Der Bergpfarrer – Jubiläumsbox 5 – 6er Jubiläumsbox

Der Bergpfarrer
– Jubiläumsbox 5–

6er Jubiläumsbox

E-Book: 23-28

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-945-9

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Neues Glück auf dem Sternbergerhof?

Theres und der Mann aus Südamerika

Roman von Toni Waidacher

»Herrschaftszeiten, ist das ein Wetter!« murmelte Sophie Tappert kopfschüttelnd.

Die Perle vom Pfarrhaus stand am Küchenfenster und schaute in ein trostloses Grau. Ihr Blick ging hinüber bis zu den Zwillingsgipfeln, ›Himmelspitz‹ und ›Wintermaid‹, über denen sich schon wieder schwarzgraue Gewitterwolken zusammenzogen. Seit Wochen regnete es im Wachnertal, und Sophie Tappert konnte kaum noch zählen, wie viele Unwetter bis jetzt niedergegangen waren.

Die Haushälterin wandte sich wieder dem Herd zu, auf dem das Mittagessen kochte. In wenigen Minuten kamen Hochwürden und sein Bruder, und Sophie tat die letzten Handgriffe. Hier umrühren, dort noch einmal abschmecken und da die Platte runterschalten. Das alles tat sie mit traumwandlerischer Sicherheit, schließlich war das Kochen eine Leidenschaft von ihr.

Draußen hörte sie die Tür gehen, und kurz darauf stand Max Trenker in der Küche. Er hatte seine regennasse Uniformjacke ausgezogen und hängte sie an den Kachelofen, der in einer Ecke stand. Angesichts der Temperaturen, hatte Sophie Tappert ihn am Morgen angeheizt, und ein wenig Restwärme war noch vorhanden.

»Das ist ja kaum auszuhalten«, schimpfte der Polizeibeamte. »Wenn’s sich net bald ändert, das Wetter, dann wand’re ich aus!«

»Das glaub’ ich net«, ließ sich Pfarrer Trenker von der Tür her vernehmen. »Dafür lebst’ doch viel zu gern hier.«

»Außerdem sind woanders die Madeln net so hübsch gewachsen«, grinste Max, was ihm einen tadelnden Blick der Haushälterin einbrachte.

Für Sophie Tappert war Hochwürdens jüngerer Bruder fast wie ein eigener Sohn, und die Tatsache, daß der fesche Max kein Kostverächter war, was die Liebe anging, war ihr schon lange ein Dorn im Auge. Schon etliche Male mußte der Polizist sich deswegen auch bissige Kommentare von ihr anhören. Erstaunlicherweise beließ die Haushälterin es heute dabei. Statt dessen drückte sie Max eine Schüssel mit Salzkartoffeln in die Hand. Er stellte sie auf den Tisch und sah die kleinen Glasteller mit dem Rote-Beetesalat. Die Rüben stammten aus dem Pfarrgarten, und Sophie hatte sie, nachdem sie gekocht und geschält waren, in Scheiben geschnitten, und mit Essig und Gewürzen abgeschmeckt.

»Oh, es gibt also Königsberger Klopse«, stellte der Beamte erfreut fest.

Daß die Fleischbällchen in Kapernsauce, zu seinen Leibgerichten zählten, brauchte er nicht extra zu erwähnen, denn eigentlich gehörte alles, was die Haushälterin auf den Tisch brachte, zu seinen Lieblingsspeisen.

»Aber du hast recht«, ging Sebastian noch einmal auf den Kommentar seines Bruders über das Wetter ein. »Solche Herbstgewitter, mit diesen niedrigen Temperaturen, haben wir lang’ net gehabt. Es ist schon ein bissel ungewöhnlich.«

»In Waldeck ist eine Scheune durch Blitzschlag abgebrannt«, berichtete Max. »Und drüben, auf der anderen Seite vom Kogler, standen die Straßen meterhoch unter Wasser. Es stürzt nur so vom Berg herunter.«

»Dann wollen wir hoffen, daß wir von solchen Unglücken verschont bleiben«, meinte der Seel­sorger.

Sebastian nahm sich noch ein wenig von der Sauce dazu.

»Ich hab’ mir schon vor Tagen vorgenommen, mal wieder zur Nonnenhöhe hinaufzuwandern«, sagte er. »Aber bei dem Wetter jagt man ja keinen Hund vor die Tür.«

»Hunde net«, seufzte sein Bruder. »Aber arme Polizisten. Gleich nach dem Essen fahr’ ich rüber, nach Engelsbach. Der Kollege dort braucht meine Unterstützung. Wenn’s net bald besser wird, müssen wir noch Kräfte aus Garmisch dazuholen.«

Der Nachtisch – Schokoladenpudding mit Vanillesauce – besserte seine Laune ein wenig. Schließlich war die Zeit um, und der Dienst rief wieder. Max nahm seine Jacke, die halbwegs getrocknet war, und zog sie über.

»Also, pfüat euch«, grüßte er. »Wir seh’n uns dann zum Abendessen – wenn ich bis dahin net ertrunken bin.«

Er hatte gerade die Haustür hinter sich geschlossen, als ein Blitz vom Himmel fuhr. Gleichzeitig krachte der Donner und fuhr rollend, als vielfaches Echo von den Bergwänden zurückgeworfen, über St. Johann und ein Sturzbach kam hernieder. Max rannte, unter den Bäumen ein wenig Schutz suchend, zum Revier hinüber, über dem sich seine Wohnung befand.

»Na, Prost Mahlzeit«, sagte er und schaute an sich hinunter.

Wohl oder übel würde er die Uniform wechseln müssen. Am besten zog er gleich Gummistiefel und Regenjacke an – aber dann hätt’ ihn wohl keiner mehr als Polizeibeamten ernst genommen.

*

Franz Sternberger starrte mißmutig aus der Haustür. Obgleich es erst früher Nachmittag war, kam es einem vor, als wäre es schon Abend, so finster war es draußen. Durch den Regenschleier konnte man kaum bis zur Einfahrt hinübersehen. Der Bergbauer schlug die Tür wieder zu und schlurfte in die Küche zurück. Dort saßen Burgl Waller und Josef Hirtler beim Nachmittagskaffee. Franz gesellte sich zu Magd und Knecht.

»Wenn’s net bald besser wird, dann ist die ganze Ernte hin«, brummte er, während er sich Kaffee eingoß.

Sein Knecht nickte.

»So arg hab’ ich’s auch lang’ net erlebt«, meinte er.

Burgl konnte ihm nur beipflichten. Josef war weit über zehn Jahre auf dem Sternbergerhof, und die Magd schon fast an die vierzig. Als junges Madel war sie hier in Stellung gekommen. Noch mehr als der Knecht, gehörte sie zum Inventar.

Draußen blitzte und donnerte es, daß man glauben konnte, der Weltuntergang hätte schon begonnen, und jedesmal, wenn es krachte, zuckte die Magd ängstlich zusammen.

»Wenn’s donnert, brauchst’ keine Angst mehr zu haben«, lachte Josef. »Dann ist das Schlimmste nämlich vorbei. Der Blitz ist gefährlich, net das Krachen.«

»Ich mag beides net«, antwortete Burgl und duckte sich unwillkürlich, weil es jetzt blitzte und gleichzeitig donnerte.

Wirklich – in derselben Sekunde. Kurz darauf war es totenstill, nur der Regen prasselte auf das Dach des über zweihundertjahrealten Bauernhauses.

»Da hat’s eingeschlagen!« sagte Franz Sternberger. »Hoffentlich net bei uns.«

Er erhob sich und rannte aus der Küche. Josef folgte ihm, während die Magd wie gelähmt sitzen blieb. Doch gleich darauf fuhr sie hoch, als sie den entsetzten Schrei des Bauern hörte.

»Feuer! Das Haus brennt!«

»Heiliger Florian, steh’ uns bei«, flüsterte Burgl Waller und hob betend die Hände, während sie nach draußen eilte.

Bauer und Knecht standen im Regen und starrten zum Dach des Hauses hinauf, aus dem die Flammen schlugen.

»Schnell, die Feuerwehr«, rief Franz Sternberger der Magd zu. »Ruf an!«

Burgl lief auf die Diele zurück. Das Telefon stand dort in der Ecke, auf einem halbhohen Schrank. Die alte Frau wählte mit zitternden Fingern den Notruf.

»Auf dem Sternbergerhof brennt’s«, schrie sie in die Muschel, nachdem sich jemand am anderen Ende gemeldet hatte.

»Kommen S’ schnell!«

Angstvoll schaute sie zur Treppe hinauf. Dort oben wurden graue Rauchschwaden sichtbar, und deutlich konnte sie das Knistern der Flammen hören.

»Lieber Herrgott, hilf!« jammerte sie.

Dann machte sie, daß sie aus dem Haus kam. Draußen hatten Franz Sternberger und sein Knecht den Gartenschlauch angeschlossen. Der Bauer war auf eine Leiter geklettert und versuchte so, die Flammen zu bekämpfen. Allerdings war die Leiter viel zu kurz, als daß er den Brandherd wirklich erreichen konnte. Zwar unterstützte der Regen seine Bemühungen, doch der Wind fachte das Feuer immer wieder an, und in dem trockenen Holz des Dachstuhles fand es ausreichend Nahrung.

»Wo bleibt nur die Feuerwehr?« brüllte der Bauer.

Er schaute zur Seite. Rechts brannte es lichterloh, der Giebel drohte jeden Moment auseinander zu brechen.

Gütiger Gott, durchfuhr es Franz, wenn er auf den Stall stürzt, dann ist alles aus!

»Die Küh’«, rief er seinem Knecht zu. »Laß die Küh’ aus dem Stall.«

Burgl und Josef öffneten die große Schiebetür. Drinnen herrsch­te Unruhe. Die Tiere spürten instinktiv die Gefahr. Sie stürmten fast aus dem Stall und liefen, wie sie es gewohnt waren, auf die Weide, die weit genug aus der Gefahrenzone lag.

Im letzten Augenblick, wie es schien, denn mit lautem Getöse brach ein Teil des brennenden Giebels ab und polterte auf das Scheunendach. Burgl schlug die Hände vor das Gesicht.

»Wo bleibt nur die Wehr?«

Endlich hörten sie in der Ferne die Sirenen. Wenig später jagten die roten Einsatzwagen heran. Albert Hausinger, der Kreisbrandmeister, erteilte die Befehle, und dann rollte der Einsatz mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks ab.

Aber es war ein vergeblicher Kampf.

Zum Leidwesen der Feuerwehrmänner ließ der Regen nach, dafür kam starker Wind auf, der die Flammen immer wieder auflodern ließ. Der Dachstuhl des Hauses war nicht mehr zu retten, und der Kuhstall krachte brennend ineinander. Schwarzer Rauch stieg in den Himmel, und Funken stoben im wirbelnden Luftstrom bis weit hinauf. Franz Sternberger stieß einen gequälten Schrei aus, dann brach er zusammen.

Josef Hirtler sprang hinzu und stützte ihn. Mit Hilfe eines Feuerwehrmannes schleppte er den Bauern unter das Dach der Scheune, die neben dem unbewohnten Gesindehaus, als einziges Gebäude von den Flammen verschont geblieben war.

Inzwischen war Max Trenker von Engelsbach, wo ihn ebenfalls der Notruf erreicht hatte, herüber gekommen. Der Polizeibeamte verständigte Dr.Wiesinger. Der Arzt versprach, sich gleich auf denWeg zu machen.

»Sei so gut, und bring’ den Sebastian mit«, bat Max, während er sich umsah. »Ich denk’, da braucht’s auch ein bissel seelischen Beistand, wenn ich mir das hier so anschau’.« Immer noch waren die Feuerwehrmänner mit dem Löschen beschäftigt, über dem Sternbergerhof stand eine riesige Rauchsäule.

Während Josef sich um den Bauern kümmerte, legte Burgl einen erstaunlichen Wagemut an den Tag. Ohne sich um die Zurufe der Löschmannschaft zu kümmern, marschierte sie in das Bauernhaus und holte aus ihrer Kammer einen Koffer heraus. Unter dem linken Arm klemmte eine blecherne Keksdose.

»Bist’ von allen guten Geistern verlassen?« schimpfte Albert Hausinger. »Kannst’ doch net in ein brennendes Haus rennen. Was hast dir eigentlich dabei gedacht?«

Die alte Magd deutete auf den Koffer.

»Der steht immer gepackt neben dem Kleiderschrank«, antwortete sie. »Für alle Fälle.«

Sie hielt ihm die Keksdose unter die Nase.

»Und darin sind meine persönlichen Papiere und mein Sparbuch. Du glaubst doch wohl net, daß ich das verbrennen laß!«

Der Kreisbrandmeister konnte über soviel Leichtsinnigkeit nur den Kopf schütteln.

*

Sebastian schlug erschreckt die Hände zusammen, als er das Unglück sah. Toni Wiesinger hatte ihn von der Praxis aus angerufen und ihm mitgeteilt, was geschehen war. Als der Arzt vorfuhr, wartete der Seelsorger bereits an der Straße.

»Wie steht’s?« erkundigte er sich bei dem Einsatzleiter, während Franz Sternberger medizinisch versorgt wurde.

Albert Hausinger schob seinen Helm in den Nacken und zuckte mit der Schulter.

»Sie sehen’s ja selbst, Hochwürden«, antwortete er und wischte sich über das rußgeschwärzte Gesicht. »Der Dachstuhl und der erste Stock des Hauses waren nicht mehr zu retten. Ebenso der Stall. Meine Männer haben den Brand soweit unter Kontrolle. Jetzt müssen wir prüfen, ob der Rest vom Haus noch zu gebrauchen ist, oder ob alles abgerissen werden muß. Aber das macht ein Experte. Ich hab’ ihn schon verständigt. Er ist auf dem Weg hierher.«

Sebastian war erschüttert. Schon auf der Herfahrt hatte er das Ausmaß des Feuers erahnen können. Jetzt sah er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er ging zur Scheune hin­über. Feuerwehrmänner hatten den Bauern auf eine Trage gebettet, damit er nicht auf dem Boden liegen mußte. Dr. Wiesinger prüfte gerade den Blutdruck des alten Mannes.

»Wie geht’s ihm?« fragte der Pfarrer.

Der junge Arzt sah auf.

»Ich hab’ seinen Kreislauf stabilisiert und ihm eine Beruhigungsspritze gegeben«, erklärte er. »Ansonsten ist er soweit in Ordnung.«

Sebastian hockte sich zu dem Bauern hinunter. Der blickte ihn aus leeren Augen an.

»Das wird’ schon wieder, Franz«, versuchte der Geistliche dem Alten Mut zu machen. »Hörst’ mich? Das Haus wird wieder aufgebaut, genauso, wie der Stall. Jetzt ist die Hauptsach’, daß du dich erst einmal erholst.«

»Ich würd’ ihn gern ins Krankenhaus einliefern«, sagte Dr.Wiesinger. »Nur für ein, zwei Tag’ zur Beobachtung.«

Franz Sternberger hob die Hand.

»Ich geh’ net in ein Krankenhaus«, protestierte er aufgebracht. »Ich geh’ überhaupt nirgendwo hin. Ich bleib’ hier, hier auf meinem Hof…, bis zuletzt…«

Sebastian legte ihm die Hand auf die Brust.

»Ruhig, Franz, reg dich net auf«, besänftigte er ihn. »Wie hast das gemeint – bis zuletzt?«

Der Bauer deutete auf die Brandruine.

»Schauen S’ doch selbst«, antwortete er resignierend. »Wie soll ich das alles wieder aufbauen? Der Hof bringt doch net genug ein, daß ich davon auch noch was hätt’ sparen können.«

»Ja, bist’ denn net versichert?«

»Gegen Blitzschlag?«

Der Mund des Alten verzog sich zu einer Grimasse.

»Was glauben S’ wohl, was das kostet? Ich hab’ schon ein ganzes Jahr die Prämie net mehr bezahlen können. Die Versicherung gibt mir keinen Pfennig.«

Er versuchte sich aufzurichten. Sebastian und Dr. Wiesinger stützten ihn dabei.

»Vielleicht taugen die Grundmauern noch«, fuhr der Bauer fort. »Doch da müßt’ sich erstmal jemand finden, der das finanziert. Ich werd’s wohl net mehr erleben.«

»Ja, aber, wie soll’s denn weitergehen?« fragte Pfarrer Trenker.

»Bei den Schulden, die auf dem Hof lasten, kann ich nur hoffen, daß bei einem Verkauf noch was übrig bleibt, damit ich davon einen Platz in einem Altenheim bezahlen kann«, erwiderte Franz Sternberger lakonisch.

Burgl und Josef, die danebenstanden, hatten Tränen in den Augen, als sie ihren Bauern so reden hörten.

Max kam hinzu. Sebastian sah seinen Bruder fragend an.

»Wie geht’s jetzt weiter?«

Der Polizeibeamte nickte zu der Brandruine hinüber.

»Bis der Prüfer das Gebäude net untersucht hat, darf es keiner betreten. Wahrscheinlich wird er es sowieso für unbewohnbar erklären. Wie der Hausinger sagt, ist oben alles vernichtet worden, und unten ist natürlich alles vom Löschwasser beschädigt. Da kann bestimmt niemand mehr drin wohnen.«

»Ich glaub’ net, daß Franz sich ins Krankenhaus bringen läßt«, sagte der Pfarrer. »Aber vielleicht können er, die Burgl und Josef erst einmal im Gesindehaus unterkommen. Gesundheitlich scheint ihm ja sonst nix zu fehlen.«

Er wandte sich zu der Magd um.

»Soviel ich weiß, habt ihr doch net im Gesindehaus gewohnt, net wahr?«

»Nein«, bestätigte Burgl. »Das Haus ist ja…, ich mein’, war ja groß genug. Der Bauer hat gewollt, daß wir da drin wohnen sollten.«

»Ja, ich versteh’. Wie schaut’s denn mit euren Sachen aus? Wäsche und Bettzeug werden dann wohl kaum mehr im Gesindehaus sein was?«

»Nein, außer den Matratzen in den Betten ist da nix.«

Die alte Frau zuckte die Schulter.

»Ich weiß gar net, was wir jetzt machen sollen«, sagte sie. »Ich hab’ schon gehört, daß das Löschwasser alles zu Schaden gemacht hat.«

»Keine Sorge. Ich werd’ meine Haushälterin bitten, daß sie alles Nötige herschickt. Im Gemeindehaus haben wir einen ausreichenden Vorrat an Kleidern, Wäsche und dergleichen.«

Sebastian erbat sich das Handy seines Bruders und rief gleich im Pfarrhaus an. Sophie Tappert fertigte noch am Telefon eine Liste an und versprach, sich gleich mit zwei weiteren Frauen daran zu machen, alles zusammen zu stellen. Der Seelsorger gab seinem Bruder das Telefon zurück. »Da kommt ein Haufen Arbeit auf uns zu«, meinte er.

Max nickte stumm. Dem konnte er nur beipflichten.

*

Am nächsten Tag hatten Franz Sternberger und seine Leute sich einigermaßen in dem Gesindehaus eingerichtet. Aus der Kleiderkammer des Gemeindehauses, in der Sachen für Bedürftige aufbewahrt wurden, hatte Sophie Tappert alles herausgesucht, damit die Bewohner des abgebrannten Hofes erst einmal versorgt waren. Neben Kleidung und Bettwäsche, gehörte auch ein großer Karton Nahrungsmittel dazu, und im Keller des Pfarrhauses fand die Haushälterin eine zwar alte, aber immer noch intakte Kochplatte. Sebastian hatte alles noch am Abend des Feuers zum Sternbergerhof geschafft.

Der Bauer hatte sich inzwischen einigermaßen erholt, aber immer noch standen alle unter Schock, als Pfarrer Trenker sie tags darauf wieder aufsuchte. Ein jeder fragte sich natürlich, wie es jetzt wohl weitergehen werde.

»Wenigstens brauchen wir net zu frieren«, brummte Franz. »Glück im Unglück, daß das Gesindehaus eine eigene Heizanlage hat.«

Sie saßen in dem großen Raum, der früher als Wohnstube für die Mägde und Knechte gedient hatte.

»Was hat denn der Brandexperte gesagt?« fragte der Geistliche.

»Naja, das Untergeschoß ist soweit noch in Ordnung. Allerdings darf das Haus net betreten werden, bevor net die Reste vom Dachstuhl und dem Obergeschoß abgetragen sind. Also eigentlich solang’ net, bis es renoviert ist.«

Der Seelsorger wandte sich an Burgl und Josef.

»Habt’ ihr denn noch ein bissel was von euren Sachen retten können?«

Die Magd berichtete von dem Koffer, dessen »Rettung« ihr gestern das Kopfschütteln des Kreisbrandmeisters eingebracht hatte.

»Es ist zwar net viel, aber immerhin mehr, als der Josef. Sein Zimmer war ganz oben, unterm Dach. Es hat als erstes gebrannt.«

»Sollen wir net versuchen, noch ein paar brauchbare Dinge zu finden«, schlug Sebastian dem Bauern vor. »Bevor alles in der Nässe verrottet?«

»Daran hab’ ich auch schon gedacht«, nickte der Alte. »Ich hab’ nur gemeint, ich dürfte net ins Haus.«

»Naja, eigentlich stimmt das schon. Es ist ja net ganz ungefährlich. Aber wir werden schon obachtgeben.«

Die Brandruine war mit einem rotweißen Plastikband abgesperrt. Darin einbezogen war der, bis auf die Grundmauern niedergebrannte Kuhstall.

»Zum Glück hat die Feuerwehr noch die Melkmaschine rausholen können, bevor alles zusammenstürzte«, bemerkte Franz Sternberger. »Wir haben erstmal die Scheune zum Stall umfunktioniert. Für eine Weile wird’s wohl geh’n. Dann müssen wir weitersehen.«

»Schade, daß die Tiere jetzt net mehr auf die Alm hinauf können«, sagte Sebastian, während er dem Bauern folgte.

Bereits in der Diele sah es erschreckend aus. Immer noch lief das Löschwasser von den Wänden, die von der Feuchtigkeit und dem Ruß ganz schwarz und schmierig waren. Auf dem Fußboden waren Wasserlachen, durch die sie wateten, und immer noch hing der Brandgeruch in der Luft.

»Laß uns erstmal nach deinen Papieren seh’n«, schlug der Geistliche vor. »Vielleicht ist da noch was zu retten.«

Sie hatten Glück. Zwar war der alte Stubenschrank, in dem Franz Sternberger seine persönlichen Papiere aufbewahrte, auch nicht von den Wassermassen verschont worden, aber das gute Stück war noch echte Handarbeit, aus massivem Holz. Der Innenteil mit den Fächern und Schubladen war trocken geblieben.

»Denk’ vor allem an die Versicherungsunterlagen«, mahnte Sebastian den Bauern. »Vielleicht ist ja doch das eine oder andere Papier davon wichtig.«

Erst jetzt schien das ganze Ausmaß der Katastrophe dem alten Mann bewußt zu werden. Er stand inmitten des Chaos, das einmal sein Wohnzimmer gewesen war, und die Tränen rannen ihm über die Wangen. Die gute Polstergarnitur war hinüber, eben­so wie das Fernsehgerät, die zwei Regale mit den Büchern und die Bilder an den Wänden.

Sebastian legte Franz tröstend die Hand auf die Schulter.

»Das kommt alles wieder in Ordnung«, versprach er.

Der Bauer blickte ihn zweifelnd an.

»Wie soll das denn geh’n?« fragte er hoffnungslos.

»Laß uns erstmal sehen, was noch zu retten ist«, meinte der Seelsorger. »Hier im Schrank ist alles trocken. Das ist doch schon mal ein gutes Zeichen. Wo hast’ denn deine ganzen Unterlagen?«

»Dort.«

Franz Sternberger deutete auf eine abschließbare Schublade. Der Schlüssel steckte. Sebastian nahm die ganze Lade heraus.

»Das kannst’ nachher drüben alles sortieren«, meinte er.

Er reichte den Kasten an Franz weiter. Dabei fiel sein Blick auf ein altes, vergilbtes Foto, das aus einem Umschlag ragte. Es war eine dieser altmodischen Porträtfotografien, wie sie vor sechzig, siebzig Jahren angefertigt wurden. Sie zeigte zwei Buben im Alter von etwa zehn Jahren, in kurzen Lederhosen und weißen Hemden.

»Bist du das etwa, da auf dem Foto?« fragte Sebastian.

»Wie?«

Der Alte warf einen Blick darauf und nickte. Dann nahm er den Umschlag und drehte ihn um, so daß das Foto nicht mehr sichtbar war. Pfarrer Trenker runzelte zwar die Stirn, sagte aber nichts weiter dazu.

Sie inspizierten die anderen Räume. Die Kleider des Bauern waren durch Wasser und Rauch verschmutzt, konnten aber bestimmt nach einer ordentlichen Wäsche wieder angezogen werden. Ansonsten war der Rest des Haushalts unbrauchbar.

Burgl hatte inzwischen aus der Küche gerettet, was noch zu retten war. In erster Linie Töpfe, Pfannen und Geschirr. Zumindest konnten sie Essen undTrinken.

»Geb’ mir Bescheid, wenn der Vertreter von der Versicherung sich anmeldet«, sagte Sebastian zum Abschied. »Vielleicht schadet’s ja net, wenn ich auch dabei bin, wenn er herkommt. Ansonsten schau’ ich vorbei, wann immer ich Zeit hab!«

Franz Sternberger versprach es, drehte sich aber gleich darauf um und schlurfte in das Gesindehaus.

»Was hat er denn?« fragte Josef Hirtler.

Der Pfarrer zuckte mit der Schulter.

»Es ist wohl immer noch der Schock«, meinte er und stieg in seinen Wagen. »Also, meldet euch, wenn ihr etwas braucht. Ich komm’ morgen wieder vorbei, es kann aber nachmittag werden.«

Nachdenklich fuhr Sebastian Trenker nach St. Johann zurück. Warum, fragte er sich, war Franz so verändert gewesen, nachdem ich mich nach dem Foto erkundigt hab’?

Irgend etwas mußte dem Bauern noch zusätzlich Sorgen bereiten, und es hatte mit den beiden Buben auf der Fotografie zu tun.

Aber was?

*

Eine Woche später stand fest, daß die Versicherungsgesellschaft für den Brandschaden nicht zahlen würde. Der zuständige Sachbearbeiter bedauerte es außerordentlich.

»Aber die Sachlage ist ganz klar«, sagte er zu Sebastian, der an der Unterredung teilnahm. »Herr Sternberger hat den Versicherungsschutz dadurch verloren, daß er seiner Verpflichtung der Prämienzahlung nicht nachgekommen ist. Unsere Gesellschaft hat daraufhin den Vertrag ordnungsgemäß gekündigt.«

Der Bauer hatte kaum noch zugehört. Pfarrer Trenker wandte sich an ihn, als der Versicherungsvertreter wieder gefahren war.

»Tja, Franz, das sieht wirklich bös’ aus. Was glaubst’ denn, wie’s jetzt weitergehen soll?«

Der Alte hob die Arme und ließ sie wieder sinken.

»Im nächsten Monat wär’ die Hypothekenzahlung fällig. Das Geld hab’ ich natürlich net«, antwortete er. »Also wird die Bank alles versteigern lassen. Ich werd’ dann wohl ins Altenheim müssen…«

Er sagte es mit einer Gelassenheit, die den Geistlichen erstaunte, gleichzeitig aber auch seinen Unmut hervorrief.

»Ja, ist es dir denn wirklich so egal, was mit deinem Hof geschieht?« rief er ungläubig. »Du kannst doch net alles, was deine Vorfahren mit ihren Händen aufgebaut haben, einfach so den Bach runtergehen lassen.«

Er verstand den Bauern wirklich nicht.

Franz Sternberger war immer ein umgänglicher Mann gewesen. Sebastian hatte sich oft gewundert, warum er nie geheiratet hatte. Kinder, die den Hof einmal hätten erben können, gab es auch nicht. Vielleicht, überlegte der Seelsorger, lag darin der Grund für die Lethargie des Alten, mit der er alles hinnahm.

»Willst’ denn net wenigstens den Versuch machen, noch etwas zu retten?«

Der Bauer schüttelte den Kopf.

»Wozu?« fragte er nur.

Beim Abendessen unterhielt sich der Geistliche mit seinem Bruder über die Angelegenheit. Er konnte es immer noch nicht fassen, daß Franz Sternberger den Hof wirklich unter den Hammer kommen lassen wollte, und vor allem wollte Pfarrer Sebastian der Burgl und dem Josef das Heim erhalten. In ihrem Alter würden sie auf keinem Hof mehr eine Anstellung finden.

»Ich denk’, du hast schon ganz recht mit deiner Vermutung«, meinte Max Trenker. »Es gibt keine weiteren Angehörigen. Außer seinen Leuten hat Franz ja niemanden. Wozu soll er sich da noch mit einem maroden Hof abplagen?«

»Das ist net ganz richtig«, ließ sich Sophie Tappert plötzlich vernehmen. »Es gibt da noch einen Bruder, den Valentin Sternberger. Ob er allerdings noch lebt, weiß ich net. Aber Franz Sternberger war net der einzige Sohn vom alten Vinzent. Vielleicht gibt’s ja aus der Ecke Kinder und Enkel.«

Sebastian war hellhörig geworden.

»Was sagen S’ da? Sind Sie sich da ganz sicher, Franz Sternberger hat einen Bruder?«

»Freilich bin ich mir sicher«, bekräftigte die Haushälterin. »Sie können’s net wissen, dazu sind S’ja noch zu jung. Aber wir sind ja damals alle zusammen zur Schule gegangen. Das heißt, der Franz zwei Klassen über uns, er ist ja älter als sein Bruder. Der Valentin Sternberger ist dann sei­nerzeit nach Südamerika ausgewandert. Man munkelte, daß er und der Franz wegen einer Frau aneinandergeraten waren. Aber Genaues weiß ich auch net. Das muß so kurz nach dem Tod von Vinzent Sternberger gewesen sein. Zuerst haben die beiden den Hof noch gemeinsam bewirtschaftet.«

»Das ist ja sehr interessant. Jetzt versteh’ ich auch…«

Der Geistliche strich sich nachdenklich über das Kinn. Er erinnerte sich an die Fotografie in der Schublade mit Franz Sternbergers persönlichen Unterlagen, und die Reaktion des Bauern auf seine Frage. Zwei Buben waren auf dem Bild zu sehen.

Franz und sein Bruder Valentin also.

»Du wirst allein zum Stammtisch gehen müssen«, sagte er zu seinem Bruder. »Ich muß da erst etwas nachsehen. Vielleicht komm’ ich später noch auf einen Schoppen in den Löwen. Aber das andere ist erst einmal wichtiger.«

Der Polizeibeamte blickte ihn fragend an. Auf was war sein Bruder da wieder gestoßen?

»Ich kann noch net darüber reden«, erklärte Sebastian. »Aber wer weiß, vielleicht ist ja noch net alles zu spät, für den Sternbergerhof.«

*

Gleich nach dem Abendessen ging Pfarrer Trenker in die Kirche hinüber. In der Sakristei wurden die Kirchenbücher aufbewahrt. Mehr als sechshundert Jahre Geschichte waren darin aufgeschrieben: Geburten, Taufen, Todesfälle, Berichte über Kriege und Hungersnöte und andere Zeugnisse, die von Generationen von Pfarrern aufgezeichnet worden waren. Sebastian setzte diese Tradition seit seinem Amtsantritt fort. Schnell hatte er den entsprechenden Eintrag gefunden. Sophie Tapperts Bericht wurde hier bestätigt – es gab tatsächlich zwei männliche Nachkommen des Vinzent Sternberger und seiner Frau Anna, geborene Bader, Franz und Valentin. Und wie die Haushälterin gesagt hatte, war der Bauer der Ältere von den beiden.

Etwas nachdenklich schlug der Geistliche das Kirchenbuch wieder zu und stellte es in das Regal zurück.

Südamerika ist groß, sogar riesengroß, dachte er. Wo sollte er mit der Suche nach Valentin Sternberger oder dessen Nachkommen beginnen? Er hatte ja nicht einmal den kleinsten Hinweis auf einen möglichen Aufenthaltsort, ja nicht einmal das Land, in das Valentin eingewandert war, kannte Sebastian Trenker.

Also galt es, zunächst einmal herauszufinden, was sich vor mehr als fünfzig Jahren hier im Wachnertal und St. Johann abgespielt hatte. Vielleicht ergab sich daraus ein Hinweis auf den Verbleib des Emigranten.

Aber wer kam dafür in Frage? Wer wußte etwas über die alte Geschichte. Wenn er es recht bedachte, dann mußte der alte Brandhuber-Loisl ungefähr im selben Alter wie Franz Sternberger sein. Möglich, daß er etwas darüber wußte.

Sebastian beschloß, ihn noch am Abend in seiner Hütte aufzusuchen. Das heruntergekommene Bauwerk stand am Rande des Dorfes. Loisl hauste darin, so lange der Seelsorger sich erinnern konnte. Aus einem Fenster mit getrübten Scheiben drang ein schwacher Lichtschein. Sebastian klopfte an die Tür.

Der Bewohner der Hütte staunte nicht schlecht, als er den Pfarrer draußen stehen sah. Unwillkürlich zog er den Kopf ein wenig ein.

»Keine Bange, ich will nix von dir«, beruhigte Sebastian den Alten. »Und schon gar kein’s von deinen Heilmitteln. Ich bin nämlich kerngesund.«

Alois Brandhuber kicherte. Daß ausgerechnet Hochwürden bei ihm um eine Pflanzensalbe oder einen seiner Kräuterelixiere bitten würde, hatte er auch nicht angenommen. Aber er verstand die Anspielung des Geistlichen. Schon oft waren Sebastian und der selbsternannte Wunderheiler von St. Johann aneinander geraten. Loisl verstand es nämlich ausgezeichnet, seine selbstgebrauten Mixturen für unverschämt viel Geld an den Mann – oder die Frau – zu bringen, ohne garantieren zu können, daß sie wirklich bei all den Leiden halfen, gegen die er sie anpries.

»Darf ich dann fragen, was Sie von mir wollen?«

»Ich hab’ ein paar Fragen, die du mir vielleicht beantworten kannst«, erwiderte Pfarrer Trenker. »Sie betreffen Franz Sternberger und seinen Bruder. Du erinnerst dich an Valentin?«

Der Alte kratzte sich die Bartstoppeln am Kinn.

»Warten S’, der Valentin…, ja natürlich erinner’ ich mich. Der ist doch damals fortgegangen. Du liebe Güte, das ist doch schon über fünfzig Jahr’ her. Warum fragen S’ denn danach?«

»Ich hab’ meine Gründe«, erklärte Sebastian.

Innerlich war er sehr angespannt. Offenbar war es die richtige Idee gewesen, den alten Quacksalber aufzusuchen.

»Was genau weißt du über die alte Geschichte? Weißt’ vielleicht sogar, wohin der Valentin ausgewandert ist? Ich mein’, in welches Land.«

Loisl machte eine Handbewegung.

»Kommen S’ doch herein«, sagte er und ließ den Seelsorger eintreten. »Ja, ich weiß, wohin er damals ist. Nach Argentinien nämlich.«

Sebastian sah sich um. Die Hütte hatte nur drei kleine Räume. Sie standen in dem, der als Wohnstube und »Sprechzimmer« fungierte. Hier empfing der Wunderheiler seine Patienten.

»Bist’ dir da ganz sicher?« fragte er. »Er ist ungeheuer wichtig.«

Ein Tisch, ein altes Sofa, zwei Sessel und ein Stuhl, das war die ganze Einrichtung, abgesehen von einem Holzregal, in dem sich Bücher stapelten, und die Tiegel und Töpfe, in denen Loisl seine Mixturen aufbewahrte. An dieses Regal ging der Alte und kramte darin herum.

»Irgendwie hier muß sie doch sein«, murmelte er.

Sebastian schaute verständnislos zu. Was suchte der Alte bloß?

»Da ist sie!« rief der Brandhuber-Loisl und zog triumphierend eine zerknitterte Ansichtskarte aus einem Stapel uralter Zeitschriften hervor. »Schauen S’ hier!«

Pfarrer Trenker kam näher. Doch zunächst sah er nicht auf die Karte, die Loisl in den Händen hielt, sondern auf ein zerschlissenes Exemplar des »Sechsten und siebten Siegels«, einem berüchtigten, angeblichen Zauberbuch, aus dem der Quacksalber die meisten seiner Weisheiten bezog. Es stand ganz vorne an in dem Regal. Der Pfarrer deutete darauf.

»Dafür, daß du diesen Unsinn im Haus hast, müßt’ ich dich zur Strafe eigentlich hundert Vaterunser beten lassen«, meinte Sebastian. »Ich fürcht’ nur, es nützt nix. Also, laß seh’n. Was ist das für eine Karte?«

»Der Valentin hat sie mir geschickt«, erklärte Loisl schnell, froh, daß er mit der Ansichtskarte seinen Besucher von dem Buch ablenken konnte. »Ein Jahr nachdem er fortgegangen war.«

Sebastian nahm die Karte zur Hand. Viel stand da nicht zu lesen, und die Tinte war schon lange verblaßt. Valentin sendete dem alten Schulfreund Grüße aus der neuen Heimat. Vorne drauf war eine Ansicht von Buenos Aires, der Hauptstadt des südamerikanischen Landes.

»Gibt’s noch mehr solcher Karten?« fragte er hoffnungsvoll.

Immerhin bestand so vielleicht die Möglichkeit, den Weg zu verfolgen, den Valentin Sternberger seinerzeit genommen hatte, eventuell sogar zu erfahren, ob er geheiratet hatte und es Kinder gab. Doch Loisl schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist alles, was ich jemals von ihm bekommen hab«, antwortete er. »Das war schon eine Sensation damals, als der Hubert Erbling mir die Post brachte. Hat sich schnell im Dorf herumgesprochen, daß mir da jemand aus Südamerika geschrieben hat. Dafür hat schon die Maria gesorgt.«

Der Alte spielte mit der Bemerkung auf Maria Erbling an, die Frau des inzwischen verstorbenen Poststellenleiters. Maria war die gefürchtete Klatschtante von St. Johann, die jede Neuigkeit zuerst wußte und unter die Leute brachte.

»Schade«, sagte Pfarrer Trenker. »Aber du hast mir schon sehr geholfen. Deshalb will ich mal über dieses Buch hinwegsehen.«

Außerdem wäre es ohnehin vergebene Mühe, wenn der Geistliche etwas unternommen hätte. Wahrscheinlich besaß Loisl noch zig andere Exemplare dieses unsäglichen Schundbuches.

»Warum ist der Valentin eigentlich damals fortgegangen? Weißt’ etwas darüber?« fragte er statt dessen.

Der Alte zuckte die Schultern.

»Was weiß ich?« antwortete er. »Es ist ja schon so lang’ her. Ich erinnere ich net mehr so genau. Vielleicht, weil der Valentin net Knecht auf dem Hof seines Bruders sein wollte.«

»Ich hab’ gehört, sie hätten zusammen gewirtschaftet.«

»Naja schon. Aber Sie wissen doch, wie’s ist – einer muß das Sagen haben, und das war nun einmal Franz. Er ist ja der Ältere.«

»Ging’s da net auch um eine Frau, weswegen die beiden miteinander Streit hatten?«

Loisl grinste verschmitzt. Sebastian wußte, daß dieser alte Quacksalber in seiner Jugend ein ziemlicher Schwerenöter gewesen war. Prompt kam auch die entsprechende Antwort.

»Was soll ich darauf sagen? Wir waren damals alle jung, und die Madeln net weniger hübsch, als heutzutag’. Kann schon sein, daß der eine Bruder sich in die Liebste des anderen verguckt hat. Aber genaueres weiß ich da net. Dazu gab’s zu viele Dirndl, hinter denen wir her waren.«

»Na, ich dank’ dir jedenfalls für die Auskunft«, verabschiedete sich der Seelsorger. »Und laß dich mal wieder in der Kirche seh’n.«

Alois Brandhuber guckte sauertöpfisch, als er die Einladung vernahm. Pfarrer Trenker winkte kopfschüttelnd ab – bei dem alten Heiden war offensichtlich Hopfen und Malz verloren.

Auf dem Nachhausweg überlegte Sebastian, wie er jetzt weiter vorgehen solle. Die ersten Recherchen hatten zumindest ergeben, daß Franz Sternberger noch einen Bruder hatte, der in Süd­amerika lebte – falls er noch nicht verstorben war. Wenn es ihm gelang, Valentin oder gegebenenfalls dessen Nachkommen ausfindig zu machen, dann bestand vielleicht die Chance zu verhindern, daß der Sternbergerhof unter den Hammer kam.

Vorausgesetzt, Valentin – oder andere Angehörige von ihm – verfügten über die entsprechenden Mittel und waren auch dazu bereit, helfend einzuspringen.

Aber das alles galt es erst noch herauszufinden. Sebastian wußte, daß noch eine Menge Arbeit auf ihn zukam. Doch davor scheute er nicht zurück, wenn es galt, einem Menschen zu helfen, das Heim zu erhalten.

*

Der Zufall kam ihm dabei zu Hilfe. Zwei Tage später klingelte es an der Tür des Pfarrhauses. Da Sophie Tappert damit beschäftigt war, im Keller herumzuräumen, öffnete Sebastian selber. Überrascht sah er die zwei Besucher an.

»Richard! Welch eine Freude, Sie zu sehen«, rief der Geistliche. »Haben S’ endlich mal wieder Zeit für unser schönes Sankt Johann gefunden?«

Richard Anzinger schüttelte die dargebotene Hand.

»Servus, Hochwürden. Ja, ein paar Urlaubstage haben wir uns einfach mal gegönnt.«

Er machte eine Bewegung zu seinem Begleiter.

»Meinen alten Schulfreund, Wolfgang Winkler, kennen S’ ja von meiner Hochzeit her.«

»Aber natürlich. Seien Sie herzlich willkommen.«

Sebastian äugte um die Ecke.

»Und Maria? Ist sie gar net dabei?«

»Maria kommt am Abend nach«, erklärte der Kaufmann. »Sie hat noch Aufnahmen im Studio, in München.«

Maria Devei, die bekannte Sängerin, stammte aus dem Wachnertal. In jungen Jahren hatte sie die Heimat verlassen und eine steile Karriere gemacht. Überall auf der Welt strömten die Menschen in ihre Konzerte, und lange Jahre war Maria nicht mehr zu Hause gewesen. Die Eltern lebten längst nicht mehr, und die attraktive Frau glaubte, die Heimat missen zu können. Das änderte sich erst, als sie durch einen tragischen Irrtum glaubte, todkrank zu sein. Da erinnerte sie sich der ersten Zeile eines Gedichtes. Pfarrer Trenker hatte es geschrieben, und Maria lernte es im Kommunionunterricht. Es handelte von der Heimat, in die es die Menschen doch immer wieder zurückzieht, so fern sie ihr auch sein mochten.

Der Irrtum der Sängerin konnte mit Dr. Wiesingers Hilfe aufgeklärt werden, und statt zu sterben, traf Maria in St. Johann die große Liebe ihres Lebens, in Gestalt Richard Anzingers. Zwei Herzen fanden sich, und in Sebastians Kirche gaben sie sich das Jawort.

»Also, kommt erstmal herein«, sagte der Geistliche. »Frau Tappert kocht uns einen Kaffee, und als ob sie es geahnt hätte, daß Besuch kommt, hat sie am Morgen einen Apfelkuchen gebacken.«

»Die Einladung nehmen wir gerne an«, nickte der Kaufmann. »Aber dann müssen wir auf die Alm hinauf und alles für Marias Ankunft vorbereiten.«

Richard Anzinger hatte seinerzeit heimlich das Geburtshaus der Sängerin, eine Hütte auf der Spitzer-Alm, renovieren lassen, als Hochzeitsgeschenk für seine Braut. Wann immer es ihnen möglich war, kamen die beiden hierher, um ein paar ungezwungene und entspannte Tage zu verbringen.

»Leider viel zu wenige«, sagte Richard, beim Kaffeetrinken. »Aber, ich will ja net klagen. Das Geschäft geht gut, und Maria bekommt so viele Angebote, daß ihr Manager gar net weiß, welchen Vertrag er zuerst unterschreiben soll.«

»Dann hoff’ ich, daß ihr euch gut erholt«, wünschte Sebastian. »Das Wetter ist ja net gerade ferienhaft, aber im Gegensatz zu den letzten Wochen kann man’s schon wieder aushalten. Wir hatten fürchterliche Herbstgewitter. Seit ein paar Tagen ist’s endlich wieder besser.«

»Ach«, entgegnete Richard Anzinger. »Droben auf der Alm machen wir’s uns schon gemütlich. Ich bin ja heilfroh, überhaupt ein paar Tage Zeit zu haben, die ich noch dazu mit meinem besten Freund verbringen kann.«

»Wie geht’s Ihnen?« erkundigte sich Pfarrer Trenker bei Ri­chards Begleiter.

Der hatte bisher wenig gesagt, dafür aber um so mehr von dem herrlichen Kuchen gegessen. Die Perle des Pfarrhaushaltes hatte ihn aus feinem Mürbeteig, Äpfeln und Rosinen gebacken. Oben auf waren, mit wenig Zimt fein abgeschmeckte Streusel. Jetzt wischte der Mann sich den Mund mit der Serviette ab.

»So einen tollen Kuchen hab’ ich noch nie gegessen«, bekannte er. »Das Rezept muß mir Ihre Haushälterin unbedingt verraten.«

Behaglich lehnte er sich in seinem Sessel zurück.

»Vielen Dank, mir geht’s gut, Hochwürden, sowohl gesundheitlich, als auch geschäftlich«, beantwortete er Sebastians Frage.

Wolfgang Winkler, von seinen Freunden »Wewe« gerufen, war von Beruf ein gefragter Fotograf. Aufträge internationaler Zeitschriften und Modemagazine führten ihn rund um die Welt. Oft geschah es, daß er monatelang nicht nach Hause kam, weil er von seinem Aufnahmeort gleich zum nächsten weiterflog. Doch wann immer er in München weilte, suchte er seinen alten Freund und Schulkameraden Richard Anzinger auf.

»Daß ich jetzt gerade Zeit habe, Richard und Maria zu begleiten, ist ein Zufall. Für ein amerikanisches Magazin soll ich Kirchen, hier in Bayern, fotografieren. Die Bilder sollen Teil eines Artikels über bayerisches Brauchtum sein. Es gibt ja drüben ganz viele Menschen, die sich dem verbunden fühlen. Sie haben sich inGesangsvereinen, Schuhplattlergruppen und Blasmusikkapellen zusammengefunden.«

»Ja, ich hab’ davon gehört«, nickte Sebastian. »Und da wollen S’ unsere Kirche auch fotorgrafieren?«

»Darum bin ich mitgekommen. Wenn ich darf?«

»Aber freilich dürfen S’ das gern.«

»Ich laß Ihnen auch gerne ein Exemplar des Magazins zukommen, wenn der Artikel erschienen ist.«

»Das ist schön«, freute sich der Geistliche. »Es ist auch bestimmt interessant zu erfahren, wie die Bilder drüben von den Menschen aufgenommen werden. Und vielleicht kann man etwas davon im Religionsunterricht verwenden.«

Die beiden Besucher verabschiedeten sich.

»Kommen S’ doch heut’ abend zum Essen zu uns hinauf«, lud Richard Anzinger Sebastian ein. »Ich hole Maria gegen sechs von der Bahn ab, und Wolfgang zaubert unterdessen ein Menü.«

»Vielen Dank. Ich komme gern«, nickte der Seelsorger. »Und ich bring’ den Wein mit. Weißen oder roten?«

»Rot paßt zu dem, was ich kochen werde«, antwortete Wolfgang Winkler.

»Dann such’ ich einen besonders guten aus«, versprach Pfarrer Trenker.