich schwierig, wir zwölf waren doch sehr aufgeregt, wurden aber auch so langsam müde, es ging auf 23 Uhr zu und wir hatten einen langen Tag hinter uns. Plötzlich teilte sich der Vorhang zur Bühne und der Chef der Jury und Chefredakteur der NDR-Talkshow kam zu uns. Er schaute sich in dem kleinen Kabuff hinter der Bühne um, wo wir alle auf dem Fußboden saßen. »Bettina, kann ich dich mal kurz sprechen?« Oh, Mist, jetzt gibt’s Ärger wegen meiner Anschuldigung, schoss es mir durch den Kopf. Aber weit gefehlt.

»Bettina, du weißt wer ich bin? Gut. Also, ich wollte dir nur sagen, dass wir echt lange diskutiert haben. Wir sind ja auch schon über der Zeit. Also, die Hälfte der Jury ist für dich, die andere für Anja. Ich bin auch für dich, aber es wird Anja gewinnen. Sie ist 1,78 Meter und hat wirklich international mit dieser Größe die besseren Chancen als du. Es tut mir wirklich leid. Ich wollte dir das nur schon mal sagen, aber dafür wirst du Zweite und kommst zu mir in die NDR-Talkshow, um über den Abend hier zu berichten. Wie findest du das?« Ich konnte in diesem Moment gar nichts finden. Ich war einfach nur baff.

Wie nett von dem Herrn, extra zu mir zu kommen! – Wie ärgerlich, so nah am Sieg dran gewesen zu sein und es dann doch nicht geschafft zu haben. – Zweite! Das ist doch grossartig! All das ging mir durch den Kopf. Der Jury-Chef tätschelte mir die Wange und verschwand wieder hinter dem Vorhang

Wenige Minuten später ging die Siegerehrung los. Eine nach der anderen wurde auf die Bühne gerufen. Ich als Vorletzte. Die Siegerin zuletzt. Anja war ein hübsches rotblondes Mädchen mit Pagenschnitt und Sommersprossen. Die 17-Jährige freute sich sehr über ein Auto und den Zwei-Jahres-Modelvertrag mit Elite, dotiert mit 150.000 Mark. Außerdem durfte sie im September nach Rio de Janeiro fliegen zum weltweiten Endausscheid von Look of the year.

Wir bekamen alle Tüten voll mit Kosmetik, Blumen und viel Applaus. Dann ergriff Eva Hermann wieder das Wort und sagte, dass das noch nicht alles war. Es gebe bereits Aufträge für einige Teilnehmerinnen. Es wurde wieder ruhig im Saal und Eva las vor: »Die Zeitschrift Für Sie bucht Bettina Müller für ein Haar-Shooting!« Applaus. Ich trat vor, mir wurde gratuliert und rechts von mir sah ich im Saal den Herrn Stellvertreter wissend lächeln und heftig klatschen. »Jana Maier bekommt eine Fotostrecke für den Otto-Katalog!« – »Bettina Müller wird das neue Werbegesicht von Estée Lauder!« Im Saal wurde es laut, die Gäste redeten los, stießen sich an, konnten es offenbar nicht fassen. Ich verstand gar nichts. Eva gratulierte mir, fragte, wie ich das denn finde, ich sagte »toll« und wusste überhaupt nicht, worum es ging und warum alle so aufgeregt waren. Anschließend bekamen ein Mädchen und ich noch einen Modelauftrag, dann war die Show vorbei.

 weltweit