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Titelseite

Danke an Dr. Maria, die all das längst gemeistert hat.
Ohne Glückskuli.

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Schöne Beine.« Der Satz spukt mir seit Stunden im Kopf herum. »Schöne Beine« – ist das die Begrüßung, die man sich von einem Oberarzt erhofft? Am ersten Tag in einem neuen Job, an dem die Kehle ohnehin lebensbedrohlich zugeschnürt ist von banger Erwartung?!

Bis zu diesem Moment war alles nach Plan gelaufen – relativ. Wir drei Mädchen, angehende Medizinerinnen und seit gestern Wohngemeinschaftspartner, hatten abends enthusiastisch die Gläser auf die Zukunft der Ärztezunft erhoben und tapfer unser Fracksausen vor dem neuen Job mit Prosecco heruntergestürzt. Und heute Morgen standen wir bleich, aber entschlossen vor unserer neuen Wirkungsstätte – sprachlos vor Ehrfurcht und Respekt vor der eigenen Courage. Eine klapperdürre Oberschwester und eine blond gelockte Ärztin gaben unser Empfangskomitee – und ehe wir es uns versahen, waren wir eingewiesen, aufgeteilt und mit neuen Ausweisen und einer ersten Testaufgabe versehen. Was immer in dieser halben Stunde gesagt, gezeigt und angeordnet wurde … ich habe keine Ahnung. Mein Kopf war noch mit grundlegenderen Dingen beschäftigt als der Frage, wo die Kanülen liegen. Ich wurde überspült von einer Panikwelle. Werden sie mich akzeptieren – die Patienten, das Pflegepersonal, die Ärzte? Bin ich wirklich so gut vorbereitet, wie meine Noten es vortäuschen? Wann werde ich meinen ersten Fehler machen und wie schlimm wird er sein? Dass Ärzte Fehler machen, wurde an der Uni so oft betont, dass man fast ein eigenes Seminar daraus hätte machen können. Es wird passieren. Aber bitte, bitte: Nicht am ersten Tag! Warum wirken meine Leidensgenossinnen Isa und Jenny so gelassen?! Haben die gar keine Angst? Und ganz plötzlich war die Einführung vorbei und ich auf dem Weg zur ersten Aufgabe. Allein.

Und dann das. Im Aufzug hatte die optimistische Lena in mir gerade die Oberhand gewonnen. Meine Motivation kam (nicht ganz anständig) von einer kleinen Schwesternschülerin, die in der Halle von einem Versagensangst-Heulkrampf übermannt wurde. So bist du immerhin nicht, Lena, dachte ich charakterlos und fasste umgehend wieder Mut. Voll neuer Tatkraft betrat ich den Aufzug und überprüfte zum vierzehnten Mal mein Equipment: Ausweis, Block, Stift … Stift? Heute Morgen hatte ich doch extra den Examens-Glückskuli eingepackt. Hatte mein treuloser Kumpan mich schon vor der ersten Notiz verlassen, um mein sofortiges Versagen zu prophezeien? Unfassbar, wie abhängig-abergläubisch ich bin. Glückskuli – gute, wichtige Notizen. Kein Glückskuli – schlechter Tag, an dem ich eine ärztehassende selbstgefällige Stationsschwester um die Grundausstattung an Schreibmaterial bitten muss. Kein normaler Mensch kann die Erleichterung nachvollziehen, die ich verspürte, als ich meinen Glücksbringer-Stift auf dem Aufzugboden erspähte. Jeder, der meine Begabung für peinliche Situationen kennt, kann sich dagegen sofort denken, dass sich genau in dem Moment, in dem ich mich nach dem Stift bücke, hinter mir die Aufzugtür öffnet. Jemand sagt »schöne Beine«.

Ich fuhr herum – und musterte mit hochrotem Kopf den Mann, der hinter mir den Aufzug betreten hatte. Groß, attraktiv, strahlende Augen, ein zauberhaftes Lächeln. Und dann: »Dr. Tobias Thalheim, Oberarzt«. Das Schild an seinem Kittel erwürgte alle Wohlgedanken und Romantikfantasien, die beim Anblick des attraktiven Mitfahrers in mir aufgeblitzt waren. (Wie haben Sie sich kennengelernt? Oh, in einem Aufzug.) Stattdessen fieses Schamgefühl angesichts eines neuen Moments höchster Peinlichkeit. Und das Einzige, was ich dumme Nuss herausgebracht habe, war »Danke schön«. Das war also die erste Begegnung der angehenden Assistenzärztin mit dem gefürchteten Oberarzt. Beim nächsten Halt stürzte ich aus dem Aufzug, noch bevor sich die Türen richtig geöffnet hatten.

»Schöne Beine« tönt es seitdem in meinem Kopf. Anfangs klang die Bemerkung noch wie: »Sie sind die Sonne meines Tages – was immer Sie hier falsch machen werden, werde ich wohlwollend übersehen, denn Sie sind die Angelina Jolie meines Krankenhauses, auf deren Erscheinen ich jahrelang gewartet habe.« Inzwischen hat sich der Satz in meinem Kopf verwandelt. Jetzt bedeutet er: »Na WENIGSTENS haben Sie schöne Beine, wahrscheinlich haben Sie sonst gar nichts zu bieten, mittelmäßiges Examen, langweiliges Gesicht …« Mann, wenn ich doch wenigstens mit Isa oder Jenny sprechen könnte – ich brauche nur eine winzige Rückversicherung, dass ich spinne und vollkommen übertreibe. Aber die beiden lassen sich nicht blicken. DIE sind wahrscheinlich schon mit vollem Ehrgeiz und gänzlich unabgelenkt in die Arbeit eingestiegen und der Approbation durch bloße Geistesanwesenheit einen Riesenschritt näher gekommen. Und ich lasse mich von so einer blöden Bemerkung fertigmachen … Ging ich vor zwei Stunden noch hoch erhobenen Hauptes über die Flure meines neuen Reviers, so ist daraus jetzt ein Schleichen geworden; vom Grübeln niedergedrückt, versuche ich mich unsichtbar zu machen. Nicht die beste Voraussetzung für einen ersten Kliniktag. Mein Kopf sollte randvoll angefüllt sein mit den neuen Namen, den zu verinnerlichenden Arbeitsabläufen, den ersten Patientendaten. Stattdessen wiederholt eine warme Männerstimme in meinem Kopf immer wieder diese anzügliche Bemerkung. War es eine subtile Anspielung darauf, dass mein Kittel doch zu kurz ist? Niemand macht sich eine Vorstellung, wie schwierig die Entscheidung der Kittelgröße tatsächlich ist. Zu lang und man wirkt wie eine Litfaßsäule, denn die platten Gummischuhe verwandeln jede noch so schlanke Wade in unattraktive Elefantenstampfer. Zu kurz und man erweckt den Eindruck, man hätte lieber Krankenschwester werden wollen – in einer pornoverdorbenen Unterhemdträger-Fantasie.

Schluss jetzt, Lena! Ab sofort konzentrierst du dich ausschließlich und vorbildlich auf die neue Arbeit! Wie hieß jetzt der Patient, dem du eine Infusion legen sollst? Ritter, Manuel Ritter, na es geht doch. Und Infusionen kannst du geben, seit du deine Barbies mit der Stecknadel geimpft hast. Hat irgendjemand eine Vorstellung davon, wie schwer eine Injektion in so einen fließbandproduzierten Plastikarm ist?! Danach schreckt eine angehende Ärztin kein menschlicher Arm mehr und seien die Venen auch noch so winzig und unter noch so viel Lederhaut versteckt.

Also eine Infusion. Ermutigend lächle ich Herrn Ritter an. Wäre in meinem Gehirn heute noch Platz für Männer, würde ich vielleicht etwas weniger gute-Ärztin-lächeln und stattdessen schöne-Frau-strahlen. Herr Ritter sieht nämlich gar nicht schlecht aus und ist – im Gegensatz zu dem undurchschaubaren Oberarzt, der meinen Tag verdorben hat – sogar in meinem Alter. Fahrradunfall, Gehirnerschütterung. Also ein sportlicher Typ und Draufgänger – denn offenbar ist er ohne Helm gefahren. Stopp, Lena, du wolltest doch nicht mehr über Männer nachdenken! Außerdem kann das Fahren ohne Helm auch auf Eitelkeit schließen lassen, vielleicht wollte er nur seine braunen Locken nicht platt drücken. Dann wäre die Gehirnerschütterung eine gerechte Strafe. So. Staubinde anlegen, desinfizieren, Kanüle auspacken, noch einmal beruhigend lächeln, Haut straffziehen, Vene punktieren. Fertig. Wer sagt’s denn, Barbie sei Dank! Überhaupt ist das eine typische Anfänger-Beschäftigungstherapie, die eigentlich auch von den Schwestern erledigt werden könnte. Sogar sollte – die meisten Ärzte stechen nämlich schlechter.

»Das hat aber wehgetan!« Moment, hat DAS Herr Ritter gesagt? Zu MIR?! Ich funkle ihn an. Das Gute-Ärztin-Lächeln weicht einem Ich-kann-dir-auch-eine-Magenspiegelung-verordnen-Blick. Er lächelt und entschuldigt sich. Na also. Weichei. Herr Ritter ist durchgefallen, braune Locken hin oder her.

Ich klappe meine Mappe zu und will das Zimmer verlassen, da sagt der unverschämte Jüngling zu meiner Kittelrückseite: »Das haben Sie wohl zum ersten Mal gemacht, was?«

Mein lieber Mann, ich habe nicht nur Barbies gestochen – ich habe Injektionen in Schweinehaut und Leichenhaut, in optimistische Freiwillige und hilfsbereite Kommilitonen gedrückt! Ich fahre herum und setze zu einer gepfefferten Entgegnung an. Moment … Schlagfertige Antworten, wo seid ihr nur immer, wenn ich euch brauche?! Sprachlos starre ich den frech lächelnden Patienten an. »Wohl ohne Helm gefahren, was? Na, wenn wir da nicht den Schädel noch mal aufmachen müssen …«, sage ich schließlich erbarmungslos – und setze hinzu: »Das mache ich dann übrigens auch zum ersten Mal.« So, das MUSSTE ich einfach haben! Sehr gerade und ohne mich noch mal umzusehen, verlasse ich das Zimmer.

Auf dem Flur überkommt mich sofort bittere Reue. Niemals drohen, nie ängstigen! Oberstes Arztgebot. Selbst bei Patienten, die sich selbst medikamentieren, Symptome erfinden oder sich trotz halb amputierter Lunge zu Tode rauchen, darf man nur warnen – und immer ermutigen. Und was tue ich?! Aus dem Krankenzimmer hinter mir höre ich es klingeln. Na toll, jetzt ruft Herr Ritter nach einer Schwester, die nach dem Oberarzt schickt, damit der Patient sich beschweren kann. Dann erfährt der Chef, dass die Anfängerin, die ihm heute Morgen im Aufzug so aufdringlich präsentiert hat, was sie dem Krankenhaus zu bieten hat – nämlich nichts außer einem Paar schöner Beine –, soeben ihren ersten Patienten bedroht hat. Am besten, ich verlasse diesen Ort der Schande sofort und auf Nimmerwiederkehr. Schule ich eben um auf Verkäuferin, andere sind damit auch glücklich.

Eine kleine Omi reißt mich aus meinen Gedanken. Sie sitzt auf dem Flur in einem der gelblichen Schalenstühle, hustet fürchterlich und krümmt sich wie ein hilfloser Wurm um die Handtasche in ihrem Schoß. Ich spreche sie an. Hat sie Schmerzen? Die Omi nickt, wiegelt aber sofort wieder ab.

»Es wird sich bestimmt bald jemand um mich kümmern. Die Schwester hat gesagt, dass gleich ein Arzt kommt.« Gemeinsam spähen wir den tristen Krankenhausflur hinunter. Niemand ist zu sehen. Wie lange ist dieses Versprechen denn her? Die Omi lächelt ängstlich: »Höchstens eine halbe Stunde.« Und dann hustet sie wieder erbarmungswürdig. Eine halbe Stunde? Mit diesem Husten und den Schmerzen beim Atmen ist eine halbe Stunde Wartezeit eine probate Foltermethode für Schwerverbrecher. Mich beschleicht der Verdacht, dass man die Frau schlicht vergessen hat. Davon sage ich der Omi natürlich nichts – selbst ich kann aus Fehlern lernen, wenn sie nicht länger als 10 Minuten her sind!

Ich knie mich hin und fühle den rasenden Puls der armen Frau, die unter ihren Hustenanfällen entkräftet nach Luft schnappt. Wahrscheinlich hat sie hohes Fieber. Die Omi stöhnt auf. Sie hat starke Schmerzen. In meinem Hirn blättern Lehrbuchseiten auf. Eine typische Pneumonie äußert sich mit Husten, Brustschmerzen, Atemnot und Fieber. Alles klar. Meine erste Diagnose. Sicher und souverän gestellt – und im Handumdrehen. Ich hatte erwartet, diesen Moment mit Sekt und Plätzchen zu feiern – doch jetzt ist an stolze Selbstlob-Partylaune nicht zu denken. Die Frau braucht schleunigst Hilfe. In meinem Kopf rattert es. Sie braucht Antibiotika und sollte dringend in ein Bett; gerade ältere Patienten sind anfällig für fiese Folgekrankheiten. Und vor allem braucht die Frau ein Schmerzmittel, das ist ja nicht mit anzusehen. Am Ende des Ganges steht ein verwaister Rollstuhl. Ich verfrachte die röchelnde Frau hinein. In diesem Krankenhaus muss sich keine kleine Omi schmerzverzerrt auf einem Flur-Stühlchen krümmen, nur weil sie zu schüchtern ist, sich bemerkbar zu machen. Nicht, solange ICH da bin! Lena Weissenbach, die Ärztin mit Herz, Retterin aller gequälten, scheuen Omis. Ich weiß, eben noch wollte ich den ersten Arbeitstag unter »versagt« ablegen und Verkäuferin werden – aber vorher werde ich diese Frau retten.

Hinter mir klackern energische Schritte über den Gang. Ach, verdammt, Herr Ritter! Den hatte ich ja ganz vergessen. Bestimmt kündigt das Geräusch den Oberarzt an, der sich gebieterisch dem Tatort Krankenzimmer nähert, um von meiner unprofessionellen Entgleisung gegen den verängstigten Patienten zu erfahren. Ich kann gerade nicht gucken, denn die Transportsicherung der Omi im Rollstuhl fordert meine ganze Aufmerksamkeit. Ich hänge über dem Rollstuhl und hadere mit der Gurtschließe, als die Schritte hinter mir verstummen.

»Was tun Sie denn da?«

Na klar! Die sonore Stimme des Oberarztes, die sich mir seit heute Morgen so eingebrannt hat, dass sie die penetrante Melodie meines Weckers ersetzen könnte. Und was kriegt der Chef zu sehen, als er zum zweiten Mal an diesem Tag seiner neuen Anfängerin begegnet? Natürlich: meine schönen Beine.

»Was für ein reizendes Wiedersehen!«, sagt Dr. Thalheim. Zu meinem Hintern.

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Bombig, Lena, was kann dir Besseres passieren?!« Das ist Jenny. Sie fläzt auf einem Stuhl in der Cafeteria, wirft die blonden Haare zurück und findet meine peinliche Doppelbegegnung mit dem Oberarzt großartig. Immer nett, wenn andere fabelhaft finden, was dich selbst vor Scham in den Boden versinken lässt. Sollen die es doch erleben! Obwohl: Wenn ich meine neue Mitbewohnerin Jenny schon richtig einschätze, hätte SIE wohl nicht nur mit rotem Kopf die Diagnose der kleinen Omi heruntergestottert. Sie hätte die Chance genutzt, sich vorzustellen und den schönen Beinen ein gewinnendes Lächeln und den Eindruck einer motivierten, gebildeten Mitarbeiterin hinzugefügt. Ich hab nicht mal meinen Namen rausgebracht. Jenny findet das perfekt.

»Nichts macht mehr Eindruck als Sex-Appeal und Geheimnis!«, sagt sie. Pah, wo war denn das geheimnisvoll? Am Kittel klemmt mein Namensschild. Und es war ganz offensichtlich, dass ich zu verlegen war, um überhaupt auf die Idee zu kommen, mich vorzustellen.

Hätte ich ihr bloß nicht gesagt, dass Dr. Thalheim so gut aussieht! In massiver Verkennung der Problematik wittert Jenny bereits eine Romanze. Während sie die Verzückung des Oberarztes in den buntesten Farben ausmalt – wenn man ihr glauben darf, verzehrt er sich bereits nach dem mysteriösen Aschenputtel –, sehe ich mich in der Cafeteria um. Ärzte und Schwestern, manche schweigsam, andere ins Gespräch vertieft, von dem ich mir vorstelle, dass es sich um die Erörterung lebensrettender Maßnahmen dreht. Manche wirken müde, erschöpft von der Last der Verantwortung oder der Nachtschicht. Andere – das muss man auch zugeben – schaufeln einfach den Pudding in sich hinein, als gäbe es kein Morgen. Na wer weiß, vielleicht gibt es morgen keinen. Ich behalte die Tür im Auge. ER ist noch nicht da. Eins steht nämlich fest: Wenn Dr. Thalheim hereinkommt, werde ich gehen. Noch ist nicht entschieden, ob ich – wie Jenny vorschlägt – hoch erhobenen Hauptes und mit herablassendem Lächeln an ihm vorbeistolziere, oder ob ich mich – wonach MIR eher zumute ist – nach der anderen Seite in Richtung Toilette verdrücke und hoffe, dass die ein Fenster hat, das direkt auf die Straße und in mein neues Verkäuferinnenleben führt.

Inzwischen hat auch Isa an unserem Tisch Platz genommen – die Dritte im Bunde der Anfängerinnen im Praktischen Jahr und auch die Dritte in unserer WG. Bevor ich überhaupt Luft geholt habe, hat Jenny ihr meine ganze Geschichte erzählt. Unglaublich, wie schnell diese Frau spricht! »Ist doch bombig«, endet ihre schöngefärbte Schilderung meiner Oberarzt-Blamage. Bombig ist wohl ihr Lieblingswort.

Zum Glück ist Isa ganz anders als die kesse Jenny. Sie hat ein Herz und Verständnis dafür, dass ich meinen ersten Tag für verdorben halte. »Das ist ja schrecklich!«, haucht sie entsetzt, als wäre sie es, die dem Oberarzt am ersten Tag nichts als den kittelbewehrten Hintern zu zeigen hatte. Allerdings stellt Isa es nun wieder so dar, als könne ich mich nie, nie wieder unter Dr. Thalheims Augen trauen. Ich habe doch immerhin herausgebracht, dass die arme Omi, die ich aufopfernd im Rollstuhl verstaute, wohl an einer Pneumonie leidet. Und dazu – man glaubt es kaum – habe ich mich aufgerappelt und Dr. Thalheim tatsächlich zur Abwechslung mal das Gesicht entgegengestreckt. Und meine Diagnose beweist doch, dass ich zumindest ein erstes Semester absolviert habe und nicht zur Dekoration hier bin. Dann habe ich die Omi in die Aufnahme gerollt und Dr. Thalheim hat sich endlich dem Krankenzimmer zugewandt, aus dem er angeklingelt wurde. Ach ja – den unverschämten Herrn Ritter hatte ich kurz verdrängt. Jetzt wird mir klar, dass mir unweigerlich eine dritte Oberarztbegegnung bevorsteht. Wenn dieser freche, braunlockige Ohne-Helm-Fahrer sich über mich beschwert hat, wird Dr. Thalheim zwangsläufig das Gespräch mit der eindrucksvollsten seiner Anfängerinnen suchen müssen. Vielleicht meine Gelegenheit, einen perfekten dritten Eindruck zu machen? Diesmal bin ich jedenfalls vorbereitet.

Isa und Jenny plaudern unterdessen schon über den Nachmittag: Visite mit der Stationsärztin – der Blonden von heute Morgen. Jenny ist voller Enthusiasmus; sie hat sich schon den Klinik-Klatsch über Dr. Ross, unsere Stationsärztin, angeeignet. »Angeblich ist sie ziemlich bequem und die PJler dürfen bei ihr machen, was sie wollen«, erzählt sie vergnügt. (Und leider flüstert sie nicht so leise, wie sie glaubt.) Dass Dr. Ross scheinbar keine großen Ansprüche stellt, kommt Jenny gerade recht. Sie hat uns gestern an unserem ersten gemeinsamen Abend gleich unbekümmert verkündet, dass sie nicht vorhat, sich im Praktischen Jahr krummzuarbeiten. Isa hingegen, unsere stille Pflanze, scheint von Dr. Ross’ angeblichem Laisser-faire beunruhigt.

»Lernen wir denn dann auch genug?«, fragt sie zaghaft. »Am Ende der PJ-Zeit kommt schließlich die schwerste Prüfung unseres Lebens …« Isas Geständnis des ersten Abends war, dass sie jetzt schon für das Hammerexamen lernt – die Monsterprüfung, die uns am Ende des Praktischen Jahres bevorsteht und ohne die niemand als Arzt zugelassen wird. Jenny und ich haben sofort geschrien, es sei vollkommen übertrieben, sich jetzt schon so einen Druck zu machen. Aber ich gebe zu, mein Lernplan ist auch bereits fertig …

Ich betrachte die beiden höchst unterschiedlichen Mädchen an meinem Tisch. Im Grunde weiß ich außer den beiden erwähnten Geheimnissen nichts über meine Mitbewohnerinnen. Oder nur das Offensichtliche: Jenny sieht gestylt aus, lacht ganz schön viel und ziemlich laut und wirkt wie Miss Selbstbewusstsein persönlich. Isa scheint eher der vorsichtige, zurückhaltende Typ zu sein – aber vielleicht habe ich Glück und sie ist ein stilles Wasser. Als ich gestern Abend endlich die letzte monströse Reisetasche in die Wohnung gewuchtet hatte, blieb uns Neu Wohnpartnerinnen nur noch Zeit, die allerwichtigsten Dinge zu klären: Wer hat einen festen Freund? (Man sollte es nicht glauben: keine!) Was gehört unbedingt in den Kühlschrank? ( Jenny: viel Obst und Getränke in Rosa, Isa: Bio, aber nicht zu teuer, ich: Eis, Eis, Eis – das esse ich literweise beim Lernen und Fernsehen.) Und: Wie regeln wir das morgens mit dem Badezimmer, wenn wir alle gleichzeitig im Krankenhaus sein müssen? (Scheinbar unproblematisch: Isa und Jenny behaupteten beide, in Minutenschnelle fertig zu sein. Heute Morgen ließ sich das nicht beurteilen, denn Isa war offenbar schon seit Stunden wach, als ich aufstand – und Jenny hätte fast verschlafen.) Nicht viel also, was ich gestern über »meine« Mädels in Erfahrung gebracht habe. Heute Abend muss ich dringend ein bisschen mehr über die beiden Weggefährtinnen herausfinden, die mir das Schicksal als Begleitung für das aufregende Jahr ausgesucht hat, das vor mir liegt. Ich kann es nicht fassen: Vorgestern saß ich noch bei Mama und Papa in Lübeck und habe mir ein letztes Mal bergeweise Kartoffelbrei aufdrängen lassen. Heute sitze ich im weißen Kittel in der Cafeteria eines großen Berliner Krankenhauses, angehende Ärztin, unabhängige Neuberlinerin. Das also soll jetzt mein Leben sein. Für das ganze kommende Jahr. Hilfe! Irre! Perfekt!

Die Mittagspause ist fast zu Ende. Vielleicht sollte ich doch noch schnell einen Pudding essen. Falls der Tag so weitergeht, kann ich gar nicht genug prophylaktische Zuckereinheiten zuführen.

Am Tresen steht ein junger Mann mit blauen Haaren. Was es alles gibt. Ich greife nach einem Pudding und stelle mir blitzartig vor, er würde mir aus der Hand rutschen. 100 zu 1, dass ich weiß, wer in diesem Moment hereinkäme. Ich muss grinsen. Der Blaugefärbte grinst zurück. »Erster Tag?«

Ich nicke. »Praktisches Jahr.«

Er lächelt. »Und wie war dein Start?«

Ich kann nicht anders und antworte: »Ach, ich glaube, ich habe mich bisher von meiner besten Seite gezeigt.«

Der blaue Junge kann natürlich nicht verstehen, warum ich darüber so grinse. Aber er schmunzelt. Und schenkt mir den Pudding. Prima, Lena! Ich spreche mir ein offizielles Lob aus. Wer alles mit Humor nehmen kann, ist unantastbar. Ich fühle mich gewappnet für die weiteren Begegnungen mit Dr. Thalheim. Immerhin bin ich hier, um Ärztin zu werden. Dafür muss ich ein ganzes Jahr bleiben – selbst wenn ich »die mit den Beinen« bin. Wenn ich also die Alternative, als Verkäuferin glücklich zu werden, streiche, bleibt mir nur, mit Abgebrühtheit und Selbstironie voranzustiefeln. Wie zur Belohnung kommt die restliche Mittagspause niemand mehr in die Cafeteria und meine nächste Oberarztbegegnung wird verschoben. Also vorerst alles bombig.

Na prima. Jetzt sage ich das auch schon.

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Die Visite ist ein Traum. So habe ich mir das PJ vorgestellt. Dr. Ross, die Stationsärztin der Inneren, macht nicht viele Worte und lässt doch keine Fragen offen. Zu zehnt trotten wir hinter ihr her von Krankenzimmer zu Krankenzimmer und lernen die Patienten und ihre Befunde kennen. Ab morgen nehmen wir »richtig« an der Visite teil und müssen, wie Isa mir ängstlich zuraunt, bestimmt schon Diagnosen stellen. Heute aber geht es nur um uns. Wir werden vorgestellt und die wenigsten Patienten reagieren mit der befürchteten Anfänger-Phobie. Stattdessen erzählen sie uns ihre Krankheitsbilder und wir – wichtig, wichtig – machen eifrig Notizen. Dr. Ross sieht sogar einmal auf meinen Block und lobt meine schöne Schrift. Glückskuli, wer sagt’s denn! Zwar muss Dr. Ross schon wieder auf das Schild an meinem Kittel gucken, um mich zu dem Lob mit Namen ansprechen zu können – offenbar sind 10 Namen in einer halben Stunde zu viel für sie – aber »die mit der schönen Handschrift« zu sein, scheint mir nach dem verkorksten Vormittag das Ziel aller Wünsche.

Um mein Glück perfekt zu machen, liegt im Zimmer 15, ganz blass unter der gelben Decke, meine kleine Omi. Sie erkennt mich und begrüßt mich reizend als »ihre Retterin«, was mich mal schnell vor der ganzen PJ-Riege auszeichnet. Ja, ich weiß, wir haben heute alle unseren ersten Tag und mit Blutabnahme und Zukunftsängsten angefangen. Aber eine von euch hat schon mal nebenbei auf dem Gang Diagnosen gestellt und fix jemanden eingewiesen! Die staunenden Blicke sind Balsam für meine geschundene zweifelnde Seele. Dr. Ross lässt sich die Zusammenhänge erklären und ich schildere sie, so unbeeindruckt ich nur kann. Sie lässt mich dazu sogar vortreten. Ich halte eine kurze Rede über Pneumonie und wie ich sie erkannt habe und ernte ein zufriedenes Lächeln von Dr. Ross. Danke, danke. Ich habe mir diesen sonnigen Nachmittag doch auch echt verdient, oder?

Ja, klar. Ich hätte es wissen müssen. Ich war noch nie der Typ, der ungestraft ein solches Hoch erlebt – bei mir folgt auf Sonnenschein immer gleich Sonnenbrand. Der nächste Patient ist Herr Ritter, mein Widersacher von heute Morgen. Der bei der Visite gleich klarstellt, dass er mich schon kennt und äußerst schmerzhafte Erfahrungen mit mir gemacht hat. Danke, Blödmann, mein Hoch ist dahin, mein unverhofftes Ansehen bei den Kollegen verflogen. Infusionen legen können sie alle – glauben sie zumindest. Und jetzt noch mal vor allen zu sagen, dass Herr Ritter ein Weichei ist, ist selbst mir zu blöd. Also stecke ich die Schlappe ein – die nächsten Tage werden ja hoffentlich zeigen, dass nicht ICH hier der Versager war.

Zum Abschluss der Visite folgt noch eine Vorstellungsrunde bei den Ärzten. Dr. Ross schiebt uns in den Pausenraum der Inneren, wo alle gerade anwesenden Ärzte uns die Hände schütteln und uns willkommen heißen. Die meisten schließen ein paar aufmunternde Worte an, ein paar können sich die unvermeidlichen Scherze (»Solange Sie keinen umbringen, werden wir uns schon verstehen.«) nicht verkneifen. Ich bin nicht bei der Sache. Denn am Ende der Reihe steht Dr. Thalheim. Er lächelt sehr fein über die hektische Röte, die sich blitzartig über Isas Gesicht ausbreitet, als sie ihm die Hand geben muss. Jenny ist die Nächste, dann ich. Was sag ich? Wie gucke ich? Muss ich denn was sagen?

Jenny schüttelt seine Hand sehr energisch und schließt gleich an, wie gespannt sie auf diese Begegnung war. »Ich habe ja schon viel von Ihnen gehört!«, sagt sie frech. Oh Mann, wenn sie nur nicht so übertreiben würde! Obwohl – alles, was von mir und meiner Patientenbedrohung ablenkt, sollte mir doch recht sein … Dann stehen wir voreinander und alle Rechtfertigungen der Welt fahren in meinem Kopf Karussell. Er schüttelt mir die Hand und ich kann nur hoffen, dass er nicht merkt, wie schwitzig sich meine Handfläche anfühlt.

Dr. Thalheim lächelt und fragt: »Und Sie sind?« Ich bin perplex. Wie bitte? Soll ich mich umdrehen, damit du mich erkennst? Waren meine Peinlichkeitsmomente für dich ebenso irrelevant wie deine Adelung meiner Beine? Oder ist das nett gemeint und soll heißen: Wir fangen noch einmal neu an?

Ich stottere meinen Namen, er wiederholt den seinen – hoho, wie bescheiden, als wüssten nicht alle, wer er ist! – und das war’s. Der Nächste, ein bebrillter Streber, schiebt mich weiter, auch er will endlich dem Oberarzt die Hand schütteln. Ich trete beiseite und stehe zwischen meinen neuen Freundinnen, völlig verdattert. Das war’s. Kein Wiedererkennen, kein Lob für meine Rettung von Frau Klein, keine Standpauke wegen meiner Drohung an den weinerlichen Radfahrer, nichts. Na gut, Herr Oberarzt, dann fangen wir eben noch mal neu an. Mir soll es recht sein!

Dr. Thalheim hält eine kurze Ansprache, nichts, was wir nicht schon wussten. Ab morgen nehmen wir an der Visite teil. Dabei werden den Patienten die Untersuchungsergebnisse mitgeteilt und anstehende Untersuchungen oder Eingriffe besprochen. Einmal pro Woche findet eine Oberarztvisite statt – und dann sind da natürlich noch die gefürchteten Chefarztvisiten. Außerdem werden wir Infusionen anlegen, Befunde beschaffen und Blut abnehmen. Selbstverständlich können wir uns jederzeit an die Stationsärzte wenden oder die Schwestern um Hilfe bitten.

»Aber theoretisch können Sie ja alles«, ermutigt uns der Oberarzt, »und wer sich nicht sicher ist, sollte dringend üben!« Gut, das könnte ich jetzt doch noch als Anspielung nehmen. Aber weil Dr. Thalheim dabei nicht in meine Richtung schaut, beschließe ich, mich nicht explizit gemeint zu fühlen. Wir werden ja sehen, wie die anderen sich schlagen, wenn sie diesem Manuel Ritter mit der Kanüle zu Leibe rücken müssen. Zum Schluss seiner Rede kommt Dr. Thalheim zu dem Punkt, auf den wir alle warten: eigene Patienten. Sobald der Oberarzt es für richtig hält, werden uns die ersten eigenen Patienten zugeteilt. Das Leuchten in den Gesichtern meiner Mit-Anfänger könnte den ganzen Raum illuminieren. Das ist es, warum wir hier sind! Jeder träumt von dem großen Fall, der besonderen Diagnose, dem ersten eigenen geretteten Patienten!

»In spätestens zwei Wochen«, lächelt Dr. Thalheim, »sollten Sie alle Ihren ersten Fall bekommen.«

Ich kann es kaum erwarten. Dann entlässt er uns in den Feierabend, ausnahmsweise schon am Nachmittag, weil die nächsten Wochen ja noch hart genug werden. Ich hake meine Mädels unter, vor lauter Vorfreude kriegt keine von uns das Grinsen aus dem Gesicht! Unsere Zukunft hat begonnen! Draußen müssen wir uns kurz umarmen. Kein normaler Mensch kann unsere Begeisterung verstehen. Aber ich will Ärztin werden, seit ich denken kann. Schon mit vier habe ich komplizierte OPs an allen verfügbaren Puppen und Teddys vorgenommen; seit ich vierzehn bin, lese ich im Pschyrembel wie andere in der Bravo. (Okay, Bravo hab ich natürlich auch gelesen.) Ich bin während des Studiums zu einer wahren Lernmaschine geworden, hatte ein verkümmertes Sozialleben und vor lauter Schlafmangel in den Prüfungszeiten Augenringe wie ein Pandabär. Aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle?! Ich bin hier! Ich werde in spätestens zwei Wochen meinen ersten eigenen Patienten behandeln! Gerade denken wir nicht an all die Fallen, nicht an das Hammerexamen am Ende des Jahres, nur an das Morgen, das genau heute angefangen hat. Wir werden alles meistern!

»Und jetzt«, grinst Jenny, »werden wir uns feiern!«

So habe ich mir das vorgestellt!

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Berlin ist verdammt groß. Bis gestern dachte ich, ich würde die Stadt schon kennen – immerhin war ich seit der achten Klasse fast jedes Jahr mit meinem Lübecker Gymnasium hier. Klassenfahrt, Kursfahrt, Kunstexkursion – immer nach Berlin. Reichstag, Mahnmal, Nationalgalerie, das alles entlockt mir nur noch ein müdes Lächeln. Deshalb war ich bis gestern überzeugt, ich wüsste, was auf mich zukommt. Irrtum! Als wir aus der Klinik treten, weiß ich nicht mal, in welche Richtung wir müssen. Zwar stehen gelbe Schilder an der Straße und weisen die Stadtteile aus – aber was nutzt das, wenn ich nicht weiß, ob unsere Wohnung von hier aus eher Richtung Pankow oder Richtung Neukölln liegt? Wo ist der blöde Fernsehturm, wenn man mal Orientierung braucht? Und wie konnte die S-Bahn-Station, aus der wir heute Morgen gekommen sind, über Tag spurlos verschwinden? Jenny, beneidenswerterweise geborene Berlinerin, beschließt, uns an diesem geschenkten freien Nachmittag die Stadt zu zeigen.

Isa wünscht sich eine Stadtrundfahrt; im Gegensatz zu meinen Lübecker Lehrern haben ihre in Tübingen nicht jedes Jahr die Berlin-Karte gezogen und sie kennt die Stadt kaum. Jenny winkt ab, als Isa am Alexanderplatz auf einen Sightseeing-Bus zuhält. Stattdessen zerrt sie uns in den Doppelstock-Bus der Linie 100. Isa und ich verstehen noch gar nicht, was los ist, da erstürmt Jenny schon die Treppe in den oberen Busbereich und stürzt mit einem Hechtsprung nach vorn. Als wir ihr perplex folgen, werden wir gerade noch Zeuge, wie Jenny mit vollem Ellbogeneinsatz alle anderen Fahrgäste beiseiteschiebt und sich – einen Sekundenbruchteil vor zwei empörten Russinnen – atemlos auf die Sitze der ersten Reihe wirft. »Besetzt!«

Isa und ich nehmen überrascht Platz – und begreifen: Die Front der oberen Bus-Etage ist ein einziges Fenster und in der ersten Reihe thronen wir hoch über der Straße, während vor, unter und neben uns die Stadt vorbeizieht. Berlin liegt uns zu Füßen. Die Route führt Unter den Linden und am Reichstag vorbei bis zum Zoo. Zufrieden registriert Jenny unsere Begeisterung. Tausendmal besser als die öden Sightseeing-Touren, viel billiger und noch dazu mit echtem Berliner Flair. Isa macht Handy-Fotos von den Sehenswürdigkeiten, als hätte sie noch nicht begriffen, dass sie das hier jetzt jeden Tag haben kann. Jenny hingegen schaut kaum nach draußen. Wenn sie nicht damit beschäftigt ist, andere Fahrgäste (die auch mal die Aussicht genießen wollen) mit dem Hinweis zu demotivieren, dass wir noch lange nicht aussteigen, tippt sie ununterbrochen in ihr Handy. Als ich sie frage, wem sie so ausdauernd schreibt, grinst sie nur. »Allen, die ich kenne.« Mehr will sie nicht verraten. Na gut, dann widme ich mich eben wieder dem beängstigenden Verkehr da unten.

Nach der Busrundfahrt schleppt Jenny uns zum Einkaufen. In einem zauberhaften Altbauviertel reiht sich ein bunter Laden an den nächsten. Modedesigner mit schrägen Modellen, Schnickschnack-Läden mit herrlich überflüssigen Dingen, Cafés und Galerien, Schuhläden, Second-Hand-Shops. Isa und ich machen Staune-Augen. So muss Shopping sein! Isa ist natürlich zu vernünftig für Impulskäufe – aber ich kann weder einem Paar High Heels noch einer blumenbestickten Tasche widerstehen (neues Leben, neuer Style) und frage mich bald, wie ich hier mit meinem spärlichen Kapital auskommen soll. Als wir erschöpft bei einem Ingwershake rasten, eröffnet Jenny uns endlich, was es mit ihrem manischen SMS-Getippe im Bus auf sich hatte: Sie hat eine Party organisiert.

Wo? Wann?

»Heute«, sagt Jenny zufrieden. »Jetzt gleich. In unserer Wohnung.«

Isa und ich fallen aus allen Wolken. Wie sollen wir eine Party geben?! Die Bude steht voller Kartons, wir haben noch nicht mal Lampen angebracht. Aber Jenny lächelt nur. »Deshalb schmeißen wir ja die Party. Ich hab ein paar clevere Jungs eingeladen, denen unsere Elektrik garantiert keine Probleme macht. Und außerdem müsst ihr jede Menge Leute kennenlernen.« Dass wir nicht mal was zu essen eingekauft haben, stört sie auch nicht. »Die bringen alles mit. Wir müssen nur hingehen und die Hauptpersonen sein.«

Nach einer kurzen Schrecksekunde überwiegt bei mir doch die Begeisterung. Wie toll, dass ich bei meiner Suche-WG-Annonce ausgerechnet auf Jenny gestoßen bin! Klar, wenn sie uns vorgewarnt hätte, hätte ich Zeit gehabt, mir den Kopf über ein angemessenes Outfit für meine erste Berlin-Party zu zerbrechen. Aber immerhin besitze ich ja seit eben ein Paar sensationeller High Heels.

Jenny hat nicht übertrieben, die Wohnung ist voll. Lauter Leute, die Jenny abküssen und Isa und mich begrüßen, als würden wir uns schon ewig kennen. Sie haben tatsächlich auch noch die Verpflegung mitgebracht – vom Rührkuchen bis zum Kartoffelsalat ist alles da, jemand hat sogar bergeweise Sushi angeschleppt. Isa und ich haben überstürzt den Spätshop an der Ecke geplündert, aber in der Menge des Mitgebrachten gehen unsere überteuerten Verlegenheitseinkäufe völlig unter. Jenny geniert sich nicht, gleich auf die unerledigten Behelfsmäßigkeiten in unserer Wohnung hinzuweisen und ehe ich mich’s versehe, schrauben zwei flotte Jungs in meinem Zimmer die Regale zusammen. Überall wird gewerkelt, dazu läuft laute Musik, Sektkorken knallen und zwischen den halb aufgebauten Möbeln wird getanzt. Irgendwann finde ich mich neben Isa wieder, sprachlos und begeistert.

Unser Häschen wirkt etwas nervös. »Glaubst du, dass Jenny die wirklich alle kennt?«, fragt sie mich ängstlich. »Und was meinst du, wie wohl morgen die Wohnung aussieht?«

Aber ich bin entschlossen, die Party zu genießen. Gut, ein bisschen verunsichert könnte man schon werden, wenn man das bunte Gewusel in unserer Wohnung beobachtet: Sind die Berliner tatsächlich alle so selbstbewusst? Und sehen sie wirklich alle so gut aus? Oder kennt Jenny nur die Styling-Elite? Da sind Mädchen in schrillen Kleidern, offenbar alle ohne Figurprobleme. (Zumindest wenn sie sich sonst auch so hemmungslos die Chips reinschaufeln, dürften sie nicht so aussehen!) Noch einschüchternder sind die, die wirken, als hätten sie sich gar keine Mühe gegeben und würden von ganz allein wie aus dem Nobeljeans-Katalog aussehen. Das Haar sitzt – und wenn es beim Tanzen verstrubbelt, sieht es trotzdem super aus. Ich werde beim Tanzen rot und bin immer erschrocken, wenn ich im Disco-Klospiegel sehe, was das Rumgehopse aus meiner Frisur gemacht hat. Solche Sorgen scheinen denen hier fremd zu sein. Selbst die Jungs haben richtige Frisuren – und wegen der unleugbaren Spontaneität der Party muss man annehmen, dass sie die immer haben. Und tanzen können die auch noch. Sie trauen sich einfach.

Nur um das klarzustellen: Ich finde mich selbst keineswegs hässlich, im Gegenteil – ich glaube mir schon Hoffnungen machen zu dürfen, als halbwegs attraktiv zu gelten. Nur die Haare sind etwas widerspenstig und stehen an Regentagen wild vom Kopf ab. Aber heute liegen sie akzeptabel – und habe ich schon gesagt, dass ich heute unglaubliche Schuhe trage? (Ich bin nicht eitel, aber keine Frau möchte nur durch innere Werte gefallen.) Doch akzeptable Frisur hin oder her – mit denen hier komme ich nicht mit! … Hilfe, was soll denn das?! Ich bin eine der Hauptpersonen auf der wildesten Party meiner letzten Jahre und grüble über meinen Platz auf der Look-Rangliste?! Nein, Lena, jetzt muss Schluss sein mit den Selbstzweifeln. Das ist doch deine Chance! Die hier wissen nichts von den gedämpften Partys in Lübeck, nicht, dass du das erste Mal auf solch kühnen Absätzen stehst. Wenn du dich jetzt einfach gibst, wie du immer sein wolltest, denken sie, dass du schon immer so warst! Ich mische mich ins Getümmel. Jenny reicht mir eine Sektflasche und ein niedlicher Junge zieht mich auf die Tanzfläche. Hossa, neues Leben, hier bin ich!

Nur schade, dass ich in den neuen High Heels nicht richtig tanzen kann. Ich hätte nicht gedacht, dass der Abstand zwischen den 7-Zentimeter-Absätzen, die ich beim Studentenball getragen habe, und den 11 Zentimetern meiner Neuerwerbung so gravierend ist. Aber drei peinliche Umknicker vor Zeugen belehren mich eines Besseren. Ich muss mich setzen. Also geselle ich mich zu einer Gruppe Mädels, die in unserer Küche das Geschirr einräumen. Im Sitzen packe ich die Küchen-Kisten aus und verschaffe mir einen Überblick: Wir haben drei Wasserkocher, aber keine Kaffeekanne, drei Salatschüsseln, aber keine Pfanne. (Klar, ich selbst habe bei meiner Grundausstattungs-Tour in Lübeck auch nur stilvolle Sektgläser eingekauft und gedacht, dass eine der anderen bestimmt Pfannenwender mitbringt.) Die Mädchen schnattern durcheinander, ich bin bald mitten im Gespräch und als eines der lauten Mädels »irre Schuhe« zu mir sagt, bin ich auch mit dem unbequemen Schuhwerk versöhnt. Ich erzähle von Lübeck, von der Klinik, von meinen Eltern. Im Gegenzug erfahre ich einiges über Jenny. Sie hat Medizin studiert, weil der Arztberuf in ihrer Familie Tradition ist. Ihr Vater ist ebenfalls Mediziner und erwartet viel von seiner Tochter. Jenny scheint sehr ehrgeizig zu sein, ihre Freundinnen verraten mir aber auch, dass Jenny die hervorragenden Prüfungsergebnisse nicht nur der unermüdlichen Arbeit zu verdanken hat. Scheinbar ist sie der Typ, der mit Tricks arbeitet, und die Mädchen munkeln, in der gefürchteten Anatomieprüfung hätte sie einfach den Professor umgarnt. Außerdem heißt es, Jenny werde von ihrer Mutter regelmäßig mit schicken Klamotten versorgt, die sie generös verborgt. Allgemein ist man der Ansicht, ich hätte mit Jenny einen Glücksgriff getan. Ich kann nur bekräftigen, dass ich schon völlig davon überzeugt bin. Dann kommt noch ein Geheimnis heraus: Jenny hat diese PJlerinnen-WG eröffnet, weil sie Hals über Kopf aus der Wohnung ausgezogen ist, die sie mit ihrem Freund geteilt hat. Die beiden haben sich erst vor einem Monat getrennt. Jetzt erklären sich mir auch die eigenwilligen Auswahlkriterien in Jennys Mitwohn-Annonce: keine Country- oder Heavy-Metal-Fans, keine Vegetarier, keine Pedanten. Ich erfahre, dass Jenny all das – verkörpert in ihrem Ex-Freund Tom – in den letzten Jahren reichlich hatte und nun satthat.

Die Mädels zeigen mir einen schlaksigen Jungen, der sich im Flur mit Isa unterhält. Das ist er: Tom, Soziologiestudent und angeblich immer noch in Jenny verliebt. Ich finde, dass Tom sehr nett aussieht – und auch Isa scheint sich endlich gut zu unterhalten –, doch die Mädchen sind überzeugt, dass genau das das Problem ist. Zu nett für Jenny. Jetzt genießt sie es zwar, dass er ihr noch nachläuft, aber sie ist entschlossen, deutlich zu zeigen, dass sie ihn nicht mehr braucht. Ich beobachte Jenny, die inzwischen mit allen anwesenden Herren getanzt hat und langsam überschwänglich betrunken wirkt. Eine Partykanone und Herzensbrecherin also. Na mir soll es recht sein, genau das hat in meinem Leben bisher gefehlt.

Es geht auf Mitternacht, der erste Nachbar klingelt und fragt, »ob det hier noch lange jeht«. Isa verspricht ihm erschrocken, die Party sofort zu beenden. »Wir wollen es uns doch nicht gleich mit allen verderben!« Doch Jenny zieht den Mann lachend auf die Tanzfläche: »Wie schön, dass wir uns gleich kennenlernen!«

Der Mann ist im Schlafanzug und will nicht tanzen. Aber einen Moment bei uns in der Küche sitzen könnte er schon. Bei dem Lärm kann er sowieso nicht schlafen. Er lässt sich ein Glas Sekt einschenken und Jennys Entschuldigungen gefallen. Zehn Minuten später tanzt er doch. Im Schlafanzug. Also stelle ich die neuen High Heels in die Ecke und tanze mit. Berlin ist verdammt großartig!

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Oh Mann, das Leben ist hart. Ich verzichte auf die Schilderung des nächsten Morgens, an dem unsere Wohnung aussah, als sollten wir am besten gleich wieder ausziehen, und Jenny verschlief, bis wir sie aus dem Bett gezerrt haben. Irgendwie haben wir es noch rechtzeitig zur Bahn geschafft, nur das Frühstück musste ausfallen. Jenny kann sich offenbar in jeder Verfassung schminken, sie trägt in der S-Bahn ein perfektes Make-up auf. (Und keiner guckt! Sehen die Berliner so was täglich oder interessieren die sich einfach morgens nicht so füreinander?) Isa glaubt, dass wir es uns mit allen Nachbarn verscherzt haben, aber Jenny zuckt nur die Schultern. »Die Möbel sind aufgebaut, alle Kartons ausgepackt, jetzt muss man nur noch einmal gründlich putzen und dann kann das Leben losgehen.« Ich stimme zu, glaube aber insgeheim, dass es sicher nicht Jenny sein wird, die dieses »gründlich Putzen« erledigen wird. Egal, unser Einstieg war jedenfalls schon jetzt legendär. Nun gilt es, den Tag zu überstehen.

Die dürre Schwester von gestern schiebt uns, kaum dass wir unsere Kittel übergezogen haben, einen Wagen mit Kanülen vor die Füße und hat offenbar einen schlechten Tag. Sie unterstellt gleich mal, dass wir sicher nicht sauber Blut abnehmen können, und fragt mehrfach, ob wir gewaschene Hände haben. Erstens ziehen wir sowieso Handschuhe an und zweitens: Was glaubt sie, mit wem sie es zu tun hat? Schwester Klara lässt keinen Zweifel daran, dass alle Anfänger in ihren Augen Stümper sind, ergänzt aber gönnerhaft, dass wir sie ja zu Hilfe rufen können, wenn wir merken, dass wir tatsächlich nichts können. Sie scheint davon auszugehen, dass das unweigerlich passieren wird – und wir sind fest entschlossen, sie keinesfalls um Hilfe zu bitten.

Ich drehe meine Runde bei den Patienten – und gebe zu, dass mir vor der ersten Blutabnahme ein wenig graut. Was, wenn der Junge von gestern recht hatte und meine Punktionen echt an Körperverletzung grenzen? Sehr zaghaft kremple ich der ersten Patientin den Ärmel hoch. Eigentlich ein ermutigender Anblick: Die Venen sind gut zu sehen. Ich zögere trotzdem. Bis die Frau mich angrinst und sagt, dass sie zum Mittagessen gern fertig wäre. Schluss jetzt, Lena! Ich setze die Kanüle an. Es geht. Ich zapfe ein Röhrchen voll und am Ende sagt die Patientin: »Na sehen Sie, das war doch nicht so schlimm.« Ich könnte ihr vor Dankbarkeit um den Hals fallen und vergesse spontan, dass ich es sein sollte, die souverän solche Sachen sagt.

Von nun an geht es besser. Nachdem ich mit der netten Frau Klein in der 15 ein paar freundliche Worte gewechselt habe, ist meine Sicherheit endgültig zurückgekehrt. Sie hält an, bis ich zum Zimmer 16 komme. Warum habe ich nicht geahnt, dass das auch noch auf meinem Flurabschnitt liegt? Muss ich irgendwie verdrängt haben …

Manuel Ritter grinst mich strahlend an. Mist, sah der gestern schon so gut aus? »Na?«, fragt er lächelnd. »Kommst du mir wieder blaue Flecken machen?«

So nicht mit mir, Freundchen, denke ich und antworte: »Jetzt nimm mal deinen Teddy in den Arm, dann werden wir es schon durchstehen.« Gut, Lena, gleich gegenhalten bei solchen Typen!

Doch er strahlt und entgegnet: »Ich hab meinen Teddy zu Hause vergessen. Wie wär’s, wenn du mich stattdessen trostkuschelst?«

Ich starre ihn an. Wie unverschämt – ich bin deine Ärztin! (Fast-Ärztin. Trotzdem!) Weil mir keine Antwort einfällt, schnappe ich mir sein Krankenblatt und tue, als müsse ich noch mal nachlesen. Fahrradunfall, Gehirnerschütterung. Ich lege mir Entgegnungen parat. So heftig wie gestern sollte ich nicht noch mal draufhauen, aber ich kann ihm das doch nicht durchgehen lassen! Trostkuscheln!

»Nun ja«, sage ich schließlich, »ich kann mir schon vorstellen, dass du gern mal was Weiches kuscheln würdest. Deinem Krankenblatt entnehme ich, dass du in der Regel nur Asphalt knutschst.«

Sehr gut. Man muss ja Grenzen setzen. Hier hilft nur Überlegenheit. Immerhin liegt er da im Bett, in Shorts und T-Shirt – und ich bin die mit dem Kittel und dem Krankenblatt. Ich überfliege den Bericht: Da seine Bewusstlosigkeit möglicherweise länger als eine Viertelstunde angedauert hat und seine Verwirrtheit mehr als eine Stunde anhielt, wurde eine schwere Gehirnerschütterung vermutet. Ich nicke wissend und stecke das Krankenblatt zurück in den Hefter. Und jetzt Augen zu, Ärmel hoch und durch. Diesmal gebe ich mir besondere Mühe mit der Vorbereitung, klopfe lange auf der Vene herum und sprühe den Arm sehr großzügig ein. Dabei sage ich so oft, dass es gleich losgeht und gleich ein kleiner Piks kommt, bis Manuel Ritter sichtlich genervt ist. Dann gebe ich noch einmal ausdrücklich meiner Hoffnung Ausdruck, dass er es heute überleben wird – und erst als er »jetzt mach endlich« sagt, steche ich zu. Er lässt es sich natürlich nicht nehmen, hinterher zu sagen, dass ich mich wohl eher zur Kampfkrankenschwester eigne als zur Ärztin – aber darüber kann ich schon hinwegsehen. Zumal ich andeute, dass ich in der vergangenen Stunde 17 Omis gepikst habe, die nicht geweint haben; die müssen in wahrer Ironman-Kondition sein. Ach, und noch was muss ich ihm unbedingt mitgeben: »Wenn du dich mal wieder beschweren musst, ruf lieber deine Mami an als den Oberarzt. Hier sind nämlich noch ein paar wirklich Kranke, die ihn dringender brauchen.«

Manuel dreht sich weg und greift zur Fernbedienung. »Na dann bis morgen, Süße«, sagt er nur und schaltet den Fernseher ein.

Hups, da muss ich wohl noch mal einschreiten. Kein Fernsehen bei Gehirnerschütterung. Manuel will das nicht glauben, wahrscheinlich denkt er, ich wolle ihn nur schikanieren. Würde ich vielleicht sogar – aber diesmal ist es ernst. Sein Gehirn soll jetzt möglichst wenige Reize verarbeiten müssen. Er sollte still liegen und nicht mal lesen. Kein Fernsehen!

Manuel beschwert sich über die Langeweile. Das kann ihm niemand verübeln. Er sieht aus, als ob er viel Sport macht und dauernd an der frischen Luft ist, der ist Stillliegen sicher nicht gewohnt. Man könnte fast Mitleid haben und ich muss wider Willen schmunzeln, als er in jämmerlichem Ton sagt, dass er ja nicht mal seinen Teddy mithabe und deshalb keinen zum Reden. Aber in puncto Fernsehen muss ich strikt sein; ich nehme ihm die Fernbedienung weg und rate stattdessen zu ein wenig Kopf-Kino.

Draußen vor dem Zimmer 16 muss ich erst mal verschnaufen. Das wäre geschafft und ist – trotz des kurzen Schlagabtauschs – überraschend gut gegangen. Und ich kann nicht mal sagen, dass mich unser kleines Geplänkel gestört hat. Ich mag Leute, denen spontane Antworten einfallen und mit denen man sich Verbalgefechte liefern kann. Die »Du bist selber doof«-Kategorie nervt mich seit der Grundschule. Ich könnte mich zur Abwechslung mal ein wenig beglückwünschen, das lief wirklich gut. Jetzt sollte mal der Oberarzt um die Ecke biegen, dann würde er eine ganz andere Anfängerin zu sehen kriegen als gestern! Okay. Wenn ich es schaffe, eine Minute die Luft anzuhalten, ist der Nächste, der über den Flur kommt, Dr. Thalheim. Ich lehne mich an die Wand und hole tief Luft. Konzentriert halte ich den Atem an, das wäre doch gelacht. Ich höre meinen Herzschlag – und um mich herum die beruhigenden Krankenhausgeräusche. Ich schließe die Augen. Irgendwo reden Menschen, ein Fahrstuhl summt, das Klappern eines Geschirrwagens, irgendwo läuft ein Fernseher, eine der automatischen Türen surrt. Ich liebe diese Geräuschkulisse. Geschäftigkeit, aber keine Hektik. Besonnene Disziplin. Schritte auf dem Flur.

Ich öffne die Augen und schnappe nach Luft. Was ist?! Das war doch eine Minute! Und dann – jeder, der orakelt, kann meine tiefe Befriedigung nachvollziehen – ist er da. Dr. Thalheim kommt direkt auf mich zu. Ich bin die Orakelkönigin. Heute habe ich gar keine Berührungsängste; ich lächle dem Oberarzt entgegen.

»Und?«, fragt er. »Ging es heute besser?«