Über das Buch

Der junge Hilmer Eriksson ist verschwunden. Seine Familie und vor allem Ellen, Hilmers Freundin, sind verzweifelt. Kommissar Harald Fors stößt bei seinen Ermittlungen in Hilmers Schule auf eine Gruppe neonazistischer Jugendlicher, die schon des Öfteren unangenehm aufgefallen sind. Alle haben Angst vor ihnen. Selbst der Schuldirektor verschließt lieber die Augen und lässt die aufgesprayten Hakenkreuze überstreichen. Nur Hilmer hat es gewagt, einen ausländischen Mitschüler in Schutz zu nehmen. Ausgerechnet gegenüber Anneli, der Wortführerin der Gruppe. Das geschah kurz vor seinem Verschwinden. Hat Anneli etwas mit der Sache zu tun? Ein hochaktueller Kriminalfall über das Thema Fremdenfeindlichkeit, beeindruckend und aufrüttelnd erzählt.

Mats Wahl

Der Unsichtbare

Aus dem Schwedischen von
Angelika Kutsch

Carl Hanser Verlag

Montagvormittag

Es war an einem der ersten Tage im Mai, als Hilmer Eriksson entdeckte, dass er unsichtbar geworden war. Hilmer war früh in der Schule gewesen und ins Klassenzimmer hinaufgegangen. Noch war niemand da, er zog sich die Jacke aus, hängte sie über den Stuhlrücken, setzte sich und öffnete seine Tasche.

Hilmer hatte schon immer gern gelesen, und heute wollte er die Bücher zurückgeben, die er sich letzte Woche ausgeliehen hatte. Er nahm Huckleberry Finn hervor, schlug sein Lieblingskapitel auf, Kapitel sieben, und begann zu lesen. Er war so vertieft, dass er kaum merkte, wie Hechel Henrik und Bult Bulten reinkamen.

Erst als er Hechel Henrik lachen hörte, drehte er sich um.

»Hej«, sagte Hilmer.

Aber die beiden schienen nichts zu hören. Hechel Henrik setzte sich auf seinen Stuhl in der Ecke am Fenster.

Bult Bulten ließ sich auf den Stuhl neben ihn sinken. Die beiden Jungen streckten ihre Beine aus. Sie trugen die gleichen hohen schwarzen Schnürstiefel, schwarze Hosen und schwarze Pullover.

Bult Bulten hatte große Ohren. Früher hatte er die Haare lang getragen, damit man die Ohren weniger sah. Er strich sich mit der Handfläche über die Glatze.

»Man hätte die Baracke abfackeln sollen.«

»Du sagst es«, antwortete Hechel Henrik. »Man hätte ihre Parracke abfallen sollen.«

Bult Bulten runzelte die Stirn.

»Das heißt nicht Parracke, das heißt Baracke.«

»Hab ich doch gesagt.«

»Klang aber wie Parracke«, meinte Bult Bulten.

»Ich weiß doch wohl, wie das heißt«, knurrte Hechel Henrik.

»Klar weißt du das«, sagte Bult Bulten. »Man hätte alles mit Benzin begießen sollen.«

»Genau.« Hechel Henrik grinste. »Benzin. Dann brennt sie auf.«

»Nee, Baracken brennen ab«, korrigierte Bult Bulten.

Hechel Henrik flippte aus und boxte Bult gegen den Oberarm.

Der lachte.

»Man muss sie im Auge behalten«, sagte er.

Hechel Henrik nahm den linken Mittelfinger in den Mund und biss ein Stück von seinem Nagel ab. Es knackte, als er es geschafft hatte.

»Die Schweine«, sagte Bult Bulten, als würde er mit sich selber reden.

Hechel Henrik biss noch ein Stückchen ab.

»Es ist am besten, wenn wir dasselbe erzählen«, sagte Bult Bulten nach einer Weile. Hechel Henrik wechselte die Hand und knabberte nun am rechten Mittelfinger herum. Bult Bultens Stimme klang gereizt.

»Hast du gehört, was ich sage?«

»Hab ich, klar.«

Diesmal knabberte Hechel Henrik am Nagel vom kleinen Finger.

»Das ist ja ätzend!«, brüllte Bult Bulten und trat Hechel Henrik gegen das Schienbein.

Hechel Henrik schrie auf.

»Was soll das?«

»Du bist so widerlich.«

»Deswegen brauchst du mich doch nicht zu treten.«

»Ich trete dich so lange, bis du mit dem Nägelkauen aufhörst.«

»Ich weiß«, sagte Hechel Henrik, steckte den Daumen in den Mund und kaute. Bult Bulten trat ihm wieder gegen das Schienbein, dieselbe Stelle wie vorher. Hechel Henrik brüllte:

»Warum machst du das?«

»Damit du es endlich kapierst.«

Und dann trat er noch einmal zu, aber diesmal zog Hechel Henrik sein Bein zurück, sodass der Tritt ins Leere ging.

Hilmer hatte sich umgedreht. Er wunderte sich, dass Hechel Henrik nicht brüllte. »Warum glotzt du so, du Missgeburt?« Deshalb wagte Hilmer es, sich ganz umzudrehen. Sonst tat er das nicht gern. Niemand starrte gern Bult Bulten und Hechel Henrik an. Frau Nyman hatte sie vor ein paar Wochen angestarrt, und Bult Bulten hatte gebrüllt:

»Was glotzen Sie so?«

»Würdest du bitte die Zeitung wegstecken?«, hatte Frau Nyman geantwortet.

»Ich kann sie Ihnen in den Arsch stecken«, hatte Bult Bulten gesagt, und seine Ohren waren mit einem Schlag feuerrot geworden.

Frau Nyman war auch rot geworden, allerdings am Hals.

»Ich werde mit deinem Vater sprechen«, hatte sie gesagt.

Bult Bulten lachte. Hechel Henrik schüttelte den Kopf und schlug sich auf die Schenkel.

»Machen Sie das doch, wenn Sie sich trauen«, johlte Bulten.

Frau Nyman traute sich. Zwei Tage später hatte jemand »Nyman ist eine Hure« an die Wand neben dem Haupteingang gesprayt.

»Möchte mal wissen, wer das war?«, hatte Bult Bulten lachend gesagt, als er mit Hechel Henrik dran vorbeiging.

»Ich auch«, sagte Hechel Henrik und beide prusteten vor Lachen.

Jetzt kam Madeleine Strömbom. Sie blieb in der Tür stehen und starrte Bult Bulten und Hechel Henrik an.

»Ist noch niemand anders da?«

»Setz dich zu uns!«, rief Hechel Henrik.

»Nicht für eine Million«, antwortete Madeleine, drehte auf der Stelle um und verschwand im Flur.

Hechel Henrik warf sich über die Tischplatte, verbarg sein Gesicht in den Armen und wimmerte.

»Maddepadde, geh nicht weg!«

Bult Bulten lachte, und in dem Augenblick klingelte es.

»Was haben wir?«, fragte Bult Bulten.

»Nyman.«

Bult Bulten stöhnte, als ob ihm jemand einen Nagel in die Seite gerammt hätte. Er hämmerte mit den Fäusten auf die Tischplatte.

»Ich hasse es, ich hasse es, ich hasse es!«

»Benzin«, sagte Hechel Henrik. »Wir könnten Benzin über alles kippen.«

Bult Bultens Gesicht leuchtete auf.

»Die würden ein halbes Jahr brauchen, bevor sie den ganzen Scheiß wieder aufgebaut haben.«

»Mindestens«, brummte Hechel Henrik. »Mindestens ein halbes Jahr.«

Die Schüler kamen herein, einer nach dem anderen, und nach einer Weile kam Madeleine Strömbom.

»Maddepadde!«, rief Hechel Henrik. »Gib mir einen Kuss!«

Aber Madeleine reagierte nicht.

Dann kam Liselott Nyman, die Klassenlehrerin der 9A. Sie brachte einen Mann in grauer Hose und gelber Lederjacke mit. Der Mann hatte einen kleinen dünnen Schnurrbart und unter dem Arm trug er ein Ledertäschchen mit Reißverschluss. Sein Name war Harald Fors.

Die Klasse betrachtete Fors interessiert.

»Wir haben Besuch«, sagte Liselott Nyman, als die Klasse sich beruhigt hatte. In dem Augenblick kam Hilda Venngarn zur Tür herein und blieb wie angewurzelt stehen.

»Entschuldigung«, flüsterte sie und ging zu ihrem Platz.

»Wie gesagt, wir haben Besuch«, wiederholte Liselott Nyman. »Harald Fors ist Polizist und will euch ein paar Fragen stellen.«

Polizisten sind immer interessant und in der Klasse herrschte gespannte Aufmerksamkeit. Fors legte seine Tasche auf das Pult.

»Am Samstag ist Hilmer Eriksson verschwunden«, sagte Fors und ließ seinen Blick über die Klasse schweifen. »Er ist gegen sechs mit dem Fahrrad von zu Hause weggefahren, um ein Handtuch zu holen, das er im Umkleideraum in Vallen vergessen hatte. Vielleicht ist Hilmer nie in Vallen angekommen.«

Fors verstummte und schaute in die Klasse. Sein Blick glitt über die schweigenden Schüler, die ihn anschauten.

»Wenn einer von euch Hilmer zu der Zeit gesehen hat, möchte ich gern mit ihr oder ihm reden. Wenn einer von euch etwas über Hilmer weiß, das auch andere wissen müssten, dann möchte ich es gern erfahren.«

Fors verstummte.

Lina Stolk hob die Hand.

»Er ist also verschwunden?«

»Ja«, sagte Fors. »Am späten Samstagabend haben seine Eltern angefangen, nach ihm zu suchen. Seit Sonntag haben wir uns eingeschaltet. Wir haben bereits ein ziemlich großes Gebiet durchkämmt.«

»Aber Sie haben ihn nicht gefunden?«, fragte Lina.

Fors schüttelte den Kopf.

»Wir haben ihn nicht gefunden.«

Seit Fors den Raum betreten hatte, fühlte Hilmer sich zunehmend unbehaglich. Sein Herz schlug schneller und seine Handflächen wurden feucht. Als Fors sagte, dass Hilmer verschwunden war, versuchte Hilmer ihm zu widersprechen. Er sah sich um. Die ganze Klasse konzentrierte sich auf Fors. Hilmer rief:

»Ich bin hier!«

Aber niemand schien ihn zu hören.

Hilmer stand auf, nahm sein Buch und warf es gegen die Wand.

»Seht ihr nicht, ich bin hier!«

Sobald Hilmer das Buch geworfen hatte, verschwand es. Der Buchrücken erreichte die Wand nicht. Nichts war zu hören, als es neben Lina Marksman auf den Fußboden fiel — hätte fallen sollen. Das Buch war genauso unsichtbar und lautlos wie Hilmer selber.

»Hier bin ich!«, brüllte Hilmer. »Ich bin hier!«

Aber seine Worte waren nicht zu hören. Er sah sich um und beobachtete Fors, der wieder angefangen hatte zu sprechen.

»Einige von euch kennen Hilmer besser als andere. Ich weiß, dass …«

Fors unterbrach sich, nahm die Tasche, öffnete sie und nahm ein Blatt hervor, das er las, bevor er fortfuhr.

»Ich weiß, dass Daniel Asklund in derselben Fußballmannschaft spielt wie Hilmer.«

Fors sah in die Klasse.

»Daniel ist noch nicht da«, sagte Liselott Nyman.

Und sie sah in die Klasse, genau wie Fors.

»Hat jemand Daniel heute schon gesehen?«

Mehrere Schüler schüttelten die Köpfe. Fors schaute wieder auf sein Papier.

»Peter Gelin spielt auch in derselben Mannschaft.«

»Ja«, antwortete ein großer, magerer Junge mit hellen kurz geschnittenen Haaren.

Fors nickte in Peters Richtung.

»Kann ich gleich mal mit dir sprechen?«

»Klar.«

»Das wär’s«, sagte Fors. »Falls mir jemand etwas zu sagen hat, bin ich unter dieser Nummer zu erreichen.«

Fors drehte sich zur Tafel um, nahm den Stift und begann zu schreiben. Aber der Stift hatte keine Farbe.

»Ich hab hier einen besseren«, sagte Liselott Nyman und holte einen Stift aus ihrer Tasche. Er war ganz neu, und die Farbe floss dick und rot. Fors schrieb in zehn Zentimeter großen Ziffern eine Telefonnummer an die Tafel. Dann wandte er sich an Peter Gelin.

»Wollen wir rausgehen und uns irgendwo hinsetzen?«

Peter stand auf.

»Klar.«

Fors nahm seine Tasche und ging auf die Tür zu. Peter Gelin folgte ihm. In dem Augenblick, als sie die Tür hinter sich schließen wollten, kam ihnen Hilmer Eriksson nach und glitt hinaus, ehe die Tür zuschlug.

»Wir können ins Sekretariat gehen«, schlug Fors vor.

Hilmer legte eine Hand auf Peters Schulter. Aber die Hand verschwand. Er sah sie nicht mehr, als er sie auf Peters Schulter gelegt hatte, und Peter schien sie nicht zu spüren.

Sie kamen ins Sekretariat. Margit Lundkvist saß wie gewöhnlich vorm Computer. Fors klopfte an die offene Tür und Margit drehte sich um.

»Gibt es hier einen Raum, wo wir uns eine Weile ungestört unterhalten können?«

Margit warf einen Blick auf die Uhr.

»Sie können in das Zimmer vom Direktor gehen. Er ist mit jemandem von der Hausverwaltung verabredet und kommt erst später wieder.«

Sie stand auf und ging Fors und Peter Gelin voran zu einem Zimmer am Ende des Flurs.

»Hier«, sagte sie und machte einen Schritt zur Seite, damit Fors und Peter Gelin eintreten konnten.

Fors nahm auf einem der Besucherstühle vor einem Tisch Platz, der mit Papierstapeln und geöffneten Ordnern bedeckt war. Peter Gelin setzte sich ihm gegenüber. Margit Lundkvist schloss hinter ihnen die Tür. Fors öffnete die Tasche und holte einen Block mit liniertem Papier hervor. Aus der Innentasche seiner Jacke nahm er einen Kugelschreiber. Er schrieb das Datum des Tages auf. Dann sah er auf die Armbanduhr und notierte die Uhrzeit.

»Wie schreibt man deinen Nachnamen, Peter?«

»Gelin.«

Fors schrieb.

»Wie gut kennst du Hilmer Eriksson?«

»Wir sind neun Jahre in dieselbe Klasse gegangen.«

»Habt ihr euch auch in der Freizeit getroffen?«

»Wir spielen beide im Verein.«

»Fußball?«

»Ja.«

»Spielt ihr in derselben Mannschaft?«

»Ja.«

»Habt ihr lange in derselben Mannschaft gespielt?«

»Ich bin in der Sechsten in den Verein eingetreten, gleichzeitig mit Hilmer.«

»Was spielst du?«

»Man darf alles spielen, aber am liebsten bin ich Linksaußen.«

»Und Hilmer?«

»Er steht am liebsten im Tor, aber er ist kein guter Torwart. Er spielt immer in der Verteidigung.«

»Warum ist er kein guter Torwart?«

Peter dachte eine Weile nach, ehe er antwortete.

»Ein Torwart kann nicht nur rumstehen und darauf warten, dass ein Ball kommt. Ein Torwart muss mitmachen, er kann das Spiel sogar anführen, wenn er gut ist. Aber Hilmer …«

»Was?«

»Er steht meistens rum und denkt an was anderes. So sieht es jedenfalls aus.«

»Dann ist er also kein guter Torwart. Ist er beliebt?«

»Wie?«

»Mögen die anderen ihn?«

»Ich glaub, ja.«

»Wenn du ihn beschreiben solltest, was würdest du sagen, wie er ist?«

Peter Gelin schwieg.

»Versuch es«, bat Fors.

»Das ist schwer.«

»Was ist daran schwer?«

Peter Gelin zögerte.

»Er ist so normal.«

»Zeichnet das Hilmer aus? Dass er normal ist?«

»Ich glaub, ja.«

Fors schrieb eine Weile. Dann sah er auf.

»Ihr habt Samstag trainiert?«

»Ja.«

»Ist beim Training was Besonderes passiert?«

»Wir hatten Konditionstraining und Ballübungen auf dem Schotterplatz. Es ist nichts Besonderes passiert.«

»Wie heißt euer Trainer?«

»Alf.«

»Was habt ihr nach dem Training gemacht?«

»Nichts Besonderes. Man duscht, zieht sich um, fährt mit dem Rad nach Hause. Alf heißt Nordström mit Nachnamen. Er ist hier Hausmeister.«

»Und im Umkleideraum ist nichts passiert?«

Peter Gelin dachte eine Weile nach.

»Nein — doch. Daniel und Hilmer haben sich um ein Handtuch gestritten.«

»Wie ist es dazu gekommen?«

»Ich glaube, Hilmer hatte ein Handtuch dabei und Daniel hatte seins vergessen. Daniel nahm Hilmers Handtuch und trocknete sich damit ab, und Hilmer hat versucht, es ihm wieder wegzunehmen. Sie haben sich geprügelt und Hilmer ist gefallen. Er hat sich am Knie verletzt.«

»Was für eine Art Prügelei war das?«

»Wie meinen Sie das?«

»War es ernst oder nur zum Spaß?«

»Ernst war es nicht. Hilmer und Daniel sind Freunde.«

»Hilmer ist also nur unglücklich gefallen?«

»Ja.«

»Daniel wollte Hilmer also nicht verletzen?«

»Das würde er nie tun. Sie sind beide im Schachclub.«

Fors machte Notizen. Peter Gelin rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Nach einer Weile sagte er:

»Zwei Sachen sind ungewöhnlich an Hilmer. Erstens spielt er Schach, und zweitens ist er so still.«

»Er ist still?«

»Er redet wenig. Er scheint immer in Gedanken versunken zu sein.«

»Hast du eine Ahnung, woran er denkt?«

Peter Gelin schüttelte den Kopf.

»Nein.«

Fors schrieb wieder eine Weile. Dann fuhr er fort:

»Es hat eine Prügelei gegeben, aber eine freundschaftliche, im Umkleideraum?«

»Ja.«

»Was ist dann passiert?«

»Ich weiß nicht. Ich war schnell fertig und bin abgehauen, während Hilmer und Daniel sich noch stritten.«

»Dann weißt du also nicht, wie es ausgegangen ist?«

»Nein.«

»Wer war noch da, als du weggegangen bist?«

»Fast alle. Ich glaube, ich bin als Erster gegangen.«

Fors steckte sein Notizbuch in die Tasche und zog den Reißverschluss zu. Er ließ die Kugelschreiberspitze zurückschnappen und steckte den Stift in die Innentasche.

»Nur noch eine letzte Frage. Hast du eine Idee, wohin Hilmer verschwunden sein könnte?«

»Nein.«

»Gibt es keinen Ort, wo er gern hingeht, eine alte Höhle, ein verlassenes Haus?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Fors erhob sich.

»Lass von dir hören, falls dir noch was einfällt, was ich wissen müsste. Hab keine Scheu, mich anzurufen. Lass mich entscheiden, ob es von Wichtigkeit ist, was dir eingefallen ist.«

Fors streckte eine Hand vor. Sie verabschiedeten sich und gingen zur Tür.

Hilmer setzte sich auf den Stuhl in der Ecke. Die Tür wurde von Fors geschlossen. Es war still im Zimmer bis auf die Geräusche aus dem Radio im Nebenzimmer. Hilmer versuchte sich zu erinnern, welches Zimmer neben dem Büro des Direktors lag.

Die Erinnerung.

Er versuchte sich zu erinnern, was sich im Umkleideraum abgespielt hatte, aber er konnte es nicht vor sich sehen. Er konnte sich nicht mal erinnern, wie Daniel aussah. Oder das Handtuch. Von was für einem Handtuch hatten sie gesprochen?

Mama, dachte er.

Was macht Mama?

Hilmer merkte, dass er anfing zu schwitzen, als er an Mama dachte. Er versuchte sie sich vorzustellen, aber das war schwer. Er erinnerte sich an Papa, aber nur wie an ein Wort. Er versuchte sich Papa vorzustellen, aber es ging nicht. Er wusste, dass er Mama und Papa vor sich sehen müsste, aber er konnte es nicht.

Auf dem Schulhof rief jemand »Karin«. Hilmer stand auf und ging zum geschlossenen Fenster und sah auf den asphaltierten Hof. Er sah zwei Mädchen aufeinander zugehen, aber er kannte sie nicht.

Dies alles ist ein Traum, dachte Hilmer.

Da wurde die Tür zum Büro geöffnet, und Direktor Sven Humbleberg kam mit einer übervollen Tasche herein. Er stellte sie auf einem der Stühle vorm Schreibtisch ab und zog seinen hellen Mantel aus. Als er den Mantel ausgezogen hatte, bemerkte er den roten Zettel von der Wäscherei, der noch am Aufhänger im Kragen hing. Er riss den Zettel ab und knüllte ihn zusammen, um ihn in den Papierkorb zu werfen, als Margit Lundkvist plötzlich in der Tür stand.

»Heute ist ein Polizist hier gewesen«, flüsterte sie, als ob sie befürchtete, ein Unbefugter könnte ein Geheimnis erfahren.

Humbleberg runzelte die Stirn.

»Was sagst du da? War es Nilsson?«

»Einer aus der Stadt«, flüsterte Margit. »Er hat mit der 9A gesprochen.«

»Ach, und worüber?«

Humbleberg hatte seine riesige Tasche geöffnet und zwei Ordner herausgeholt. Zerstreut hatte er sich den zerknüllten Zettel in die Hosentasche gesteckt.

»Hilmer Eriksson ist verschwunden.«

Humbleberg runzelte die Stirn noch mehr.

»Verschwunden? Heute?«

»Samstag.«

»Das klingt nicht gut. Ist er weg, ich meine, ist er spurlos verschwunden?«

»Ich bin hier!«, rief Hilmer.

Und er ging zu Humbleberg und schlug ihm auf die Schulter.

Aber Humbleberg schien nichts zu bemerken. Er griff sich ans Ohr und kratzte sich zerstreut.

»Ja«, sagte Margit, »er scheint spurlos verschwunden zu sein.«

Dann machte sie einen Schritt ins Zimmer und flüsterte:

»Ein Verbrechen kann nicht ausgeschlossen werden.«

Humbleberg seufzte.

»Das klingt ja furchtbar. Seit Samstag. Heute ist Montag.«

»Heute ist Montag«, bestätigte Margit. »Ich hab es gestern Abend erfahren. Sie waren in Vallen und haben gesucht. Mit Hund.«

»Entsetzlich«, murmelte Humbleberg.

»Ich bin hier!«, wiederholte Hilmer. »Ich bin hier, seht ihr mich nicht?« Er ging zum Schreibtisch, nahm einen der Ordner und warf ihn gegen die Wand.

Er sah, wie ein Ordner die Wand traf, aber der Ordner, den er gerade genommen hatte, lag immer noch auf dem Tisch. Er griff noch einmal danach und warf ihn noch einmal gegen die Wand. Er sah ihn durch die Luft fliegen und gegen die Wand schlagen.

Aber der Ordner, den er gerade geworfen hatte, lag auf dem Tisch.

Hilmer schluchzte und warf ihn noch einmal, mit demselben Ergebnis. Humbleberg und Margit merkten nichts.

Hilmer schluchzte vor lauter Ohnmacht.

»Man kann nur hoffen, dass er wiederkommt«, sagte Humbleberg und legte die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu verbergen.

In diesem Moment kehrte Fors noch einmal zurück. Bei sich hatte er ein groß gewachsenes blondes Mädchen. Sie trug die Haare offen, und sie hingen ihr lang über den Rücken. Im linken Ohr hatte sie einen silbernen Ring.

Fors reichte Humbleberg die Hand und begrüßte ihn.

»Ich hab gehört, dass Eriksson verschwunden ist«, sagte Humbleberg. »Das klingt nicht gut.«

»Nein«, sagte Fors. »Ich habe gerade Ellen getroffen. Sie hat mir etwas zu erzählen, und ich wollte fragen, ob ich das Zimmer noch eine Weile benutzen kann?«

»Natürlich«, sagte Humbleberg und nickte Ellen zu. »Bitte sehr.«

Er nahm seine Tasche und verließ das Zimmer. Fors schloss die Tür und setzte sich auf den Stuhl, auf dem er schon vor einer Weile gesessen hatte. Ellen setzte sich ihm gegenüber. Fors öffnete seine Tasche und holte den Notizblock hervor. Er blätterte eine neue Seite auf, holte den Kugelschreiber hervor, notierte das Datum und sah auf seine Armbanduhr. Dann notierte er die Zeit und schlug sich mit dem Kugelschreiber gegen das Ohrläppchen, während er das Mädchen beobachtete.

»Ellen«, sagte er. »Wie heißt du mit Nachnamen?«

»Stare.«

Fors schrieb.

»Du gehst in die 9A?«

»Ich hab verschlafen und war noch nicht da, als Sie von Hilmers Verschwinden erzählten.«

Fors nickte.

»Wahrscheinlich kennst du Hilmer ziemlich gut?«

»Wir sind zusammen.«

»Aha«, sagte Fors. »Wann hast du Hilmer das letzte Mal gesehen?«

»Samstag.«

»Um wie viel Uhr?«

»Kurz nach sechs.«

»Weißt du nicht etwas genauer, wie spät es war?«

»Er ist gegen halb sieben gegangen.«

»Wo wart ihr?«

»Zu Hause bei mir.«

»Und wo wohnst du?«

»In Vreten.«

Fors nahm seine Tasche und holte einen Stadtplan hervor. Er breitete ihn auf dem Schreibtisch aus.

»Zeig’s mir doch bitte mal.«

Ellen stand auf und beugte sich über den Plan.

»Hier«, sagte sie und legte den Finger auf die Kirche von Vreten.

»Du wohnst bei der Kirche?«

»Mama ist Pastorin.«

»Ich verstehe«, sagte Fors und im selben Augenblick fragte er sich, was er damit ausdrückte, wenn er sagte, er verstehe. Er sah auf den Plan.

»Hier liegt Vallen«, sagte er. »Hier wohnt Hilmer. Vreten liegt am anderen Ende.«

»Ja«, sagte Ellen. »Hilmer wollte nach Vallen, irgendwas abholen, da ist er bei mir vorbeigekommen.«

»Das ist ein Umweg.«

»Von Hilmer sind es zehn Fahrradminuten nach Vreten.«

»Und ungefähr zwanzig Minuten von Vreten nach Vallen«, sagte Fors.

»Ja«, sagte Ellen.

»Warum ist er zu dir gefahren, wenn er auf dem Weg nach Vallen war?«

Ellen schwieg eine Weile, ehe sie antwortete.

»Ich hab kurz nach fünf mit ihm telefoniert und ihn gebeten, zu mir zu kommen.«

»Wolltest du etwas Bestimmtes von ihm?«

»Nein.«

Fors musterte das Mädchen in dem schwarzen Rock und dem grünen Pullover.

»Wirklich nicht?«

Da fing Ellen an zu weinen. Ihre Nase wurde rot.

»Was ist?«, fragte Fors.

»Nichts«, sagte Ellen. »Ich hab solche Angst, dass ihm etwas passiert ist.«

Fors legte den Kopf schräg und sah das Mädchen an. Er dachte an seine eigene Tochter.

»Es kommt gar nicht so selten vor, dass Leute für eine Weile verschwinden. Die meisten kommen wieder. Wir haben nach ihm gesucht, weil Hilmers Mama wusste, dass er ein bestimmtes Fernsehprogramm nicht verpassen wollte.«

»Fußball«, sagte Ellen.

»Fußball.«

»Er guckt gerne Fußball«, sagte Ellen.

»Liebt er dich?«, fragte Fors.

Ellen nickte.

»Wie lange seid ihr schon zusammen?«

»Seit der Februarferien.«

»Aber ihr geht schon neun Jahre in dieselbe Klasse?«

»Ja.«

Fors legte Block und Kugelschreiber weg. Aus Ellens Augen tropften Tränen. Die Nase war rot.

»Macht dir etwas Besonderes Angst, Ellen?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Ich mach mir nur Sorgen, ihm könnte was passiert sein.«

»Was sollte ihm passieren?«

»Ich weiß nicht.«

»Hat er Feinde?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Beide schwiegen.

»Ich glaube, das reicht fürs Erste«, sagte Fors. »Kann ich bitte deine Telefonnummer haben?«

Ellen gab Fors die Nummer.

Als sie die Ziffern nannte, erinnerte sich Hilmer und ergänzte eine Ziffer nach der anderen, so laut er konnte. Er ging zu Ellen und fasste ihr mit einer Hand ins Haar, aber sie merkte nichts.

»Ellen«, sagte er. »Geliebte Ellen.«

Aber sie merkte nichts.

Jetzt begriff er erst richtig seine verzweifelte Lage.

Sie merkte es nicht.

Sie bemerkte ihn nicht.

Ellen.

Sein ganzer Körper versuchte sich zu erinnern, aber dort, wo die Erinnerung an Ellen sein sollte, kam der Schmerz. Der Kopf schmerzte, das Gesicht schmerzte, der Mund schmerzte und weder Fors noch Ellen hörten ihn. Hilmer begriff, dass noch mehr geschehen war, abgesehen davon, dass er unsichtbar geworden war. Er begriff, dass etwas Entsetzliches geschehen war. Er rief nach Mama.

»Mama.«

Und während Ellen und Fors das Zimmer verließen, warf sich Hilmer auf den Fußboden und schrie, er schrie, bis er nicht mehr konnte.

Als er sich erhob, war Humbleberg ins Zimmer gekommen und hatte hinter dem Schreibtisch Platz genommen. Er hatte die Tür geschlossen und den Telefonhörer abgehoben. Nach einer Weile meldete sich jemand am anderen Ende und Humbleberg sprach mit auffallend angespannter Stimme.

»Hab ich dich geweckt?«

Und:

»Ich weiß, wie spät es ist.«

Und:

»Darf ich dich etwas fragen?«

Und:

»Weißt du, dass Hilmer Eriksson verschwunden ist?«

In dem Augenblick musste der am anderen Ende aufgelegt haben, denn Humbleberg saß mit dem Hörer in der Hand da, sah ihn eine Weile an und legte dann selber vorsichtig auf. Er nahm einen seiner Ordner, öffnete ihn und wählte wieder eine Nummer.

»Ich möchte Mattson sprechen, nein, die Hausverwaltung …«

Hilmer stand auf und ging zur Tür. Und jetzt entdeckte er, dass er die Tür nicht zu öffnen brauchte. Bevor er wusste, wie ihm geschah, kaum dass er dachte, er sei auf der anderen Seite der Tür, war er schon hindurchgegangen.

Er war draußen auf dem Flur. Er ging an Margit Lundkvists Zimmer vorbei und überlegte, in welche Richtung er gehen musste, um in seine Klasse zu gelangen, aber er konnte sich nicht erinnern. Dann dachte er an die Tafel und Frau Nyman, die davor gestanden hatte, und schon war er da.

Alle, außer Daniel, saßen auf ihren Plätzen. Frau Nyman erzählte etwas, das in einem anderen Jahrhundert passiert war. Sie sprach davon, woher man das alles wusste, obwohl jene, die dabei gewesen waren, längst tot waren. Bult Bulten las einen Comic. Hechel Henrik lag vornübergebeugt auf dem Tisch, sein Kopf ruhte auf seinen Armen. Ellen schaute Frau Nyman an, die eine Jahreszahl an die Tafel schrieb. Hilmer sah in Ellens Gesicht und suchte ihren Blick.

Geliebte Ellen.

Aber sie hörte nichts.

Sie hob die Hand.

»Ich muss jetzt gehen, ich hab einen Termin bei der Schulschwester.«

Frau Nyman nickte. Ellen stand auf und verließ die Klasse, dicht gefolgt von Hilmer.

Als sie an der Tür zum Sekretariat und zum Lehrerzimmer vorbeigegangen und um die Ecke zum Treppenhaus gebogen waren, begegneten sie Alf Nordström. Er trug blaue Arbeitskleidung. Um die Taille hatte er einen Gürtel mit Werkzeug. Bei den Schränken stand Fors. Er hatte Nordström auch entdeckt.

»Hallo!«, rief er.

Nordström blieb jäh stehen und drehte sich um. Fors kam auf ihn zu.

»Ich heiße Harald Fors und untersuche das Verschwinden von Hilmer Eriksson. Ich nehme an, Sie sind Alf Nordström.«

»Ja.«

»Vereinstrainer und Hausmeister in der Schule?«

»Genau. Sind Sie von der Polizei?«

Fors nickte bejahend.

»Sie kennen Hilmer?«

»Er spielt in unserer Mannschaft. Ich sehe ihn jeden Tag in der Schule. Was ist passiert?«

»Er ist verschwunden. Können Sie mir seinen Schrank zeigen?«

»Klar.«

Nordström ging zwischen den Schrankreihen voran. Am letzten Schrank bei den großen Fenstern zum Schulhof blieb er stehen. An dem Schrank hing ein Hängeschloss. Auf die Tür hatte jemand »Verräter« gesprüht.

»Können Sie ihn öffnen?«

»Seit wann ist der Junge weg?«

»Seit Samstag. Können Sie den Schrank öffnen?«

»Ich hole einen Bolzenschneider.«