Die Tote aus dem Geistermoor

Frank Rehfeld

Published by Uksak Sonder-Edition, 2018.

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Die Tote aus dem Geistermoor

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About the Publisher

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Die Tote aus dem Geistermoor

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Romantic-Thriller von Frank Rehfeld

Der Umfang dieses Buchs entspricht 120 Taschenbuchseiten.

Vivian Jackson, Journalistin bei einer Londoner Zeitung, erhält von ihrer Tante Mabel einen Brief, in dem sie sie bittet, sie zu besuchen, da sie nicht mehr lange zu leben habe. Obwohl sie die Schwester ihrer Mutter seit fast fünfzehn Jahre nicht gesehen hat, reist Vivian unverzüglich nach Spencer-Hall in Cornwall. Das riesige Anwesen, das sich abgelegen auf einer Insel befindet, wirkt ziemlich heruntergekommen und die Tante ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Etwas Düsteres scheint auf ihr  zu lasten. Als Vivian in der folgenden Nacht von einem Geräusch geweckt wird, sieht sie eine unheimliche Gestalt in einer schwarzen Kutte durch den Garten geistern ...

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de  

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"Was ist denn heute bloß mit Ihnen los?", wunderte sich Jeoffrey Howard.

Vivian Jackson schrak zusammen und blickte von ihrer Schreibmaschine auf. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, wie Howard hinter sie getreten war.

"Was meinen Sie?", fragte sie verwirrt, obwohl sie die Antwort nur zu gut kannte. Über ihre Schulter hatte der Redaktionsleiter den Teil des Artikels gelesen, den sie gerade zu Papier gebracht hatte. Obwohl sie schon fast eine halbe Stunde für die Seite gebraucht hatte, waren die Sätze mehr als schlecht.

"Das ist Mist", bestätigte Jeoffrey Howard gleich darauf. "So was bin ich von Ihnen überhaupt nicht gewöhnt. Also, was ist mit Ihnen los? So ein Artikel ist doch normalerweise nur eine Routinearbeit für Sie."

Vivian lächelte schmerzlich. Sie arbeitete für eine bedeutende Londoner Zeitung, und obwohl sie die Stelle als Journalistin erst vor wenigen Monaten angetreten hatte, hatte sie sich in dieser Zeit beachtliches Ansehen verschaffen können. Sie war froh, dass bei dieser Arbeit nur ihr Können und nicht ihr hübsches Aussehen bewertet wurde. Hier konnte sie endlich zeigen, was in ihr steckte. Ihre Kolumnen kamen bei den Lesern gut an, und da auch das Betriebsklima in der Redaktion herzlich war, widmete sie sich ihrer Arbeit gewöhnlich mit Herz und Seele.

Heute war das anders. Sie war zerstreut und konnte sich nicht richtig konzentrieren. Dementsprechend schlecht fiel der Artikel aus. Howard hatte das sofort erkannt. Der dickleibige, gemütlich wirkende Mann hatte im Laufe seines fast fünfzigjährigen Lebens eine untrügliche Menschenkenntnis entwickelt. Vivian mochte seine gutmütige, väterliche Art. Er galt als guter Zuhörer, mit dem man über alle Probleme reden konnte. Sie hatte während ihrer gemeinsamen Arbeit im Laufe der letzten Monate Vertrauen zu ihm gefasst.

Es war sinnlos, ihm etwas vorzumachen, und im Grunde war sie froh, ihren Kummer jemandem anvertrauen zu können.

"Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit für mich, Mr. Howard?", bat sie. "Ich würde mich gerne mit Ihnen über etwas unterhalten. Es dauert nicht lange."

Jeoffrey Howard nickte und zog sich einen Stuhl heran. Vivian ließ ihren Blick durch das Großraumbüro schweifen. Es war später Vormittag, und um diese Zeit waren die meisten ihrer Kollegen zu Recherchen unterwegs. Die wenigen Anwesenden klapperten auf ihren Schreibmaschinen und beachteten sie nicht.

"Den Brief habe ich heute bekommen", erklärte sie. Sie zog ein Schreiben aus der Tasche und reichte es dem Redaktionsleiter, der es umständlich auseinanderfaltete und zu lesen begann.

Sie selbst kannte den Inhalt mittlerweile fast auswendig. Der Brief stammte von Mabel Spencer, einer Tante. In einer zitterigen, krakeligen Handschrift, die erkennen ließ, wie viel Mühe ihr das Schreiben bereitet hatte, teilte die Tante ihr mit, dass es ihr gesundheitlich schlecht gehe, und sie wohl nicht mehr lang zu leben hätte. Sie wünschte sich, ihre Nichte noch einmal zu sehen. Deshalb bat sie Vivian, so schnell wie möglich nach Spencer-Hall, ihr Anwesen in Cornwall zu kommen.

"Sie müssen Ihre Tante sehr gern haben, wenn die Nachricht Sie so mitnimmt", sagte Jeoffrey Howard ernst, als er Vivian den Brief zurückgab.

Die junge Journalistin schüttelte den Kopf und steckte den Brief in ihre Handtasche zurück.

"Eben nicht. Das ist ja, was ich nicht verstehe. Ich habe Tante Mabel seit rund fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihr gehört. Sie ist die Schwester meiner Mutter und nach deren Tod habe ich den Kontakt zu meiner Tante verloren. Ich begreife einfach nicht, wieso sie sich jetzt wieder bei mir meldet."

Jeoffrey Howard kratzte sich am Kinn. "Wie alt sind Sie jetzt, Miss Jackson?", wollte er wissen.

"Siebenundzwanzig", antwortete Vivian verblüfft. "Aber was hat das damit ..."

"Sehen Sie, bei Ihrer Jugend können Sie sich schlecht vorstellen, was in alten Leuten vorgeht", unterbrach der Redaktionsleiter sie. "Wenn man alt wird und sein Ende nahen spürt, ändert sich vieles. Dann denkt man viel über sein Leben nach. Ich kann es gut verstehen, wenn Ihre Tante Sie noch einmal sehen möchte. Auch wenn Sie sich lange nicht gesehen haben, sind Sie doch ein Teil von ihrem Leben. Versuchen Sie einmal, sich an die Stelle Ihrer Tante zu versetzen."

Vivian überlegte ein paar Sekunden, dann nickte sie nachdenklich.

"So wird es wohl sein", stimmte sie zu. "Diese unverhoffte Begegnung mit meiner Kindheit hat mich etwas aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich muss dauernd an Tante Mabel denken, deshalb konnte ich mich einfach nicht auf den Artikel konzentrieren."

"Würden Sie denn gerne zu Ihrer Tante hinfahren?"

Wieder überlegte Vivian kurz und nickte dann erneut. "Es wird bestimmt nicht leicht, wenn es ihr wirklich so schlecht geht, aber ich käme mir schäbig vor, sie jetzt allein zu lassen."

"Dann ist ja alles klar. Soweit ich weiß, haben Sie noch keinen Urlaub genommen und außerdem noch eine Reihe von Überstunden zu Buche stehen. Wenn Sie wollen, können Sie gleich morgen fahren. Es täte Ihnen bestimmt auch gut, die Arbeit mal für ein paar Tage zu vergessen."

Howard machte eine kurze Pause. "Vielleicht können Sie bei der Gelegenheit ja auch gleich noch einen Landschaftsbericht über Cornwall schreiben", fügte er dann augenzwinkernd hinzu.

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Der nächste Morgen begrüßte Vivian Jackson mit strahlendem Sonnenschein. Ein leichter Sommerwind sorgte für angenehme Kühlung und verhinderte, dass es allzu heiß wurde. Ein fast ideales Wetter für die Autofahrt nach Cornwall.

Vivian hatte sich alles am vergangenen Abend noch einmal durch den Kopf gehen lassen und den Entschluss gefasst, wirklich zu fahren. Sie hatte Jeoffrey Howard angerufen und ihm diese Entscheidung mitgeteilt. Der Redaktionsleiter stand zu seinem Angebot, dass sie sich sofort eine Woche Urlaub nehmen könnte. Noch in der Nacht hatte sie ihre Koffer gepackt.

Nun war alles in ihrem Auto verstaut. Kritisch musterte sie die Sachen und ging noch einmal durch ihre Wohnung, um zu überprüfen, ob sie auch nichts vergessen hatte. Die Fenster waren geschlossen, alle Elektrogeräte ausgeschaltet, und um die Pflanzen würde sich eine Nachbarin kümmern. Alles war in bester Ordnung. Der Abfahrt stand nichts mehr im Wege.

Die Straßen waren weitgehend frei, sodass sie gut vorankam. Erst in der Gegend von Southhampton geriet sie in einen Stau, der sie eine Weile aufhielt, sodass sie Cornwall erst am frühen Nachmittag erreichte. Eine weitere Stunde dauerte es, bis sie Gorlwingham erreichte, den Ort, der Spencer-Hall am nächsten lag.

Das Haus der Tante war nicht einfach nur ein Anwesen. Spencer-Hall lag auf einer namenlosen Insel vor der Küste. Sie war nicht allzu groß, in einer halben Stunde konnte man bequem von einem Ende der Insel zum anderen gehen. Inmitten des parkähnlichen Gartens lag das mehrflügelige, mit unzähligen Balkonen, vorspringenden Erkern und Türmchen verzierte Gebäude, das fast schon einem kleinen Schloss glich.

Zumindest hatte Vivian es so in Erinnerung. Mit dreizehn Jahren war sie zuletzt auf Spencer-Hall gewesen, und damals hatte sie natürlich alles mit anderen Augen gesehen.

In einem Bogen fuhr sie um Gorlwingham herum. Ein paar Minuten später hatte sie die Küste erreicht. Sie parkte den Wagen und stieg aus. Wie ein endloser goldener Spiegel erstreckte sich das Meer im Licht der Mittagssonne vor ihr. Doch die Sonne schien schon längst nicht mehr so heiß wie noch vor einer halben Stunde. Ein kühler Wind wehte vom Meer her. Er trug nicht nur den Geruch von Tang und Salzwasser mit sich, sondern trieb auch dunkle, bauchige Wolken vor sich her. Es würde sicherlich bald regnen. Vivian warf einen missmutigen Blick zum Himmel, bevor sie sich wieder dem Meer zuwandte.

Inmitten der Wasserfläche, knapp hundert Schritte von der Küste entfernt, lag Spencer-Hall wie eine grüne Oase. Der Anblick verschlug Vivian im ersten Augenblick die Sprache. Die ganze Insel schien ein einziges Pflanzenmeer zu sein. Hinter den Kronen der mächtigen Bäume ragte nur noch das Dach des alten Herrenhauses hervor.

Doch das war nur der erste Eindruck. Als Vivian die Insel genauer betrachtete, fiel ihr auf, in welch schlechtem Zustand sich Spencer-Hall befand. Die Pflanzenpracht war keineswegs auf die geschickte Arbeit eines Gärtners zurückzuführen. In Wirklichkeit war der Garten völlig verwildert.

Der Anblick ernüchterte die Journalistin ein wenig. Der verkommene Garten, den sie als prächtigen Park in Erinnerung hatte, stimmte sie traurig, und erinnerte sie wieder daran, welche unglücklichen Umstände sie herführten.

Genau wie damals gab es auch jetzt einen schmalen Steindamm, der zu der Insel führte. Bei Flut wurde er überschwemmt, und man konnte Spencer-Hall höchstens mit einem Boot erreichen. Jetzt war glücklicherweise gerade Ebbe, und sie konnte mühelos hinübergehen.

Als hätte sich die Natur gegen sie verschworen, fielen in diesem Moment die ersten Regentropfen. Vivian überlegte, ob sie im Wagen warten sollte, bis das Unwetter weitergezogen war, entschied sich aber dagegen. Es handelte sich lediglich um einen leichten und warmen Sommerregen. Sogar die Sonne schien noch, und so machte sie sich auf den Weg. Ihre Koffer ließ sie vorerst im Auto. Sie konnte sie auch später noch holen.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Insel erreicht hatte. Ein schmaler Kiesweg schlängelte sich auf das Herrenhaus zu. Aus der Nähe betrachtet war der Zustand des Gartens noch schlimmer als angenommen. Der Vergleich mit einem Dschungel traf durchaus zu. Mannshohes Unkraut säumte den Weg ein. Nur an ganz wenigen Stellen war durch das Unterholz noch Rasen zu erkennen, ansonsten beherrschten nur Brennnesseln und efeuartige Schlingpflanzen das Bild. Die Kronen der knorrigen, alten Bäume waren im Laufe der Jahre zu einem fast undurchdringlichen Dach zusammengewachsen, das beinahe die ganze Insel überschattete. Es erzeugte auch jetzt, am hellen Tag noch einen Dämmerzustand und sorgte für eine fast unangenehme Kühle.

Abgesehen vom monotonen Prasseln der Regentropfen war es beinahe totenstill. Kaum ein Tropfen drang durch das Blätterdach. Die Baumstämme waren mit Moos überzogen und bis zu einer Höhe von mehreren Metern rankten sich Schlingpflanzen an ihnen hoch. Nur an ganz wenigen Stellen brach das Sonnenlicht zwischen den Blättern durch und warf malerische, helle Flecken auf die Blätter und den Boden. Vivian bedauerte, dass die Pflanzen ihr die Sicht auf die Umgebung nahmen. Bei Regen und Sonnenschein zugleich entwickelte sich meist ein Regenbogen, und den hätte sie sehr gerne gesehen.

Dann zerriss plötzlich ein Donnerschlag die Stille. Als wäre er ein Signal, schoben sich gleichzeitig Wolken vor die Sonne. Das Prasseln der Regentropfen verstärkte sich schlagartig, und immer mehr Tropfen fielen jetzt von den Blättern herab. Sie trafen ihr Gesicht wie kleine, kalte Nadeln. Von der Wärme des Sommertages war hier nichts mehr zu spüren. Stattdessen schien es sich immer mehr abzukühlen. Wahrscheinlich lag es an der Nähe des Meeres. An der Küste konnte das Wetter binnen kürzester Zeit umschlagen, wie Vivian jetzt erlebte. Mit klammen Fingern griff die Feuchtigkeit nach ihr und drang durch ihr luftiges Sommerkleid. Sie beeilte sich jetzt, um das Haus zu erreichen.

Immer wieder musste sich ducken, um sich nicht das Gesicht von tief hängenden Zweigen zerkratzen zu lassen, die sich über den Weg streckten. Kopfschüttelnd schritt sie weiter. Wie konnte man hier nur alles so verkommen lassen?

Das schützende Blätterdach reichte fast bis ganz an das von einem säulengetragenen, steinernen Baldachin überdachte Eingangsportal von Spencer-Hall heran. Die kurze, freie Strecke überwand Vivian in schnellem Lauf.

Sie wischte sich die Regentropfen von den Armen und betätigte den wuchtigen Türklopfer. Dumpf hallte der Laut im Inneren des Gebäudes wider. Sie musste noch zwei weitere Male klopfen, bis man endlich Notiz von ihr nahm. Die Begrüßung fiel allerdings ganz anders aus, als sie sich das vorgestellt hatte.

"Verschwinden Sie, Jameson!", keifte eine brüchige Stimme durch das geschlossene Portal. "Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei. Ich verkaufe Spencer-Hall nicht, also lassen Sie mich endlich in Ruhe!"

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Erschrocken starrte Vivian das Portal an. Für den Augenblick war sie viel zu überrascht, um etwas zu sagen. Es musste sich natürlich um ein Missverständnis handeln, aber dennoch war der Schreck ihr in die Glieder gefahren.

"Hören Sie nicht, Sie sollen mich in Ruhe lassen!", bellte die Stimme erneut, die Vivian erst jetzt als die ihrer Tante erkannte.

Jetzt erst fand sie die Fassung wieder. "Aber ich bin es doch, Tante Mabel", rief sie. "Vivian Jackson."

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Jede Sekunde schien sich zu einer Ewigkeit zu dehnen. Gebannt lauschte die Journalistin auf eine Antwort.

"Bist du das wirklich, Vivian?", fragte die Tante schließlich mit brüchiger Stimme.

"Aber ja doch", antwortete Vivian laut. "Ich habe gestern deinen Brief bekommen und bin heute sofort losgefahren. Aber lass mich erst einmal herein. Es regnet."

Zwar war sie unter dem Vordach einigermaßen geschützt, aber immer wieder trieb der Wind feine Wasserschleier in ihre Richtung, die zumindest ihre Füße trafen. Vivian hörte, wie ein Riegel zurückgezogen wurde, dann schwang das Portal auf.

Obwohl sie sich innerlich darauf vorbereitet hatte, erschrak die Journalistin doch, als sie ihre Tante sah. Bei ihrer letzten Begegnung war Mabel Spencer noch eine rüstige, resolute Frau in der Blüte ihrer Jahre gewesen, die selbst mit Ende vierzig noch um zehn Jahre jünger ausgesehen hatte. Auch jetzt war sie erst knapp über sechzig Jahre alt, aber sie sah bereits aus wie eine uralte Greisin. Zahlreiche Falten, die damals erst ansatzweise zu sehen gewesen waren, hatten sich tief in ihr Gesicht gegraben. Ihr vormals volles blondes Haar war stark gelichtet und fast völlig grau geworden. Die Tante trug es im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. Ihr Rücken war wie unter einer schweren Last gebeugt, und sie musste sich auf einen Stock stützen.

Erschüttert schaute Vivian sie an, bevor sie die alte Frau umarmte und vorsichtig wie eine zerbrechliche Glaspuppe an sich drückte.

Vierzehn Jahre waren eine lange, sehr lange Zeit, die an ihnen beiden nicht spurlos vorübergegangen war. Vivian lächelte schmerzlich, als sie daran dachte, dass sie bei ihrem letzten Besuch auf Spencer-Hall noch ein kleines Kind von gerade dreizehn Jahren gewesen war. Mittlerweile war sie eine stattliche und selbstbewusste junge Frau, die auf eigenen Beinen stand und ihre eigenen Wege ging.

Vierzehn Jahre, in denen sich in ihrem Leben so gut wie alles verändert hatte. Den Speck ihrer Jugendjahre hatte sie längst verloren, und mit manchmal eisernen Diäten hatte sie ihre ideale Figur erreicht. Das blonde Haar trug sie nicht mehr zu Zöpfen mit bunten Schleifchen geflochten, sondern hatte es zu modischen, kurzen Löckchen frisieren lassen. Sie hatte die Schule abgeschlossen, einige Jahre als Sekretärin gejobbt, sich zur Journalistin ausbilden lassen und schließlich ihre geliebte Arbeit bei der Zeitung gefunden.

Doch das waren nur die äußeren Veränderungen. Was wirklich wichtig war, hatte sich in ihrem Inneren abgespielt. Sie hatte es gelernt, sich eine eigene Meinung zu bilden und zu vertreten, und sie hatte den Ernst des Lebens kennengelernt und war dadurch gereift, auch wenn sie dafür ihre jugendliche Unbekümmertheit verloren hatte. Erste Erfahrungen mit der Liebe und viele damit verbundene Enttäuschungen fielen ebenfalls in diese vierzehn Jahre, die zwischen ihr und Spencer-Hall lagen, und zu denen sie jetzt eine Brücke geschlagen hatte.

Alle diese Gedanken durchzuckten Vivian, während sie ihre Tante umarmt hielt. Mit einem Mal schienen alle diese Veränderungen wie von einer unsichtbaren Hand hinweggewischt. Sie fühlte sich wieder als das dreizehnjährige Kind, das sie damals gewesen war, als wäre die Uhr ihres Lebens für ein paar Augenblicke zurückgedreht worden.

"Vivian", flüsterte Tante Mabel mit erstickter Stimme. Tränen schimmerten in ihren Augen und rannen über ihre Wangen, als sie sich nach einer Weile aus dem Griff ihrer Nichte löste. "Kind, dass du wirklich gekommen bist ..."

"Das musste ich einfach. Jetzt wünschte ich, ich hätte es schon viel früher gemacht." Vivian musste schlucken, um den Kloß loszuwerden, der mit einem Mal in ihrem Hals saß. Auch sie spürte ein Brennen in den Augen. Verlegen knetete sie ihre Hände.

"Ich freue mich ja so, dass ich es gar nicht sagen kann. Komm, gehen wir erst einmal hinein."