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Deutschsprachige Bücher von Frithjof Schuon

Philosophische Werke

Leitgedanken zur Urbesinnung. Zürich 1935; Freiburg 1989, 2009

Das Ewige im Vergänglichen. Weilheim 1970; München 1984

Von der inneren Einheit der Religionen. Interlaken 1981; Freiburg 2007

Den Islam verstehen. München 1988, 1991, 2002. Freiburg 1993

Schätze des Buddhismus. Norderstedt 2007

Esoterik als Grundsatz und als Weg. Hamburg 2012

Metaphysik und Esoterik im Überblick. Hamburg 2012

Logik und Transzendenz. Hamburg 2013

Geistige Sichtweisen und menschliche Tatsachen. Hamburg 2013

Wurzeln des Menschseins. Hamburg 2014

Gnosis – Göttliche Weisheit. Hamburg 2015

Vom Göttlichen zum Menschlichen. Hamburg 2015

Gedichte

Sulamith. Bern 1947

Tage- und Nächtebuch. Bern 1947

Glück. Freiburg 1997

Leben. Freiburg 1997

Liebe. Freiburg 1997

Sinn. Freiburg 1997

Perlen des Pilgers. Düsseldorf 2000

Sinngedichte. Bd. 1 – 10. Sottens 2001 – 2005

Frithjof Schuon

Form und Gehalt in den Religionen

Übersetzt, mit Anmerkungen und einem Glossar versehen von

Wolf Burbat

WEISHEIT DER WELT

© World Wisdom Books

Titel des französischen Originales: Forme et substance dans les religions Dervy-Livres 1975

Aus dem Französischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Glossar versehen von Wolf Burbat

Umschlagbild: Rosette des nördlichen Querschiffs der Kathedrale Notre-Dame von Chartres

WEISHEIT DER WELT ist das deutschsprachige Imprint von

World Wisdom, Inc.,

P.O. Box 2682, Bloomington, Indiana 47402-2682

www.worldwisdom.com

Verlag: tredition GmbH

ISBN 978-3-7439-1657-9 (Paperback)
978-3-7439-1658-6 (e-Book))

www.tredition.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorbemerkung des Übersetzers

Vorwort

Wahrheit und Gegenwart

Form und Gehalt in den Religionen

Âtmâ-Mâyâ

Substanz: Subjekt und Objekt

Die fünf göttlichen Gegenwarten

Das Kreuz »Raum-Zeit« in der Namenskunde des Korans

Einblicke in das Phänomen Mohammed

Die Botschaft von Sayyidnâ ʿÎsâ im Koran

Die marianische Lehre

Zusammenfassung der Pâramitâs

Zum weiblichen Element im Mahâyâna

Das Mysterium der zwei Naturen

Die Frage der Theodizeen

Einige Schwierigkeiten in heiligen Schriften

Widersprüchlichkeiten in geistigen Ausdrucksweisen

Der menschliche Spielraum

Bemerkungen zu einem Problem der Eschatologie

Die beiden Paradiese

ANHANG

Anmerkungen des Übersetzers

Glossar

Index

Frithjof Schuon

Vorbemerkung des Übersetzers

Wir freuen uns, mit diesem Buch die achte einer Reihe von geplanten Übersetzungen von Werken Frithjof Schuons in deutscher Sprache vorlegen zu können. Der in Deutschland noch wenig bekannte Schuon (1907–1998) wird in weiten Teilen der Welt als einer der bedeutendsten religionsphilosophischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts angesehen. Er besaß einen außerordentlichen Überblick über die religiösen Überlieferungen der Menschheit, konnte die Vielfalt der Erscheinungen bis in ihre Tiefe durchdringen und seine Erkenntnisse in meisterhafter, oft dichterischer Sprache ausdrücken. Er gilt als führender Vertreter jener Denkrichtung, die Sophia perennis, Philosophia perennis oder Religio perennis – also immerwährende Weisheit, immerwährende Philosophie oder immerwährende Religion – genannt wird, welche die zeitlosen und überall gültigen Grundsätze enthält, die den verschiedenen Lehren, den Sinnbildern, der heiligen Kunst und den geistigen Übungen der Weltreligionen zugrundeliegen.

Die französische Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien zuerst 1975 unter dem Titel Forme et substance dans les religions; 2002 wurde unter dem Titel Form and Substance in the Religions eine Übersetzung ins Englische veröffentlicht, die einige durch den Verfasser vorgenommene kleinere Ergänzungen enthält, die in die vorliegende Übersetzung ins Deutsche übernommen wurden.

Frithjof Schuon, dessen erstes Buch den Titel Von der inneren Einheit der Religionen trägt, wird oft als Vertreter dieser Einheit, des »Gehalts«, angesehen; er hat aber genauso auf die Verschiedenheit der Religionen, auf ihre »Form«, hingewiesen und tut dies in dem vorliegenden Werk in besonderem Maße. Er legt die metaphysische Notwendigkeit dieser Verschiedenheit ebenso dar wie deren konkrete Erscheinungsweisen. So werden vor allem die drei monotheistischen Religionen miteinander verglichen, die zwar alle auf den Erzvater Abraham zurückgehen und eine große Verwandtschaft untereinander aufweisen, die aber andererseits auch gegeneinander stehen bis hin zu unauflöslich erscheinenden Widersprüchen. Schuon begründet die Verschiedenheit der Religionen mit der Verschiedenheit der Völker, an die sich die göttliche Offenbarung jeweils richtet. Er arbeitet das strukturelle Kernthema jeder einzelnen Religion heraus und leitet daraus die konkrete Gestalt der Erscheinungsformen ab.

Wie fast alle Bücher dieses Verfassers ist auch das vorliegende aus einzelnen Aufsätzen hervorgegangen, die zunächst in Zeitschriften – meist den Études Traditionnelles oder den Studies in Comparative Religion – erschienen und später zu Büchern zusammengefasst wurden. Dabei kam es zuweilen zu Überschneidungen, um dem jeweiligen Buch eine gewisse Vollständigkeit zu verleihen. Im vorliegenden Fall ist das Kapitel Substanz – Subjekt und Objekt auch in Metaphysik und Esoterik im Überblick enthalten und die Kapitel Zusammenfassung der Pâramitâs und Zum weiblichen Element im Mahâyâna in Schätze des Buddhismus.

Obwohl Deutsch seine erste Muttersprache war, hat Schuon seine metaphysischen Werke auf Französisch verfasst, einer Sprache, die sich aufgrund ihres lateinischen Ursprungs und ihres unzweideutigen Wortschatzes hierfür besonders gut eignet. Schuon liebte die deutsche Sprache sehr und bestand darauf, sie weitgehend von Fremdwörtern freizuhalten. Dem haben wir in der vorliegenden Übersetzung Rechnung zu tragen versucht; so wird der Leser einige mittlerweile selten gewordene Wörter wie »Geistigkeit« statt »Spiritualität«, »Anblick« oder »Gesichtspunkt« statt »Aspekt«, »Sammlung« statt »Konzentration« und dergleichen mehr finden. Als Muster hat uns hierbei Schuons eigene Übertragung seines ersten Hauptwerkes De l’unité transcendante des religions (1948) ins Deutsche gedient.1

Andererseits war es unumgänglich, eine Reihe von Fremdwörtern zu benutzen, seien es philosophische Fachausdrücke oder Begriffe aus einer Vielzahl von Überlieferungen; diese Begriffe aus dem Sanskrit, dem Griechischen, dem Lateinischen und dem Arabischen wurden in einem Glossar im Anhang des Buches zusammengestellt, übersetzt und erklärt.

Weiterhin haben wir im Anhang nach Seitenzahl geordnete »Anmerkungen des Übersetzers« zusammengestellt, in denen Textstellen erläutert werden, die auf überlieferte theologische Lehren, wichtige Philosophen oder geistige Meister sowie heilige Schriften der Weltreligionen anspielen.

1 Deutsch: Von der inneren Einheit der Religionen. Freiburg i. Br. 2007.

[1]Vorwort

Beim Lesen der in dieser Sammlung enthaltenen Aufsätze wird man feststellen, dass wir weniger bloße überlieferte Information als vielmehr echte lehrmäßige Erklärung im Auge haben, das heißt die Darlegung von Wahrheiten, welche durch die überlieferten Argumentationen eingekleidet werden; wir sind auch kein Philosophiehistoriker, sondern Sprecher der Philosophia perennis und legen verschiedene Formulierungen der überall und immer gültigen Wahrheit vor. Wie schon in unserem Buch Logik und Transzendenz beabsichtigen wir, in der vorliegenden Sammlung nichts weniger, als eine wesentliche, vollständige, einheitliche und hinreichende Lehre anzubieten; wir würden gerne von einer »Philosophie« oder einer »Theologie« sprechen, wenn diese Worte ohne Gefahr einer Fehldeutung zur Verfügung stünden.

Ein Punkt, der faktischen Rationalisten immer entgangen zu sein scheint, ist, dass es notwendigerweise einen Abstand zwischen dem Ausdruck und der auszudrückenden Sache gibt, also zwischen Lehre und Wirklichkeit; es ist immer möglich, einer zureichenden Lehre vorzuhalten, sie sei unzureichend, da keine Lehre dem, was sie auszudrücken beabsichtigt, gleichgesetzt werden kann; keine Formulierung kann dem Rechnung tragen, was die zahllosen Ursächlichkeitsbedürfnisse zu Recht oder zu Unrecht verlangen mögen. Wenn es möglich wäre, dass der Ausdruck absolut oder in jeder Hinsicht angemessen und erschöpfend wäre – wie es eine a priori an Worten klebende philosophische Kritik will –, gäbe es keinerlei Unterschied mehr zwischen dem Bild und seinem Urbild, und es gäbe keinen Grund mehr, vom Denken oder auch nur einfach von der Sprache zu reden. In Wirklichkeit ist lehrhaftes Denken dazu da, eine Gruppe von Bezugspunkten bereitzustellen, die [2]naturgemäß mehr oder weniger elliptisch sind, die aber jedenfalls hinreichen, um zur gedanklichen Wahrnehmung bestimmter Seiten des Wirklichen hinzuführen. Das ist alles, was man von einer Lehre verlangen darf; der Rest ist eine Sache der intellektuellen Befähigung, des guten Willens und der Gnade.

Alles ist bereits gesagt worden und sogar gut gesagt worden; man muss aber immer aufs Neue daran erinnern und bei der Erinnerung daran das tun, was immer getan worden ist: im Denken die darin enthaltenen Gewissheiten neu beleben, nicht im denkenden Ich, sondern im die Person überschreitenden Wesenskern der menschlichen Intelligenz. Als menschliche ist die Intelligenz umfassend, also wesensgemäß befähigt, das Absolute zu begreifen und dadurch den Sinn für das Verhältnismäßige zu haben; das Absolute zu verstehen heißt auch, das Verhältnismäßige als solches zu verstehen, und es heißt dann, im Absoluten die Wurzeln des Verhältnismäßigen und in diesem die Widerspiegelungen des Absoluten wahrzunehmen. Jede Metaphysik und jede Kosmologie beschreiben letzten Endes dieses Spiel der wechselseitigen Ergänzung, das der allheitlichen Mâyâ und demzufolge dem Wesenskern der Intelligenz eigen ist.

Um zu unserem Buch zurückzukehren, möchten wir sagen, dass seine Argumentationsweise zwangsläufig von seiner Botschaft abhängt; diese Argumentationsweise kann nicht die maßlosen Ansprüche einer Psychologie – oder gar einer Biologie – berücksichtigen, die widersinnigerweise an die Stelle der Philosophie und des Denkens insgesamt treten wollen. Man darf uns logischerweise nicht vorhalten, eine naive und überholte Sprache zu verwenden, erweist sich doch unsere Argumentationsweise wesensgemäß durch ihren Inhalt als begründet, einen Inhalt, der durch das Unwandelbare bedingt ist.

Es gibt keine geistige Exterritorialität; weil der Mensch da ist, ist er mit allem verbunden, was das Dasein enthält. Als [3]Erkennende sind wir berufen, alles Erkennbare zu erkennen; nicht das, was erkennbar ist entsprechend unserer Bequemlichkeit, sondern das, was erkennbar ist entsprechend der Fähigkeit des Menschen und entsprechend der Natur der Dinge.

Frithjof Schuon

[4]Wahrheit und Gegenwart

Die erlösende Bekundung des Absoluten ist entweder Wahrheit oder Gegenwart, sie ist aber weder das eine noch das andere auf ausschließliche Weise; denn die Wahrheit umfasst die Gegenwart, und die Gegenwart umfasst die Wahrheit. Wir haben hier die doppelte Natur aller Theophanien vor uns; so ist Christus wesensmäßig eine Bekundung der göttlichen Gegenwart, er ist dadurch aber auch Wahrheit: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«. Niemand gelangt in die erlösende Nähe des Absoluten, wenn nicht durch eine Bekundung des Absoluten, sei es a priori durch Gegenwart oder Wahrheit.

Im Christentum hat das Element Gegenwart Vorrang vor dem Element Wahrheit: Das erste Element nimmt das zweite gewissermaßen in dem Sinne in sich auf, dass die Wahrheit mit der Erscheinung Christi gleichgesetzt wird; die christliche Wahrheit besteht in dem Gedanken, dass Christus Gott ist. Daraus ergibt sich die Dreifaltigkeitslehre; diese ließe sich nicht erklären, wenn der Ausgangspunkt im Christentum das Element Wahrheit wäre, das heißt eine Lehre vom Absoluten, wie es im Islam der Fall ist, wo Gott vor allem als das eine Wirkliche erscheint, insoweit eine semitische Exoterik das zulässt.1

Der Islam gründet also auf dem Axiom, dass die absolute Wahrheit das ist, was erlöst, selbstverständlich in Verbindung mit den sich daraus ergebenden willensmäßigen Folgerungen; die exoterische Einschränkung dieser Sichtweise besteht in dem Axiom, dass allein die Wahrheit erlöst und nicht die Gegenwart. Das Christentum gründet dagegen auf dem Axiom, dass die göttliche Gegenwart erlöst; die exoterische Einschränkung [5]besteht hier einerseits darin, dass allein eine bestimmte Gegenwart erlöst, und andererseits darin, dass allein das Element Gegenwart erlösen kann, nicht das Element Wahrheit an sich.2

Mit dem Islam zu sagen, die Wahrheit erlöse – sobald es die des Absoluten ist –, bedeutet, dass man alle Folgerungen aus der Wahrheit ziehen muss, dass man sie also restlos anerkennen muss, das heißt mit dem Willen und den Gefühlen ebenso wie mit der Intelligenz. Und mit dem Christentum zu sagen, die Gegenwart erlöse – sobald es die der göttlichen Liebe ist –, bedeutet, dass man, sakramental und opfermäßig, in die Gussform dieser Gegenwart eintreten und sich von ihr zur göttlichen Liebe tragen lassen muss. Man muss zunächst lieben, dann wollen und dann möglicherweise, in Abhängigkeit von der Gottesliebe, erkennen, wohingegen man im Islam zunächst erkennen muss, dann wollen und dann möglicherweise, in Abhängigkeit von dieser Gotteserkenntnis, lieben, wenn es erlaubt ist, sich in diesem Bereich auf so schematische Weise auszudrücken.

A priori oder exoterisch, haben wir gesagt, besteht das Element Wahrheit im Christentum in dem Axiom, dass Christus Gott ist und dass allein Christus Gott ist; a posteriori oder esoterisch aber bedeutet die christliche Wahrheit einerseits, dass jede Bekundung des Absoluten wesensgleich ist mit dem Absoluten, und andererseits, dass diese Bekundung zugleich transzendent und immanent ist. Transzendent ist sie Christus oberhalb von uns; immanent ist sie Christus in uns; sie ist das Herz, welches Intellekt und Liebe zugleich ist. In das Herz einzutreten heißt, in Christus einzutreten und umgekehrt; [6]Christus ist das Herz des Makrokosmos, so wie der Intellekt der Christus des Mikrokosmos ist. »Gott ist Mensch geworden, auf dass der Mensch Gott werde«: Das göttliche Selbst ist Herz geworden, auf dass das Herz das Selbst werde; und deshalb ist »das Reich Gottes inwendig in euch«.

In dieser Gnosis begegnen sich der Islam und das Christentum, denn das Herz ist der innewohnende Koran oder der innewohnende Prophet, wenn man die Betonung auf das tätige und inspirierende Wirken des Intellekts legt. Dies läuft darauf hinaus, dass im Islam das Element Gegenwart einerseits durch den Koran und andererseits durch den Propheten dargestellt wird; dieses Element Gegenwart zur Geltung zu bringen heißt, sich – in Abhängigkeit von dem Element Wahrheit, das im Islam der Ausgangspunkt ist – auf sakramentale oder eucharistische Weise mit dem Koran3 gleichzusetzen und auch, sich mit dem Propheten gleichzusetzen, indem man in die Gussform Mohammed eintritt, die nichts anderes ist als das »ursprüngliche Richtmaß«, die Fitrah. Man tritt in diese Gussform ein, indem man sich in die Sunnah einschließt, die Gesamtheit der durch den Propheten vorgeschriebenen und durch ihn verkörperten Verhaltensregeln; nun sind diese Regeln gleichermaßen »waagerecht« wie »senkrecht«, sie betreffen das alltägliche und gesellschaftliche Leben gleichermaßen wie das geistige Leben.

Der Koran ist seinerseits ebenfalls Wahrheit und Gegenwart zugleich; er ist Wahrheit durch die Lehre, die beinhaltet, dass es nur ein einziges Absolutes gibt, und er ist Gegenwart durch seine theophane oder sakramentale Eigenschaft, die der Ursprung des Dhikr ist, des vollkommenen Gebetes.

[7]

Wenn für die Christen Christus die Wahrheit der Gegenwart ist, das heißt die wirkliche Gegenwart oder die einzig wahre Gegenwart Gottes, dann wird dagegen für die Muslime der Prophet die Gegenwart der Wahrheit sein, das heißt, er allein macht die reine oder gesamte Wahrheit, die Wahrheit an sich, gegenwärtig; das erklärt, dass für die Muslime, die sich von anderen Argumenten nicht beeindrucken lassen, Mohammed der größte »Gesandte« ist. »Wie die Wahrheit, so der Prophet«, scheinen die Muslime zu argumentieren, wohingegen für die Christen im Gegenteil die Wahrheit völlig von der Unvergleichbarkeit des Gottmenschen abzuhängen scheint.

Für die Muslime erlöst allein die Wahrheit des Absoluten: daher ihr Hang, im Christentum das Element Gegenwart mit all seinen Seiten herabzusetzen oder abzuwerten; wohingegen für die Christen allein die Gegenwart – oder diese eine Gegenwart – eine erlösende Wirksamkeit besitzt, daher ihr Hang, jeden »Platonismus«, das heißt, jede Sichtweise der befreienden Wahrheit zu unterschätzen oder abzulehnen.

Die herausragende Stellung Mohammeds im Islam – auf deren gedankliche Beweggründe wir gerade hingewiesen haben, zumindest was das Grundlegendste anbelangt –, diese herausragende Stellung, sagen wir, bringt als Folge oder als Begleiterscheinung eine merkwürdige Neigung mit sich, nämlich die vor Mohammed erschienenen Offenbarer herabzusetzen, und sei es nur beiläufig und ungeachtet der Verehrung, die der Islam ihnen zollt. Wir fühlen uns verpflichtet, diesen Zug zu erwähnen, da er sich in sufischen Werken4 ebenso zeigt wie in Koranauslegungen, und da wir seinen Spuren sogar in gewissen [8]Ahâdîth5 begegnen; um einer allzu eiligen Empörung seitens westlicher Arabisten vorzubeugen, erinnern wir daher daran, dass eine Religion das ist, was die Buddhisten einen Upâya6 nennen, und dass sie aufgrund dessen ein gewisses Recht auf Abwehrreflexe hat, die objektiv unangemessen sind, aber logisch dem religiösen Axiom, dem sie dienen, entsprechen, und die durch ihre Wirksamkeit pro domo ebenso wie durch ihre sinnbildliche und mittelbare Wahrheit gerechtfertigt sind.

Von einem anderen Standpunkt aus muss man hinsichtlich gewisser enttäuschender Auffassungen über Christus und die Heilige Jungfrau einerseits die Notwendigkeit jeder Exoterik berücksichtigen, sich vor der Anziehung durch irgendeine andere religiöse Sichtweise zu schützen – und in diesem Fall heiligt der Zweck die Mittel, sind doch menschliche Gemeinschaften das, was sie sind –, und andererseits muss man einer gewissen Abneigung seitens des Islam im Hinblick auf den christlichen Anthropotheismus Rechnung tragen. Man kann geltend machen, dass ein einem herausragenden Geschöpf zuerkannter Ausdruck wie der Ehrenname »Mutter Gottes« eine metaphysisch vertretbare Ellipse ist; es lässt sich aber nicht bestreiten, dass dieser Ausdruck auf der exoterischen Ebene und in der Abwesenheit von scharfsinnigen Kommentaren, welche dessen Kühnheit oder Unklugheit ausgleichen würden, der Metaphysik des Absoluten abträglich ist und unser unmittelbares, volles und wirksames Bewusstsein der Absolutheit Gottes schwächt; denn eine Erscheinung ist entweder [9]Gott – was widersprüchlich ist – und hat dann keine Mutter, oder sie hat eine Mutter und ist dann nicht Gott, zumindest im Hinblick darauf, dass sie eine Mutter hat, und abgesehen von dem anfänglichen Widerspruch der Hypothese.7 Wenn ihr das Absolute in dieser Weise herabsetzt – scheinen die Muslime zu sagen –, dann empört euch nicht, wenn wir das Verhältnismäßige herabsetzen, zumal wir das um des Absoluten willen und allein zu seiner Ehre tun.8

Man hält den Muslimen vor, keine angemessene theologische Schlussfolgerung aus der jungfräulichen Geburt Christi zu ziehen; die Muslime könnten erwidern, dass die Entrückung von Henoch, Moses und Elias für die Christen nichts bedeute, welche diese Personen bis zur geschichtlichen Ankunft des einen Erlösers in die »Unterwelt« der Erzväter versetzen. Wenn man der Meinung ist, dass die Muslime »sich alles erlauben« aufgrund des Elementes Wahrheit, das in ihrem Fall die Transzendenz zum Nachteil bestimmter als gefährlich [10]erachteter Seiten des Elementes Gegenwart unterstreicht, dann könnte man mit nicht geringerer Berechtigung der Ansicht sein, dass die Christen sich genauso viele Freiheiten zugunsten des Elementes Gegenwart und zuungunsten bestimmter metaphysischer Folgerungen aus der Transzendenz, also zum Nachteil des Elementes Wahrheit, nehmen; ob man will oder nicht, man muss wohl ganz allgemein zugeben, dass ein Upâya Rechte hat, die auf den ersten Blick zu weit gehen, die aber am Ende durch gewisse Gegebenheiten der menschlichen Natur erklärt und gerechtfertigt werden können.

Mit einem Wort: Das Unverständnis zwischen Christen und Muslimen9 besteht im Grunde darin, dass für Erstere das Sakrament an die Stelle der Wahrheit tritt, wohingegen für Letztere die Wahrheit an die Stelle des Sakraments tritt.

Wir können die islamische Betonung des Elementes Wahrheit wie folgt beschreiben: Der Monotheismus an sich, der von Abraham und den Erzvätern, beruht auf dem Element Wahrheit, da er die Wahrheit des einen Gottes ist, der erlöst; das heißt, der Mensch wird durch den Glauben erlöst und durch nichts anderes, denn seine Werke hängen vom Glauben oder der Aufrichtigkeit ab. Die christliche Sichtweise ihrerseits ist wesentlich durch die göttliche Kundgabe bestimmt – eine Theophanie, die aus dem Gottesbegriff selbst erwächst –, und diese Kundgabe führt zu einer Geistigkeit des Opfers und der Liebe; dieser Anthropotheismus ist, zusammen mit dem sich daraus ergebenden Dreifaltigkeitsglauben, sicherlich eine geistige Möglichkeit unter anderen, er ist aber nicht der Monotheismus an sich.

[11]Nun ist der Islam, der den Monotheismus an sich darstellt, folgerichtig, wenn er dem Christentum vorhält, die Botschaft des Monotheismus nicht zur Geltung zu bringen und diese durch eine andere Botschaft, eben die der göttlichen Kundgabe, zu ersetzen; der Islam ist gleichermaßen folgerichtig, wenn er dem Judentum erstens vorhält, den Monotheismus nationalisiert, und zweites, das Prophetentum monopolisiert zu haben. Sicherlich sind der Mosaismus und das Christentum wirklich orthodox, das ist hier aber nicht die Frage, wenn es darum geht, die wesentliche, kennzeichnende und allheitliche Botschaft des Monotheismus herauszustellen, wie es der Islam beabsichtigt.

Wahrheit und Gegenwart: Ganz unabhängig von der Frage der Betonung ergänzen sich diese beiden Begriffe wechselseitig; sie können aber auch de facto zu widerstreitenden Auffassungen führen, wie sich nicht nur im Antagonismus von Christentum und Islam zeigt, sondern auch – im Schoß des Islam selbst – im Schisma zwischen Sunnismus und Schiismus. Aufgrund einer besonderen Berufung hält sich der Schiismus auf seine Weise an das Element Gegenwart, während der Sunnismus, in Übereinstimmung mit dem Islam als solchem, das Element Wahrheit bekundet. Dass jeder dieser beiden Zweige in einem gewissen Maße und in einem gewissen Bereich das jeweils andere Element in sich enthält, ist eine Tatsache, die wir bereits festgestellt haben und die an dieser Stelle nicht im Einzelnen dargetan werden muss; es möge genügen, wenn wir daran erinnern, dass der Schiismus immer noch Islam ist und dass er vom Begriff des Monotheismus nicht zu trennen ist, während der Sunnismus das Element Gegenwart durch die Sunnah darbietet, die in gewisser Weise die Seele des Propheten lebendig erhält.

[12]Die Elemente Wahrheit und Gegenwart werden jeweils von Abû Bakr, dem »Wahrhaftigen« (Siddîq), und ʿAlî, dem »Löwen Gottes« (Asad Allâh), verkörpert. ʿAlî, Vetter, adoptierter Sohn und Schwiegersohn des Propheten, gehört, zusammen mit Fâtima, Mohammeds Tochter, und ihren beiden Söhnen Hasan und Husain zur Familie (Âl) Mohammeds; was Abû Bakr betrifft, so weist sein Beiname »der Wahrhaftige« auf seine Natur und seine Verbundenheit mit dem Element Wahrheit hin. Diese Aufteilung der Strebungen liefert tiefreichende Ursachen für den Widerstreit zwischen Abû Bakr und Fâtima nach dem Tode des Propheten; Fâtima beanspruchte für sich, im Namen der »Gegenwart« Mohammeds eine Oase zu erben, und Abû Bakr schlug ihr das im Namen der »Wahrheit« des Islam ab. Im Sufitum werden ʿAlî und Abû Bakr als zwei unmittelbare und enge Jünger des Propheten angesehen, von denen die »Einweihungskette« (Silsila) ausgeht; in gewisser Hinsicht erfordert die Vollkommenheit das Nebeneinander von wechselseitigen Ergänzungen, denn die göttlichen Dimensionen – reines Sein und reines Bewusstsein – sind voneinander unabhängig; ihre Vereinigung ist die Glückseligkeit.10

Die die Theophanie betreffenden Begriffe »Wahrheit« und »Gegenwart« bringen uns zu zwei ähnlichen, zum Amidismus gehörenden Begriffen, nämlich denen der »eigenen Kraft« und der »Kraft des Anderen« (japanisch Jiriki und Tariki).11 Die erste Kraft ist die der Intelligenz und des Willens, betrachtet [13]hinsichtlich der Fähigkeit zur Erlösung, die sie grundsätzlich besitzen; diese erste Kraft kann demzufolge tatsächlich wirksam handeln, falls die erforderlichen Bedingungen erfüllt sind; in diesem Fall befreit sich der Mensch vermöge seiner Intelligenz und durch seine eigenen Bemühungen, zumindest dem menschlichen Anschein nach, denn metaphysisch entzieht sich die erleuchtende und befreiende Macht dem Individuum, das nur deren Instrument ist. Die zweite Kraft gehört uns in keiner Weise, sie gehört dem »Anderen«, worauf ihr Name hinweist und wie es ihr Daseinsgrund verlangt; in diesem Zusammenhang wird der Mensch durch Gnade erlöst, was jedoch nicht bedeuten kann, dass er bei dieser Erlösung nicht mitwirken müsste durch seine Empfänglichkeit und gemäß den Weisen, die ihm die menschliche Natur ermöglicht oder auferlegt.

Die Intelligenz, die sich auf das Element Wahrheit bezieht, gehört wesensgemäß zur »eigenen Kraft«, und diese ist es, die das Zen darstellen möchte, das sich nämlich auf die immanente und befreiende Wahrheit stützt; der Glaube, der sich auf die Gnade und folglich auf das Element Gegenwart bezieht, gehört dagegen zur »Kraft des Anderen«, und diese ist es, die das Jôdo darstellen möchte, das sich auf die transzendente und erlösende Gegenwart stützt. Zwangsläufig – das muss betont werden – verwirklicht das Element Wahrheit oder der immanente Intellekt, wenn man es subjektiv betrachtet, ein Element »Gegenwart«, das uns übersteigt und uns bestimmt, wohingegen umgekehrt das Element Gegenwart den Glauben und folglich unsere Intelligenz und das Element »Wahrheit« einsetzt, um uns erlösen zu können.12

[14]Ein Exkurs zum Thema der praktischen Auslegung der beiden »Kräfte« (Jiriki und Tariki) mag an dieser Stelle angebracht sein: Ohne auf einer zur echten Orthodoxie gehörenden Ebene – die aber dennoch etwas von der Verhältnismäßigkeit des Upâya hat –, einen Vorwurf äußern zu wollen, können wir uns des Gefühls nicht erwehren, dass es etwas Übertriebenes gibt in dem Totalitarismus einerseits eines Zen, der keine Spur von Tariki enthalten will, und andererseits dem eines Jôdo, der ganz auf Jiriki verzichten will. Sicherlich kann sich der Mensch grundsätzlich »selbst« erlösen, es ist aber erforderlich, dass eine himmlische Macht – also eine »Kraft des Anderen« – eine solche Bemühung segnet; sicherlich kann der Mensch grundsätzlich allein durch die Hingabe an die Barmherzigkeit erlöst werden, es ist aber erforderlich, dass diese Hingabe ein Element der Entschlusskraft enthält, denn das Fehlen irgendeines Elementes der »eigenen Kraft« widerspricht der Natur des Menschen. Die Anhänger von Shinran, einer zentralen Gestalt der bis zum Äußersten gehenden Tariki, werfen zuweilen Hônen, dem Meister von Shinran, vor, er lasse gelten, dass die Tätigkeit der Anrufung in Verbindung mit dem Glauben die Ursache des Heils sei, was ihnen als Inkonsequenz und fehlender Glaube erscheint; für sie erlöst allein der Glaube, und die Tätigkeit des Gebets ist nur ein Zeichen der Dankbarkeit. Nun erschwert Shinran unser Vertrauen in ebendem Maße, wie er den Weg erleichtern möchte, denn wenn alles vom Glauben abhängt und nicht von Taten, dann wird die Stichhaltigkeit – oder der psychologische Kerngehalt – des Glaubens umso unsicherer; anders gesagt ist es für den Menschen schwierig, an eine Barmherzigkeit zu glauben, die von uns absolut nichts verlangt. Bei Hônen enthalten dagegen die Taten eine objektive Gewähr für die Echtheit hinsichtlich des Glaubens, da sie diesen ja erleichtern und verstärken und auf diese Weise die wesentliche Bedingung der Geburt im »Reine [15]Land« begünstigen; diese Art, die Dinge zu sehen, die weit davon entfernt ist, unserem Vertrauen auf die Barmherzigkeit zu schaden, enthält überdies ein aktives Element des Glücks. Übrigens ist es nicht so sehr die eigentliche These von Shinran, die wir hier kritisieren, als vielmehr die Voreingenommenheit seiner Getreuen, die Auffassung von Hônen zu kritisieren, die zureichend und untadelig, wenn auch vom Standpunkt eines gewissen, zugleich logischen und gefühlsmäßigen Totalitarismus zweifellos weniger durchschlagend ist.13

Der Buddhismus bietet sich a priori, das heißt in seinem formhaften Rahmen, als ein Weg gemäß der »eigenen Kraft« dar, der also auf dem Element Wahrheit als immanenter erleuchtender und befreiender Macht beruht; er führt aber a posteriori, mit vollkommener Logik und ohne von seinem ursprünglichen Schema abzuweichen, zu einem Weg gemäß der »Kraft des Anderen«, der also auf dem Element Gegenwart als transzendenter, barmherziger und erlösender Macht beruht. Die buddhistische Offenbarung bietet nämlich zwei Grundsätze an, einen allgemeinen und einen besonderen, wobei der zweite in den ersten eingebettet ist: zunächst den Grundsatz der Erlösung durch unsere eigene Bemühung, dessen Musterbeispiel der junge unter dem Bodhibaum sitzende Gautama ist, und dann den Grundsatz der Erlösung durch die erlösende Macht, die dem von Gautama erlangten Zustand des Buddha innewohnt. Zuerst zeigt uns Gautama den Weg durch sein Beispiel; Buddha geworden, predigt er daraufhin diesen selben Weg, [16]gleichzeitig aber gibt er sich selbst – seine Buddhaschaft14 – als ein Sakrament, und er tut dies in Form der Sûtras vom »Reinen Land« oder genauer, in jener des erlösenden Namens des Buddha Amitâbha, dessen gegenwärtige irdische Verkörperung er selbst, der Buddha Gautama, gewissermaßen ist. Der Buddha Amitâbha erscheint so als der Logos an sich, wohingegen der geschichtliche Buddha ein bestimmter Prophet ist, der den Logos durch das Recht, sich mit ihm gleichzusetzen, bekundet. Gautama oder Shâkyamuni ist das Buddha gewordene Individuum, das zeigt, wie man es wird, und Amitâbha ist die ewige, und damit präexistente Buddhaschaft, die durch ihre allmächtige Barmherzigkeit anzieht.

Mit anderen Worten: Der Weg gemäß dem Element Wahrheit hat aktiv Teil an der erleuchtenden Verwirklichung des Buddha, und der Weg gemäß dem Element Gegenwart hat auf empfängliche Weise Teil an dem unermesslichen Verdienst derselben Verwirklichung. Einerseits folgt der Gläubige dem Beispiel des Bodhisattva Shâkyamuni, und das ist der Weg des Theravâda und auch, im Schoß des Mahâyâna, der des Zen, der Jünger von Bodhidharma; und andererseits zieht der Gläubige Nutzen aus der avatârischen und sakramentalen Macht des Buddha – oder aus der erlösenden Macht der Buddhaschaft –, und das ist der Weg der Amidisten, von Vasubandhu bis zu Shinran.

Die Frage, warum der Mensch dem Weg der »eigenen Kraft« folgen kann und manchmal muss, wo er doch jenem der »Kraft des Anderen« folgen könnte, muss nicht gestellt werden, denn die menschliche Natur ist unterschiedlich, so wie es vor [17]allem die göttliche All-Möglichkeit ist, die sie geschaffen hat; im Übrigen verbinden sich die beiden Wege meistens miteinander,15 und ihre Gegenüberstellung in Form des Zen und des Amidismus ist nur eine Erscheinung äußerster Polarisierung.

In der natürlichen Verfassung des Menschen wird das Element Wahrheit durch die Erkenntnis dargestellt und das Element Gegenwart durch die Tugend;16 die Erkenntnis ist die Gesundheit der Intelligenz und die Tugend diejenige des Willens. Die Erkenntnis ist nur durch eine gewisse Mitwirkung der Tugend vollkommen und umgekehrt; es ist offensichtlich, dass die richtig eingesetzte Intelligenz die Tugend hervorzubringen oder zu verstärken vermag, da sie uns deren Natur und Notwendigkeit erklärt; es ist ebenso offensichtlich, dass die Tugend ihrerseits die Erkenntnis zu begünstigen vermag, da sie manche ihrer Weisen bestimmt. Anders gesagt erkennen wir die metaphysische Wirklichkeit nicht nur, weil wir verstehen oder begreifen, sondern auch, weil wir wollen; wir erkennen also kraft dessen, was wir sind, denn unsere Erkenntnis Gottes kann nicht etwas anderes als das sein, was Gott selbst ist, und Gott ist Majestät und Schönheit (arabisch Jalâl und Jamâl) zugleich;17 nun kann die Schönheit des Objekts aber nur voll verstanden [18]werden durch die Schönheit des Subjekts. Die Allwirklichkeit ist zugleich geometrisch und musikalisch, intellektuell und existenziell, »abstrakt« oder unvergleichlich (tanzîh) und »konkret« oder ähnlich (tashbîh),18 transzendent und immanent; die »Wahrheit« ist wie ein Feuer, das die Welt der Akzidenzien verbrennt, um nur die ungreifbare Substanz bestehen zu lassen, während die »Gegenwart« ebendiese Substanz für uns greifbar macht mittels der durchsichtigen Akzidenzien, die sie auf verschiedene und zahllose Weisen enthüllen.19

1 Dieser Vorbehalt bedeutet, dass der theologische Standpunkt einem gewissen Dualismus unterliegt, eben durch seine die Frömmigkeit und den Willen betonende Sichtweise.

2 Die erlösende Wahrheit des Islam ist »die Wahrheit« – nicht »eine bestimmte Wahrheit« –, denn sie betrifft das Absolute und nicht eine Erscheinung.

3 Es gibt Muslime, die ihr Leben damit verbringen, den Koran zu rezitieren, und es gibt nicht-arabische Muslime, die ihn sogar psalmodieren, ohne ihn zu verstehen.

4 Die Fusûs al-Hikam von Ibn ʿArabî liefern offenkundige Beispiele hierfür.

5 Die möglicherweise unecht, aber jedenfalls weit verbreitet und hinsichtlich ihres Inhalts nicht in Abrede gestellt werden.

6 Der Upâya ist das »geschickte Mittel«, mit dem der Himmel Seelen zu gewinnen versucht: Da diese vom Trug befangen sind, übernimmt das »Mittel« zwangsläufig etwas vom Trügerischen, daher die Verschiedenheit der Lehren, der Methoden, der Religionen, oder besser, deren unvergleichbare Seiten.

7 Dieser Widerspruch betrifft selbstverständlich nur den wortwörtlichen Sinn und nicht das zugrundeliegende Mysterium; nun ist es auf der Ebene der Exoterik aber der wortwörtliche Sinn, der zählt.

8 Einer islamischen Überlieferung zufolge werden am Ende der Zeit die Sonne und der Mond in die Hölle geworfen werden, weil sie von den Menschen verehrt worden sind, eine Auffassung, die das genaue Gegenteil der hinduistischen Sichtweise wie jeder anderen mythologischen oder »heidnischen« Sichtweise ist, die ihrerseits auf dem beruhen, was wir bei verschiedener Gelegenheit die metaphysische Durchsichtigkeit der Erscheinungen genannt haben. Man muss jedoch zugeben, dass dieser Grundsatz subjektiv zu vielen missbräuchlichen Anwendungen führt – wir denken hier nicht an den Götzendienst, der eine Abirrung und nicht ein einfacher Missbrauch ist –, beispielsweise auf der Ebene der gleichsam rituellen Vergöttlichung gewisser Maharadschas, wo sich der Anthropotheismus mit dem ganzen pingeligen schulmeisterlichen Gehabe verbindet, dessen die priesterliche Gesinnung in der Lage ist. Der bilderstürmerische Reflex des Islam zielt auf den Götzendienst in all seinen Formen ab, lehnt sich aber gleichzeitig im Namen der Transzendenz immer dann gegen die Immanenz auf, wenn diese in Wettstreit mit jener zu treten scheint; allein die Esoterik entgeht grundsätzlich dieser einschränkenden Neigung.

9 Oder, mit den gebotenen Vorbehalten oder Nuancen, zwischen Christen und Platonikern.

10 Diese hypostatische Konstellation bringt die Dreiheit Madhkûr, Dhâkir, Dhikr (»Angerufener, Anrufender, Anrufung«) hervor, die tatsächlich auf ihre Weise die vedantische Dreiheit Sat, Chit, Ânanda (»Sein, Bewusstsein, Glückseligkeit«) wieder aufnimmt.

11 Oder Shôdô-mon, »Schule des Heiligen Pfades«, und Jôdo-mon, »Schule des Reinen Landes«.

12 Wie es das Yin-Yang des Taoismus zeigt, einerseits, indem es zwei gegenüberliegenden Bereichen eine Form gibt, die eine Art Verflechtung darstellt, und andererseits, indem es in jeden Bereich ein Element des anderen überträgt.

13 Die Frage, die sich hier stellt, ist weniger, wer Recht hat, als an wen sich die Botschaften richten. Jedenfalls hat Shinran nichts verbessert, er hat einfach die lehrmäßige Betonung des Amidismus verschoben, was an sich annehmbar ist, allerdings nicht, wenn es zum Nachteil der vorhergehenden Auffassung ist; das Gegenteil zu denken heißt, dem Trug des »theologischen Fortschritts« zu verfallen. Alles in allem gibt es drei mögliche Wege: Vorrang der »eigenen Kraft«, Vorrang der »Kraft des Anderen«, Gleichgewicht zwischen beiden.

14 Diese wird auch als »Leib des Gesetzes«, Dharmakâya, dargestellt: Der absolute Buddha wird mit dem Grundsatz des Dharma gleichgesetzt, wohingegen die Persönlichkeit des irdischen Buddha das Gesetz als theophane Gegenwart ist. In ähnlicher Weise wird die Seele des Propheten – nach ʿAʾisha – mit dem Koran, oder genauer, mit dessen »menschlichem Wesenskern«, das heißt seinem arabischen Gepräge, gleichgesetzt.

15 Die Schulrichtungen Tendai, Shingon und Kegon lassen grundsätzlich oder tatsächlich die Verbindung beider Methoden zu, nämlich der Verehrung des Amida und der intellektuellen Betrachtung.

16 Im Islam beziehen sich die – dem Namen des Propheten hinzugefügten – Ausdrücke Salâh und Salâm, »Segen« und »Friede«, jeweils auf diese beiden Elemente, abgesehen von unmittelbareren Bedeutungen.

17 Dieser zweite Ausdruck erinnert im islamischen Empfinden an den Begriff Ikrâm, die »gewährende Großherzigkeit«: Allâh, der wesenhaft aus »Majestät« und »Schönheit« besteht, wird in der Sure ar-Rahmân »der Besitzer der Majestät und der überfließenden Großherzigkeit« (Dhû ʾl-Jalâli wa ʾl-Ikrâm) genannt [55,27].

18 Auf diese Polarität beziehen sich im Islam metaphysisch die beiden Glaubensbekenntnisse, das des einen Gottes, Allâh, der ausschließt, und das seines Propheten, Muhammad, der wieder eingliedert.

19 Weisen des »Erbarmens« (Rahmah) oder der Schönheit und der Liebe, wie Ibn ʿArabî sagen würde.

[19]Form und Gehalt in den Religionen

Damit eine Religion als wirklich orthodox angesehen werden kann – wobei die äußerliche Orthodoxie von besonderen formhaften Faktoren abhängt, die außerhalb der Sichtweise, zu der sie gehören, nicht wortwörtlich anwendbar sind –, muss die Religion auf eine im Ganzen angemessene Lehre vom Absoluten gegründet sein;1 weiter muss die Religion eine dieser Lehre entsprechende Geistigkeit empfehlen und erreichen, sie muss folglich dem Begriff und der Sache nach die Heiligkeit enthalten; die Religion muss also von göttlichem, nicht philosophischem Ursprung sein, und sie muss aufgrund dessen eine sakramentale oder theurgische Gegenwart vermitteln, die sich namentlich durch Wunder und auch – was manchen überraschen mag – durch die heilige Kunst bekundet. Besondere formhafte Elemente wie apostolische Persönlichkeiten und heilige Ereignisse sind als Formen den gerade erwähnten grundsätzlichen Elementen untergeordnet; sie können also ihre Bedeutung und ihren Wert von einer Religion zur anderen ändern – denn die Verschiedenheit der Menschen macht derartige Schwankungen unvermeidlich –, ohne dass es deswegen einen Widerspruch hinsichtlich der wesentlichen Kriteriologie gäbe, die zugleich die metaphysische Wahrheit und die erlösende Wirksamkeit und dann – auf dieser Grundlage – die menschliche Beständigkeit betrifft; diese Wirksamkeit kann Anforderungen stellen, die auf den ersten Blick paradox erscheinen mögen, bringt sie doch zwangsläufig einen gewissen Kompromiss zwischen Himmel und Erde mit sich. Der Islam mag vom christlichen Standpunkt aus äußerst problematisch erscheinen, er entspricht aber unbestreitbar der obigen allgemeinen Beschreibung; er ist [20]wirklich orthodox, auch wenn er sich äußerlich von anderen Formen monotheistischer Orthodoxie unterscheidet, und er ist dazu berufen, sich ganz besonders vom Christentum zu unterscheiden, indem er in gewisser Weise – anscheinend – zu einem abrahamischen und gleichsam zeitlosen Gleichgewicht zurückkehrt.

Jede Religion besitzt eine Form und einen Gehalt; der Islam hat sich blitzartig ausgebreitet dank seines Gehalts, seine Ausbreitung kam zum Stillstand aufgrund seiner Form. Der Gehalt besitzt alle Rechte, er geht aus dem Absoluten hervor; die Form ist verhältnismäßig, ihre Rechte sind somit begrenzt.2 Man kann bei voller Kenntnis der Sachlage die folgende zweifache offensichtliche Tatsache nicht leugnen: zunächst, dass es auf der Ebene bloßer Erscheinungen keine absolute Glaubwürdigkeit gibt, und dann, dass die wortwörtliche und Ausschließlichkeit beanspruchende Auslegung religiöser Botschaften widerlegt wird durch ihre verhältnismäßige Unwirksamkeit, selbstverständlich nicht innerhalb ihres vorsehungsmäßigen Ausbreitungsgebietes, sondern im Hinblick auf Gläubige anderer Religionen; »wenn Gott wirklich die Welt hat erlösen wollen«, hat ein chinesischer Kaiser Missionaren entgegnet, »warum hat er dann China jahrhundertelang in der Finsternis belassen?« Die unwiderlegbare Logik dieses Arguments beweist sicher nicht, dass eine bestimmte religiöse Botschaft falsch wäre, wohl aber, dass sie äußerlich durch ihre Form begrenzt ist, genauso, wie eine bestimmte geometrische Figur nicht die einzige [21]sein kann, die den Möglichkeiten des Raumes Rechnung trägt. Dieses grundsätzliche Argument hat ganz offensichtlich noch andere Seiten oder Anwendungsmöglichkeiten, zum Beispiel: Wenn Gott wirklich die Welt durch die christliche Religion und durch kein anderes Mittel hätte erlösen wollen, dann könnte man sich nicht erklären, warum er zugelassen hat, dass sich wenige Jahrhunderte später, als das Christentum seine Stellung in Europa noch nicht einmal gefestigt hatte, eine andere, sich blitzartig ausbreitende und monolithische Religion in ebenden Gebieten, in denen die christliche Ausstrahlung zum Durchbruch kommen sollte, durchsetzte und ein für alle Mal wie ein eherner Riegel jegliche Ausbreitung des Christentums in Richtung auf das Morgenland beeinträchtigte.3 Wenn umgekehrt die Ankunft des Islam bedeuten würde, dass sich die ganze Welt an diese Religion anschließen sollte, dann könnte man sich nicht erklären, warum Gott sie mit einer menschlichen Bilderwelt versehen hat, die das christliche Empfinden offen angreift und das Abendland für immer unempfänglich für die Botschaft Mohammeds macht; wenn man einwendet, [22]dass der Mensch frei sei, dass Gott ihm folglich die Freiheit lässt, überall und zu jeder Zeit eine falsche Religion zu stiften, dann haben Worte keinen Sinn mehr: Denn ein wirksames göttliches Eingreifen musste mit dieser Freiheit des Menschen, sich ihm zu widersetzen, rechnen, zumindest in einem Maße, welches das Wesentliche dieses Eingreifens sicherstellt und ermöglicht, dass die Botschaft überall verständlich ist und von allen Menschen guten Willens gehört wird. Man wird zweifellos sagen, dass der Wille Gottes unergründlich sei; wenn er das aber in einem solchen Fall und in einem solchen Maße ist, dann verliert die religiöse Argumentation selbst viel von ihrer Kraft. Es trifft zu, dass der verhältnismäßige Misserfolg der Ausbreitung der Religion die Gläubigen nie gestört hat, die Frage konnte sich aber ganz offensichtlich nicht stellen zu einer Zeit, in der das Bild der Welt beschränkt war und in der die Erfahrung eines Stillstands der Ausbreitung eben noch nicht gemacht worden war; und wenn die Einstellung der Gläubigen sich später nicht geändert hat, dann beweist das positiv, dass die Religionen echte Werte bieten, die keine irdische Zufälligkeit erschüttern kann, und negativ, dass Voreingenommenheit und mangelnde Vorstellungskraft zur Natur des Menschen gehören und dass diese beiden Züge sogar den Schutzschirm bilden, ohne den die Mehrzahl der Menschen nicht leben könnte.

Von einer Religion zu einer anderen überzutreten, bedeutet nicht nur, Begriffe und Mittel auszutauschen, sondern auch eine Gefühlswelt durch eine andere zu ersetzen. Wer Gefühlswelt sagt, sagt Begrenzung; der gefühlsmäßige Rahmen, der jede geschichtliche Religion umgibt, beweist auf seine Weise die Grenze jeder Exoterik und folglich die Grenze exoterischer Ansprüche. Innerlich oder den Gehalt betreffend ist der Anspruch der Religion unbedingt, äußerlich aber oder die Form betreffend, also auf der Ebene menschlicher Verhältnismäßigkeit, ist er zwangsläufig bedingt; wenn die Metaphysik nicht [23]ausreichen würde, das zu beweisen, würden es die Tatsachen selbst beweisen.

Stellen wir uns nun als Beispiel auf den Standpunkt des exoterischen, also alles beanspruchenden Islam: Zu Beginn der muslimischen Ausbreitung waren die Umstände so, dass der lehrmäßige Anspruch des Islam sich in unbedingter Weise aufdrängte; später aber musste notwendigerweise die jedem formhaften Ausdruck eigene Bedingtheit in Erscheinung treten. Wenn der exoterische – nicht der esoterische – Anspruch des Islam unbedingt und nicht bedingt wäre, könnte sich kein Mensch guten Willens diesem Anspruch oder diesem »kategorischen Imperativ« widersetzen: Jeder Mensch, der sich ihm widersetzte, wäre von Grund auf schlecht gewesen, so wie es zu Beginn des Islam war, als es nicht möglich war, ohne Verstocktheit die magischen Götzen dem reinen Gott Abrahams vorzuziehen. Der heilige Johannes von Damaskus bekleidete ein hohes Amt am Hof des Kalifen von Damaskus;4 er ist aber nicht zum Islam übergetreten, genauso wenig wie der heilige Franz von Assisi in Tunesien oder der heilige Ludwig in Ägypten oder der heilige Gregor Palamas in der jetzigen Türkei.5 Nun sind zwei Schlussfolgerungen möglich: Entweder waren diese Heiligen von Grund auf schlechte Menschen – eine sinnwidrige Annahme, da sie ja Heilige waren –, oder der Anspruch des Islam hat, wie jede Religion, eine bedingte Seite; das ist metaphysisch offensichtlich, da ja jede Form Grenzen hat und jede Religion äußerlich eine Form ist, wobei ihr Unbedingtheit nur in ihrem eigentlichen und formüberschreitenden Wesen [24]zukommt. Die Überlieferung berichtet, dass der Sufi Ibrâhîm ibn Adham eine Zeit lang einen christlichen Einsiedler als Meister hatte, ohne dass einer von beiden zur Religion des anderen übergetreten wäre; ebenso berichtet die Überlieferung, dass Sayyid ʿAlî Hamadhânî, der eine entscheidende Rolle beim Übertritt Kaschmirs zum Islam spielte, Lallâ Yôgîshwari kannte, die nackte Yoginî aus dem Tal, und dass die beiden Heiligen ungeachtet der unterschiedlichen Religion eine tiefe Achtung voreinander hatten, so sehr, dass man von wechselseitigen Einflüssen gesprochen hat.6 All das zeigt, dass die Unbedingtheit jeder Religion sich in ihrer inneren Dimension befindet, und dass die Bedingtheit der äußeren Dimension zwangsläufig sichtbar wird bei der Fühlungnahme mit anderen großen Religionen oder ihren Heiligen.

Das Christentum überlagert das Elend des nachparadiesischen Menschen mit der erlösenden Person Christi; der Islam setzt bei der unzerstörbaren Natur des Menschen an – kraft derer dieser nicht aufhören kann, das zu sein, was er ist – und erlöst den Menschen, nicht, indem er ihm eine neue Natur verleiht, sondern indem er ihm seine ursprüngliche Vollkommenheit mithilfe der normalen Inhalte seiner unwandelbaren Natur zurückgibt. Im Islam fällt die Botschaft – die reine und absolute Wahrheit – auf den Boten zurück: Dieser ist vollkommen in dem Maße, wie es die Botschaft ist, oder weil die Botschaft es ist. Der Christ ist – im negativen Sinn – sehr empfindlich für den außergöttlichen und im Gesellschaftlichen [25]