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Ulrike Mirjam Wilhelm

Der Mann, mit dem ich fortging

Roman

hockebooks

»Die Erde ist gleichgültig. Der Himmel ist weit und rätselhaft, das Meer voller Geheimnisse. Ebenso die Pflanzen und der Vogelflug. Der Stein schweigt ewig. Der Tod ist äußerst stark und lauert an jedem Ort. Die Grausamkeit sitzt in uns allen. Jeder mordet ein bisschen. Wenn nicht andere, dann sich selbst. Die Liebe ist mir immer noch unbegreiflich.«

Amos Oz, Der perfekte Frieden

Ich glaubte, ich wäre eine glückliche Frau.

Ein guter Beruf, gutes Gehalt, netter Mann, schöne Altbauwohnung in der Hamburger Innenstadt, das Übliche eben, wenn man fünfunddreißig ist und eine Weile schon die Sozialabgaben für Besserverdienende bezahlt hat.

Mein Leben zerfloss in stetigen Bahnen, kein Sturzbach, kein Rinnsal, ein stilles, klares Wasser, auf dem ich immer sorgsam oben trieb.

Dann kam dieser Psychologiekongress.

Es war ein Tag voller Glanz gewesen, München, achtundzwanzig Grad noch im Oktober, viel zu heiß und viel zu strahlend, um die Zeit in Konferenzsälen zu verbringen. Aber ich sollte ein Interview führen, für mein neues Sachbuch, das dringend fertig werden musste.

Im Aufzug ins Foyer begegnete ich ihm.

Nein, ich kann nicht behaupten, dass es sich um Liebe auf den ersten Blick gehandelt hätte.

Er war ziemlich groß, ziemlich dünn. Dunkelblondes, lockiges, fast soldatisch kurzes Haar. Er trug einen gut geschnittenen, hellblauen Anzug, der an seiner athletischen Gestalt nicht zu elegant wirkte. Eine verhaltene Energie ging von ihm aus. Obwohl es im Aufzug natürlich nicht nötig war, hatte er eine Sonnenbrille auf, sehr schick, sehr schmal, sehr dunkel.

Wir sprachen kein Wort.

Einmal blickte ich auf und sah mein Spiegelbild in den dunklen Gläsern seiner Brille. Ich fand, mein Haar sähe ziemlich zerstrubbelt aus, es hat eine Tendenz, sich zu verwirren. Während ich in diese dunklen Spiegel vor seinen Augen blickte, schob ich mir die Strähnen aus dem Gesicht und dachte, dass ich gar nicht professionell wirkte, gar nicht wie eine Autorin, die mit Alsterblick wohnte und gleich einen berühmten Psychologen interviewen würde.

»Sie sehen aus wie ein kleiner, zerzauster Vogel«, sagte er von oben.

Ich versuchte, wahrscheinlich erfolglos, mein Erschrecken zu verbergen. Ich hatte vergessen, dass hinter den dunklen Spiegeln fremde Augen wohnten. Ich lächelte, hektisch vermutlich.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, kam er mir zuvor.

Ich sah, dass er ein nettes Lächeln hatte, das seinem ausgeprägten Gesicht etwas Verletzliches verlieh.

In seiner Stimme schwang ein leichter Akzent mit, den ich nicht deuten konnte. Die Stimme klang tief, und ich fühlte mich bei ihrem Klang ein bisschen gestreichelt.

Dann glitten wir schweigend in die Tiefe.

Nein, es hätte nichts geschehen müssen.

Aber wie so oft sind es die Zufälle, die alles bestimmen. Im Foyer kam der Aufzug zum Stehen, und ich verhakte mich mit meiner Tasche am Handlauf für die Behinderten.

Er war vorausgegangen, Männer auf Kongressen haben es ja immer eilig, doch zufällig blieb er noch einmal stehen und wandte sich um, ich sah es aus den Augenwinkeln, während ich versuchte, mich aus den Fängen des Handlaufs zu befreien.

Ich sah, dass er zu lachen begann.

Und versuchte, mich mit seinen Augen zu sehen. Eine kleine, müde Frau mit Pagenkopf und schlichtem, rostrotem Kostüm, eine zielbewusste Hektikerin, die ein Klima des Übereifers verbreitet und sich darin dann selber verheddert.

Er hatte recht, mich auszulachen.

Ein Ruck, und die Handtasche riss sich vom Geländer los. Ich musste mich zusammennehmen. Ein Interview in ein paar Minuten, man stelle sich vor. Ich bin Profi, kenne die Regeln. Ich weiß, dass man sich in eine schlechte Ausgangslage begibt, wenn man zu spät ist oder zu nervös oder in irgendeiner anderen Weise auffällt.

Deshalb habe ich die innere Taste »Profi« für mich erfunden. Wenn ich auf diese innere Taste drücke, kann ich meine Nervosität und Schusseligkeit normalerweise gut unterdrücken. Ich nahm mir vor, genau das jetzt zu tun, und stöckelte an dem fremden Mann vorüber.

In diesem Augenblick geschah es.

In diesem Augenblick nahm er seine Sonnenbrille ab und musterte mich. Mich traf ein Blick aus den leuchtendsten blauen Augen, die ich je gesehen habe. Intelligenz kann brennen. Auch Augen können brennen.

Ich stolperte beinahe.

»Sie sind ganz schön nervös.« Er steckte eine Hand in die Hosentasche, eine ziemlich schlanke, dennoch breite Männerhand. »Kommen Sie doch mit raus an die Luft. Ist doch kein Wunder, dass man bei dem pseudo-intellektuellen Gequatsche da oben Kopfschmerzen kriegt. Ich wollte raus in den Englischen Garten.«

Sein Blick hielt mich fest. Ich sah die Ironie unter diesem tiefen Blau schwimmen, und ich wusste, dass er genau das sagte, was ich den ganzen Morgen schon dachte. Er gab meinen Wünschen einen Namen.

Aber ich kannte meine Pflicht.

»Tut mir leid, ich hab ein Interview.« Als müsse ich es beweisen, kramte ich in meiner viel zu großen Ledertasche, einem Grab der Gegenstände, wie Andreas immer sagte, und zog schließlich beinahe triumphierend meinen Notizblock heraus. »Mit Dr. Samson, Pennsylvania University, Studien mit dem Gehirnscan, wichtige Beiträge zum Gefühlserleben bei Männern und Frauen.«

»Gehirnscan.« Er trat einen Schritt zurück. »Gefühlserleben.«

Sein fremdländischer Akzent wurde stärker, vielleicht, weil er sich ein bisschen ärgerte. »Sagen Sie mal, glauben Sie wirklich an all diesen neuropsychologischen Quatsch? Glauben Sie, dass niemand eine Wahl hätte? Dass man zu dem geboren wird, was man ist? Und Samson zu interviewen, können Sie sich sowieso sparen. Er hat noch die letzte Fußnote in allen Zeitungen verbreitet.«

»Wenn Sie nicht daran glauben, warum sind Sie dann hier?«

Er sah mich an und zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Ich hab andere Gründe.« Es klang etwas ausweichend. »Also, was ist? Kommen Sie jetzt mit in den Englischen Garten – oder nicht?«

Ich nickte erst, dann verneinte ich.

»Dass Sie nervös sind, ist mir inzwischen klar«, sagte er mir, der glücklichen Frau mit nettem Mann und Altbauwohnung. »Aber heißt das jetzt Nein oder Ja?«

Sein Blick hielt mich immer noch in seinem Bann und verhinderte, dass ich das tat, was ich hätte tun müssen: das Kinn in die Luft strecken, energisch die Handtasche schultern und hochmütig davonstöckeln. Abgesehen davon, dass ich vermutlich ohnehin gestolpert und gefallen wäre, tat ich all das nicht. Ich schwamm weiter in diesen Strudeln aus Blau. Und dachte an die Sonne draußen.

»Der Englische Garten«, hörte ich mich in der nächsten Sekunde mit einer fremden Stimme sagen, »soll wunderschön sein. Jetzt wo bald das Herbstlaub fällt.«

Eigentlich ein ziemlich harmloser Satz, jedenfalls keine ganz unmögliche Pflichtvergessenheit, und das sage ich, die ich bis dahin noch nie einen Termin versäumt hatte, nicht ein einziges Mal in fünfunddreißig Jahren. Eine stetige Laufbahn des Ankämpfens gegen No-Future-Stimmung und Angst vor allem Möglichen, unter anderem auch der Arbeitslosigkeit.

Ich war Diplom-Psychologin und hatte vier Sachbücher veröffentlicht. So was kann man in dem Alter nicht schaffen, wenn man bei jedem Sonnenstrahl nach draußen rennt und nach Lust und Laune jeden Termin versäumt.

Aber es leuchtete mir ein, was er über Dr. Samsons Theorien sagte. Und es war so einfach. Er gab mir einen kleinen, kaum spürbar autoritären Wink mit der Hand, der mich der Verantwortung einfach entledigte, und ich folgte ihm durch das Foyer mit dem Heer aus Männern von Taubenblau bis Staubgrau, und ich fühlte mich auf einmal ganz leicht und ganz frei und auch ein kleines bisschen verwegen.

»Übrigens«, er blieb kurz stehen, als ich in die Sonne blinzelte. »Ich heiße Daniel. Wir sagen doch du?«

*

Dieser Oktober in München, der wärmste seit Beginn der Temperaturaufzeichnung. So erzählte uns ein betrunkener Bayer im Lodenjackett, der um 15 Uhr mittags schon vor der zweiten Maß saß, wie er sagte, und mit roten Wangen und geplatzten Äderchen der Sonne und dem Bier die Stirn bot.

Myriaden funkelnder Silbertröpfchen auf den Wellen, ein Himmel wie auf einer bayerischen Hochglanzreklame, und dazu das Farbfeuerwerk der Bäume, die sich in einem letzten Glühen gegen den Verfall aufbäumen.

Wir saßen auf der Terrasse am Seehaus, blickten in die Wellen oder in unser Weißbier und sprachen nicht viel.

Es war ein angenehmes Schweigen. Ich finde es wichtig, mit Menschen schweigen zu können. Oftmals verbindet ja die Sprache Menschen nicht, viel öfter dient sie dazu, die Menschen zu trennen.

Dennoch ist es schwerer, die Stille gemeinsam auszuhalten.

»Ich hole uns was zu essen«, sagte er irgendwann.

Wir aßen Laugenbrezen und einen würzig schmeckenden Käse, den sie Obatzter nannten. Er steckte mir ein Stück Breze in den Mund, und für einen zerbrechlichen Moment berührten sich unsere Knie.

»Fünf Uhr.«

»Komm, lass uns einen Spaziergang machen, solange noch die Sonne scheint. Es wird bald kalt und dunkel sein.«

*

Wir gingen einmal ganz um den See.

Ein einsamer schwarzer Schwan pflügte durchs Wasser, er hatte so einen sonderbaren roten Schnabel, ein rührender Anblick, vielleicht, weil er so fremdartig und verloren aussah. Daniel und ich schritten übers Herbstlaub, einen weichen, gelben Teppich. Einmal berührten sich ganz kurz unsere Hände. Ich schreckte zurück.

»Alles okay?« Er fragte es mit einem ironischen Seitenblick.

Ich schlang die Arme um mich, ich fror ein bisschen, denn während die Sonne verschwand, wurde es kühl. Aber ich nickte.

»Wieso kennst du München nicht?«, wollte er wissen. Ich erklärte ihm, dass ich aus Hamburg komme und dass es in Deutschland so eine imaginäre Grenze gibt.

Es war ihm anzusehen, dass er mir nicht folgen konnte.

»Na ja, das kannst du nicht verstehen. Du bist nicht von hier?«, fragte ich, obwohl es mir immer töricht erscheint, jemanden zu fragen, woher er kommt, weil es letztendlich so unerheblich ist.

Viel bedeutsamer ist die Frage, wohin jemand geht.

»Du bist kein Deutscher?«

»Ja und nein.«

Ein kurzes Schweigen, in das weitere Wörter hätten tropfen müssen, aber sie tropften nicht.

Wir gingen weiter, und als wir ein Wegkreuz erreichten, spürte ich abermals, wie er ganz behutsam die Führung übernahm. Er lenkte mich wortlos nach rechts, und ehe ich wusste, was ich tat, änderte ich die Richtung meines Schrittes und folgte ihm.

Eine leichte Windböe strich über die gläserne Decke des Sees, die Sonne tauchte die Baumwipfel in ein Blutbad. Er ging zu einer Bank voraus, setzte sich und klopfte auf die Sitzfläche neben sich. Zögernd kam ich näher und setzte mich auch. Ich weiß noch, dass ich sehr genau darauf achtete, den Abstand zu wahren. Ich fühlte mich unsicher neben diesem Mann und versteifte mich, drückte die Knie zusammen und das Kreuz durch und hielt meine Handtasche umklammert, als würde sie mir jeden Augenblick geraubt werden.

Falls es ihn amüsierte, so wusste er es zu verbergen.

Er blickte über den See, über die Insel, wo die Weidenbüsche ihre Arme ins schwarze Wasser hängen ließen, als ob sie einen Kummer hätten. Seen mit Trauerweiden sind ein Klischee, finde ich. Aber Seen in der Dämmerung wirken geheimnisvoll. Wie in einem dunklen Spiegel, so ein wunderschönes Wort, vermutlich aus der Bibel.

Er hatte noch immer die Sonnenbrille auf, obwohl sie ihn vor keiner Sonne schützen musste. Vorsichtig betrachtete ich sein Profil. Eine raumgreifende Nase mit einer feinen Schicht aus Sommersprossen bestäubt, ein ausgeprägtes Kinn.

Ich mochte dieses Profil.

Dr. Samson würde mir dazu vermutlich erklärt haben, dass es ein archetypisches Muster der Frauen sei, ein solches Profil zu mögen. Aber ich hatte ja nun keine Gelegenheit gehabt, mit Dr. Samson über irgendetwas zu sprechen.

Ich verdrängte den Gedanken und blickte ebenfalls übers Wasser, in einträchtigem Schweigen mit diesem Fremden vereint, der mir nichts abverlangte und der mir auch nichts sagen, nichts erklären musste, noch nicht einmal, wo er herkam oder warum er hier war.

»Ein friedliches Land«, sagte er unvermittelt. »Man kann es sich leisten, zerstreut zu sein. Man muss nicht ständig wachsam sein.«

»Wie? Deutschland?«

Er nickte mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. Eine ganz feine Spur eines Lächelns, das sich um seine Lippen abzeichnete, schmale, feste Lippen, denen dieses Lächeln gut stand.

»Ein reiches Land. Ihr braucht keinen Krieg zu bezahlen. Ihr könnt den Leuten so viel Geld geben, dass niemand auf der Straße sitzen muss. Ihr habt so viel mehr, als ihr braucht. Ihr könnt schenken. Bei uns ist das nicht der Fall. Wir sind im Kriegszustand, schon seit Jahrzehnten.«

Ich drehte mich zu ihm um, musterte sein Profil, das schon umfangen war von den Schatten der Dämmerung. Er blickte noch immer über den See und schien meinen Blick nicht zu bemerken, lächelte immer noch leise in sich hinein, dieses kaum wahrnehmbare Lächeln, das einem Menschen ein Geheimnis verleihen kann.

Auf einmal hatte ich es verstanden. »Du bist aus Israel.«

In einer Bewegung setzte er sich auf, nahm die Sonnenbrille ab und schaute mir lange in die Augen, und ich sah, dass sie jetzt einen smaragdgrünen Schimmer angenommen hatten.

»Tel Aviv. Morgen früh muss ich zurück.«

Mir war klar, dass ich Fragen haben musste.

Warum war er hier? Warum ging er fort? Was verband ihn mit Deutschland? Weshalb sprach er deutsch? Wie war es für ihn als Israeli, als vermutlich Jude, hier bei uns in Deutschland zu sein? Freute er sich darauf, in seine Heimat zurückzukehren? War Deutschland oder mindestens die deutsche Sprache in irgendeiner Weise noch Heimat für ihn? Wie unterschied sich Israel von Deutschland? Unterschieden sich beide Länder überhaupt? Was war gut, was war schlecht? War er schon öfter in Deutschland?

Ich fragte nichts von alledem.

Ich blickte ins schwarze, gläserne Wasser und dachte, dass er abreisen würde, morgen schon, und eine leise Stimme gab mir ein, dass mich das nicht nur interessierte, nein, sondern dass es mich berührte, obwohl ich doch bald Andreas anrufen müsste, der sicher schon in Sorge war und der sich immer Sorgen um mich machte, und, wie er sagte, aus gutem Grund, weil mir immer irgendwas passierte.

Irgendwann lag Daniels Hand auf meiner Schulter, sehr leicht und sehr warm, und ich kann nicht behaupten, dass ich nicht damit gerechnet hätte. Es war eine schöne Männerhand, breit, doch mit schmalen Fingern. Dass diese Hand jetzt auf meiner Schulter lag, irritierte mich.

Anfangs blieb ich steif, doch als die Hand sich nicht entfernte, gab ich den Kampf auf und entspannte mich. Es war ohnehin kühl jetzt, sagte ich mir, und es würde kälter werden, und ich würde mich doch nur erkälten, und wie sollte ich das dann wieder Andreas erklären, dass es mir bei achtundzwanzig Grad in München, am wärmsten Oktobertag seit Beginn der Wetteraufzeichnung gelungen war, mir eine Erkältung einzufangen.

Nicht nur Daniels Hand war warm, auch sein Arm strahlte eine Wärme aus wie seine Hand und wie seine Augen, und er zog mich noch näher an sich heran, ohne dass es aufdringlich war.

Es kam mir so vor, als müsste es so sein. Deshalb hatte ich nicht die Spur eines Zweifels. Wir saßen einfach nur da, zwei etwas frierende Leiber, die sich aneinander wärmten, am Ende eines Tages, der zu warm gewesen war für die Jahreszeit und uns nun doch spüren ließ, dass der Winter kam.

Wir saßen einfach nur da, sein Arm um meine Schultern, mein Kopf an seiner Schulter, und nichts geschah. Dabei kann man es so eigentlich auch nicht sagen. Denn was ich spürte, war eine Nähe, die ich so nie gekannt hatte, nicht bei Andreas und nicht bei den Männern zuvor. Ich fühlte mich vollkommen sicher, vollkommen geborgen, an der Schulter eines Mannes, den ich einen halben Nachmittag kannte, mit dem ich fast einen halben Nachmittag geschwiegen hatte, von dem mich ein Meer und eine Kultur und eine Unkultur trennten.

Mehr war nicht passiert.

Und alles war verändert.

*

Keiner von uns wollte sich lösen.

Der Mond schickte sein bleiches Licht über den See, in der Lichtbahn tanzten kleine Wellen. Im Seehaus wurden Männerstimmen laut, vermutlich hatten zu viele Gäste zu viel Sonne und zu viel Bier abbekommen. Von irgendwo hörten wir ein Mädchen kichern, es hörte sich an, als ob es gekitzelt würde, und dann erstickte das Gelächter.

Auch Daniels wärmende Hand konnte nicht verhindern, dass ich immer mehr fror. Ich wollte nicht zittern, weil ich wusste, dass wir dann aufstehen würden, aber vom Wasser stieg die Kälte auf und kroch feucht und klamm unter mein rostrotes Kostüm. Und auch die warme Hand, der warme Arm, der warme Mensch, das alles konnte mich nicht wärmen.

Ich fürchtete die Frage, die nun endlich kommen musste. Die Frage, ob wir ins Hotel fahren, wie es weitergehen würde, und die den Zauber brechen würde, indem sie uns auf das Niveau eines ganz gewöhnlichen Ehebruchs zurückwarf.

Ich wollte nicht, dass durch diese Frage der Alltag eindringen und unsere Eintracht zerstören würde, dieses Gefühl des Gleichklangs, das nichts abverlangte und einfach durch nichts entstanden war. Eine Harmonie, aus dem Nichts geboren.

Im Nichts würde sie vergehen müssen.

Es war traurig so und folgerichtig.

Er legte den Kopf zurück und blickte mit den schwarzen Spiegeln in den schwarzen Himmel, an dem sich die Sterne verloren.

Der Himmel schien mir kalt, die Nacht feindlich.

Dann spürte ich einen sanften Druck an meiner Schulter, und ich fühlte, dass ich mich erheben sollte, und ich stand auf.

Dankbar, dass er nichts gesagt hatte, drückte ich die Hand, die meine Schulter umfasste, während wir durch das Laub und die Nacht schritten und die Männerstimmen vom Seehaus her hinter uns verklangen.

Wir gingen durch den Park und durchs nächtliche Schwabing, wir ließen den falschen Kaschemmenglitter hinter uns und sahen die Walhalla. Wir gingen an villenartigen Wohnhäusern vorüber, gelben Fenstern, in denen Kronleuchter blitzten, und schließlich fanden wir ein Lokal, ziemlich einfach, ziemlich alt, und wir aßen Brathendl, was in meinem Fall etwas bedeuten will, da ich Vegetarierin bin. Er bestellte das Hähnchen einfach, und als ich nicht essen wollte, griff er nach meinem Teller, pflückte geschickt ein Stück Fleisch aus dem toten Huhn und hielt es auffordernd vor meinen Mund.

Ich griff nach der Gabel und schluckte.

Später gingen wir weiter durch die Nacht. Studenten zogen an uns vorüber, Leute, die braun und schön wie Schauspieler aussahen oder es vielleicht darauf angelegt hatten, so auszusehen.

Einmal, als Daniel sich ganz kurz, um einer ironischen Pointe willen, zu mir umdrehte, bemerkte ich etwas Vertrautes in ihm, etwas in seinem Gesicht, das ich kannte, schon immer gekannt hatte, das ich immer kennen würde.

Er erinnerte mich an jemanden, an irgendwen, den ich vielleicht schon einmal gesehen hatte.

Eine leichte Gänsehaut an meinem Arm, aber dann wandte er sich ab, und der Gedanke, den ich beinahe eingefangen hätte, flog vorüber, und der Eindruck verlosch, denn nun hatte er wieder dieses markante Gesicht, sehr männlich, wie Dr. Samson vermutlich gesagt hätte, und auch ein bisschen fremd.

Aber er war ein Mann, in dessen Gesicht sich viele Gesichter verbargen, ich sah viele Entwürfe in diesen Zügen, während er sich zu mir umdrehte und wieder abwandte und manchmal im Schritt innehielt und auf mich wartete, denn er machte große Schritte und ging fast immer voraus.

Ich spürte ihn bei mir, ich fühlte mich wohl in seiner Nähe, und der Gedanke an das Telefon und den besorgten Andreas und dass ich anrufen müsste, dieser Gedanke blitzte zwar hin und wieder noch auf, aber viel stärker war unsere schweigende Gemeinsamkeit, die ich nicht aufgeben wollte, noch nicht, in dieser einen Nacht, die uns blieb.

Wir sahen südländisch anmutende Plätze, gelb gestrichene Häuser, Geschäfte, kleine Brunnen, Kneipen, Galerien. Irgendwann standen wir vor dem Rathaus, ein Turm der Frauenkirche erhob sich darüber, die Kontur zeichnete sich klar umrissen vor dem Nachthimmel ab mit seinem kalten Lichterglanz.

»Irgendwo hier«, sagte er, »muss das Hofbräuhaus sein.«

»Hofbräuhaus?«

Ich ertappte mich dabei, wie mein inneres Analyseprogramm zu arbeiten begann, wie es die Raster abglich. Passte es zu meinen Vorstellungen, dass er sich für diesen Touristennepp interessierte?

Aber dann sagte ich mir, wie arrogant es wäre, einen ausländischen Touristen dafür zu verachten.

»Warum nicht?«, sagte ich also laut.

Am Eingang ließ er mir den Vortritt, denn er hatte bessere Manieren als die meisten deutschen Männer, und dann traten wir in die Schwaden aus Rauch, in diese Wand aus Lärm, in den Geruch nach Schweiß und Bier und in die Blitzlichter japanischer Fotoapparate.

Wir setzten uns zu einem japanischen Pärchen an den Tisch, beigefarbene Windjacken, beigefarbene Schüchternheit, sie drückten sich in eine Ecke, als gehörten sie nicht dazu. Er blickte in sein Bier, sie blickte in ihr Wasserglas, vielleicht trennten sie sich, vielleicht war es auch ihre Hochzeitsreise, Europa in vier Tagen, vielleicht waren sie Geschwister, die sich lange nicht gesehen hatten und denen nichts zu sagen einfiel.

Vielleicht hatten sie sich gerade erst verliebt.

Obwohl ich keinen Alkohol vertrage, bekam jeder von uns eine Maß Bier, ein kleines Fass, und wir prosteten uns zu. An seiner Lippe hing ein Tropfen Schaum, wie ein Oberlippenbärtchen.

»Bier und Fußball und Wagner und Nietzsche«, meinte er mit seinem leichten Akzent, »das sind die besten deutschen Erfindungen.«

»Da bist du ja deutscher als die meisten Deutschen!?« Er lächelte. »Das Allerbeste sind die deutschen Frauen.« Ich blickte in mein Bier, eine schalgelbe Farbe, aber das Bier schmeckte gut, überhaupt nicht schal, und ich trank.

»So, du hast also schon viele deutsche Frauen gekannt.« Seine Augen, diese unglaublichen Augen, leuchteten vor Spott.

»Eine bestimmte deutsche Frau würde ich jedenfalls gern besser kennenlernen. Hast du eigentlich Familie?«

»Familie?«

Ich fühlte mich, als hätte er mich bei etwas ertappt.

Ich dachte an meine Eltern, die in Scheidung lebten, meine Großmutter, weit über achtzig und krank, die ich hätte besuchen müssen, statt nach München zu fahren. An meinen Bruder, der so klug war, dass er mehr an der Welt litt, als erträglich war für ihn. Ich dachte an meine Tante mit ihren beiden Söhnen, für mich wie Halbbrüder, und dann die beiden Cousins fern in Japan.

Ich habe Familie, dachte ich trotzig.

Das war meine Familie. Schon als Kind hatte ich mich dafür geschämt, so wenig Familie zu haben. Es kam mir vor wie ein Makel, wie eine Schande. Immer war es mir ein Bedürfnis gewesen, mich für die Abwesenheit einer größeren Familie zu entschuldigen.

Die Schunkelmusik dröhnte in meinen Ohren, ich blickte in mein trübes Bier und dachte an diese Kindheitsfeste zurück und daran, wie sehr ich die anderen Kinder um ihre großen Familien beneidet hatte.

Rita, die Bauerntochter, sechzig Gäste am Geburtstag, vierundvierzig Gäste bei Susi, der Tochter unserer Putzfrau, und manche meiner Mitschüler hatten hundert Gäste gehabt, und nicht einmal das war ihre ganze Familie, wie sie mir auf meine hartnäckigen Nachfragen erklärten. Sie besaßen so viel Familie, dass sie es sich nicht leisten konnten, die ganze Familie einzuladen, was für mich natürlich unvorstellbar war.

»Wir können doch nicht extra anbauen«, sagten die Mütter meiner Freunde und lachten, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie ich unter diesem Lachen litt.

Ich hoffte immer, ich könnte eine Freundin finden, die weniger Familie hätte als ich und die sich bei mir für die Abwesenheit ihrer Familie entschuldigen müsste, statt umgekehrt, aber ich fand diese Freundin nicht.

Ich weiß nicht, ob ich je mit meinen Eltern darüber gesprochen habe. Aber vor jedem Familienfest zählte ich geradezu fiebrig die Stühle. Anfangs waren es – uns eingerechnet – noch jedes Mal etwa fünfundzwanzig Stühle gewesen, wenn alle kommen konnten, und bei jedem Familienfest hatten wir das Wohnzimmer umräumen müssen.

Heimlich betrieb ich Berechnungen, ab wann die Familie größer werden könnte, ab wann die Cousins Kinder haben könnten, sodass wir dann mehr Stühle brauchen würden. Aber die Rechnung ging so nicht auf, denn ich war ja noch ein Kind gewesen und hatte vergessen, den Tod in Betracht zu ziehen.

Erst ging Großtante Hannah, dann Uroma Anna, gefolgt von Uroma Dita, die nicht meine leibliche Uroma war. Bald danach starb Großonkel Schorsch, der im Jahr zuvor noch beklagt hatte, dass es so leer geworden war. Es folgten Großonkel Ernst und Opa Eli. Der Onkel aus Japan – ohnehin selten hier – starb als Nächster, dann folgte ihm der angeheiratete Onkel, ein Arzt, dessen Tod seiner eigenen Fehldiagnose zuzuschreiben war.

Von nun an brauchten wir die Zimmer nicht mehr umzuräumen.

Mit Mamas Cousine und deren Kindern konnten wir im Esszimmer sitzen. Im Grunde, sagte Mamas Cousine einmal, konnte man kaum noch von einem Familienfest sprechen, denn dafür gab es nicht mehr genug Familie.

Wir hatten nur noch uns, die wir uns ohnehin Woche für Woche überfielen und uns das Leben zur Hölle machten, ohne je voneinander abzulassen, bis ich dann irgendwann diesen Pakt einseitig aufgekündigt hatte und nach Hamburg geflüchtet war.

»Wie ist das also mit deiner Familie?«, fragte er nach. »Ich meine, warum du keine Kinder hast?«

Unsere Blicke trafen sich, sein Blick wie ein Lichtstrahl, grell, aber auch unbarmherzig, in dieses Licht hinein würde ich nicht lügen können.

Ich fühlte mich, als blickte ich einem Polizisten in die Augen, einem sehr erfahrenen und sehr klugen Polizisten. Dabei war meine Antwort beschämend banal.

»Weiß nicht. Die Karriere ging vor. Und bei dir?«

»Hat sich wohl nicht ergeben. Aber ich hätte gern Kinder gehabt, schon wegen meiner Eltern. In Israel legen wir sehr viel Wert auf Familie.«

Fast hätte ich laut herausgelacht.

»Bist du verheiratet?«, fragte er.

Ich hielt diesem forschenden Blick stand, ohne eine Antwort zu geben: »Und du?«

Er machte eine orientalische Geste. »Ziemlich heiß hier. Sollen wir gehen?«

*

Vier Uhr früh inzwischen.

Eine Kehrmaschine fuhr vorbei, in den Arbeitervierteln würden bald die ersten Lichter angehen, wir kamen am Schlachthof vorüber, wo es nach Blut stank, fürchterlich stank, und hier war schon Autolärm, hier fuhren Lastwagen an, und ich glaubte, ein tiefes, entsetzliches Brüllen zu hören, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Er legte seinen Arm um meine Schultern und zog mich näher zu sich heran, und dann noch näher.

»Du zitterst ja.«

Mir war so kalt inzwischen, dass mir die Tränen in den Augen standen, aber ich spürte seine Hand an meiner Schulter, und von innen war mir warm. Ich wollte nicht denken müssen, wollte nur diesen Augenblick empfinden, festhalten, bewahren.

Auf den Augenblick, dachte ich, kommt es an.

Ich knickte um und geriet ins Stolpern, er fing mich auf.

So verharrten wir, sein Gesicht weit über meinem, fremd immer noch, aber doch schon sehr nah. In seinen Augen stand eine Frage, und ich spürte die Konzentration, mit der er mich anblickte. Sein Atem wurde hörbar.

Und dann riss er mich in seine Arme, so schnell, so heftig, dass ich beinah wieder gefallen wäre, ich fiel auch wirklich, aber nur gegen seine Schulter, seine Hand fuhr in mein Haar und packte mich und drückte mein Gesicht an seine Brust, so fest, dass es wehtat, dass Jackettknöpfe mir gegen die Wange drückten, es schmerzte, seine andere Hand presste meinen Rücken an sich, ich konnte gar nichts tun, die Umarmung nicht einmal erwidern, es war mehr als liebkosend, fast schon gewaltsam, und als er mich endlich aus der Umklammerung entließ, war es wieder so unvorhergesehen und ich war so verwirrt, dass ich zwei, drei Schritte zurückstolperte und beinahe wieder gestrauchelt wäre.

Andreas hatte recht, ging es mir in diesem Augenblick durch den Kopf, mir würde immer was passieren, ich war nicht vor Verletzungen gefeit.

»Komm!«

Daniels Stimme klang sehr tief, sehr rau. Er streckte seine Hand nach mir aus, und ich ergriff sie, und diesmal zog er mich sanft zu sich heran, so sanft, dass jetzt ich es war, die zu ihm kam und das Tempo bestimmte, und so gewaltsam er mich an sich gerissen hatte, so sanft berührte ich mit der Hand seine Brust, so sanft war der Kuss, den ich auf seinen Mund hauchte, während ich auf den Zehenspitzen stand, einen festen Mund, der nach einem Mann und nach Bier und ein bisschen herb roch, einen Mund, um den ein kleines, spöttisches Lächeln spielte, das ihm ein Geheimnis verlieh.

Wir sahen uns in die Augen und lächelten, wir lächelten uns an mit den Augen, und dann versank die kalte Nacht um uns herum, denn ich fühlte seinen Körper an meinem, warm und hart, und ich spürte, dass es an seinem Oberkörper nicht ein Gramm Fett gab, ahnte, wie durchtrainiert er sein musste, und während wir uns küssten, während unsere Zungen sich ineinander verschlangen, verschwanden meine Gedanken und verschwand mein Frösteln, und ich löste mich auf.

Es war schwer, sich loszulassen.

Wir schauten beide zu dem schmalen Silberstreifen, der über der Stadt aufging. Verbissen schauten wir nach Osten, doch unsere Hände fassten nacheinander, er hatte feste, warme Hände, unsere Hände passten zueinander, und unsere Finger verschränkten sich ineinander, ich dachte an meine Oma und hatte das Gefühl, auf einmal weinen zu müssen, hätte einfach losheulen können, während ich an diesen Satz denken musste, den sie immer gesagt hatte:

»Wenn die Hände zusammenpassen, dann passen auch die Menschen zusammen.«

*

Das kleine, etwas schmuddelige Café lag am Bahnhof, in der Nähe des Hochhauses, in dem der Bayerische Rundfunk sitzt. Daniel hatte kleine Müdigkeitsfältchen um die Augen, mir war schwummerig. Der Gastwirt, ein Türke, hatte uns mit wissendem Lächeln begrüßt, oder jedenfalls schien es mir so, als wäre dieses Lächeln wissend. Liebende und Betrüger haben ja oft das Gefühl, dass alle anderen alles wissen müssten. War ich eine Liebende? War ich eine Betrügerin?

Ich saß einem fremden Mann aus einem fremden Land gegenüber, dessen rechte Hand meine linke Hand hielt, über die Tischdecke mit den Rotwein- und Kaffeeflecken hinweg, an dem kleinen Plastikblumensträußchen vorbei, an allem vorbei, was mein Leben, vielleicht auch sein Leben bisher ausgemacht hatte.

Ich weiß nicht, woran er dachte.

Dachte ich an seinen Abflug?

Vielleicht dachte ich gar nichts, und auch das ist ein Zustand von Glück.

»Gut, starke Kaffee«, sagte der Gastwirt, der nach Zigarren roch, was ich in diesem Moment beruhigend fand, ein starker Geruch, mit starken Assoziationen für mich, guten Assoziationen aus meiner Familie.

Der Wirt stellte zwei winzige Tässchen mit undurchsichtig schwarzem Mokka vor uns ab, ganz zart war diese Bewegung, als hätte er Angst, etwas sehr Zerbrechliches zu stören.

Daniels rechte Hand ließ meine linke Hand nicht los, als er sein Tässchen mit »gut starke Kaffee« an den Mund führte und trank. Ich sah zu, wie er schluckte. Ich mochte es, wie sein Adamsapfel beim Schlucken hüpfte. Adamsapfel, dachte ich, was für ein komisches Wort.

Warum denkt ein Mensch, der einem fremden Menschen gegenübersitzt, der gar nicht mehr fremd ist, aber abreisen wird, in einem solchen Moment solche Sachen?

Vielleicht, um nicht an das Naheliegende denken zu müssen, die Endlichkeit des Augenblicks, in diesem Fall: Daniels Abflug.

»Ich muss fliegen«, sagte er mit dieser rauen, tiefen Stimme. »Wenn ich nicht fliegen müsste, würde ich es verschieben.«

Ich wagte kaum, den Mund aufzumachen, weil ich befürchten musste, dass meine Stimme zittern würde. Aber ich schaffte es, zu fragen: »Wann?«

»Um neun.«

»Dann bleiben uns noch vier Stunden.«

»Ich muss mindestens zwei Stunden früher da sein. Sicherheit. Ich fliege mit El Al.« Dieses spöttische Lächeln kräuselte seinen Mund, wie ein Sommerwind an schönen Tagen das Meer kräuselt. »Die sicherste Fluglinie der Welt. Aber dafür müssen die Passagiere ein bisschen Zeit opfern.«

Ich las aus seinem Blick, warum er es sagte. Er sagte es, um sich selbst abzulenken von dem, was wesentlich war, dass er abreisen würde.

Mir, der glücklichen Ehefrau aus Hamburg, schien Europa auf einmal unendlich leer zu werden ohne ihn.

»Ich muss bald ins Hotel und packen«, sagte er.

Plötzlich bemerkte ich die tiefe Falte auf seiner Stirn, und das intensive Blau seiner Augen verschwamm.

Nein, ich hatte nicht vorgehabt, etwas zu sagen.

Aber die Wörter können manchmal ein Eigenleben führen, sie können anfangen, zu flattern und zu fliegen und eine eigene Richtung zu finden, ohne dass man es weiß oder will.

Ich hörte, wie meine Stimme zitterte. Mir war flau im Magen. Ich glaubte selbst kaum, was ich mich sagen hörte, mich, eine glückliche Frau, die in ihrem Leben noch nie einen Termin versäumt hatte, bis auf den einen, heute. Oder war heute schon gestern? Das fragte sich eine Frau, die immer eine Armbanduhr trug, die in einem ruhigen, klaren Wasser stets sorgsam obenauf getrieben war. Aber diese Frau, ich, hatte ein unerhörter Zipfel Leben erfasst.

Als ich es sagte, geschah nichts, eigentlich. Drei Worte nur, drei kleine schlichte Wörter. Nichts war geschehen, und doch war alles verändert.

»Ich komme mit.«

*

Es gibt Sekunden, die sich ausdehnen können wie das Universum. Man kann die ganze Tiefe und Unermesslichkeit der Welt in diesen Sekunden aufblitzen sehen. Jahrelanges Warten kann erträglicher sein als solche Sekunden, in denen alles auf dem Spiel steht, alles erreichbar scheint, alles verwerfbar. Manche Menschen erleben solche Sekunden nie.

Fünfunddreißig Jahre lang hatte ich zu den Menschen gehört, die solche Sekunden niemals erleben. Wer die Sozialabgaben für Besserverdienende bezahlt, muss solche Sekunden ignorieren können. Es ist fast unmöglich, in die ganze Tiefe und Unermesslichkeit der Welt zu blicken und sich dann abzuwenden und die Einkommenssteuererklärung zu lesen.

Während ich auf seine Antwort wartete, während ich die Antwort ersehnte und fürchtete, verlor ich das Ufer aus dem Blick, und ich geriet in einen Strudel, der das Wasser aufwühlte, in dem ich immer sorgsam obenauf getrieben war, und der meinen Magen aufwühlte. Ich riss meine Hand los und fast den Stuhl um und rannte blindlings dem Schild »Toilette« hinterher und rannte aufs Klo und musste mich übergeben.

Erst hinterher wurde mir klar, dass es die Männertoilette war.

Mit etwas staksigen Schritten kehrte ich zurück zu seinem Tisch, zu einem Tisch, an dem ein Fremder saß, ein Fremder mit sehr kurzem, fast militärisch kurzem dunkelblondem Haar und einer Müdigkeitsblässe unter der Bräune. Mit seinen sehr blauen Augen, an denen mir etwas sehr fremd und doch vertraut vorkam, empfing er mich und ließ er mich nicht los, während ich auf den Tisch zuging, ich, eine müde Frau im rostroten Kostüm, das zerknittert war von der Nacht wie die Haut um ihre Augen.

Die Morgendämmerung schien mir wie aus Glas geblasen, ich fühlte mich gläsern, die Welt schien mir gläsern. War das ich, die im Begriff war, eine fürchterliche Dummheit zu begehen? Wer war das, der mich mit seinem Blick zu sich hinzog und mich dazu gebracht hatte, in drei kleinen Wörtern mein ganzes, geordnetes Dasein aus fünfunddreißig Jahren zu riskieren?

Und was war mit meinem Stolz?

Was, wenn er es ablehnen, wenn er Nein sagen würde oder lachen oder mich an die Vernunft erinnern würde?

Als ich vor dem Tisch ankam, stand er auf, und ich dachte, dass er eine fast furchteinflößende, körperliche Präsenz besaß. Er war so groß, und dabei doch so geschmeidig, und seine Bewegungen strahlten etwas Zupackendes aus, er wirkte wie ein Mann, der ruhig genug war, um den Überblick zu behalten, und energisch genug, um jederzeit für alles eine Lösung zu finden, auch wenn diese Lösung nicht angenehm war.

»Ist schon bezahlt. Ich hab bei El Al angerufen. Du hast einen Platz.«

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Das Flugzeug machte eine leichte, ganz leichte Drehung nach links, und mein Magen drehte sich mit. Daniels Hand schloss sich fest um meine Schulter, als glaubte er, ich litte an Flugangst.

»Die Alpen!«

Ich drückte die Nase ans Guckloch, blaue Berge, blaue Spitzen, ein kleines blaues Nadelkissen. Ich sah die Landschaft unten, und ich sah sie nicht.

Ich musste verrückt geworden sein.

Ich saß in der El-Al-Maschine, Direktflug von Frankfurt zum Ben Gurion International Airport, Ankunftszeit 19:45 Uhr. Ich saß nicht im ICE nach Hamburg. Und ich hatte Andreas nicht angerufen, seit mittlerweile vierundzwanzig Stunden nicht, ein Versäumnis, das ich ihm niemals zugemutet hatte, nicht ein einziges Mal in neuneinhalb Jahren Zusammenleben.

Da es noch nie vorgekommen war, hatte ich keine Ahnung, wie er damit umgehen würde.

Während ich Daniels Blick auswich, sah ich immer wieder diese inneren Bilder, die mir vertrauter waren: Andreas, der sich die von der Sonne gebleichte Haarsträhne aus der Stirn streicht, die ihm immer wieder hineinfällt. Andreas in seinem kleinen Arbeitszimmer, die Tür halb angelehnt, eine halbe Flasche teuren Rotwein neben dem Macintosh-Monitor. Andreas, dessen Stirn zwischen den Augen eine Falte bekommt, wenn er liest. Andreas, der neben mir an der Elbe sitzt und mich bittet, dass wir heiraten.

»Woran denkst du?«, hörte ich Daniel neben mir fragen.

Mein Lächeln beschwichtigte ihn schnell. »Dass ich ein Frühstück vertragen könnte und dass ich die Essenspampe im Flugzeug immer hasse.«

Seine Hand schloss sich noch fester um meine, und wieder spürte ich, wie warm sie war, spürte, wie viel Wärme dieser Mann neben mir ausströmte, und ließ mich davon umhüllen wie von einem Mantel.

Das Flugzeug tauchte in eine Wolkendecke ein, und die Bilder von Andreas verschwanden.

Man brachte uns Kaffee, Orangensaft und Nüsse, und nach einer Weile kam die Stewardess wieder vorbei, um Schokolade an die Kinder und kleine weiße Zettel an einige der Passagiere zu verteilen. Ein flüchtiger Blick in unsere Gesichter, dann ging sie an Daniel und mir vorüber.

Er hob die Hand.

»Slicha«, rief er ihr nach. Aber die Stewardess war schon ein paar Reihen weiter und hörte ihn nicht.

Daniel stöhnte entnervt.

»Der Einreise-Antrag. Du brauchst ihn.«

»Und warum krieg ich ihn dann nicht?«

»Sie dachte, du wärst Israeli.«

Ich schüttelte den Kopf und musste lachen, so absurd schien mir dieser Gedanke.