Melinda Nadj Abonji

Schildkrötensoldat

Roman

Suhrkamp

1

Er stand da, beim Hühnergatter, hatte vielleicht gerade ein Ei getrunken oder irgendwas, das gar nichts mit Eiern oder Wasser oder Milch zu tun hat. Den wolkenlosen Himmel musste Zoltán getrunken haben, mit seinem endlosen Blau. Seine Augen waren aufmerksam, weit offen in seinem breiten, blassen Gesicht. Der Rotz klebte an seiner Nase – er unternahm nichts, um ihn abzuwischen. Mit Hühnern konnte er umgehen, mit Katzen, Schweinen. Hunde hat er gemieden, außer einen, der Tango hieß. Jeden Morgen ein Ei für seinen Tango. Zoltán stand da, beim Hühnergatter, das huhnwarme Ei in der Hand. Ich habe ein warmes, frisches Ei für dich. Ich habe etwas Traumschönes für dich, Tango!

Zoli, wisch dir den Rotz ab! Hör auf, mit dem Hund zu reden!, ruft seine Mutter vom Garten herüber.

Tango, eine ganze Welt gebe ich dir zu fressen!, und Zoli rührte sich nicht. Sein Rotz glänzte in der Sonne. Tango drehte sich wie ein Derwisch und bellte dazu. Sein hohes Gebell versetzte auch die Wäscheleine in Erregung, die durch den Hof gespannt war. Und Zoli streckte seine Hand, darauf das Ei – ein Ei so weiß wie seine Haut, wie die aufgehängte Wäsche. Schauspiel des Alltags. Ein wie verrückt sich drehender Hund, ein neunjähriger Junge, mit unmöglicher Ruhe den Moment des Zuschnappens hinauszögernd, die schwarz-zotteligen Beine des Hundes, der Junge, verdreckt und erhaben. Die Sonne, um die sich der Hund linksherum, rechtsherum drehte.

Gib ihm das Ei, los mach schon, worauf wartest du noch?

Zoli stand da, zuckte nicht einmal mit den Wimpern, er reagierte nicht, nicht im Geringsten. Nur um seinen Mund spielte ein winziges Lächeln, und die Maiskolben hatten Augen, die Hühner applaudierten, der Staub wirbelte auf vor Begeisterung. Zoli wartete. Bis ein kleiner, hitziger Dämon ihn in die Wade biss und er das Ei endlich in die Luft warf, in den blauen Himmel hinauf, und Tango, der Hund, seine Drehungen sofort unterbrechend, schnappte mit einem Satz nach dem Ei – der Welt, die im nächsten Augenblick mit einem hellen, harten Geräusch auf der Steinplatte zerplatzte. Nächstes Mal schaffst du es, ganz bestimmt erwischst du es nächstes Mal in der Luft, sagte Zoli, während der Hund das Ei gierig vom Boden aufschleckte.

Nicht wahr, Hanna, nächstes Mal schafft er es? Zoli blickte zu mir, und weil ich so überrascht war, dass Zoli mich ansprach, konnte ich nicht antworten, und er kam auf mich zu mit seinen aufgesperrten Augen. Er stellte sich ganz nah zu mir hin. Mir schwindelte, als er sagte, ich weiß genau, wie es ist für meinen Hund, wenn seine Zunge das Ei vom Boden aufschleckt, aber sicher, das weiß ich ganz genau.

Zoltán. Der Sohn meiner Tante Zorka.

Ich habe dich vor Jahren zuletzt gesehen oder gestern, als du mir wieder erschienen bist, nachts. Nein, geträumt habe ich nicht. Einen Traum kann man beiseiteschieben, als »Traum« abtun. Ich spreche mit dir, aber du gibst mir keine Antwort. Ich weiß – da, wo du bist, schweigt man lieber. Oder täusche ich mich? Kann ich dich nicht hören? Ist es möglich, die Ohren zu schulen, um das zu hören, was nicht hörbar ist? Empfänglich zu werden für Schallwellen, die den Fledermäusen vorbehalten sind, vor allem aber den Motten, deren Hörorgane im Brustbereich liegen, zwei Hohlräume, die, mit dünnen Membranen bedeckt, so filigran gebaut sind, dass sie höchste Frequenzen mühelos wahrnehmen können – leiseste Geräusche, die vom menschlichen Ohr nicht einmal in zehnfacher Verstärkung gehört werden.

Ich bin keine Fledermaus, keine Motte, aber ich sehe dich, du erscheinst mir. Erscheinen, was für ein Wort. Du schaust mich an, mit demselben Blick, mit dem du mich früher angeschaut hast, als wir Kinder waren. Aber vielleicht warst du gar nie ein Kind. Obwohl ich älter war, hatte ich immer eine bestimmte Furcht vor dir, und trotzdem habe ich es zugelassen, dass deine zuckerstaubigen Lippen meine berührt haben, als wir an einem Frühlingstag auf deinem Bett palacsinta gegessen haben. Wir heiraten, hast du gesagt, obwohl die Heirat zwischen Cousine und Cousin zuoberst auf der Sündentafel des Pfarrers steht. Warum schließt du deine Augen nicht beim Küssen, habe ich dich gefragt. Weißt du was, Hanna, ganz bestimmt ist es so, dass ich auch mit offenen Augen schlafe. Und da war sie schon wieder, meine leise Furcht vor dir, meine Lust, dich nochmals zu küssen.

Wir haben uns nicht mehr geküsst, nie wieder, nicht einmal auf die Wangen. Wir haben uns oft angeschaut, stumm, und ich war immer die Erste, die aufgegeben hat. Ich müsste ein anderes Wort verwenden, weil »aufgeben« einen Kampf suggeriert, aber wir haben nicht mit Blicken gekämpft, jedenfalls du nicht. Ich habe weggeschaut, und du hast erzählt. Die Schule zum Beispiel sei ein Hindernis aus Zahlen und Buchstaben. Und ganz bestimmt sei es nicht nützlich, wenn man weiß, dass zwei und zwei vier gibt, man könne doch nicht behaupten, zwei Stühle seien dasselbe wie zwei Nüsse. Im Klassenzimmer gab es nur Gelächter, wenn Zoli eine Frage stellte, und der Lehrer meinte, er solle die Fragerei lieber in seinem Kopf behalten, und so fragte Zoli nur noch, wenn er es gar nicht merkte, sein Mund wie von selbst zu reden anfing.

Aber Hanna, du weißt doch, wovon ich spreche?

Ich wusste es und wusste es nicht.

Wir saßen auf Zolis Bett, einer aufklappbaren Couch. In ihrem Bauch wohnen unterhaltsame Wesen, sagte Zoli und zupfte die Kissen zurecht, bevor er mir einen gepolsterten Platz anbot, an einem Sommertag, an dem ich unangemeldet zu Besuch kam. Wann immer ich an die schäbige Tür klopfte, die laute Stimme von Zorka mich bat, einzutreten, wann immer ich die angelehnte Tür öffnete, die Schuhe abstreifte und den Fliegenvorhang mit einer zaghaften Handbewegung anhob, hatte ich, nicht nur an jenem Sommertag, das Bedürfnis, das fleckige, mit Flicken ausgebesserte Stück Stoff wieder fallenzulassen, die Schuhe wieder anzuziehen, mich aus dem Staub zu machen.

Als hätte ich damals schon geahnt, dass es in diesem Haus nicht nur nach Zigaretten, Kaffee, Schweiß und Eisen roch, sondern nach Schicksal – wie erhaben und furchterregend es doch klingt, das Schicksal, unabänderlich, groß, die von Gott geschickte Fügung; und wie verlogen, alles einer das menschliche Leben lenkenden Macht zuzuschieben, die mit der eigenen Verantwortung, dem eigenen kleinen Leben nichts zu tun hat, und ins Allmächtige auszuweichen, wenn es darum ginge, menschliche Antworten auf menschliche Fragen zu finden. Mittlerweile weiß ich, dass oft von Schicksal die Rede ist, wenn es eigentlich darum ginge, zu schweigen. Oder zu erzählen. Nein, damals habe ich nicht über das Schicksal nachgedacht. Ich fürchtete mich nur vor dem, was mich hinter dem Vorhang erwartete, und vermutlich ahnte ich, dass Armut nie folgenlos blieb.

Z-W-E-T-S-C-H-G-E-N-K-N-Ö-D-E-L-T-A-G

Wie ein Mehlsack bin ich damals vom Motorrad gefallen, mein Vater ist ohne mich weitergefahren, hat eine ganze Weile nicht gemerkt, dass niemand mehr da war, hinter seinem Rücken, ich lag auf der Straße, in meiner Umhängetasche steckte ein frisches Brot

trrrrrrrr

so kam mein Vater wieder angefahren, das habe ich genau gehört, obwohl ich bewusstlos war, wie sie später alle sagten, mein Vater kam angefahren, in meiner Welt, die orange war, rot, türkis und violett, die Blumen steckten in allen Ecken und an den Rändern meiner Welt, und sie rochen nach Brot, nach dem Weißbrot, das neben mir lag, im Staub, und ich hörte meinen Vater, wie er meinen Namen rief, und ich hörte seine Stimme, sie sprudelte über die Blumen, rüttelte an meiner Schulter, Zoli! Zoli!, und ich habe meinem Papa eine Heuschreckenplage geschickt, pfeifende Mäuse, die ihm das Schlottern in die Kniekehlen jagen, ich habe den Hund der Nachbarin gerufen, damit er ihm die Waden leckt – was er auf den Tod nicht ausstehen kann –, was habe ich nicht alles gedacht, damit er mich in Ruhe lässt

warum er das hätte tun sollen? das werde ich Ihnen sicher noch erzählen, wenn Sie Geduld haben, und das haben Sie doch bestimmt, Papa hat an meinem Ohrläppchen gezupft, Junge, steh auf, heute ist Zwetschgenknödeltag, hast du das vergessen?, und außer Papas Stimme war da noch eine, und diese Stimme zischelte, machte meine Blumen schwindlig, Ihr Junge blutet, sehen Sie doch, hier, am Kopf! rasch, wir müssen einen Arzt rufen!

ich wusste jetzt, woher meine Blumen kamen, das muss ich Ihnen erzählen, als die Zischelstimme sagte, dass ich blute, wusste ich sofort, dass meine Blumen aus dem Blut wachsen, ja, aus dem blutenden Loch meines Kopfes, und ich schwöre bei mir selbst, dass ich noch nie schönere Blumen gesehen habe, es waren weder Nelken noch Rosen, auch keine Schwertlilien oder Gerbera oder Tulpen, Begonien schon gar nicht, es waren keine Blumen, sondern Vogelköpfe, oh nein, ich erfinde gar nichts, ich müsste sagen, dass es Grauammerköpfchen waren, die sich zu Blumen formten, aber sie waren nicht grau, nicht gräulich und gestrichelt, wie es die Grauammern sind, sondern in jedem nur erdenklichen Rot leuchteten die Grauammern hinter meinen Augen, in Blumengestalt

aber sie haben mich aus meinem Paradiesgarten herausgezerrt, ein Knoblauchdoktor hat seine Luft in mich hineingepumpt, hat mich getätschelt, am Handgelenk gefasst, meine Lider hat er hochgezogen, als könnte er da etwas sehen, in meinen Augäpfeln, ja ja, die verdrehte Welt, und dann haben sie mich auf ein Gefährt gehievt, der ist schwerer, als er aussieht, haben sie gesagt, dieses Händegetümmel um mich herum, diese angestrengte Schwitzerei, lasst mich doch liegen, wieso hört mich eigentlich keiner? diese Hektik, mit der sie auf mich eingeredet haben, lasst mich in Ruhe, habe ich geschrien, aber keiner, keiner hat mich gehört, und meine Blumenvögel, sie wurden immer kleiner, dünner, und sie flogen auf, als ihr Rot wieder ganz ausgewaschen war, vor lauter aufgeregtem Gerede, sie haben mich zurückgelassen, und deshalb, ja genau deshalb habe ich geweint, als ich meine Augen aufschlug, seht nur, er weint, sagte der Arzt, die Krankenschwester, und der Kopf meines Vaters erschien über mir, Junge, da lässt du dein Wasser kullern und wir? wir sind doch krank vor Sorge, und mein Vater schmatzte einen Kuss auf meine Stirn, wo ist mein Brot?

sie haben mich alle mit Blödheit angeschaut, er fragt nach seinem Brot, hört ihn euch an, er will wissen, wo sein Brot ist

und da, da bin ich hochgeschossen, habe den Arzt am Kittelkragen gepackt, habe meine Wörter auf seine weiße Redlichkeit gekotzt, habe mit meiner Wut seinen Scheitel verwirrt, und ich habe geschrien, warum ich geweint habe, dass sie mir meine Blumen … die Vögel … und meine Farben … und dass ich im Goldstaub gelegen … und die Hilfe des Herrn Doktor, die nach Geld stinkt, das er in seiner Kitteltasche verschwinden lässt …

und mein Papa hat mich angeglotzt, Zoli, bist du das, aber das bist du doch gar nicht, du hast noch nie so geredet, Zoli, welcher Teufel ist in dich gefahren …

der Zoli-Teufel!

der Staub-Teufel!

der Zigeuner-Teufel!

-Z-W-E-T-S-C-H-G-E-N-K-N-Ö-D-E-L-T-A-G- der Tag, an dem es Zwetschgenknödel gibt, meistens am Freitag, ich liebe es, die Zwetschgen aus ihrem Kartoffel-Mantel zu befreien, die noch heißen, fast zu heißen Zwetschgen in meinem Mund verschwinden zu lassen, und ich kann ganz bestimmt und problemlos sieben bis zehn Knödel essen.

B-A-S-T-A-R-D-E-N-B-L-U-T

Das sei der Anfang gewesen, hieß es später, es sei zu viel Blut aus meinem Kopf gesprudelt, Blut sprudelt nicht, habe ich zu Papa gesagt, aber du hast es ja gar nicht gesehen, wie es getan hat, dein Blut, eine richtige Fontäne ist dir aus dem Kopf geschossen, sag ich dir, und Papa langt nach dem Gartenschlauch, spritzt mir zwischen die Beine, siehst du, so!

und ich habe keine Lust, ihm zu sagen, dass er soeben »das Blut ist dir aus dem Kopf geschossen« gesagt hat, geschossen oder gesprudelt, das ist Papa völlig egal, er will mir wieder einmal erzählen, wie ich als Mehlsack vom Motorrad gefallen bin – obwohl er ja gar nicht gemerkt hat, dass ich nicht mehr hinter ihm saß, wie will er dann wissen, dass ich »wie ein Mehlsack« vom Motorrad gefallen bin? – Vater will mir wieder einmal erklären, dass dieser Tag der Anfang vom Ende war, und ich muss ihm den Schlauch aus der Hand nehmen, weil er keine Ahnung hat, wie viel Trinkwasser meine Blumen brauchen, an dem Tag sei ich blöd geworden wie eine Kanone, sagt er

-K-A-N-O-N-E-

und setzt sich mit einem Seufzer auf die Bank, trifft mit einer Ladung Spucke eine reife Brombeere, lass das, sag ich zu ihm, die mögen das nicht, deinen Rotz, aber er fängt an zu jammern, zieht an seinem Borstenhaar, aus dir hätte was werden können, Zoli, verdammte Ziegenscheiße, verdammter Schweinekot, verdammter Eisengeschmack auf der Zunge, du hättest dich aus dieser Scheiße retten können, stattdessen lässt du dich vom Motorrad fallen, liegst wie tot im Staub, und als du endlich aufwachst, packst du den Arzt am Kragen, als hätte er dir das Leben versaut, Zoli … und mein Papa rülpst mir Kohlensäure ins Gesicht

Vatersorgen, ja verdammt nochmal!

und Papa reicht mir die Flasche, ich setze an, über mir die geflockten Wolken, ach, dieses Wetter, das meinem Garten sein ganzes Wasser raubt, und ich drehe mich weg, hin zu meinen Bäumen und Sträuchern und Blumen, und mein Vater heult auf, rammt die Eisenbahnerschuhe in meine Waden, ich sacke zusammen, der Schlauch fällt mir aus der Hand, jagt seinen Strahl in die Brombeerhecken, aber die Flasche, ihr Bauch liegt unversehrt in meiner rechten, hinter mir Papa, der sich vor lauter Jammer nicht mehr halten kann, hättest mich retten können, mich und mein Herz, schluchzt Papa, so dass mir der Kopf in den Hals schrumpft, seine Wallnussfäuste, hagelhart zwischen den Schultern, mein Bodenblick auf Brombeeren im Staub, oh die Brombeeren, die aus kleinen Einzelbeeren bestehen, dieses Glanzviolett nach einem leichten Sprühregen, die hässliche Lücke, wenn ein Käfer die Beere angefressen hat

der Anfang vom Ende, so Papa, zieht mir die Flasche aus den Fingern, lässt sein Bier gurgeln, weint in meinen Rücken, und wissen Sie, was er damit meint? seit ich vom Motorrad gefallen bin, hat das Zittern bei mir angefangen, so Papa, der Anfang vom Ende, seither tickt mein Klicker nicht mehr richtig, schreckhaft wie ein kleines Mädchen, das sei ich geworden, ein junger Kerl, der zusammenzuckt, wenn es blitzt und donnert, na, wo gibt’s denn so was? ein baumlanger Kerl, der sich wegen gar nichts in die Hose scheißt – aus heiterem Himmel sei ich ein verrückter Kerl geworden, der niemandem mehr gehorcht …

es geschieht, und wenn es geschieht, überfällt mich ein Zittern, ein Flattern, meine Gedanken drücken sich an die Wände meines Kopfes, und ich bin ich ohne Zoli, Sie wollen wissen, was das heißt? ich weiß es nicht, auch wenn Sie sehr viel Geduld aufbringen, werde ich es Ihnen nicht genau sagen können, aber ich kann Ihnen sagen, dass mein Vater nie wissen wollte, was das heißt, er wurde wild und wütend und schwitzend, wenn ich ihm sagte, ich bin ich ohne Zoli, das ist es genau, dieser elende Unsinn in deinem Kopf! und Papa fing immer wieder damit an, vom Anfang vom Ende, dass das herausgesprudelte Blut nur noch Unsinn in meinem Kopf hinterlassen habe, logisch hätte mich der Meister versetzen müssen! ein mickriger Hilfsarbeiter und ein Gartennarr, das sei aus mir geworden, zwischen den Schenkeln eine Blume statt einen Schwanz, das frische Brot, das schöne Geld, wo ist es geblieben?

er, der seinem Kind seinen Namen gegeben hat, und damals hätten ihn alle beglückwünscht zur Geburt seines Sohnes, stolz wie ein Pfau sei er gewesen auf dieses haarlose Etwas, auf dieses Nichts, aus dem etwas hätte werden können, Brot brauchen die Menschen doch immer, ein Bäcker mit eigenem Geschäft, vor dem man an schmeichelnden, sonnigen Abenden hätte sitzen können, das hättest du werden können, schluchzt Papa, und seine freie Hand ruht auf meinem Rücken – ein Tier, das schnuppernd auf Futter wartet

-R-Ü-C-K-E-N-

und Papa fängt an zu lallen, ich taufe dich auf den Namen Zoltán, Kertész Zoltán! er begießt sich, mich von hinten, und das Bier nässt mein Haar, ein paar Tropfen lösen sich, verklumpen den Staub vor mir, die Mahnmale von Papas Herzschmerz

-A-C-H-

es ist wahr, ich hätte meinen Vater retten können, ich hätte alles mit frischem Weißmehl bestäuben können, sein ganzes, einziges, dreckiges Menschenleben hätte ich in einem luftigen Brotteig aufgehen lassen können

schönes -B-R-O-T- gutes -B-R-O-T- tägliches -B-R-O-T-

ich hätte eine gestärkte Meistermütze getragen, eine Meisterschürze, und das ganze Dorf hätte bei mir, hätte ganz bestimmt bei mir Brot gekauft, alle Jahreszeiten wären bei mir ein und aus gegangen, vom Osterkuchen bis zum Weihnachtszopf, ein Jahresrundlauf, ein Buch, das man auf- und wieder zuschlägt, ich hätte immer nach frischer Hefe gerochen, aber sicher hätte ich das, mein Vater hätte sein Zigeunerblut an meinem weißen Beruf abgewaschen, jeden Tag, wir wären nicht mehr die Schienen gewesen, der Wald, der Dreck, das Vieh, Eingeweide und Hühnerfüße, die Wurzeln, gestohlenes Brennholz, Kaffeesatz und Klimbim

wir wären der Ofen gewesen, die Wärme, oh ja, wir wären die asphaltierten Straßen gewesen, Kreuzungen, Ampeln, gesunde Zähne, Haustiere, Häuser mit englischen Klos, der gütige Blick, ein Schwatz auf dem Marktplatz, wir wären die Bäckerei gewesen im Dorf, wir wären verträumte Engel gewesen, keine Hundesöhne, Bastardenblut! wir hätten die räudigen Katzen verscheucht, ohne mit dem Besenstiel auf sie einzuschlagen, und das Dorf, es wäre stolz auf uns gewesen

Papa, warum nennst du mich Bastard? -B-A-S-T-A-R-D- ich bin doch dein Sohn …

wem gehört diese leere Flasche? wem gehört diese nutzlose Flasche, die meine Hand beleidigt mit ihrem nutzlosen Gewicht? bin ich der Vater eines stotternden Idioten geworden?

und mein Papa hat keine Kraft mehr, sein Herz, ein schlaffes, gemartertes Stück Fleisch, und die Flasche hat keinen Bauch mehr, keinen Hals, die Scherben liegen im Staub, neben den Brombeeren

Zoli …

Papas Stimme ganz nah an meinem Ohr, sein Schluchzen, das Blut, Zoli, es ist dir aus dem Kopf gesprudelt

denk an die Ziegen, wenn sie aus dem Gatter drängen

denk an eine schwarze Wolke, die bricht

denk an deine Mutter, wenn sie anfängt zu fluchen

so war es, genau so, sagte Papa, als dir das Blut aus dem Kopf gesprudelt ist, der Anfang vom Ende

ja, ich werde Papa nie retten können

Blut, es gibt eingetrocknetes, verkrustetes Blut oder frisches Blut, das nach Eisen schmeckt, Blut, das tropft, dick und schwer und bedauerlich, und das Blut hinter der Haut, es ist doch nichts anderes als Wärme und Kälte, aber Papa, er will das durchaus nicht wissen.

K-I-T-T-E-L-K-Ö-N-I-G

Ich sehe, wie mein Vater fliegt, er fliegt fliegt und fliegt in die Höhe, ich denke mir, dass er dem Himmel an diesem schwülen Abend einen Besuch abstatten, mit seinen Schwielenfingern den Himmel kitzeln will, mein Vater sagt selbst, dass er Schwielenfinger hat -S-C-H-W-I-E-L-E-N- wie hoch er fliegt – mein Vater, der doch an den Schienen arbeitet, bei den Zügen, der rangiert, sich bückt, sich Schmutzhände holt, der keucht und hustet, sein Bier aus der Stirn schwitzt –

er fliegt fliegt fliegt und fliegt in seinem Arbeitskittel, der ölig riecht, auch frisch gewaschen schmuddelig ist, aber wer macht das, dass er jetzt diesen Raketen-Antriebs-Motor im Hintern hat, diese Feuerwerks-Energie in seinen Augen glüht? Papaaaaa! rufe ich ihm zu, und ich stehe im Garten, beim Rosenstrauch, und aus meinen Fingern schießt ein ganz bestimmt fünffarbiger Lichtschweif, gerade eben noch habe ich den Rosen das tägliche Trinkwasser gegeben, Papaaaaa! und mein mehrfarbig fünffarbiges Licht fließt zum Kittel, und wie schön das aussieht, wie echt, ganz bestimmt sieht es schöner aus als alles andere, was ich bis jetzt gesehen habe, mein Papa sitzt jetzt nämlich – und wenn Sie mir nicht glauben, tun Sie mir von Herzen leid – auf einem Glanzthron, nein, ich muss sagen auf einem prächtig glitzernden Glanzthron, der aus meinen Fingern entwachsen und aufgeschossen ist, er sitzt da, ein blauer Kittel-König, er sieht nicht mehr so aus, wie ich ihn kenne, er schwitzt nicht, er hustet nicht, er sitzt da mit hängenden Armen, nickt und lächelt, bestimmt, weil er den Himmel mit seinen Borsten kitzelt -S-C-W-E-I-N-E-B-O-R-S-T-E-N- sagt mein Papa

mein Papaaaaa-König! rufe ich ihm zu – dass er so sitzen und glänzen, so lächeln und zufrieden sein kann, dass sein Kittel kein Kittel mehr ist, sondern eine kornblumenblaue Robe am schmutzig gelben Himmel, dass diese Feuerwerks-Energie in seinen Augen bis zu mir glüht, zum Rosengarten hinunter und meine Teerosen vermutlich deshalb einen fast unverschämten Duftzauber versprühen – dass das alles so ist, wie es ist, dass ich das weiß, hat mit mir zu tun, seinem Sohn …

Papa, du bist der Kittel-König, und der gelbe Himmel, er wird sich gleich öffnen und all seine Wunder offenbaren …

ich habe mich aufgestützt, im Bett, und habe zu Papa geschaut, er saß allein in der Küche, streckte die nackten Beine von sich, in meine Richtung, hörst du, Kittel-König?

aber Papa lallte, in seinen Augäpfeln drehten sich der Herbst, der Winter, sternenlose Nächte, ein schmieriger Mond, auf seiner Zunge tanzte Mutter mit ölig rotem Mund und frischer Frisur, tschüss ihr beiden, macht’s gut, ich komme bald wieder …

-A-C-H-