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Ashley Carrington

Éanna

Wildes Herz

Roman

hockebooks

21. Kapitel

Es war spürbar kälter geworden, als sie in die Nähe von Carlow kamen. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der frostkalten Luft, und Éanna sah, dass Brendan ohne wärmenden Mantel und Schal bitterlich fror.

Das Weihnachtsfest stand vor der Tür, aber von festlicher Stimmung konnte keine Rede sein. Kurz vor der Stadt stießen sie auf Soldaten, die ihnen entgegenritten. Augenblicklich beeilten sie sich, dass sie von der Landstraße kamen und Schutz hinter einem großen Weidenbaum suchten.

»Heiliges Kanonenrohr!«, rief Brendan mit einer Mischung aus Staunen und tiefem Groll. »Sieh dir das nur an! Das ist ja eine richtige Wagenkolonne, die da aus der Stadt kommt! Das müssen ja mindestens fünfzehn, sechzehn schwere Fuhrwerke sein! Und hast du schon einmal so viele Soldaten als Eskorte auf einmal gesehen? Ich jedenfalls nicht!«

»Ich auch nicht«, erwiderte Éanna. »Das kann dann nur ein Getreidetransport sein, wenn die Wagen unter so schwerer Bewachung stehen!«

»Das sind Dragoner vom Regiment der Scots Greys«, stellte Brendan fest, als der lange Bandwurm aus fast zwanzig hoch beladenen Fuhrwerken und einer Eskorte von mindestens vierzig, fünfzig schwer bewaffneten Soldaten näher rückte.

Eine Vorhut von zwei Scots Greys ritt dem Transport etwa fünfzig Yard voraus. Ihre Aufgabe bestand zweifellos darin, das Gelände vor der Kolonne beidseitig der Landstraße im Blick zu behalten und nach Hinweisen zu suchen, ob sich irgendwo eine Menge hungernder Bauern zusammenrottete, um über die Getreidewagen herzufallen.

Die Dragoner saßen auf prächtigen grauen Pferden. Scharlachrote Umhänge reichten den Männern von den Schultern bis über die Knie und bedeckten die Rücken ihrer Tiere.

Die Scots Greys trugen Gewehre mit aufgesetzten Bajonetten und an der Seite lange Säbel, die von ihren breiten Gürteln bis zu den Füßen herabhingen. An den hohen Stiefeln trugen sie blank polierte, bedrohlich aussehende Sporen.

Hinter der Vorhut folgte vor den ersten Fuhrwerken ein zehnköpfiger Zug Infanteriesoldaten mit gezückten Säbeln sowie zwei Konstabler. Nach jeweils vier Wagen kam ein weiterer Trupp Fußsoldaten. Die Flanken des Transports wurden von berittenen Scots Greys gesichert. Das Ende der Kolonne bildeten noch einmal zehn Infanteristen sowie eine Nachhut aus vier Dragonern, die wie die Vorhut einen Abstand von gut fünfzig Yard einhielt, um den Rücken des langen Zuges zu sichern. Begleitet wurde der Vorbeimarsch von dem Geschrei der Kutscher auf den Fuhrwerken, die dabei ihre Peitschen über den Köpfen der Zugtiere knallen ließen.

»So weit ist es also schon gekommen, dass eine ganze Kompanie bis an die Zähne bewaffneter Soldaten nötig ist, um eine Ladung Mehl oder Getreide zu bewachen«, sagte Brendan düster, als die Kolonne an ihnen vorbeigezogen war und sie wieder auf die Landstraße zurückkehrten.

»Wie du schon mehrfach gesagt hast, es sind eben rosige Zeiten in Irland angebrochen«, erwiderte Éanna sarkastisch.

»Ja, wir freuen uns darüber noch zu Tode, wenn es so weitergeht«, knurrte Brendan düster.

Dass die starke Bewachung des Transports keine übertriebene Schutzmaßnahme war, sahen sie, als sie endlich in Carlow eintrafen. In der kleinen Stadt, die an den Ufern des Bourne lag, drängte sich das hungernde Landvolk durch die Straßen. In Carlow endete die Eisenbahnlinie der Irish South Western, die von Dublin ins Hinterland führte. Dementsprechend viele Reisende, überwiegend Geschäftsleute, stiegen hier aus den Zügen. Auch trafen ständig Kutschen ein, um Reisende abzuholen oder zu den abfahrenden Zügen zu bringen. Denn so groß die Not der einfachen Kleinpächter auf dem Land auch sein mochte, so boten sich für Kaufleute, Händler und Agenten doch noch immer zahlreiche Möglichkeiten, von diesem Elend zu profitieren und gerade dank der Hungersnot blendende Geschäfte zu machen.

Es herrschte ein unglaubliches Kommen und Gehen und Gewimmel, und die Menge an Bettlern rund um den großen Bahnhofsvorplatz war unüberschaubar. Ein jeder hoffte darauf, den wohlbetuchten Ankommenden oder Abreisenden ein Almosen entlocken zu können. Die Kutschen wurden sogleich von Dutzenden Elendsgestalten umringt, kaum dass sie zum Stehen gekommen war. Jeder versuchte, den anderen mit seinen inständigen Bitten zu übertönen und sich nach vorn zu drängen.

»Es wird für Euer Ehren ein glücklicher Tag werden, wenn Ihr mir ein kleines Handgeld gebt!«

»Ihr seid ein Gentleman, das kann jeder sehen! Ihr werdet Euer Herz nicht vor meinem Elend und dem meiner hungernden Kleinen verschließen!«

»Ein Penny! Nur ein Penny, Euer Ehren! Gott wird Euch für Eure Großherzigkeit segnen!«

Es war ein entsetzliches Schauspiel, das sich ihren Augen bot. Und obwohl Brendan und Éanna schon oft genug Zeuge derartig beklemmender Selbsterniedrigungen geworden waren, hatten diese Szenen doch nichts von ihrer erschütternden Wirkung verloren.

Denn viele der Männer und Frauen beschränkten sich nicht nur auf flehendliches Betteln, sondern zerrten dabei auch noch ihre Lumpen zur Seite, um ihre offenen Geschwüre und andere Wunden zu entblößen. Dadurch hofften sie, sich gegenüber den anderen Bettlern einen Vorteil zu verschaffen.

»Diese Bilder müssten Königin Victoria und die Herrn Minister in London sehen! Vielleicht würden sie es sich dann noch einmal überlegen, weiterhin vom Ende der Hungersnot zu sprechen!«, murmelte Brendan und ballte die Fäuste in ohnmächtigem Zorn.

»Sie werden das wahre Elend unseres Landes niemals zu Gesicht bekommen, weil sie es überhaupt nicht sehen wollen«, sagte Éanna. »Aber schon darüber zu reden, ist sinnlos. Lass uns lieber nach dem nächsten Pfandleiher und dann nach der Suppenküche Ausschau halten.«

Sie brauchten nicht lange nach einem Pfandleiher zu suchen. In einer nahen Seitenstraße stießen sie gleich auf drei solche Läden, in denen sie die Angebote und Preise vergleichen konnten.

Die Pfandleihen quollen nur so über von all den Sachen, die von ihren einstigen Besitzern nach und nach versetzt worden waren, um dem Hunger noch einmal für eine Woche oder auch nur für einen Tag zu entkommen. Vom Boden bis unter die Decke stapelten sich Kessel, Pfannen, Krüge, Spiegel, Waschbretter, Nachtgeschirr und was sonst noch zum Hausrat gehörte. Andere Fächer waren mit allen nur möglichen Werkzeugen sowie Scheren und Messern vollgestopft. Dazu kamen hohe Stapel mit Decken, Tüchern und Bettzeug. Alles, was die Kleinpächter auch nur für ein paar Pence hatten versetzen können, hatte seinen Weg in diese Geschäfte gefunden.

Verbissen feilschten Éanna und Brendan mit den Pfandleihern. Erst der dritte erklärte sich unter großem Lamentieren bereit, Mantel und Schal zu dem von ihnen angebotenen Preis abzugeben, obwohl dieser Kaufpreis ihn angeblich um jeden Profit brächte.

Éanna wusste es besser. »Wenn wir Euch draußen auf dem Bahnhofsplatz mit einer Bettelschale antreffen, werden wir vielleicht anfangen, Euch Glauben zu schenken!«, sagte sie bissig und nahm die sechs Pence entgegen, die ihnen nach dem Einkauf von Mantel und Schal für Brendan noch blieben.

Aber letztlich überwog doch die Freude, dass es gelungen war, mit dem Geld von Patrick O’Brien einen warmen Wollmantel sowie einen dicken Schal für Brendan zu erstehen. Und sie wollte besser nicht an die Armen denken, die in ihrer großen Not diese Sachen hatten versetzen müssen.

»Danke, dass du das für mich getan hast, Éanna«, sagte Brendan, als sie wieder auf der Straße standen und er sich den Schal um den Hals wickelte. »Die meisten hätten an deiner Stelle das Geld für sich behalten und gemacht, dass sie damit davonkommen. Ist ja auch keinem zu verdenken.«

»Erstens bin ich Éanna Sullivan und nicht ›die meisten‹. Und zweitens besteht wirklich kein Grund, dass du so einen Wind darum machst«, wehrte sie schnell ab. »Du hast schließlich deinen Mantel geopfert, um uns beiden zur Flucht zu verhelfen. Und mehr ist dazu auch nicht zu sagen.«

Carlow war nicht nur Endpunkt der Eisenbahnstrecke aus Dublin und eine bedeutende Garnisonsstadt, sondern sie gehörte auch zu den Hochburgen besonders bekehrungssüchtiger Protestanten im Land. Das merkten sie sehr schnell, als sie deren Suppenküche fanden und sich in die wartende Menge einreihten.

So wie Éanna es schon bei den wiedergeborenen Freunden Jesu in Ballinasloe erlebt hatte, so rechthaberisch eifernd und demütigend wurden sie auch von den lutherischen Wohltätern in Carlow behandelt. Auch sie untersagten das Sich-Bekreuzigen vor dem Essen und jegliche Anrufung der Muttergottes und der Heiligen. Sie griffen auch nicht weniger streng und unerbittlich durch als ihre Glaubensbrüder in Ballinasloe. Sowie sie jemanden ertappten, der ihren Anweisungen zuwiderhandelte, musste dieser seinen Platz an den Tischen räumen und den Schuppen der Suppenküche verlassen, ganz gleich, wie elend er auch aussah.

»Da können wir ja von Glück reden, dass heute nicht Freitag ist«, raunte Éanna mit mühsam beherrschtem Zorn, als sie nach zwei Stunden des Wartens mit dem nächsten Schwung Hungerleider eingelassen wurden. »Denn dann hätten sie uns ganz bewusst irgendwelche Fleischreste in die Suppe gemischt, nur um uns zu demütigen!«

»Ich glaube nicht, dass Gott so kleinkrämerisch ist und sich mit solchen lächerlichen Nichtigkeiten beschäftigt, während wir Iren vor Hunger wie die Fliegen krepieren«, sagte Brendan nachdenklich, während sie an den Tischen entlanggingen und zu den anderen aufschlossen, die vor ihnen die Bänke füllten. »Er wird schon wissen, dass ich keine andere Wahl und jeden Löffel Essen bitter nötig habe.«

Éanna ließ den Blick quer durch das große Brettergebäude schweifen, das früher als Lagerhalle genutzt worden war. Wie viele doch in diesen Suppenküchen Zuflucht suchen müssen, dachte sie angesichts der Menschenmenge.

Plötzlich blieb ihr Blick am Ausgang auf der anderen Seite hängen. Dort verließen gerade die Hungergestalten, die vor ihnen abgespeist worden waren, den lang gestreckten Schuppen.

Éanna kniff die Augen zusammen. Ein Mädchen in der Menge kam ihr bekannt vor, obwohl sie ihr nur den Rücken zudrehte. Sie reckte sich, um besser sehen zu können. Das Mädchen blickte sich halb um, und Éanna presste sich die Hand auf die Lippen. Das da vorn war Emily!

»Emily!«, rief Éanna ungeachtet des Lärms um sie herum. Sie war außer sich vor Freude, endlich auf ihre verschollene Freundin gestoßen zu sein! Doch im gleichen Moment verschwand das Mädchen schon aus der Tür und damit aus ihrem Blickfeld.

Brendan, der vor ihr ging, drehte sich zu ihr um und warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Da drüben ist Emily Farrell gewesen, von der ich dir erzählt habe!«, rief Éanna ihm aufgeregt zu.

»Wo?« Verwirrt blickte Brendan in die Richtung, in die Éanna deutete.

»Sie war bei denen, die vor uns ihre Suppe bekommen haben, und ist gerade durch die Hintertür hinaus! Ich muss sie unbedingt einholen!«

Éanna wollte sofort hinüber auf die andere Seite, um Emily nachzulaufen. Aber eine der beiden weiblichen Aufpasser, unter deren steifen Hauben die verhärmten Gesichter alter Jungfern saßen, trat ihr in den Weg. »Bleib gefälligst in deiner Reihe und setz dich an den Tisch, der dir zugewiesen wurde! Hier gibt es keine Sonderplätze!«, herrschte sie Éanna an.

»Aber ich will doch nur …«

Weiter kam sie nicht. »Kannst du nicht hören? Zurück in deine Reihe!«, schnitt ihr die andere grob das Wort ab. »Oder du kannst sehen, woher du eine warme Mahlzeit bekommst!«

Brendan ergriff ihren Arm und zog sie von ihnen weg. »Zu spät, Éanna. Da kommst du jetzt nicht durch. Und es bringt auch nichts, wenn du versuchst, dich gegen den Strom zurück zum Eingang durchzukämpfen«, sagte er, während die Menge der Hungernden hinter ihnen nachdrängte. »Bist du dir denn sicher, dass es Emily war?«

Éanna sah ihn verzweifelt an. Noch wenige Augenblicke zuvor war sie felsenfest davon überzeugt gewesen, die Freundin erkannt zu haben. Doch jetzt fragte sie sich, ob es vielleicht nur die eigene Hoffnung gewesen war, die ihr das Bild vorgegaukelt hatte. Sicher – falls sie noch am Leben war, erschien es Éanna nicht unwahrscheinlich, dass sich Emily in Carlow befand.

Die Hungernden Irlands schlugen nur allzu oft dieselben Wege ein – es zog sie in die gleichen Städte. Dass Éanna und Brendan sich wiedergetroffen hatten, war kein so großer Zufall gewesen, wie er es immer behauptet hatte. Aber je länger sie darüber nachdachte, desto unähnlicher wurde das Mädchen am Ausgang der wahren Emily. Es musste also doch nur Wunschdenken gewesen sein.

Bitter enttäuscht sank Éanna vor einem angeketteten Blechteller mit angekettetem Blechlöffel neben ihm auf die Bank.

»Wir gehen sie suchen«, versprach Brendan. »Gleich nach dem Essen gehen wir sie suchen.«

»Es wäre so schön«, murmelte Éanna niedergeschlagen. »Du würdest Emily bestimmt mögen!«

»Ich mag dich, Éanna«, sagte er und schenkte ihr einen Blick, der ihr unter die Haut ging. »Und das reicht mir.«

Sie errötete. »Und ich dich«, gab sie leise zurück und schlug schnell den Blick nieder. Ihr war, als stände ihr Gesicht lichterloh in Flammen, so brannten ihr die Wangen. Sie war froh, dass um sie herum ein so lautes Gerede und Geklapper herrschte und dass schon wenig später das Essen ausgeteilt wurde. Denn sie wusste nicht, was sie von diesen verwirrend neuen Gefühlen halten und wie sie mit ihnen umgehen sollte. Das, was sie für Brendan empfand, hatte bislang noch kein anderer Mensch in ihr geweckt.

Nach dem Essen machten sie sich auf die Suche nach Éannas früherer Gefährtin, aber sie fanden keine Spur von ihr in der Stadt, und Éanna musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass sie ein Opfer ihrer eigenen Täuschung geworden war.

Von ihrem restlichen Geld kauften sie Haferflocken und Brot, und so verließen sie Carlow, um sich abermals in den Hügeln und Wäldern einen Lagerplatz zu suchen.

Es war bitterkalt, als sie sich zum Schlafen hinlegten, und Éanna dankte Gott, dass sie gerade im richtigen Moment den Mantel hatten kaufen können, der nicht nur Brendan den Tag über wärmen konnte, sondern ihnen beiden noch zusätzlich eine dicke Schlafdecke bot.

In der Nacht begann es zu schneien. Als sie am nächsten Morgen vor die alte Scheune traten, in der sie Zuflucht gefunden hatten, sah das Land völlig verändert aus. Der Schneefall musste schon vor Stunden eingesetzt haben. Eine dicke weiße und scheinbar endlos weite Decke lag über dem Land und schien jeden Laut zu ersticken. Im Laufe des Tages verwandelte sich der stete Schneefall in wildes Schneetreiben, in dem man kaum noch die eigene Hand vor Augen sah. Und während sie sich mühsam durch das Unwetter vorankämpften, ahnten sie nicht, dass es ausgerechnet der Schnee sein sollte, der ihnen das schlimmste Unglück bringen würde.

22. Kapitel

Der Winter war mit Macht über Irland hergefallen und sollte das Land so schnell nicht wieder freigeben.

Es hatte Éanna und Brendan in die zerklüfteten Wicklow Mountains, etwa dreißig Meilen südlich von Dublin, verschlagen. In der Abgeschiedenheit der Wälder verstrichen die schneereichen Tage und eisigen Nächte. Das Weihnachtsfest kam und ging, doch es war ihnen noch nicht einmal bewusst. Zu groß war ihre Not.

Sie versuchten es abermals mit Wildern, aber die Bäche waren schnell zugefroren, und die Ausbeute an Fischen fiel immer kläglicher aus. Schlingen im Wald auszulegen, wagten sie nicht. Deshalb sahen sie sich schließlich gezwungen, sich wieder auf den Weg zu größeren Ortschaften zu machen, wo es Suppenküchen gab.

Es schneite noch immer, als sie an jenem verhängnisvollen Nachmittag aus den Wäldern auf der Südwestseite des Table Mountain kamen. Sie suchten nach der Landstraße, die sie nach Donard bringen würde. Im grauen Licht des Schneegestöbers verlor die in eisigem Schweigen erstarrte Landschaft alle scharfen Konturen. Alles schien in dem lautlos wirbelnden Weiß der Schneeflocken miteinander zu verschwimmen und sich darin aufzulösen.

Plötzlich blieb Brendan stehen. Sie hatten das sich weitende Ende eines Seitentals erreicht. Er wischte sich den Schnee aus dem Gesicht und sah Éanna an. Sein krauses Haar lugte nass und schwer unter dem Schal hervor, den er sich um den Kopf geschlungen hatte. Er holte tief Luft. »Éanna, du hast recht gehabt«, sagte er. »So kann es nicht weitergehen. Wir haben keine andere Wahl, wir müssen nach Dublin gehen.«

Éanna war so erschöpft, dass sie nicht einmal über seinen plötzlichen Stimmungswandel wunderte. Sie nickte nur.

»Jetzt im Winter kann uns das Land nicht genug Schutz bieten«, fuhr Brendan fort. »Auch wenn wir immer mal wieder ein Scalpeen oder eine verlassene Kate als Schlafplatz finden – es hilft doch nichts, wenn wir dort jämmerlich erfrieren.« Er sah sich um. »Es ist nicht mehr weit zur Landstraße nach Donard. Von dort aus können wir Dublin in drei bis vier Tagesreisen erreichen. Vielleicht gehören wir ja doch zu den Glücklichen, die in der Stadt Arbeit finden.« Er straffte die Schultern. »Wundern würde es mich nicht. Seit ich dich kenne, bin ich schließlich ein echter Glückspilz!«

»Ich hab nicht das Gefühl, dass ich irgendjemandem Glück bringe«, gab Éanna niedergeschlagen zurück. »Aber du hast recht. Wir müssen es versuchen. Alles ist besser als das hier.«

Sie setzte sich wieder in Bewegung und stapfte mit gesenktem Kopf durch den Schnee. Die Erschöpfung umfing sie wie ein dumpfer Schmerz, der ihren Körper von Kopf bis Fuß erfasst hatte. Jeder Schritt fiel ihr so schwer, als klebten schwere Lehmbrocken an ihren Schuhen, und es gelang ihr nicht so recht, sich über ihren Entschluss zu freuen. Was machte es für einen Unterschied, wo sie hingingen? Es würde sie doch überall nur das gleiche Elend erwarten.

»Vielleicht kann ich in Dublin Arbeit beim Eisenbahnbau finden oder als Schlepper in den Hafendocks?«, sagte Brendan träumerisch. »Ich habe mal gehört, die zahlen dort richtig gut.«

Éanna wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass Brendan tatsächlich eine solche Arbeit fand. Er selbst hatte das noch vor wenigen Wochen gesagt. Doch sollte sie ihm wirklich die Hoffnung nehmen? Er versuchte doch nur, nach vorn zu sehen! Wie konnte sie seinen unerschütterlichen Optimismus zerstören? Wenn es keine Hoffnung mehr gab, hätten sie auch keinen Grund mehr, um jeden Preis am Leben zu bleiben.

Sie dachte an Catherine, und plötzlich erschien ihr der schneegraue Nachmittag nicht mehr ganz so trüb wie wenige Augenblicke zuvor. Ja, sie würde das Versprechen an ihre Mutter einlösen, und wer wusste es schon – vielleicht war Catherine weitsichtiger gewesen, als Brendan und sie es jemals geahnt hatten?

»Wo ist diese Landstraße?«, fragte sie mit fester Stimme und tauschte einen Blick mit Brendan. Ihre Augen sprachen eine eigene Sprache, und sie spürte, dass er sie nur zu gut verstanden hatte. Er lächelte ihr zu, bevor er sich abwandte und angestrengt über das weite vor ihnen liegende Gelände starrte. Der dichte Schneefall hatte zwar etwas nachgelassen, aber die Sicht blieb dennoch schlecht. Was sich vor ihnen erstreckte, sah nach einem großen Feld oder einer Weidefläche aus. Erhöhungen waren jedenfalls nicht auszumachen – bis auf eine lange dunkle Linie in gut zweihundert, dreihundert Schritten Entfernung schräg rechts vor ihnen.

»Ich glaube, dahinten liegt sie«, sagte Éanna plötzlich und streckte ihren Finger aus. »Siehst du dort drüben den langen grauschwarzen Streifen? Das könnte eine Feldmauer sein!«

»Wahrscheinlich führt die Straße dort direkt an der Umfriedung entlang!«, führte Brendan ihren Gedanken zu Ende.

Rasch setzten sie sich in Bewegung. Éanna wandte sich nach links, um den kürzesten Weg durch das Feld hinüber zur Mauer zu nehmen.

»He, lauf mir nicht weg!«, rief Brendan ihr scherzhaft hinterher. Er war ein Stück zurückgeblieben, weil sein Schuhriemen sich gelöst hatte. »Oder willst du mich vielleicht loswerden und dich auf eigene Faust nach Dublin durchschlagen? Wahrscheinlich bist du es, die dort das große Glück macht! Am Ende wanderst du noch nach Amerika aus!«

Éanna blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Sie mochte noch so müde sein, Brendan schaffte es jedes Mal, sie zum Lachen zu bringen!

»Sag bloß, du traust mir das nicht zu?« Sie strahlte ihn an. »Aber vielleicht – vielleicht will ich viel lieber mit dir zusammen das große Glück machen?« Sie breitete die Arme aus. »Erst geht es nach Dublin, wo wir einen Haufen Geld verdienen werden. Und dann …« Sie streckte sich auf die Zehenspitzen und wirbelte einmal um die eigene Achse. »Amerika!«, rief sie aus. »Wir kommen!«

»Vorsicht, Éanna!« Brendans erschrockener Aufschrei ließ sie innehalten, doch dann spürte sie auch schon selbst, wie sie wegrutschte. Es knirschte bedrohlich unter ihren Schuhen – ein Klang wie splitterndes Glas, gedämpft von der Schneedecke. Eine Schrecksekunde später folgte dem Knirschen ein lautes, berstendes Geräusch. Augenblicklich gab der trügerisch feste Boden unter ihr nach. Eiskaltes Wasser schoss aus dem Schnee hoch und umspülte ihren Fuß.

Eis!, schoss es ihr mit jähem Entsetzen durch den Kopf. Sie musste auf einen Fluss oder einen See geraten sein, dessen Oberfläche zugefroren war, aber noch keine genügend dicke Eisdecke besaß, um sie zu tragen.

»Bleib, wo du bist! Hier ist Wasser unter der Schneedecke!«, rief sie, riss ihren Fuß aus dem Eisloch und wollte sich in Sicherheit bringen.

Doch sie kam nicht einmal einen Schritt weit. Denn die Risse im Eis weiteten sich blitzschnell unter ihrem Gewicht und ließen die dünne Decke in zahllose einzelne Stücke zerspringen. Dort, wo sie ihren Fuß aufgesetzt hatte, sackten Schnee und Eis unter ihr weg.

Mit einem schrillen Aufschrei, in dem nackte Todesangst lag, verlor Éanna das Gleichgewicht. Sie stürzte mit ausgebreiteten Armen nach vorn. Vergeblich suchte sie nach Halt, und in Sekundenschnelle war sie bis über die Hüften im Wasser versunken. Die Kälte schien ihr wie mit Messern in Beine, Unterleib und Brustkorb zu stechen und raubte ihr im ersten Schreckmoment den Atem. Fast glaubte sie schon, vollends zu versinken, da stießen ihre Füße in der eisigen Tiefe plötzlich auf festen Untergrund.

Brendan hatte sich flach auf den Schnee geworfen.

»Rühr dich nicht von der Stelle!«, rief er und robbte auf sie zu. Dabei zerrte er sich den Beutel von der Schulter und warf ihn ihr mit ausgestrecktem Arm zu, ohne ihn selbst jedoch loszulassen. »Halte dich am Lederriemen fest! Kannst du stehen?«

»Ja!« Éanna konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Diese Kälte – sie tat so weh –, bei Gott, sie tat so fürchterlich weh!

»Bleib ganz ruhig!«, rief er ihr beschwörend zu. »Und verlier um Himmels willen nicht deine Schuhe! Du musst ganz langsam einen Schritt vor den anderen machen, hörst du, Éanna?«

Zitternd ergriff sie den abgewetzten Lederriemen. Das eisige Wasser schwappte ihr bis an die Brust.

»Los!«, befahl er und fing an zu ziehen.

Éanna setzte sich in Bewegung, aber sie kam nicht weit. »Ich kann nicht«, weinte sie, als sie spürte, wie ihre Schuhe im Schlamm stecken blieben und sie festhielten.

»Éanna Sullivan«, sagte Brendan, und seine Stimme wurde streng vor Sorge. »Und wie du kannst! Glaub mir.«

Éanna holte tief Luft und sah nach vorn. Er hatte recht. Einen Fuß setzte sie vor den anderen, langsam und vorsichtig, und schließlich erreichte sie das Ufer.

Hastig streckte Brendan beide Arme aus und zog sie auf den sicheren Boden. Dort kauerte sie triefnass, und ihr kam es so vor, als müsste sie jeden Moment zu einem Eisblock gefrieren.

»Komm hoch«, herrschte er sie an. »Du darfst jetzt hier nicht im Schnee sitzen bleiben! Du musst dich bewegen, Éanna! Wir müssen so schnell wie möglich irgendwo einen Unterschlupffinden und ein Feuer machen, sonst …« Brendan brach ab, zerrte sie auf die Beine und hängte sich hastig den Beutel über.

Éanna konnte ihm nicht antworten. Sie zitterte wie Espenlaub, und ihre Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander.

»Wir müssen zurück«, stieß Brendan hervor, legte sich ihren rechten Arm um die Schulter, damit sie sich auf ihn stützen konnte. Unablässig redete er auf sie ein, während er sie auf den Weg führte, den sie gekommen waren.

»Wir sind doch vorhin an einem verlassenen Unterstand vorbeigekommen. Dort sind wir ganz gut vor dem Wetter geschützt, und ich kann ein Feuer machen. Nur den Hang hinauf, dann sind wir schon da. Du darfst jetzt nicht schlappmachen, hörst du? Mein Gott, du hast doch schon viel Schlimmeres durchgestanden. Komm, beiß die Zähne zusammen, wir haben es gleich geschafft.« Seine Stimme bekam etwas Flehendes, doch Éanna nahm es gar nicht mehr richtig wahr.

Bei dem Unterstand, zu dem Brendan Éanna mehr trug als führte, handelte es sich um einen halb offenen Wetterschutz für Schafe oder Rinder. Er schmiegte sich am Waldrand in eine Lücke zwischen den vorderen Baumreihen und war groß genug, um einer Herde von mehreren Dutzend Schafen Unterschlupf vor Wind und Wetter zu bieten.

»Du musst die nassen Sachen ausziehen!«, forderte Brendan sie auf, sowie sie den Unterstand erreicht hatten. »Tut mir leid, aber ich kann dir das nicht ersparen. Wir müssen sie am Feuer trocknen, sonst holst du dir den Tod!«

»Alles?«, stieß sie zitternd hervor.

»Ja, alles! Nun mach schon! jetzt ist nicht die Zeit, sich zu zieren. Und dann wickelst du dich in meinen Mantel, bis deine Sachen wieder trocken sind! Beeil dich!«, drängte er sie. Er zerrte seinen Umhang von den Schultern und legte ihn für sie auf dem Boden bereit. »Ich hole inzwischen Holz und mache ein Feuer!«

Éanna wusste, dass Brendan recht hatte. Sie musste unbedingt ihre durchnässte Kleidung vom Körper bekommen, doch ihre Finger waren fast taub vor Kälte. Sie hatte Mühe, das Zittern so weit unter Kontrolle zu bringen, damit sie die Knöpfe ihres Kleides öffnen und sich die klatschnassen Sachen vom Leib zerren konnte. Endlich hatte sie es geschafft. Sie wickelte sich in Brendans Mantel und sank erschöpft in sich zusammen.

Brendan hatte indessen mehrere Arme voll Unterholz im Wald zusammengetragen und zum Unterstand gebracht. Nun riss er einige Fäden aus dem Ende seines Schals, presste sie zu einem kleinen, aber nicht allzu dichten Ball zusammen, holte Feuerstein und Schlagstahl aus dem Beutel und setzte die Stofffäden in Brand. Sowie die ersten Flammen aufzüngelten, nährte er sie mit kleinen Zweigen. Nach und nach wurde das Feuer kräftiger, sodass er es wagen konnte, dicke Äste aufzuschichten.

»Setz dich so nahe wie möglich an das Feuer!«, trug er ihr auf. »Ich bin gleich wieder zurück. Ich hole nur noch mehr Holz aus dem Wald.«

Im Laufe der nächsten Stunde schleppte er einen wahren Berg von Zweigen und Unterholz aus dem Wald heran. Er brach auch mehrere größere Äste von den Bäumen, die er auf der anderen Seite des Feuers aufstellte und ineinander verschränkte, damit sie nicht umfielen. Darüber hing er Éannas nasse Kleider. Doch es würde lange dauern, bis ihr Kleid und vor allem der dicke Wollumhang wieder trocken waren.

»Warum …. habe ich das…. bloß nicht gesehen, dass da … ein Teich war«, stammelte Éanna vor Kälte. Das Zittern wollte einfach nicht aufhören. So hoch das Feuer auch aufloderte, vermochte es sie doch nur von einer Seite zu wärmen. Während ihr vorn die Hitze fast die Hände versengte, kroch ihr hinten die Kälte den Rücken hoch. »Jetzt habe ich … uns um die Suppe in Donard … und dich um deinen Mantel gebracht!«

»Red doch nicht! Du hast dir nichts vorzuwerfen«, sagte er energisch. »Ich habe doch auch nichts gesehen. Wie denn auch? Bei dem Schneetreiben!«

Éanna nickte mit Tränen in den Augen und bemühte sich verzweifelt, die Lippen zusammenzupressen, damit ihre Zähne nicht allzu laut klapperten.

Brendan warf ihr einen Blick zu und erhob sich. Er legte reichlich Holz nach und kauerte sich dann neben sie auf den Boden.

»Éanna, hör mir zu«, sagte er eindringlich. »Wenn du dich mit dem Umhang zudeckst, wärme ich dich von hinten. Das wird dir bestimmt helfen.«

Éanna dachte nicht daran, dass sie unter dem Umhang nackt war. Sie zog den Mantel nach vorn und deckte sich damit zu. Im nächsten Moment spürte sie, wie Brendan sich dicht an sie schmiegte. Seine Hände legten sich von hinten fest um ihren Oberkörper.

»Du wirst sehen, es wird alles wieder gut«, versicherte er und strich beruhigend über ihre Hände. »Bald werden deine Sachen wieder trocken sein. Und ich werde auch dafür sorgen, dass das Feuer nicht ausgeht. Morgen lachen wir über das Ganze und machen uns auf den Weg nach Dublin.«

Doch Brendan irrte.

Schon in der Nacht überfiel Éanna Schüttelfrost, obwohl sie längst wieder ihre mühsam getrockneten Kleider trug und sich mit Brendan so nahe wie möglich am Feuer eingerollt hatte. Am Morgen hatte sie Fieber.

Brendan versuchte erst gar nicht, sie mit sich zu schleppen. Wie weit Donard genau entfernt lag, wusste er nicht. Und sie mit ihrem Fieber stundenlang ungeschützt der Kälte auszusetzen, wagte er erst recht nicht. Das würde ihr den Tod bringen. Im Unterstand war sie am besten aufgehoben.

»Hör zu, Éanna«, sagte er nach kurzem Überlegen und kniete sich zu ihr. »Du bleibst hier beim Feuer und schonst deine Kräfte. Ich trage so viel Holz zusammen, dass du genug zum Nachlegen hast.«

»Lass mich nicht allein zurück«, flehte sie ihn an und hielt seine Hand fest. »Gib mir nur noch ein paar Stunden, dann geht es mir vielleicht schon besser, und dann … dann können wir zusammen weiterziehen.«

»So schnell wird es dir nicht besser gehen, wenn du nicht bald etwas in den Magen bekommst, Éanna«, erwiderte er und strich ihr mit der anderen Hand zärtlich über die Wange. »Und sei ganz beruhigt: Ich lasse dich nicht zurück! Niemals! Das verspreche ich dir. Aber ich muss unbedingt etwas zu essen organisieren, sonst kommst du nicht wieder auf die Beine. Sowie ich Brot oder irgendetwas anderes aufgetrieben habe, bin ich wieder da. Also sei vernünftig, und tu, was ich dir gesagt habe.«

Sanft entzog er sich ihrem Griff und lief in den Wald. Mit tränenden Augen sah Éanna zu, wie er nach und nach einen großen Vorrat Brennholz zusammentrug, den er vom Schnee befreit hatte.

Unwillkürlich durchzuckte sie der Gedanke, dass sie etwas Ähnliches für ihre Mutter getan hatte, kurz bevor sie am Fieber gestorben war.

Brendan kehrte mit der letzten Fuhre zurück und kniete sich neben sie. »Éanna, du musst daran glauben, dass du das hier durchstehst!«, sagte er und strich ihr das feuchte Haar aus der Stirn. »Erinnere dich bloß nicht daran, wie es deiner Mutter ergangen ist. Du bist viel jünger und stärker. Du schaffst das!«

Éanna sah zu ihm hoch. Die Schmerzen tobten hinter ihren Schläfen, doch zugleich überwältigten sie seine Worte. Wie kam es, dass er genau wusste, was sie dachte? Dass er fühlte, was sie fühlte?

»Ich muss jetzt los«, sagte er leise. »Bitte hab keine Angst, wenn es Stunden dauert, bis ich wieder zurück bin. Ich bleibe nicht länger weg, als unbedingt nötig! Lass auf keinen Fall das Feuer ausgehen!«

»Pass auf dich auf!« Éannas Stimme war nur ein heiseres Krächzen. »Und versprich mir, nichts zu tun, was dich in Gefahr bringt!«

Éanna krampfte sich das Herz zusammen, als Brendan aus dem Schutz des Unterstandes trat und sich raschen Schrittes entfernte. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Sie sah, wie er sich noch einmal zu ihr umblickte und ihr zuwinkte. Ein halbes Dutzend Schritte weiter den Hang hinunter verschluckte ihn auch schon das wirbelnde Weiß.

23. Kapitel

Stunde um Stunde kämpfte Éanna gegen den Schlaf an. Ihr fiebriger, geschwächter Körper verlangte immer drängender danach. Doch sie wusste, dass sie ihrem sehnlichsten Wunsch nicht nachgeben durfte. In den Schlaf zu fallen, konnte in ihrer Situation den sicheren Tod bedeuten. Wenn dabei das Feuer ausging, würde sich die Kälte mit heimtückischer Lautlosigkeit anschleichen und ihren Schlaf in eisige Betäubung verwandeln, aus der es dann kein Erwachen mehr gab.

Es war jedoch nicht allein die Angst, im Schlaf zu erfrieren, die sie wach hielt. Sie machte sich entsetzliche Sorgen um Brendan. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nichts unversucht lassen würde, um Essen für sie zu beschaffen.

Was, wenn er sich überschätzte und ein zu großes Risiko einging? Wenn er bei einer Diebestour auf frischer Tat erwischt und gefasst wurde, würde sie ihn nie wiedersehen!

Es war in diesen ersten Stunden des Wartens, in denen Éanna bewusst wurde, wie viel er ihr bedeutete. Und plötzlich ahnte sie, was der Ausdruck in Wirklichkeit bedeutete – sein Herz zu verlieren. Denn die Angst um ihn bereitete ihr fast körperliche Qualen.

Und doch waren es auch genau diese Gedanken, die sie daran hinderten, schon in den frühen Morgenstunden den verzweifelten Kampf gegen die Müdigkeit zu verlieren. Aber das Fieber, das in ihr brannte, setzte ihr immer heftiger zu und schwächte mehr und mehr ihre Widerstandskraft.

Um die Mittagszeit herum fielen ihr die Lider zu, nur für wenige Sekunden zuerst, bis sie wieder hochschreckte. Der Schreck, beinahe vom Schlaf übermannt worden zu sein, hielt sie danach jedes Mal für eine Weile wach. Dann zerrte sie hektisch mehrere Äste aus dem Berg Brennholz und warf sie ins Feuer, damit es wieder kräftig aufloderte. Auch stocherte sie mit einem langen Knüppel in der Glut herum und schob die brennenden Hölzer dichter zusammen, nur um sich mit etwas zu beschäftigen, was ein gewisses Maß an Konzentration verlangte. Und mehrmals rieb sie sich Schnee ins Gesicht, damit der eisige Schock die Müdigkeit vertrieb.

Aber all das vermochte nicht zu verhindern, dass sie den ungleichen Kampf gegen die übermächtige Schläfrigkeit und das kräftezehrende Fieber letztlich doch verlor. Die Lider wurden plötzlich so schwer, dass Éanna sie nicht mehr aufbekam.

Mit einem letzten Aufflackern ihres Bewusstseins begriff sie, dass der Augenblick gekommen war, vor dem sie sich gefürchtet hatte. Und dass der Schlaf, der nun über sie triumphierte, ihr wohl nicht nur den Tod durch Erfrieren bringen würde, sondern ihr auch für immer Brendan nahm.

Verzeih mir, Brendan. Ich habe alles versucht, um wach zu bleiben und das Feuer nicht ausgehen zu lassen. Aber jetzt kann ich nicht mehr. Sei mir nicht böse, dass ich dich im Stich gelassen habe!

Das waren die letzten bewussten Gedanken, die sich in ihr formten. Sein Gesicht erschien kurz vor ihrem inneren Auge auf, und dazu blitzte die Erinnerung an jenen Moment in ihr auf, als er am Tisch der Suppenküche von Carlow zu ihr gesagt hatte: »Ich mag dich, Éanna. Und das reicht mir!« Dann überwältigte sie der Schlaf.

24. Kapitel

Ein scharfer Schmerz bohrte sich wie eine Nadel durch die Schwärze, die seltsamerweise sowohl aus Eiseskälte als auch aus Gluthitze zu bestehen schien. Es folgte ein weiterer, noch stärkerer Schmerz aus dieser glühenden Dunkelheit, die sie umgab und die sie einfach nicht freigeben wollte. Dieser zweite stechende Schmerz weckte endgültig ihr Bewusstsein.

Éanna spürte etwas angenehm Warmes, das sich mit sanftem Druck rechts und links an ihre Wangen presste. Es dauerte einen Moment, bis ihr bewusst wurde, was sie da fühlte. Es waren Hände, die sich um ihr Gesicht gelegt hatten und ihren Kopf anhoben. Und im nächsten Moment nahm sie auch die beschwörende Stimme über ihr wahr, die mit jedem Satz verzweifelter klang.

»Éanna! … Komm endlich zu dir! … Kannst du mich hören? … Éanna, wach auf! … Herrgott, mach die Augen auf, ich flehe dich an! Hast du nicht gestern noch davon gesprochen, dass wir es bis nach Amerika schaffen werden? Zum Teufel, Éanna … Tu mir das nicht an!«

Es war Brendan! Er war zurück!

Éanna schlug die Augen auf. »Was soll … ich dir nicht antun?«, fragte sie mit schwacher Stimme und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. Doch der Versuch endete in einer kläglichen Grimasse.

»Oh Gott, du lebst! Dem Himmel sei Dank!«, stieß Brendan erlöst hervor, zog ihren Kopf zu sich heran und küsste sie auf die fieberheiße Stirn. »Und ich dachte schon, ich wäre zu spät gekommen!«

Éanna sah, dass die weiße Winterlandschaft im blassen Licht einer verschwommenen Sonnenscheibe lag, die im Meer der grauen Wolken gen Westen zu treiben schien. Es hatte aufgehört zu schneien, doch dafür hatte der Wind an Kraft gewonnen. Er schnitt peitschend in die Haut im Gesicht und an den Händen. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, musste es zwischen zwei und drei Uhr sein. In spätestens zwei Stunden würde das einsame Seitental in den Ausläufern der Wicklow Berge im Zwielicht der Dämmerung liegen.

Zärtlich strich Brendan ihr einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Was hast du mir für einen Schrecken eingejagt, Éanna! Als ich den Hang hochkam und das Feuer völlig heruntergebrannt und dich reglos daneben liegen gesehen hab, da ist mir fast das Herz stehen geblieben! Ich dachte schon, du wärst …« Er stockte und brachte es offensichtlich nicht über sich, das auszusprechen, was ihm schon auf der Zunge lag. Stattdessen sagte er schnell: »Den ganzen Tag habe ich mir entsetzliche Sorgen um dich gemacht, wie es dir wohl geht und ob du durchhältst!«

»Und ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht«, brachte sie hervor. »Es tut mir leid, dass ich eingeschlafen bin und dich so erschreckt habe. Ich habe wirklich versucht, wach zu bleiben. Aber irgendwann gegen Mittag konnte ich die Augen einfach nicht länger aufhalten.«

»Schon gut, Éanna. Du musst dich doch nicht dafür entschuldigen.« Er beeilte sich, Holz auf die Glut zu werfen und das Feuer wieder ordentlich auflodern zu lassen. »Ich hätte dich einfach nicht so lange allein lassen dürfen. Aber bis in die Stadt waren es fast zwei Stunden, und leider hat es dann auch noch einige Zeit gedauert, bis ich mich in Donard umgesehen und alles Nötige organisiert hatte.«

Éanna wusste, was er damit meinte. »Ich wünschte, du hättest nicht stehlen und dich meinetwegen in Gefahr bringen müssen. Wenn dir etwas passiert wäre …« Éanna führte den Satz nicht zu Ende.

»Was heißt schon stehlen?«, fragte er ernst. »Wenn man stehlen muss, um am Leben zu bleiben, dann ist das für mich nichts, dessen ich mich schämen müsste.«

Sie nickte stumm.

»Zudem habe ich niemanden erleichtert, der den kleinen Aderlass an Essen und ein wenig Hab und Gut nicht gut verschmerzen könnte«, sagte er. Erleichtert sah sie, wie sich das wohlvertraute Grinsen auf sein Gesicht stahl. »Das gilt für das Brot und den Topf mit dem gekochten Suppenhuhn genauso wie für die beiden Pferdedecken und diesen alten Leiterwagen da!« Stolz deutete er hinter sich in die andere Ecke des Unterstands.

Éanna stützte sich auf. Erst jetzt bemerkte sie den plumpen Handkarren mit den hohen Rädern und den leicht nach außen geneigten Holzgittern als Seitenborde, den Brendan aus Donard mitgebracht hatte.

Zitternd ließ sie sich auf ihr Lager zurücksinken. »Warum hast du das nur getan?«, murmelte sie entsetzt. Das Brot und dazu auch noch ein ganzes Huhn zu stehlen, war schon riskant genug gewesen. Wenn man ihn dabei erwischt hätte, wäre ihm das Gefängnis gewiss gewesen. Doch für den Diebstahl solch eines Leiterwagens konnte ein unbarmherziger Richter eine ganz andere Strafe verhängen, nämlich den Tod durch den Strang am Galgen!

»Psst, Éanna.« Brendan legte eine Hand auf die Lippen. »Du musst dich ausruhen. Jetzt hole ich dir erst mal die Stalldecken und wickele dich gut darin ein. Und dann wärme ich dir das Suppenhuhn über dem Feuer auf! Du musst dringend etwas in den Magen bekommen!«

Éanna hatte seit zwei Tagen kaum etwas zu sich genommen, und normalerweise hätte sie alles für ein bisschen zartes Hühnerfleisch gegeben. Doch an diesem frühen Nachmittag brachte sie freiwillig nur wenige Bissen davon hinunter.

»Das reicht nicht! Von den paar Happen kommst du nicht wieder auf die Beine, Éanna! Du musst mehr davon essen!«, beschwor Brendan sie und schob ihr noch einen Löffel voll in den Mund. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, allein zu sitzen, und so hatte er sie in seinen Schoß gezogen. Nun hielt er ihren Oberkörper mit seinem linken Arm halb aufrecht, damit sie sich beim Essen und Trinken der Hühnerbrühe nicht verschluckte. »Bitte sei vernünftig, und iss!«

Ihm zuliebe versuchte Éanna es noch einmal, und tatsächlich brachte sie noch ein bisschen von dem Huhn herunter. Doch dann hob sie die Hand.

»Sei mir nicht böse, aber ich kann nicht mehr«, keuchte sie erschöpft und sank mit dem Kopf gegen seine Brust. Sie fühlte sich völlig zerschlagen. Alle Knochen schmerzten ihr im Leib, und das Fieber bescherte ihr abwechselnd Schüttelfrost und Hitzeschübe. »Ich möchte nichts als schlafen.«

Er gab einen sorgenvollen Stoßseufzer von sich. »Das habe ich befürchtet«, sagte er bedrückt und strich dabei über ihr fieberheißes Gesicht. »Deshalb habe ich ja auch den Leiterwagen gestohlen.«

»Was?«, murmelte sie verständnislos.

»Mit deinem Fieber kannst du keinen Tag länger hier im Freien bleiben, sonst bedeutet das deinen Tod. Du brauchst ein richtiges Bett und ein Dach über dem Kopf. Und ich habe einfach nicht die Kraft, dich auf meinem Rücken den ganzen Weg hinunter in die Stadt und nach Clifton House zu tragen.«

Eine dunkle, unheilvolle Ahnung regte sich in Éanna, als sie aus seinem Mund den Namen Clifton House hörte. Er war ihr noch nie zuvor zu Ohren gekommen, flößte ihr aber Angst ein.

»Was … was ist das für ein Haus, in das du mich bringen willst?«, stieß sie beklommen hervor. »Und sag nicht, dass es eines dieser fürchterlichen Arbeitshäuser ist!«

Brendan atmete tief und vernehmlich durch. Und ihm war deutlich anzuhören, wie schwer es ihm fiel, die gefürchteten Worte auszusprechen. »Doch, es ist solch ein Arbeitshaus für Arme. Ich weiß, was das bedeutet, aber uns bleibt keine andere Wahl, Éanna. Alles andere wäre der sichere Tod für dich!«

»Nein!«, schrie sie entsetzt auf. Ihre Hand krallte sich in seinen Umhang. Zitternd zog sie sich an ihm hoch und sah ihn beschwörend mit fiebrigen, schreckgeweiteten Augen an. »Nein, tu mir das nicht an, Brendan! Alles, nur das nicht!«

»Éanna! Nimm doch Vernunft an! Ich mache es doch nur …«

Éanna ließ ihn nicht ausreden. »Kein Arbeitshaus, Brendan!«, stieß sie kurzatmig hervor. »Wenn ich dir auch nur das Geringste bedeute, wirst du mir so etwas nicht antun! Bei allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben: Bitte bring mich nicht in dieses Clifton Workhouse. Lieber will ich hier sterben, als mich den Betreibern eines entsetzlichen Armenhauses auf Gedeih und Verderben auszuliefern!«

»Sag so etwas nicht«, erwiderte er nun nicht weniger heftig. Dann griff er nach ihrer Hand, die sich in seinen Mantel gekrallt hatte, löste sie aus dem Stoff und drückte ihre Finger an seine Lippen. »Oh Éanna! Natürlich bedeutest du mir etwas. Du bedeutest mir so viel mehr, als ich aussprechen kann. Ich bin nun mal nicht gut mit Worten. Aber du bist mir das Teuerste in der Welt.« Er stockte und umfasste mit beiden Händen ihre Schultern. »Und gerade weil dem so ist, werde ich nicht zulassen, dass du hier in der Kälte stirbst! Aber genau das wird unweigerlich eintreten, wenn du nicht schnellstens an einen einigermaßen warmen und wettergeschützten Ort kommst, wo man weiß, wie deinem Fieber beizukommen ist.«

Éanna sah ihn stumm an, und Tränen liefen über ihre glühenden Wangen.

Brendan erwiderte ihren Blick, und sie wusste, dass es auch ihm das Herz brach, was er ihr antun musste.

Das Arbeitshaus war der letzte Ausweg für die Hungernden auf der Straße. Doch er war auch der schlimmste.