Originaltitel: Voices in the Night

© 2015 by Steven Millhauser

 

 

Die zwei Zitate auf in Kapitel 3 der Erzählung Eine Stimme in der Nacht stammen von William Shakespeare

in Übersetzung nach Schlegel-Tieck von Max J. Wolff

sowie von Sir Walter Raleigh in Übersetzung von Willi Schantel.

 

© 2018, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

Lektorat: Christie Jagenteufel

Umschlag: Jürgen Schütz

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-60-6

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-70-0

 

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Steven Millhauser

geboren 1943, verbrachte seine Kindheit in New York und Connecticut. Er studierte bis 1965 an der Columbia University. Von 1968 bis 1971 studierte er an der Brown University mit dem Ziel einer Promotion über die Literatur des Mittelalters und der Renaissance. 1971 brach er dieses Studium ab und wandte sich der Schriftstellerei zu. 



Steven Millhauser erhielt für Edwin Mullhouse unter anderem 1975 den französischen »Prix Médicis Étranger«, es folgten 1990 der World Fantasy Award und 1997 der Pulitzerpreis für seinen Roman Martin Dressler.



Millhauser ist Mitglied der American Academy of Arts and Sciences.



 

Klappentext

Steven Millhauser ist zweifellos einer der größten Geschichtenerzähler unserer Zeit. In seinem neuesten Storyband Stimmen in der Nacht ergründet er das geheime Leben und die dunklen Sehnsüchte der Bewohner einer Kleinstadt. Mit Referenzen auf Fabeln, Mythen und die Bibel, durchtränkt von subtilem, meisterlichem Humor, verwebt er in sechzehn Erzählungen das Alltägliche mit dem Überraschenden, bekannte Fakten mit berauschenden Fantasien und beschwört so einen schillernden Chor aus Nachtstimmen, der im dunkelsten Winkel unseres Inneren noch lange nachhallt. 

»Wunderpolitur« etwa ist eine beißende Satire auf die Verlockung der Perfektion, in der sich der vom Leben enttäuschte Protagonist in einen modernen Narziss verwandelt, bis sich sein Wahn überraschend entlädt. In »Meerjungfrauenfieber« wird eine angespülte Meerjungfrau zum willkommenen Ventil für die kollektive Rastlosigkeit, die unter der perfekten Oberfläche einer Kleinstadt brodelt. Der sensationelle Fund weckt Neugier, Hysterie, bizarre Modetrends und macht nicht einmal vor den Schlafzimmern halt. In der titelgebenden Erzählung »Eine Stimme in der Nacht« entfaltet Millhauser wiederum über die alttestamentarische Geschichte des Propheten Samuel ein kunstvolles, dreitausend Jahre umspannendes Triptychon, das der Frage nachgeht, was es bedeutet, auserwählt zu sein und in der Nacht eine Stimme zu hören – und was es bedeutet, sie nicht zu hören. 

»Faszinierend, meisterlich, großartig … Stimmen in der Nacht steckt voller Wunder. Millhauser schenkt uns Welt um Welt: sehnsuchtsvoll und bizarr, komisch und gruselig – sodass sie uns am Ende genauso vertraut vorkommen wie unser eigenes Spiegelbild.«
New York Times

 

 

Steven Millhauser

Stimmen in der Nacht

Erzählungen | Septime Verlag

 

 

Aus dem Englischen von Sabrina Gmeiner

 

 

 

 

 

 

Wunderpolitur

 

 

 

Ich hätte Nein sagen sollen, zu dem Fremden an der Tür, mit dem dünnen Hals und dem schwarzen Musterkoffer, der eine Körperhälfte leicht nach unten zog, sodass ein Ärmelaufschlag höher lag als der andere, ein höfliches Nein hätte gereicht, nein danke, es tut mir leid, nicht heute, dann das Schließen der Tür und das laute Klicken, wenn sie ins Schloss fällt, doch ich hatte den Schmutz in den Runzeln der schwarzen Schuhe bemerkt, die abgetragenen Absätze, die speckigen Jackettärmel, die aufflackernde Verzweiflung in seinen Augen. Und gerade deshalb sollte ich ihn fortschicken, sagte ich mir, als ich beiseitetrat und zusah, wie er in mein Wohnzimmer ging. Er sah sich rasch um, bevor er seinen Koffer schließlich auf dem kleinen Couchtisch abstellte. Ich hatte den Entschluss gefasst, ihm etwas abzukaufen, irgendetwas, eine Haarbürste, die Brooklyn Bridge, kauf es und raus mit ihm, ich wusste Besseres mit meiner Zeit anzufangen. Doch er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, als er mit seinen knochigen Fingern langsam jede Schnalle einzeln öffnete und dabei in betrübtem Tonfall erklärte, dass heute mein Glückstag sei. Mit einem Mal war der Koffer offen und ich konnte darin sechs Reihen identischer dunkelbrauner Glasfläschchen sehen, jedes eine Spur kleiner als eine Hustensaftflasche. Zwei Gedanken gingen mir durch den Kopf: Der Koffer musste sehr schwer sein, und er musste schon sehr lange Zeit nichts mehr verkauft haben. Das Produkt nannte sich Wunderpolitur. Es reinigte Spiegel mit einem einfachen Wisch. Er schien überrascht, sogar misstrauisch, als ich sagte, ich würde eine Flasche nehmen, ganz so, als hätte er die Welt seit Jahren mit genau diesem, zum Bersten mit unverkauften Fläschchen gefüllten Koffer durchstreift. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was einen Mann dazu bewog, in einem Wohnviertel wie diesem von Haus zu Haus zu gehen, einem Viertel mit Veranden und alten Ahornbäumen, mit Kindern, die in der Auffahrt Basketball spielen, einem Viertel, in dem Pfadfinderinnen Kekse verkaufen und die Frau von Gegenüber Geld für die Leukämie-Spendenaktion sammelt, aber ohne Fremde, die mit kaputten Schuhen und verzweifeltem Blick von Tür zu Tür ziehen und dabei schwere Koffer mit braunen Flaschen eines Mittels herumschleppen, das sich Wunderpolitur nennt. Der Name ärgerte mich, sogar einem kleinen Kind wäre etwas Besseres eingefallen, wenngleich es durchaus etwas für sich hatte, wie stolz er den Betrug zur Schau stellte. »Vertrau mir nicht!«, rief er für alle laut hörbar. »Lass dich nicht für dumm verkaufen!«

Als er versuchte, mir eine zweite Flasche zu verkaufen, sah er an meinem Blick, dass es Zeit war zu gehen. »Sie haben eine weise Entscheidung getroffen«, sagte er feierlich und sah mich kurz an, bevor er abrupt wegblickte. Dann schloss er seinen Koffer mit einem Klick und eilte schnell aus der Tür, als hätte er Angst, ich könnte meine Meinung noch ändern. Ich schob eine Lamelle der halb geschlossenen Jalousie nach oben und beobachtete, wie er den Weg vor meinem Haus entlangging, eine Körperhälfte vom Musterkoffer nach unten gezogen. Auf dem Bürgersteig hielt er inne, stellte den Koffer neben einem Zuckerahorn ab, wischte sich mit dem Jackettärmel über die Stirn und warf einen Blick auf den Häuserblock, als wäre er der Neue in der Schule und bereitete sich darauf vor, den Schulhof zu überqueren, während sich die Ersten bereits nach ihm umdrehen, um ihn anzustarren. Einen Augenblick lang sah er zu meinem Haus zurück. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, grinste er jäh, runzelte die Stirn und wandte sich ab. Mit einem lauten Schnalzen ließ ich die Lamelle der Jalousie los.

Ich hatte kein Interesse an Spiegelpolitur. Ich legte die Flasche in eine Schublade des Geschirrschranks, in der ich Taschenlampenbatterien, Glühbirnen und ein unbenutztes Fotoalbum aufbewahrte, und dachte nicht länger daran.

Eines Morgens, es war etwa eine Woche später, trat ich vor den ovalen Spiegel im Flur in der oberen Etage, so wie jeden Morgen, bevor ich zur Arbeit ging. Als ich die Ärmel meines Jacketts nach unten zupfte und die Krawatte glatt strich, bemerkte ich nahe meiner linken Schulter einen kleinen Fleck auf dem Glas. Vermutlich war er schon jahrelang dort gewesen, seit dem Tag, an dem ich den Spiegel, gemeinsam mit einem ausgeblichenen Lehnsessel und dem abgenutzten Sofa meiner Großmutter, vom Dachboden meiner Eltern hierhergebracht hatte. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich den ovalen Spiegel jemals gereinigt hatte, ob ich mir je die Mühe gemacht hatte, den alten, mit geschnitzten Blättern und Blumen verzierten Mahagonirahmen abzustauben. Mir war bewusst, diese Gedanken nur wegen des Fremden mit den knochigen Fingern und den abgetragenen Absätzen zu haben, und während ich nach unten zum Schrank ging, überkam mich ein Anflug von Unmut, als ich ihn sagen hörte: »Heute ist Ihr Glückstag.«

Wieder oben angekommen, zog ich ein Tuch aus der Box im Badezimmer und schraubte den Verschluss der braunen Flasche auf. Auf dem dunklen Glas stand in weißen Großbuchstaben das Wort wunderpolitur. Die Flüssigkeit war dick, zäh und grünlich weiß. Ich benetzte das Tuch und wischte über den Fleck. Als ich meine Hand zurückzog, war ich fast enttäuscht zu sehen, dass der Fleck verschwunden war. Ich bemerkte noch etwas anderes: Der restliche Spiegel sah aus, als wäre er blind oder beschlagen. War mir das vorher tatsächlich nie aufgefallen? Mit einem weiteren Klecks Politur machte ich mich daran, die komplette Oberfläche bis zum Rand des Spiegels zu reinigen. Das war schnell erledigt. Ich trat einen Schritt zurück, um das Ergebnis zu begutachten. Im Licht der Deckenlampe mit dem alten Glasschirm, das sich mit dem durch das Fenster im nahen Flur einfallenden Sonnenlicht vermengte, sah ich mein Spiegelbild ganz deutlich. Doch es war mehr als das. Da lag eine Frische in meinem Abbild, eine Art sanftes Strahlen, das ich nie zuvor gesehen hatte. Neugierig betrachtete ich mich. Allein das war bemerkenswert, denn ich war nicht die Sorte Mann, die sich selbst im Spiegel betrachtet. Ich war ein Mann, der so wenig Zeit wie möglich vor dem Spiegel verbrachte, der eine flüchtige und pragmatische Beziehung zu seinem Spiegelbild mit den müden Augen, den enttäuschten Schultern und der Aura der Niederlage hatte. Nun stand ich vor einem Mann, der meinem alten Spiegelbild fast exakt entsprach, der jedoch in gewisser Weise verändert war, so wie sich ein Rasen unter bewölktem Himmel verändert, sobald die Sonne hervorkommt. Was ich sah, war ein Mann, der Grund zu Optimismus hatte, ein Mann, der etwas vom Leben erwartete.

Als ich an jenem Nachmittag von der Arbeit nach Hause kam, ging ich hoch zum ovalen Spiegel. Wieder war ich von dem Eindruck der Frische, den ich in dem polierten Glas wahrnahm, überwältigt. Hatte der Spiegel die Reinigung wirklich so nötig gehabt? Es waren drei weitere Spiegel im Haus: der Spiegel über dem Waschbecken im oberen Badezimmer, der Spiegel über dem Waschbecken in der unteren Toilette und der kleine, runde Handspiegel mit Holzgriff, der oben im Badezimmer an einem Haken neben dem Fenster hing. Keiner davon hatte bisher den Eindruck erweckt, als bedurfte er einer Reinigung, doch als ich mit ihnen fertig war, leuchtete mir mein neues Spiegelbild aus allen dreien entgegen. Ich betrachtete die braune Flasche Wunderpolitur in meiner Hand. Sie sah aus wie eine gewöhnliche Flasche, eine Flasche wie jede andere. Hätte mich die Politur jünger erscheinen lassen, hätte sie mich gut aussehen lassen, hätte sie meine Haut geglättet, meine Zähne begradigt oder die Form meiner Nase geändert, so hätte ich gewusst, dass es sich um irgendeinen abscheulichen mechanischen Trick handelte, und hätte diese Spiegel eher mit meinen Fäusten zertrümmert als zuzulassen, dass man mich für dumm verkaufte. Doch das Bild im Spiegel war zweifellos ich – nicht jung, nicht gut aussehend, unspektakulär, leicht gebeugt, beleibt, mit Tränensäcken unter den Augen, nicht die Sorte Mann, die irgendjemand freiwillig sein möchte. Und doch sah er mich auf eine Weise an, wie ich es schon lange Zeit nicht mehr erlebt hatte, eine Weise, die alles andere wettmachte. Er sah mich an wie – der Gedanke schoss mir plötzlich durch den Kopf – ein Mann, der an etwas glaubte.

Am nächsten Morgen erwachte ich, noch bevor mein Wecker klingelte, und ging rasch zu dem ovalen Spiegel im Flur. Mein Bild strahlte mir entgegen; sogar mein zerknitterter Pyjama sah schneidig aus. In dem polierten Glas wirkten die tristen Wände heller, die Schlafzimmertür war von einem satteren Braun. Im Badezimmerspiegel schien ich zu leuchten; das Weiß des Waschbeckens blendete im Spiegel; die Handtücher sahen flauschiger aus. Im Erdgeschoss gab die Reflexion des Toilettenfensters den Blick auf ein Stück eines glänzenden Vorhangs frei, und dahinter lag das grüne Gras aus den Sommertagen meiner Kindheit. In der Arbeit dachte ich den ganzen Tag lang nur an jene strahlenden Oberflächen, die das Sonnenlicht einfingen wie Münzen, und als ich nach Hause kam, ging ich von Spiegel zu Spiegel, nahm Posen ein und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen.

Da ich mich dafür rühmte, niemals falsche Hoffnungen zu hegen, mir nie einzubilden, die Dinge seien besser, als sie tatsächlich waren, fragte ich mich, ob ich zuließ, dass mich diese Spiegel in die Irre führten. Vielleicht beinhaltete die grünlich weiße Politur eine Chemikalie, die bei Kontakt mit Glas eine optische Verzerrung hervorrief. Vielleicht hatte das Wort Wunderpolitur die Zellen in meinem Gehirn dazu veranlasst, eine Reihe von Assoziationen abzufeuern, die meine Wahrnehmung der mich umgebenden Welt beeinträchtigten. Was auch immer hier geschah, ich wusste, dass ich eine zweite Meinung von jemandem benötigte, dem ich vertraute. Monica würde mir den Kopf zurechtrücken, Monica würde es wissen – Monica, die die Welt durch große, gütige, skeptische Augen betrachtete, die von vielen Enttäuschungen verdunkelt waren.

Monica kam zweimal die Woche nach der Arbeit, dienstags und freitags, mit ihrer kleinen Reisetasche, und wie gewöhnlich war ich auch dieses Mal darauf bedacht, sie bei der Begrüßung nicht allzu lange anzusehen, denn sonst wäre Monica zurückgewichen und hätte gefragt: »Stimmt etwas nicht?« und hätte dabei die Hand verunsichert an ihr Haar geführt. Sie hatte die Angewohnheit, ihr Aussehen gnadenlos zu beurteilen: Sie fand ihre Augen ganz in Ordnung, mochte die Form ihrer Handgelenke und ihre langen Finger, hatte sich mit ihren Waden abgefunden, doch sie war unversöhnlich, was ihre Oberschenkel, ihr Kinn, ihre ziemlich dicken Knie, ihre Hüften und ihre Oberarme anbelangte. Sie ärgerte sich über die kleinste Hautunreinheit, einen Mückenstich etwa oder Rötungen oder einen winzigen Pickel, und oft klebte auf der Schulter oder dem Schenkel versteckt, ein Pflaster mit irgendeiner Salbe. Sie trug Röcke, die ihr bis zu den Knöcheln reichten, dazu schlichte Blusen über schlichten weißen BHs; sie kombinierte gerne dunkle Grün- mit dunklen Braun- und Grautönen. Ihr schulterlanges braunes Haar war für gewöhnlich glatt und in der Mitte gescheitelt, manchmal band sie es auch mit einer großen dunklen Spange zurück, die aussah wie ein riesiges Insekt. Sie begutachtete sich in jedem Spiegel, suchte nach Makeln wie ein junges Mädchen vor einer großen Party. Doch sie war vierzig und arbeitete als Verwaltungsassistentin in der hiesigen Highschool. Seit Jahren bewegten wir uns langsam aufeinander zu, ohne aufs Ganze zu gehen. Ich mochte ihre Art zu zögern, bevor sie lächelte; mochte die Schwere ihres Körpers, die leichte Unbeholfenheit, den Hauch einer sanften Müdigkeit; mochte es, wie sie, nachdem sie die Schuhe ausgezogen und die Füße auf den Schemel gelegt hatte, langsam mit den Zehen wackelte und mit zusammengekniffenen Augen sagte: »Das fühlt sich sehr, sehr gut an.« Manchmal, in einem ganz bestimmten Licht, wenn ihr Körper eine ganz bestimmte Haltung einnahm, sah ich in ihr eine Frau, für die die Dinge nicht so gelaufen waren, wie sie es sich erhofft hatte, eine Frau, die sich langsam der Niederlage ergab. Dann überkam mich eine Welle der Verbundenheit, denn ich wusste genau, wie schwierig es war, auf etwas Besseres zu warten, auf etwas, das niemals geschehen würde.

Ich führte sie zu dem ovalen Spiegel und schaltete das Licht ein. »Sieh dir das an!«, sagte ich und streckte meinen Arm theatralisch aus. Die Geste sollte vermitteln, dass das, was ich ihr zeigen wollte, nichts Großartiges war, wirklich nichts, was man ernst nehmen müsste. Ich hatte gehofft, das Spiegelbild in dem polierten Glas würde ihr auf eine gewisse Weise gefallen, doch ich hatte nicht mit dem gerechnet, was ich sah – denn hier war sie, ohne jeden Anschein der Ermüdung, eine frische Monica, eine dynamische Monica, eine Monica, deren Gesicht Zufriedenheit ausstrahlte. Die Kleidung, die sie trug, erschien nicht mehr etwas zu eintönig, etwas zu matronenhaft, sondern auf anziehende Art bescheiden, verführerisch zurückhaltend. Nicht einen Augenblick lang ließ sie der Spiegel jung oder schön wirken, denn sie war weder jung noch war sie schön. Doch es war, als hätte sich eine innere Spannung gelöst, dieses Gefühl, als würde sie nach und nach in Traurigkeit abdriften. In dem Spiegel strahlte sie eine erhabene psychische Widerstandskraft aus. Monica sah es; ich sah, dass sie es sah; und dann drehte sie sich von einer Seite zur anderen, streifte dabei den langen Rock über den Hüften glatt, zog die Schultern nach hinten, korrigierte ihre Frisur.

Seither stand ich morgens geradezu mit Vorfreude auf und ging unverzüglich zu dem Spiegel im Flur, wo mir sogar mein zerzaustes Haar eine Aura lässiger Selbstsicherheit verlieh und die dunklen Ringe unter den Augen für jemanden sprachen, der es gewohnt war, Hindernissen aktiv zu begegnen und sie zu überwinden. In meiner Arbeitskoje im Büro arbeitete ich konzentriert und mit einer ungewohnten Leichtigkeit im Herzen, und wenn ich am späten Nachmittag nach Hause kam, betrachtete ich mich in allen vier Spiegeln. Mit einem Mal fiel mir auf, dass ich, um zu dem ovalen Spiegel im oberen Flur zu gelangen, die Diele und das schummrige Wohnzimmer mit dem durchgesessenen Sofa durchqueren, die komplette Länge der Küche entlanggehen und zwei knarzende Treppen – die lange bis zum Treppenabsatz und die kurze zum Flur hinauf – hochsteigen musste. Eines Abends nach dem Essen fuhr ich an den Stadtrand, wo sich das alte Shoppingcenter und das neue Kaufhaus im Kampf um die niedrigsten Preise gegenüberstanden. Im Gang nach den Mixern und Entsaftern gelangte ich zu ihnen. Ich sah hohe, schmale Spiegel, quadratische Spiegel mit Rahmen aus Eichen- und dunklem Walnussholz, runde Spiegel, die aussahen wie riesige Brillengläser, Drehspiegel, in verkupferte Bronze eingefasste Spiegel, Spiegel mit mehreren Haken am unteren Rand. Während ich meinem Spiegelbild tunlichst auswich, da die Spiegel nur einen müden Mann mit kummervollen Augen zeigten, entschied ich mich für einen rechteckigen Spiegel mit einem Rahmen aus Kirschholz. Zu Hause öffnete ich die Schublade des Schranks und entnahm die braune Flasche. Mit einem Tuch und vorsichtigen Wischbewegungen polierte ich den Spiegel. Ich hängte ihn in die Diele, gegenüber dem Kleiderschrank, gleich neben das Schuhregal mit den alten Pantoffeln und Gartenschuhen, und trat einen Schritt zurück. Im Licht der Deckenlampe sah ich mein Spiegelbild. Er stand mit einem Tuch über der Schulter vor mir und sah mich mit einem Blick an, als wäre er bereit, sich mit Freude in alles zu stürzen, was der Tag auch bereithalten mochte. Ihn so dastehen zu sehen, mit den hochgekrempelten Ärmeln, dem Tuch über der Schulter und dem entschlossenen Blick – all das brachte mich zum Lächeln, und das Lächeln, das zurückgeworfen wurde, schien aus dem Glas heraus und direkt in meine Arme, meine Brust, mein Gesicht, mein Blut zu strömen.

Am nächsten Tag machte ich nach der Arbeit bei einem Möbelladen halt und kaufte einen weiteren Spiegel. Zu Hause polierte ich ihn und hängte ihn in der Küche, gegenüber dem Esstisch, auf. Wenn ich beim Abendessen saß, konnte ich, wann immer ich wollte, aufblicken und den Eichentisch, den strahlenden Teller mit der Hühnerkeule und der Ofenkartoffel darauf, das im Licht blitzende Silberbesteck und mein eigenes Spiegelbild sehen, das wachsam aufblickte, wie jemand, dessen Aufmerksamkeit gerade auf eine wichtige Sache gelenkt worden war.

Am Freitag kam Monica ins Haus und hielt in der Diele abrupt inne, als sie den Spiegel sah. Sie warf mir einen Blick zu und schien kurz davor, etwas zu sagen, wandte sich dann jedoch ab. Einige Zeit lang betrachtete sie sich nachdenklich im Spiegel. Ohne sich abzuwenden, sagte sie, sie nehme an, es sei keine schlechte Idee, ihre Frisur und ihre Bluse noch einmal überprüfen zu können, bevor sie das Wohnzimmer betrete, besonders wenn es draußen in Strömen regnete oder sehr windig war. Ich sagte nichts und beobachtete ihr Spiegelbild dabei, wie sie ihr Haar kühn aus dem Gesicht strich. Gemeinsam mit Monica bewegte sie sich zum Rand des Spiegels und beide verschwanden ins Wohnzimmer.

In der Küche sah ich, wie sich Monicas Lippen zu einem kleinen, festen Kreis verengten. Es war ein Gesichtsausdruck, für den ich nie viel übrig hatte, eine Kombination aus Gereiztheit und verbissener Strenge, doch in dem neuen Spiegel sah ich lediglich einen koketten Schmollmund. »Es ist nur ein Experiment«, sagte ich. »Wenn du es wirklich nicht magst –« »Es ist dein Haus«, sagte sie. »Aber darum geht es nicht«, sagte ich. Sie warf mir einen dieser Blicke zu und wandte sich dann ab; es war ihre Art des stillen Protests. Sie nahm mit dem Rücken zum Spiegel Platz, während ich eine Kanne Kräutertee für sie aufbrühte. Als ich mich ihr gegenüber setzte, konnte ich an ihrem angespannten Gesicht vorbei auf ihren Hinterkopf sehen, auf den hinteren Teil ihres Blusenkragens, der unter ihrem Haar hervorblitzte, auf den oberen Teil ihrer Schulterblätter. All das schien sich wohlzufühlen, während sie mir von ihren Problemen mit dem Gärtner erzählte. Einmal, als sie den Kopf zur Seite drehte, um aus dem Fenster zu blicken, sah ich im Spiegel die Wölbung ihrer Stirn, ihre leicht nach oben geschwungene Nasenspitze, die kleine Furche zwischen Nase und Oberlippe, und ich war überwältigt, wie elegant und voller Lebensfreude ihr Profil war.

Ich ließ einen Tag verstreichen, doch am übernächsten kaufte ich einen großen Spiegel mit dunklem Rahmen für das Wohnzimmer und hängte ihn gegenüber dem Sofa auf. Ich kramte mein braunes Fläschchen hervor, polierte ihn gründlich, und als ich zurücktrat, bewunderte ich den neuen Raum, der in den glänzenden Tiefen des Glases auftauchte. Natürlich würde Monica die Lippen zusammenkneifen, doch sie würde einsehen, dass es das Beste wäre. Die Spiegel in meinem Haus erfüllten mich mit solch einer Freude, dass mir ein Raum ohne sie wie eine dunkle Zelle erschien. Ich besorgte einen Standspiegel für das Fernsehzimmer, einen rechteckigen Spiegel mit schlichtem Rahmen für das Schlafzimmer in der oberen Etage, einen identischen für das Gästezimmer am Ende des Flurs. Bei einem Garagenflohmarkt erstand ich einen alten schildförmigen Spiegel, den ich in den Keller hinter Waschmaschine und Trockner hängte. Eines Abends überkam mich beim Betreten der Küche eine Unruhe, und als ich von der Fahrt zum Kaufhaus zurückkam, hängte ich einen zweiten Spiegel in die Küche, genau zwischen die beiden Fenster.

Monica sagte nichts. Ich konnte spüren, wie der Widerstand in ihr wuchs wie eine Mauer. Es entging mir nicht, dass ich mich seltsam benahm, wie ein Mann, der von etwas besessen war. Gleichzeitig fühlte sich das, was ich tat, vollkommen natürlich und notwendig an. Einige Leute zogen Fenster ein, um ihr Heim freundlicher zu gestalten – ich kaufte Spiegel. War das so schlimm? Ich sah sie weiterhin überall, bei Garagenflohmärkten, wo sie an klapprigen Tischen lehnten, auf denen sich rosafarbenes Geschirr türmte, oder bei Haushaltsauflösungen im Nobelviertel der Stadt, wo sie in den Fluren und Schlafzimmern hingen. Ich erstand einen zweiten für das Wohnzimmer, einen dritten für das Badezimmer in der oberen Etage. In der Diele hängte ich auf die Rückseite der Haustür einen Spiegel mit dunklem Holzrahmen, der farblich zum Schirmständer passte. Wenn ich an meinen Spiegeln vorbeiging, sobald ich auch nur einen Blick darauf erhaschte, wenn ich einen Raum betrat, durchströmte mich pures Wohlbehagen. Was war falsch daran? Von Zeit zu Zeit versuchte Monica das Ganze mit Humor zu nehmen. »Was?«, sagte sie etwa. »Nur ein einziger Spiegel am Treppenabsatz?« Doch wenn sie sah, wie nachdenklich es mich stimmte, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Weißt du, manchmal glaube ich, dass du mich dort« – sie zeigte auf den Spiegel – »mehr magst als hier«, – sie zeigte auf sich selbst. Sie sagte es scherzhaft und lächelte leicht, doch ihr Gesichtsausdruck spiegelte eine ängstliche Frage wider. Als wollte ich ihr das Gegenteil beweisen, richtete ich meine volle Aufmerksamkeit auf sie. Vor mir sah ich eine Frau mit sorgenvoller Stirn und unglücklichen Augen. Ich stellte mir vor, wie sie mir aus all den Spiegeln in meinem Haus entgegensah, mit gelassenen und hoffnungsvollen Augen, und eine Ungeduld überkam mich, als ich ihren dunkelbraunen Pullover betrachtete, ihre Hand, die nervös über den dunkelgrünen Rock strich, die Falten um ihren angespannten Mund.

Um Monica zu zeigen, dass zwischen uns alles in Ordnung war, dass sich nichts geändert hatte, dass ich den Spiegeln nicht vollkommen verfallen war, schlug ich vor, am Samstag ein Picknick zu machen. Wir packten einen Picknickkorb und fuhren an den See. Monica trug einen Strohhut mit breiter Krempe, den ich noch nie zuvor an ihr gesehen hatte, und eine neue, zart schimmernde, hellgrüne Bluse. Im Auto nahm sie den Hut ab, legte ihn in den Schoß, lehnte sich dann mit halb geschlossenen Augen zurück und reckte das Gesicht der Sonne entgegen. An ihrem Ohrläppchen funkelte ein winziger grüner Edelstein. Am Picknickplatz angekommen, nahmen wir an einem der im Halbschatten stehenden Tische unter den hohen Kiefern, die am Rand des kleinen Strandabschnitts wuchsen, Platz. Es war ein heißer, drückender Tag. Der Rauch von den Grillplätzen stieg zu den Ästen empor. Ein Mann stand mit einem Fuß auf der Tischbank da, den Arm auf den Schenkel gestützt, während er eine Bierdose in der Hand hielt und auf den Strand und das Wasser blickte. Zwischen den Tischen liefen Kinder auf und ab. Auf dem Strand machten drei Jungs in knielangen Badehosen mit riesigen Baseballhandschuhen und einem neongrünen Tennisball Wurfübungen. Eine dicke Mutter und ihr magerer Teenagersohn spielten Volleyball. Junge Frauen in Bikinis und Männer mit weißem Brusthaar spazierten durch den Sand. Einige Menschen plantschten und lachten im Wasser. Ein schwarzer Hund mit aufgestellten Ohren schwamm mit einem nassen Stock im Maul auf das Ufer zu. Weiter draußen konnte man vorbeiziehende Kanus und sich hebende Ruder erkennen, die das Wasser zum Spritzen und Funkeln brachten. Und als ich mich zu Monica umdrehte, sah ich den ganzen Nachmittag in ihr Gesicht und ihre Augen strömen. Nach dem Picknick wanderten wir einen Pfad entlang, der um den halben See führte. Auf den schmalen Sandstreifen am Uferrand lagen hie und da einige Menschen auf ihren Handtüchern auf dem Rücken in der Sonne. Durch dornige Büsche gingen wir zum Strand hinunter. Im Sand zog Monica die Sandalen aus, hob den langen Rock an und ging dann einige Schritte ins Wasser, wo sie den Kopf in den Nacken legte, um mit geschlossenen Augen die Sonne zu genießen. In diesem Moment schien für Monica und mich alles möglich zu sein, und während ich auf sie zuging, sagte ich: »Ich habe dich noch nie so gesehen!« Die Augen noch immer geschlossen, sagte sie: »Ich bin heute nicht ich selbst!« Sie lachte. Dann lachte ich, wegen unserer Worte und wegen ihres Lachens und der Sonne und des Himmels und des Sees.

Auf der Heimfahrt schlief sie mit dem Kopf an meiner Schulter ein. Dieser lange Ausflug hatte mich ebenfalls ermüdet, wenn auch nicht auf die gleiche Weise. Im Laufe des Nachmittags hatte sich ein Gefühl von Unbehagen eingeschlichen. Das Leuchten des Sonnenlichts auf dem Wasser hatte mir in den Augen geschmerzt. Die Hitze hatte mich niedergedrückt. Es lag eine Trägheit in allem, eine Schwerfälligkeit. Monica schien das Gehen mehr Anstrengung zu kosten, als wäre die Luft eine heiße Masse, durch die sie sich kämpfen musste. Wir beide, sie mit ihrem Strohhut und ich mit meinen Cargo-Shorts, kamen mir vor wie zwei Schauspieler, die ganz gewöhnliche Leute spielten, die einen Tag am See genossen. In Wirklichkeit war ich ein Mann, der von Enttäuschung niedergedrückt wurde, ein Mann, für den die Dinge nicht so gelaufen waren, wie er es sich einst ausgemalt hatte, ein stiller Mann, vorsichtig in seinem Leben, schüchtern, wenn es darauf ankam, aber dennoch zufrieden genug, um sich durch die kleinen Rituale des Alltags treiben zu lassen. Und Monica? Ich streifte sie mit meinem Blick. Ihr Handrücken ruhte auf ihrem Bein, vier Finger zeigten in eine Richtung, der Daumen in die andere – und etwas an diesen Fingern und diesem Daumen schien Verzweiflung auszudrücken.

Doch als ich die Haustür öffnete und nach Monica das Haus betrat, kehrte das gute Gefühl zurück. Da standen wir im Spiegel, sie in ihrer schimmernden grünen Bluse und ich mit meinem von der Sonne geröteten, glühenden Gesicht. Tief drinnen im Leuchten des polierten Glases hob sich ihre Hand in einem anmutigen Bogen, um den Strohhut abzusetzen.

Im Wohnzimmer erhaschte ich in beiden Spiegeln einen kurzen Blick auf sie, wie sie beschwingt in Richtung Küche ging. In der sonnigen Küche hob ihr fröhliches Spiegelbild einen Wasserkrug hoch, der das Sonnenlicht einfing. Ich blickte in den zweiten Spiegel, in dem sie ihr schimmerndes Wasserglas anhob, plötzlich innehielt und den Mund zu einem herzhaften Gähnen öffnete. »Ich würde mich gerne hinlegen«, sagte Monica. Ich wandte mich ihr zu und sah ihre zusammengepressten Lippen und ihre schweren Lider. Ich folgte ihr, als sie langsam die Stiegen hinauf und an dem neuen Spiegel am Treppenabsatz vorüberging. Einen Moment lang leuchtete mir ihr Haar aus dem Glas entgegen. Oben angekommen, ging sie ernst und ohne einen Blick hineinzuwerfen, an dem ovalen Spiegel vorbei ins Schlafzimmer, wo ich ihr heiteres Spiegelbild dabei beobachtete, wie sie sich auf das Bett legte und die Augen schloss. Auch ich war müde. Ich war mehr als müde, aber allein das Vergnügen, zu Hause zu sein, erfüllte mich mit einer Rastlosigkeit, einer Energie, die mich dazu antrieb, alle Zimmer des Hauses zu durchschreiten. Ab und an blieb ich vor einem polierten Spiegel stehen und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen. Es war, als vertriebe mein Haus mit den vielen Spiegeln die gewohnte Schwere und den Überdruss aus meinem Körper, und einer plötzlichen Eingebung folgend, holte ich die Wunderpolitur hervor, die noch immer zu zwei Dritteln voll war, und ging in den Keller, wo ich sie auf den neuen Spiegel auftrug, der an die Waschmaschine gelehnt noch auf meine Entscheidung gewartet hatte, wo ich ihn aufhängen würde.

Als wir später am selben Abend gemeinsam im Wohnzimmer saßen, wirkte Monica noch immer müde und etwas launisch. Ich hatte sie zum Sofa geführt und versucht, sie so zu positionieren, dass sie ihr gut gelauntes Spiegelbild sehen konnte, doch sie weigerte sich, es anzusehen. Ich spürte ihren Widerwillen genauso deutlich, als würde sie mich mit der Hand wegstoßen. Im Spiegel bewunderte ich den Schulterteil ihrer Bluse. Dann warf ich einen Blick auf die andere Monica, die Monica, die steif und sehr still auf dem Sofa saß. Ich musste an einen Himmel denken, der sich vor einem Sturm verdunkelte. Ich bildete mir ein zu hören, wie sie »Kann nicht« sagte, so leise, dass ich mich fragte, ob sie überhaupt etwas gesagt hatte; oder vielleicht hatte sie »Kann ich« gesagt.

»Was hast du …«, stieß ich hervor, kaum in der Lage, meine eigenen Worte zu hören.

»Ich kann nicht«, sagte sie, und nun gab es keinen Zweifel daran. »So ein perfekter Tag. Und jetzt … das.« Sie hob den Arm in einer ausladenden Geste, die den gesamten Raum, das gesamte Universum einzuschließen schien. Im Spiegel machte ihr Abbild eine neckische Armbewegung. »Ich kann nicht. Ich habe es versucht, aber ich kann das nicht. Ich kann das nicht. Du wirst dich … du wirst dich entscheiden müssen.«

»Entscheiden?«

Ihre Antwort war so leise, dass es kaum mehr war als ein Ausatmen. »Zwischen mir und … ihr.«

»Du meinst … ihr?«

»Ich hasse sie«, flüsterte sie und brach in Tränen aus. Sofort hörte sie wieder auf, atmete tief ein und brach erneut in Tränen aus. »Du siehst mich nicht an«, sagte sie. »Aber das ist nicht –«, sagte ich. »Ich muss gehen«, sagte sie und stand auf. Sie hatte aufgehört zu weinen. Sie atmete erneut tief ein und rieb sich mit dem Fingerrücken über die Nase. Sie griff in ihre Rocktasche und zog ein Taschentuch hervor, das in Stücke zerbröselte. »Hier«, sagte ich und reichte ihr mein Stofftaschentuch. Nach kurzem Zögern nahm sie es und trocknete sich damit die Nase. Sie gab mir das Taschentuch zurück, sah mich an und wandte sich zum Gehen um. »Nicht«, sagte ich. »Sie oder ich«, flüsterte sie und verschwand durch die Tür.

In der darauffolgenden Woche stürzte ich mich in die Arbeit, die gerade kompliziert genug war, um meine volle Aufmerksamkeit zu verlangen, ohne mich jedoch im Geringsten zu interessieren. Um fünf Uhr nachmittags ging ich direkt nach Hause, wo ich mich in jedem Raum besänftigt fühlte. Doch ich war kein Kind, kein naiver Selbsttäuscher, der sich aus einer misslichen Lage einfach davonstehlen wollte. Ich wollte die Dinge verstehen, ich wollte einen Entschluss fassen. Von Anfang an hatte zwischen Monica und mir eine tiefe Verbundenheit bestanden. Sie war misstrauisch, hatte gelernt, wenig vom Leben zu erwarten, war dankbar für die kleinen Freuden, auf der Hut vor Versprechungen, daran gewöhnt, aus allem das Beste zu machen, neigte dazu, mehr zu wollen, wagte jedoch gleichzeitig nicht, mehr zu wollen. Dann war plötzlich die Wunderpolitur aufgetaucht, mit ihrer prahlerischen Art, und flüsterte uns verführerische Versprechungen ein. Wieso nicht?, schien sie zu fragen. Zum Teufel, wieso nicht? Doch die Spiegel, die mir Stärke verliehen, die mich mit neuem Leben erfüllten, machten Monica zornig. Hatte sie den Eindruck, ich würde eine falsche Version ihrer selbst bevorzugen? Eine funkelnde Monica der Monica aus Fleisch und Blut mit den Pflastern und den dicken Knien und den vielen Sorgen vorziehen? Was mich anzog, war genau das Gegenteil. In den leuchtenden Spiegeln sah ich die wahre Monica, die verborgene Monica, jene Monica, die unter Jahren der Enttäuschung begraben war. Weit davon entfernt, mich in eine Welt der aufpolierten Illusionen zu flüchten, konnte ich in den Tiefen dieser Spiegel vielmehr eine Welt sehen, die nicht länger von schwindenden Hoffnungen und verblassenden Träumen verdunkelt war. Dort war alles eindeutig, alles möglich. Monica würde die Dinge nie so sehen wie ich, das war mir völlig klar. Wenn sie in die Spiegel sah, sah sie nur einen Ort, der mich immer weiter von ihr fortzog, und in diesem Ort eine Konkurrenz, der sie tiefe Eifersucht entgegenbrachte.

Ich fühlte, wie ich langsam auf eine gefährliche Entscheidung zusteuerte, die ich nicht treffen wollte, genau wie jemand, der auf einer vereisten Straße auf einen Abhang zuschlittert.

Es musste eine weitere Woche verstreichen, bevor ich wusste, was zu tun war. Der Sommer hatte seinen Höhepunkt erreicht. Auf den Veranden fächelten sich die Nachbarn mit Zeitungen Luft zu. In hohem Bogen bestäubten Rasensprenger Grünflächen und Einfahrten, die in der Sonne glänzten wie schwarze Lakritze. Ein Mann mit Baseballmütze bewegte an der Spitze einer Leiter träge einen Pinsel hin und her. Es war Samstagnachmittag. Ich hatte Monica an jenem Morgen angerufen und ihr gesagt, ich müsse ihr etwas Wichtiges zeigen. Sie solle mich auf der Veranda treffen. Wir saßen draußen, tranken Limonade wie ein altes Ehepaar, beobachteten Kinder, die auf ihren Fahrrädern vorüberfuhren, ein Eichhörnchen, das eine Telefonleitung entlangflitzte. Ein Rotkehlchen pickte ohne Unterlass auf das Gras am Straßenrand ein. Nach einer Weile sagte ich: »Lass uns hineingehen.« Sie wandte sich mir zu, als wollte sie etwas fragen. »Wenn du das willst«, sagte sie schließlich und kehrte beide Handflächen nach oben.

Als wir ins Haus traten, blieb Monica stehen. Sie blieb so plötzlich stehen, als hätte ihr jemand seine schwere Hand auf die Schulter gelegt. Ich sah ihr zu, wie sie an die Stelle starrte, wo der Spiegel gehangen hatte. Sie sah mich an, sah wieder die Wand an. Dann drehte sie sich um und sah zur Rückseite der Haustür. Die dunkle Verkleidung schimmerte matt im Licht des Raumes. Monica streckte die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen meinen Arm.

Ich führte sie in jedes Zimmer des Hauses und machte vor vertrauten Wänden halt. Im Wohnzimmer blickten uns meine Eltern von einer Fotografie an jener Wand entgegen, wo einer der Spiegel gehangen hatte. Die andere Stelle war kahl, mit Ausnahme zweier kleiner Löcher in der ausgeblichenen Mustertapete, die hohe, mit blassen Blumen gefüllte Vasen zeigte. In der Küche waren auf einem neuen Poster verschiedene Teesorten abgebildet. Anstelle des ovalen Spiegels im oberen Flur hing dort ein gerahmtes Gemälde einer alten Mühle neben einem braunen Teich mit zwei Enten. In den Badezimmern auf beiden Etagen hingen über den Waschbecken neue Schränkchen samt Spiegeln mit geschliffenen Rändern. Ich konnte sehen, wie sich Monicas Gesicht mit Dankbarkeit füllte. Als der Rundgang zu Ende war, führte ich sie zur Schublade im Schrank und nahm die braune Flasche heraus. In der Küche sah sie mir dabei zu, wie ich die zähe, grünlich weiße Flüssigkeit ins Waschbecken kippte. Ich wusch die leere Flasche aus und warf sie in den Mülleimer neben dem Herd. Sie wandte sich mir zu und sagte: »Das ist das schönste Geschenk, das du –«

»Wir sind noch nicht fertig«, sagte ich mit einem Anflug von Aufregung in der Stimme. Ich führte sie durch die Küchentür und über die vier hölzernen Stufen in den Garten hinter dem Haus.

An der Rückseite des Hauses standen alle Spiegel in einer Reihe, in den verschiedensten Neigungen an die Mauer gelehnt. Da war er, der ovale Spiegel aus dem oberen Flur, und verdeckte ein Kellerfenster. Da waren sie, die beiden Spiegel aus der Diele, die Küchenspiegel mit den Holzrahmen, der schildförmige Spiegel aus dem Keller, die Wohnzimmerspiegel, die Schlafzimmerspiegel, die Standspiegel aus dem Fernsehzimmer, zwei Gästezimmerspiegel, der aus dem Schrank gelöste Spiegel aus dem oberen Badezimmer, der Spiegel aus dem unteren Badezimmer, der Spiegel vom Treppenabsatz, ebenso wie andere Spiegel, die ich gekauft, poliert und dann, zum Aufhängen bereit, in Schränken aufbewahrt hatte: quadratische Spiegel und runde Spiegel, Drehspiegel auf hölzernen Gestellen, ein Spiegel in Form eines vierblättrigen Kleeblatts. Im hellen Licht der Sonne glitzerten die Spiegel wie Juwelen.

»Da sind sie!«, sagte ich und machte eine ausladende Handbewegung. Ich begann vor ihnen auf und ab zu gehen, von einem Ende zum anderen. Während ich von Spiegel zu Spiegel ging, die an das Haus gelehnt waren, konnte ich unterschiedliche Teile von mir sehen: meine Schuhe und den Hosenaufschlag, meinen Gürtel und den unteren Teil meines Hemds, plötzlich meine vollständige Gestalt in dem hohen Spiegel, meine schwingende Hand. Hie und da erhaschte ich einen Blick auf Monicas Rivalin, die abseits auf dem unglaublich grünen Gras stand. »Und jetzt«, sagte ich, als richtete ich mich an ein Publikum – und hielt um des dramatischen Effekts willen inne. Ich blickte zu Monica, die mit einem Gesichtsausdruck dastand, der schwer zu deuten war. Ein besorgter Ausdruck, wie mir schien, und ich wollte ihr versichern, dass es keinen Grund zur Sorge gab, dass ich all das hier für sie tat, bald würde alles in Ordnung sein. Hinter einem breiten Spiegel am Ende der Reihe bückte ich mich, zog einen Hammer hervor, und nachdem ich den Hammer hochgehoben hatte, ließ ich ihn auf das Glas niederschmettern. Dann ging ich mit schwingendem Hammer die gesamte Spiegelreihe zurück und sandte glänzende Glassplitter durch die Sommerluft. »Da!«, schrie ich und zerschmetterte einen weiteren. »Schau!«, rief ich. Ich holte aus. Ich zerschmetterte. Feuchte Rinnsale liefen über mein Gesicht. Spiegelsplitter klebten an meinem Hemd.

Es war schneller vorüber, als ich es für möglich gehalten hätte. An der gesamten Rückseite des Hauses lag zerbrochenes Spiegelglas funkelnd im Gras. Vereinzelt wiesen leere Rahmen dreieckige Glasstücke auf, die am Holz festhielten. Ich betrachtete den Hammer in meiner Hand. Dann warf ich ihn quer durch den Garten, warf ihn in hohem Bogen in die Reihe von Fichten im hinteren Teil. Ich konnte hören, wie der Hammer langsam durch die Nadeläste fiel.

»Da!«, sagte ich zu Monica. Machte eine wegwerfende Geste mit beiden Händen, so wie man es tut, wenn man mit etwas fertig ist. Dann ging ich vor ihr auf und ab. Eine schreckliche Aufregung brannte in mir. Ich konnte fühlen, wie das Blut in meiner Halsschlagader pulsierte. Ich stellte mir vor, wie es in einer leuchtend roten Fontäne die Haut durchbrach. »Sie ist weg! Das ist es doch, was du wolltest! Oder etwa nicht? Nicht? Weg! Auf Nimmerwiedersehen! Bist du jetzt glücklich? Na?« Ich blieb vor ihr stehen. »Na? Na?« Ich lehnte mich näher zu ihr. »Na? Na? Na?« Ich lehnte mich noch näher. Ich lehnte mich so nahe, dass ich sie nicht mehr sehen konnte. »Na? Na? Na? Na? Na?«

Monica tat das Einzige, was sie tun konnte: Sie floh. Doch zuerst stand sie da, als wollte sie etwas sagen. Sie sah mich mit dem Blick einer Frau an, der wiederholt ins Gesicht geschlagen worden war. Schmerz lag darin, in diesem Gesichtsausdruck, und Müdigkeit, und eine Art schmerzerfüllte Sanftheit. Und all das wurde begleitet von der stillen Entschlossenheit einer Person, die eine Entscheidung getroffen hatte. Dann wandte sie sich um und ging.

Es gibt eine Form der Rastlosigkeit, die so extrem ist, dass man es nicht mehr ertragen kann, in seinem Haus zu sitzen. Man wandert von Raum zu Raum wie jemand, der eine Geisterstadt besucht. Jeden Tag trauerte ich um meine Spiegel mit ihrem der Wunderpolitur zu verdankenden Glanz. Dort, wo sie früher gehangen hatten, sah ich nur Tapetenmuster, gerahmte Bilder, Türverkleidungen, Staubspuren. Eines Tages fuhr ich zum Einkaufszentrum und kehrte mit einem ovalen Spiegel mit schlichtem, dunklem Rahmen zurück, den ich oben in den Flur hängte. Ich benutzte ihn ausnahmslos, um die Passform meines Jacketts zu überprüfen. Einmal, als die Türglocke läutete, rannte ich nach unten zur Haustür, doch es war nur ein Junge, der in einer Büchse Spenden für die neue Pfadfindergruppe sammelte. Ich spürte das Trübsal auf mich herabrieseln wie Staub. Eine Flasche Wunderpolitur – war das zu viel verlangt? Eines Tages musste der Fremde zurückkommen. Er wird mit seinem schweren Koffer, der eine Körperhälfte weiter nach unten zog, auf mein Haus zugehen. In meinem Wohnzimmer wird er den Koffer aufklappen und mir die Reihen brauner Fläschchen zeigen. Betrübt wird er verkünden, dass heute mein Glückstag ist. Mit ruhiger, aber bestimmter und selbstbewusster Stimme werde ich ihm sagen, dass ich alle Flaschen will, jede einzelne. Wenn ich meine Augen schließe, kann ich den misstrauischen Ausdruck in seinen Augen sehen, der von einem verschlagenen Blick, einem Hauch von Verachtung und dem Aufflackern unerträglicher Hoffnung begleitet wird.

 

 

 

 

Phantome

 

 

 

Das Phänomen

 

Die Phantome unserer Stadt tauchen nicht, wie einige denken, nur nachts auf. Einmal begegneten wir ihnen am helllichten Tag, als die Schatten scharf auf unseren Rasen und Straßen lagen. Die Begegnungen sind kurz, dauern von zwei bis drei Sekunden bis zu womöglich einer Minute, obwohl manchmal von längeren Zeiträumen berichtet wird. So viele von uns haben sie gesehen, dass es ungewöhnlich ist, jemanden zu treffen, der es nicht hat. Von dieser Minderheit leugnet nur ein kleiner Teil, dass Phantome existieren. Manchmal kommt es während eines einzigen Tages zu mehr als einer Begegnung, manchmal vergehen sechs Monate oder ein Jahr. Die Phantome, die einige auch Präsenzen nennen, sind nicht leicht von gewöhnlichen Einwohnern zu unterscheiden. Sie sind nicht durchsichtig, nebelig oder verschwommen, sie erscheinen auch nicht wie Hitzeflimmern noch sind sie in ihrer Statur und Kleidung in irgendeiner Weise ungewöhnlich. Tatsächlich gleichen sie uns so sehr, dass wir sie manchmal für jemanden halten, den wir kennen. Solche Irrtümer sind selten und dauern nie länger als einen kurzen Moment an. Sie selbst scheinen während einer Begegnung unsicher zu sein und ziehen sich rasch zurück. Sie sehen uns immer an, bevor sie sich abwenden. Sie sprechen niemals. Sie sind wachsam, ausweichend, verschlossen, hochmütig, unfreundlich, distanziert.

 

 

Erklärung #1

 

Eine Erklärung besagt, unsere Phantome seien die Auren oder unsichtbaren Spuren von früheren Einwohnern unserer Stadt, die 1636 besiedelt wurde. Unsere Atmosphäre, getränkt mit der Energie all jener, die uns vorangingen, erhalte sie und erlaube ihnen unter bestimmten Umständen, für uns sichtbar zu werden. Diese Erklärung, die oft mit pseudowissenschaftlichem Vokabular ausgeschmückt wird, erscheint den meisten von uns nicht überzeugend. Die Phantome erscheinen immer in zeitgenössischer Kleidung, ihr Verhalten lässt nie auf eine frühere Epoche schließen und es gibt nicht den geringsten Beweis, der die Behauptung stützt, dass die Toten sichtbare Spuren in der Luft hinterließen.

 

 

Geschichte

 

Als Kinder erfuhren wir von unseren Vätern und Müttern von den Phantomen. Sie wiederum erfuhren es von ihren eigenen Vätern und Müttern, die sich daran erinnern, es als Kinder von ihren Eltern – unseren Urgroßeltern – erfahren zu haben. Somit sind die Phantome unserer Stadt nicht neu, sie stellen keine plötzliche Störung unseres Lebens, keine abrupte Veränderung in unserer Wahrnehmung dar. Wir haben keine offiziellen Aufzeichnungen, welche die Anwesenheit von Phantomen während diverser Perioden unserer Geschichte bestätigen, keine wissenschaftlichen Gutachten oder Abschriften von Gerichtsverfahren, doch einige von uns sind mit dem Archiv im Obergeschoss unserer Bibliothek vertraut, in dem wir in Tagebüchern aus dem neunzehnten Jahrhundert gelegentlich Verweise auf »die anderen« oder »sie« ohne nähere Ausführungen finden. Kirchenregister aus dem siebzehnten Jahrhundert enthalten mehrere Erwähnungen der »Kinder des Teufels«, was einige als Beweis für die Abstammungslinie unserer Phantome sehen. Andere halten dagegen, dass der Begriff so allgemein sei, dass er nicht als Beweis für irgendetwas angeführt werden könne. Die offizielle Stadtgeschichte, veröffentlicht 1936, am dreihundertsten Geburtstag unserer Gründung, überarbeitet 1986 und aktualisiert 2006, erwähnt die Phantome nicht. Eine Anmerkung des Herausgebers vermerkt, die Autoren »haben sich auf die belegbaren Fakten beschränkt«.

 

 

Woher wir es wissen

 

Wir wissen es wegen eines Prickelns auf der Haut unserer Unterarme, begleitet von einer Anspannung im Inneren des Körpers. Wir wissen es, weil sie uns ansehen und sich sofort zurückziehen. Wir wissen es, weil wir versuchen, ihnen zu folgen, und sehen, dass sie verschwunden sind. Wir wissen es, weil wir es wissen.

 

 

Fallbeispiel #1