Über Raed Saleh & Markus Frenzel

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RAED SALEH, geboren 1977 in Palästina, kam als Kind nach Berlin und wuchs in einem sozialen Brennpunkt im Bezirk Spandau auf. Seit 2011 ist er Vorsitzender der SPD-Fraktion im Berliner Landtag. Klaus Wowereit nannte ihn »einen der kreativsten und vielversprechendsten Köpfe in der SPD«. Längst strahlt sein Wirken über die Hauptstadt hinaus, so verlieh ihm die Europäische Rabbiner konferenz einen Toleranz-Preis, die SPD in Lindau setzte ihm den Sozialistenhut auf – eine Auszeichnung für politische Vordenker.

 

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Co-Autor MARKUS FRENZEL, Jahrgang 1976, arbeitete über zwanzig Jahre als Journalist, u.a. für den SWR, die Deutsche Welle, ARTE und zuletzt als Redakteur des ARD-Magazins Fakt. Er wurde mit zahlreichen renommierten Journalistenpreisen ausgezeichnet. Heute ist Frenzel einer der engsten Vertrauten von Raed Saleh.

Vorwort Die Sache mit der Wurst

Wenn ich es recht bedenke, dann hat alles mit Salami angefangen. Mein Sinn für Gerechtigkeit. Mein politisches Engagement. Mein Deutschsein.

Es war in der Grundschule. In der ersten Klasse. Morgens versammelten wir Knirpse uns manchmal um den Gruppentisch, um gemeinsam zu frühstücken. Unsere Augen glänzten in freudiger Erwartung auf das Essen, das vor uns ausgebreitet war. Die Lehrerin hatte alles ordentlich aufgebaut – Schrippen, Butter, Käse, Wurst. Es gab verschiedene Sorten Wurst. Dunklere Salami, vom Rind, und hellere, vom Schwein. Die helleren Scheiben lagen vorne. »Du fängst an, Raed«, sagte die Frau in strengem Ton und nickte in meine Richtung. Schüchtern fuhr meine Hand zu der hinteren Reihe mit Salami. Gerade wollte ich mir eine Scheibe nehmen, als sie laut »Nein« rief. »Wir fangen mit der ersten Reihe an«, sagte sie. »Aber das ist Schweinefleisch«, entgegnete ich. Mir war das unangenehm, alle Kinder schauten auf mich. Die Lehrerin sah mich böse an. Schüchtern versuchte ich mich zu rechtfertigen. »Ich darf kein Schweinefleisch essen. Das hat mein Papa gesagt.« Aber meine Erklärungsversuche interessierten sie nicht. »Wenn du nicht mit der ersten Reihe anfängst, dann kommst du als Letzter dran«, schimpfte die Lehrerin. Und dann sagte sie etwas, das mich bis heute schockiert: »Erst wir, dann ihr.«

Dass die Lehrerin mich nicht mochte, hatte ich schon zuvor bemerkt. Ich fragte mich schon damals, warum. Lag es an mir? Hatte ich ihr einen Grund dafür gegeben? Heute weiß ich, was der Grund für ihre Ablehnung war. Manche würden ihr Verhalten wohl als rassistisch bezeichnen. Vielleicht zu Recht. Ich würde mit der Lehrerin aber nicht so hart ins Gericht gehen. Ich denke, sie wusste es einfach nicht besser. Sie hatte offenbar nie gelernt, mit neuen, fremden Einflüssen umzugehen. Es gefiel ihr nicht, dass Zugezogene aus anderen Kulturkreisen an »ihrer« Schule unterrichtet wurden. Meine Familie war einige Jahre zuvor aus Palästina nach Berlin-Spandau gekommen, wo mein Vater in einer Großbäckerei eine Arbeit gefunden hatte. Für die Lehrerin gehörten wir einfach nicht hierher.

Dass sie mich zwang, entweder Schweinefleisch zu essen oder mich am Ende mit den Resten zu begnügen, erzeugte in mir ein großes Gefühl der Ungerechtigkeit. Gleichzeitig wusste ich schon damals, dass sie falschlag. Sie versuchte, mich als Außenseiter, als Fremdkörper hinzustellen. Aber das war ich nicht. Schon als Sechsjähriger wusste ich, dass ich genauso dazugehörte wie Yvonne, Anita, Marco und die anderen Kinder in meiner Klasse. Wir alle waren Berliner Kinder, keiner besser oder schlechter als der andere. Und wir alle hatten Hunger an jenem Morgen.

Warum erzähle ich diese Geschichte noch heute, fast fünfunddreißig Jahre später? Es geht mir nicht darum, die Lehrerin vorzuführen. Mir geht es auch nicht um eine Art Abrechnung. Es stimmt, dass das Erlebnis bis heute meine Person prägt. Aber nicht in einer negativen, selbstmitleidigen Weise. Nein, die Sache mit der Wurst ist für mich Antrieb und Selbstbestätigung zugleich. Zum einen hat mir der Vorfall aus den achtziger Jahren gezeigt, dass es Widerstände in der deutschen Gesellschaft gibt, Neuankömmlinge oder Fremde willkommen zu heißen und in die bestehende Gemeinschaft aufzunehmen. Zum anderen aber, und das ist für mich heute der springende Punkt, habe ich offenbar damals schon, als Sechsjähriger, damit begonnen, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, was es bedeutet, Deutscher zu sein. Natürlich stellte ich mir diese Frage nicht so direkt. Ich hatte einfach das Gefühl dazuzugehören, und jemand anderes lehnte dies ab. Ich verstand schlicht nicht warum und suchte nach Antworten.

Inzwischen bin ich geradezu dankbar, dass es damals zu diesem Vorfall kam. Denn in dieser kleinen Geschichte zeigt sich das ganze Dilemma der heute so hitzig diskutierten Frage: Was ist deutsch, und wer sind die Deutschen?

Einige behaupten, dass diese Frage seit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts im Jahr 2000 ein für alle Mal entschieden sei: Deutsch ist, wer einen deutschen Pass besitzt. Aber ganz so einfach ist es nicht. Es wäre, als würde man behaupten, für ein Buch brauche es nur zwei Pappdeckel und einen Stoß Papier. Formal mag das stimmen, aber entscheidend ist doch, was zwischen den Deckeln steht.

Es gibt die Figur des deutschen Michels, Inbegriff des braven Kleinbürgers zur Zeit des Biedermeiers. Er hatte Angst vor der großen Welt und zog sich daher in die Privatsphäre der eigenen vier Wände zurück. Hauptsache, der Ofen war warm, der Sonntagsbraten schmeckte, und die Pfeife danach war gut gestopft. Noch immer gibt es diese Mentalität unter den Deutschen, diese Angst vor der Welt da draußen und vor den Fremden, die seit einigen Jahren verstärkt ins Land kommen. Ihnen gegenüber stehen Multikulti-Freunde, die ins andere Extrem verfallen und allein in einer bunten, chaotischen und wenig geregelten Gesellschaft die Zukunft Deutschlands sehen. Beide Seiten liegen meiner Meinung nach falsch. Weder rigide Abschottung noch bedingungslose Öffnung sind die richtigen Rezepte für unser Land.

Wir brauchen eine ernsthafte Diskussion, was heutzutage Deutschsein heißt, und wir brauchen eine Art Regelwerk für Neuankömmlinge, das diesen Menschen zeigt, was typisch deutsch ist und was wir in Deutschland auch in Zukunft nicht aufgeben möchten. Für viele der hier Lebenden wäre es ebenfalls hilfreich, wenn wir eine verbindliche Gesellschaftsordnung formulieren würden, in der die Kernwerte und kulturellen Leitplanken unseres Landes klar benannt werden. Bereits um die Jahrtausendwende hatte es eine Diskussion gegeben, in der die Frage nach einer deutschen Leitkultur gestellt wurde. Und sie wurde in unseren Tagen von Thomas de Maizière erneut angestoßen. Doch eine befriedigende Antwort steht noch immer aus.

Natürlich brauchen wir eine deutsche Leitkultur. Es geht um einen moralischen, politischen, kulturellen Minimalkonsens. Wir können es auch »kulturellen Leitfaden« oder »Hausordnung für unser Land« nennen. Jeder moderne Staat hat eine solche »Hausordnung« und bestimmt sie immer wieder neu. Das zeigen die Diskussionen in Frankreich, wo im Vorfeld der Präsidentenwahlen 2017 zum x-ten Mal gestritten wurde, ob nun die Gallier als die Urväter aller Franzosen anzusehen seien oder nicht. Genau wie in Großbritannien, wo es vor wenigen Jahren zu einer Empörungswelle kam, weil dem Kulturminister, einem aus einer pakistanischen Familie stammenden Migrantensohn, zur britischen Leitkultur nur Shakespeare und einige Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert einfielen. Also weder eine Bestsellerautorin wie Joanne K. Rowling noch ein Musikgenie wie David Bowie, weder der von norwegischen Einwanderern abstammende Kinderbuchautor Roald Dahl noch die aus Sri Lanka eingewanderte Pop-Ikone M.I. A. Mit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump ist die Diskussion auch in den USA wieder entbrannt. Wie versteht sich das einstige Land der unbegrenzten Möglichkeiten heute, und wer darf dazugehören? Die Frage nach einer Leitkultur stellt sich in jeder modernen Gesellschaft und in jeder neuen Generation aufs neue.

Nur müssen wir endlich einmal sagen, was diese neue deutsche Leitkultur ist. Denn es ist sicher nicht mehr deutscher Wein und deutscher Sang, Hermannsschlacht und Loreley. Mal ganz ehrlich: Wann haben Sie zuletzt Goethe gelesen? Oder ein Glas Riesling aus dem Rheingau getrunken? Und wer kann aus dem Stegreif die Geschichte von der Loreley nacherzählen? Wahrscheinlich haben wir zuletzt eher einen Fatih-Akin-Film gesehen (zum Beispiel Tschick), einen Döner gegessen oder können ohne Probleme die Story von Der Schuh des Manitu nacherzählen. Kultur ist, was uns prägt. Und geprägt werden wir von Dingen, die wir tun, die unser Denken beeinflussen oder uns wichtig sind.

In das Weltbild meiner Lehrerin in der Grundschule passte es vor fünfunddreißig Jahren nicht, dass ein Kind keine Schweinesalami isst. Für sie galt: kein Schweinefleisch = kein Deutscher. Ich meine, dass diese Gleichung nichts mit der Wirklichkeit in unserem Land zu tun hat. Aber es gibt andere »Gleichungen«, die uns sagen, ob jemand sich als Deutscher fühlt oder sich dem zuordnen lässt, was ich unter deutscher Leitkultur verstehe. Weil dies für unser Land, für unsere Gesellschaft eine Frage von zukunftsweisender Bedeutung ist, möchte ich auf den folgenden Seiten den Versuch unternehmen, diese neue deutsche Leitkultur zu bestimmen. Ein solcher Versuch kann scheitern. Aber was wäre damit schon verloren? Wir können also nur gewinnen.

Kapitel 1 Ein Begriff wird zum politischen Programm

Ich war fünf Jahre alt, als ich die Treppe der Lufthansa-Maschine hinunterstapfte und zum ersten Mal deutschen Boden betrat. Es war der 11. Juli 1982. Das Datum markiert in meiner Familie bis heute den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Berlin-West, Flughafen Tegel. Grenzbeamte prüften unsere Papiere. Noch heute sehe ich die Szene vor mir. Um uns standen viele Uniformierte. Sie wirkten eigenartig starr, ihre Bewegungen mechanisch. Mit knappen Worten wiesen sie uns an, wo wir langgehen mussten. Für einen Ankömmling aus der arabischen Welt, wo man von klein auf mit komplizierten Höflichkeitsformeln aufwächst, war das ziemlich ungewohnt. Erst später lernte ich, dass die Wortkargheit der Uniformierten nicht unhöflich gemeint war. Es herrschte in Deutschland einfach ein anderer Umgangston, ein anderer Geist.

Unsere Eltern hatten mich und meine Geschwister auf die Ankunft vorbereitet. Wir wussten, dass das weit im Norden gelegene Berlin nicht viel mit dem südländischen, orientalischen Sebastia zu tun hatte, einem 4500-Seelen-Nest in Palästina. Von dort waren wir am Morgen aufgebrochen, um den Flieger in Tel Aviv zu nehmen. Aber ganz so heftig hatte ich es dann doch nicht erwartet. Ganz ehrlich, dieser erste Eindruck meiner neuen Heimat hatte mich ein bisschen irritiert. Erst später habe ich verstanden, dass dieses Gesicht Deutschlands – mit strengen Ordnungshütern, Befehlen und Verboten –, das ich auf dem Flughafen Tegel kennengelernt hatte, nicht das wahre oder wenigstens nicht das einzige Gesicht des Landes war. Wahrscheinlich wäre es mir bei der Ankunft in den USA, Kanada oder Australien, in Holland, Frankreich oder Großbritannien nicht viel anders ergangenen.

***

Nach einigen Jahren hatte ich den Geist der neuen Heimat – manche würden sagen: die Sekundärtugenden – verinnerlicht. Kinder sind ja besonders anpassungs- und lernfähig. Ordnung, Pünktlichkeit, Disziplin sind mir geradezu heilig. Vor Amtspersonen, vor Polizisten, Feuerwehrleuten, auch Ärzten, habe ich noch immer großen Respekt. Eigentlich sollte das selbstverständlich sein. Wahrscheinlich bin ich da etwas altmodisch. Aber ich ärgere mich oft, wenn in meiner Heimatstadt Berlin Jugendliche, aber auch Erwachsene über »die Bullen« reden, oder generell die Vertreter des Staates verunglimpft und beschimpft werden. Wegen meiner vielleicht etwas altmodischen Haltung haben mich Kollegen und auch Journalisten schon als »den Preußen« bezeichnet. Es stört mich nicht. Im Gegenteil. Ordnung, Pünktlichkeit oder Respekt vor der Obrigkeit sind, so finde ich, nicht das Schlechteste. Und diese Gene in meiner »deutschen DNS« werde ich auch nicht mehr los. All das wurde mir erst im Laufe der Jahre klar, und ich habe mich gefragt, was diese »deutsche DNS« denn sonst noch so ausmacht. Ein Handbuch, in dem ich dies hätte nachlesen können, gab es aber nicht.

Zum ersten Mal wurde der Begriff »Leitkultur« im Juni 1998 in die politische Debatte in Deutschland eingeführt. Damals wurde dies aber kaum wahrgenommen, auch von mir nicht. Denn es gab Wichtigeres zu tun: Nach sechzehn Jahren Helmut Kohl sollte eine neue Ära eingeläutet werden. Die Ära Rot-Grün. Ein aufregendes Experiment. Eine Hoffnung. Gerhard Schröder. Der Text, den Jörg Schönbohm, seinerzeit noch Innensenator in Berlin, am 22.6.1998 in der Berliner Zeitung veröffentlichte, ging damals fast unter. Auch ich habe ihn erst Jahre später gelesen. In dem Artikel malte der CDU-Politiker ein düsteres Bild der deutschen Gegenwart. Laut Schönbohm waren Alt-Achtundsechziger dafür verantwortlich, dass Deutschland in mehrere Parallelgesellschaften zerfiel. Vorbilder für diese linksalternativen Kräfte seien »Kommunen« und »freie Assoziationen«, denen das Grundgesetz recht egal sei. Ziel sei die multikulturelle Gesellschaft, seien Marxismus und Anarchismus.

Der Text wirkte wie aus der Zeit gefallen. Ein Ex-General tat sich offensichtlich schwer mit dem politischen Wandel in seinem Land. Nachdem er in aller Ausführlichkeit ein völlig unrealistisches Horrorszenario gezeichnet hatte, versuchte er es zum Schluss mit einem Appell: Er forderte eine allgemein anerkannte Wertorientierung. Quasi als eine Art Generalversicherung für sein Vaterland. Eindringlich appellierte der Ex-Innensenator an die Politik, eine »allgemein anerkannte Leitkultur« zu verteidigen. Da war es – zum ersten Mal. Das Wort, das die deutsche Gesellschaft im Folgenden nicht mehr loslassen sollte.

Zwei Jahre später: Rot-Grün hatte es tatsächlich geschafft, Helmut Kohl abzulösen. Das politische Projekt hatte große Erwartungen geweckt, war aber nur ziemlich mühsam und stotternd in Gang gekommen. Eine der zentralen Baustellen von Rot-Grün war das neue Staatsbürgerschaftsrecht. Es sah vor, dass in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern automatisch die doppelte Staatsbürgerschaft erhalten und sich dann bis zu ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr für eine der beiden Staatsbürgerschaften entscheiden müssen. Es war beiden Parteien – SPD und Grünen – so wichtig, dass es vom ersten Tag des gemeinsamen Regierens in Angriff genommen wurde. Die ausländische Presse schaute staunend auf dieses neue Deutschland. So viel Mut hatte wohl niemand der deutschen Gesellschaft zugetraut.

Im Land selbst sahen das nicht alle so positiv. Die Konservativen witterten ihre Chance und holten eine olle Kamelle wieder aus der Schublade. Der Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz, schubste im Oktober 2000 in mehreren Zeitungsartikeln den Begriff »Leitkultur« auf die ganz große Bühne. In politischen Diskussionen ließ er sich dazu immer wieder ein. Seine Forderung: Zuwanderer, die auf Dauer in Deutschland leben wollen, müssen sich einer gewachsenen, freiheitlichen deutschen Leitkultur anpassen. Zudem müssten diese Neuankömmlinge aktiv ihren Beitrag zur Integration leisten, und zwar indem sie sich den in unserem Land gewachsenen kulturellen Grundvorstellungen unterordnen.

Schnell bekam die Debatte eine Eigendynamik. Was als Befreiungsschlag und Angriffssignal gedacht war, entwickelte sich für die CDU mehr und mehr zu einer Belastung. Arbeitgeberverbände, von jeher loyale Verbündete der Unionsparteien, distanzierten sich. Auch parteiintern gab es heftige Kritik. Altvordere wie Heiner Geißler und Rita Süssmuth rügten die Parteispitze für die riskante Strategie. Denn eines schien klar, dass mit dem Thema nach Stimmen von rechtsaußen gefischt werden sollte.

Die ganze Debatte gipfelte in einer Rede von Paul Spiegel, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden. Vor 200000 Demonstranten, die am Brandenburger Tor in Berlin zusammengekommen waren, warnte er: »Was soll das Gerede um die Leitkultur? Ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten?« Mit der Leitkulturdebatte, so Spiegel, zündele die Union gefährlich. Sein Vize Michel Friedman, selbst CDU-Mitglied, sekundierte ihm, indem er von einer »gefährlichen Seifenblase« sprach. Die ganze Diskussion um die Leitkultur sei rückwärtsgewandt und stehe dem modernen Verständnis von Integration entgegen. Die richtig dicke Kanone holte dann noch die taz heraus. So tönten die linksalternativen Journalisten, dass das Wort »Leitkultur« genauso belastet sei wie die Worte »Lebensraum« oder »Untermensch«. Danach konnte eigentlich keiner mehr den Begriff in den Mund nehmen. Folgerichtig wurde der Begriff »deutsche Leitkultur« zum Unwort des Jahres gewählt.

Was mich damals faszinierte, war, wie heftig und emotional die Diskussion geführt wurde. Es gab kaum moderate Töne. Jeder hatte eine sehr entschiedene Meinung. Die deutsche Gesellschaft zerfiel in zwei Lager, diejenigen, die eine »Leitkultur« für dringend geboten hielten, und ihre Gegner.

Bereits bevor die Leitkultur-Debatte losbrach, hatte die CDU in Hessen einen scharf rechten Wahlkampf gefahren, mit einer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Vor diesem Hintergrund beschrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Oktober 2000, wie die deutschen Konservativen im Jahr 1999 so tickten: »Der größere Teil der schlichten Mitglieder, mehr aber noch die klassische Wählerklientel der CDU lehnen ›Multikulti‹ mit teilweise großer Emotionalität ab. Wie stark die Gefühlsaufwallungen in ihrer Wählerschaft diesbezüglich sind, hat die CDU-Führung erfahren, als sie die Unterschriftenaktion in Hessen startete. Teile der Parteiführung waren insgeheim entsetzt darüber, dass die Leute Schlange standen, um – wie sie formulierten – ›gegen die Ausländer‹ unterschreiben zu können.« Und »gegen Ausländer« gerichtet schien für viele auch das Konzept der Leitkultur zu sein, zumindest legte das der Zuspruch aus dem rechten Spektrum der deutschen Politik nahe. Denn »Leitkultur« klang in konservativen Ohren offenbar nach Zucht und Ordnung, nach Befehl und Gehorsam.

Im linken Spektrum der Politik begründete damals Ralf Fücks von den Grünen die Ablehnung des Begriffs »Leitkultur«: Den Vorstoß von Merz bezeichnete er als »ausgemachten Nonsens«. Es gebe zwischen Schwabing und Ostfriesland, zwischen Frankfurt/Oder und Frankfurt/Main viel zu viele Lebensstile, um sie in ein kulturelles Korsett zwängen zu können. Sein Parteifreund Cem Özdemir warnte gar vor einer »deutschen Leitkultur«, die sich zu einer kulturellen Diktatur auswachsen könne, denn zur deutschen Kultur gehöre Currywurst, Döner, koscheres Essen oder gefillte Fisch gleichermaßen. Besonders scharf formulierten die wenigen Gegner im konservativen Lager ihre Ablehnung. In Zeitungsinterviews gingen manche sogar so weit, von einer »primitiven Vorstellung von Integration« zu sprechen und somit die Diskussion ins Lächerliche zu ziehen.

Bei aller Aufregung blieb die Diskussion aber doch erstaunlich substanzlos. Was genau meinte denn nun dieser Begriff »Leitkultur«? Der einstige Bundesminister und CDU-Generalsekretär Heiner Geißler vertrat die Ansicht, es müsse um einen »Verfassungspatriotismus« gehen, wie ihn Jürgen Habermas und andere ins Spiel gebracht hatten. Allerdings konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Leute, die in Marburg, Darmstadt oder Groß-Gerau »gegen Ausländer« unterschrieben hatten, wirklich große Fans des Grundgesetzes waren.

Seitdem taucht die Diskussion um eine Leitkultur in regelmäßigen Abständen auf. Vor allem konservative Politiker scheinen zu glauben, dass allein das Erwähnen des Begriffs »Leitkultur« Stimmen bringt. Warum sonst wird das Thema so gern in Zeiten des Wahlkampfes bemüht? Zuletzt hat das Bundesinnenminister Thomas de Maizière vorgemacht. In seinen zehn Thesen für eine Leitkultur für Deutschland fand sich wenig Neues. Die vorgebrachten Punkte gingen über den Stand der Diskussion von Merz, Schönbohm und Co. nicht hinaus. »Wer will es bestreiten, dass es hier«, also in Deutschland, »erprobte und weiterzugebende Lebensgewohnheiten gibt, die es wert sind, erhalten zu werden?«, fragt der Minister rhetorisch. »Wohl kaum jemand.«

Zugegeben, eine wichtige Frage. Aber wie lautet die Antwort des Bundesinnenministers? Was sind denn diese weiterzugebenden, deutschen Lebensgewohnheiten? Seine Antwort ist – wenn man ehrlich ist – ziemlich enttäuschend: der Händedruck; sich mit dem Namen anzusprechen; dem Gesprächspartner ins Gesicht zu blicken … Was soll daran bitte schön typisch deutsch sein? Schweden, Polen, Schweizer, der türkische Gemüsehändler an der Ecke, sie alle halten es genauso. Und glaubt Thomas de Maizière allen Ernstes, dass sich Menschen in Mali, Peru oder Afghanistan unterhalten, indem sie permanent vor sich auf den Boden starren? »Wir sehen Bildung und Erziehung als Wert und nicht allein als Instrument«, schreibt er weiter. Ja, das ist zum Glück so. Aber das sehen Mexikaner, Franzosen, Israelis, Ruander und wahrscheinlich die anderen 189 Mitgliedsländer der Vereinten Nationen ähnlich.

Einen wichtigen Punkt spricht Thomas de Maizière allerdings an – nämlich bei der Religion. So zählt er sowohl christliche Kirchen als auch Synagogen und Moscheen zur deutschen Leitkultur. »In unserem Land ist Religion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft«, schreibt er. Aber so vielversprechend er beginnt, so schnell verlässt den CDU-Mann auch wieder sein anfänglicher Mut. Denn wie sonst ist es zu verstehen, wenn er einige Sätze weiter nur noch von Kirchtürmen spricht, die unsere Landschaft prägen. Nein, das x-te konservative Thesenpapier zur deutschen Leitkultur erweist sich als ähnlich mangelhaft wie die bekannten Versuche zuvor. Es bleibt viel zu oberflächlich. Und der Minister polarisiert zu sehr, weshalb die Ablehnung beim politischen Gegner vorprogrammiert war. So wurden die Einlassungen als »pure rechte Stimmungsmache« (Grüne) kritisiert, als »Ablenkungsmanöver« (FDP) und »Scheindebatte« (SPD). Auch Jürgen Habermas, die graue Eminenz unter den deutschen Intellektuellen und Erfinder der Idee des »Verfassungspatriotismus«, lehnt die schlichte Zuspitzung der Leitkultur à la de Maizière ab. »Im Fluss einer lebendigen demokratischen Streitkultur stehen die Inhalte der politischen Kultur nicht still«, hielt der Philosoph in der Rheinischen Post sofort dagegen. Auch sonst fielen die Reaktionen in der Presse zumeist negativ aus. Von einem »Sammelsurium von Nichtigkeiten« war die Rede, von »altbackenen« Ideen. »De Maizière wärmt eine alte Debatte aus Kalkül auf«, titelte der Tagesspiegel. »Das ist so albern«, hieß es in der Süddeutschen Zeitung, »dass es einen drängt, den Minister zum Alberich zu erklären.«

Wenn sich der Minister dem Spott aussetzen will, dann ist das allein seine Sache. Nur leider hat sein Vorstoß auch negative Konsequenzen. Denn sein Thesenpapier zieht neue Gräben, was sehr ärgerlich ist. Die Diskussion um eine deutsche Leitkultur ist wichtig, deshalb dürfen wir sie uns nicht von konservativen Sprücheklopfern kaputtmachen lassen. Und eines sollte uns klar sein: Das Konzept der »Leitkultur« ist keine Erfindung von rechten Unionspolitikern. Lange vor Thomas de Maizière und auch lange vor Jörg Schönbohm wurde über das Konzept bereits in der Politikwissenschaft gestritten. Und der eigentliche Witz an der Sache ist, dass der Begriff nicht von einem deutschen Professor mit Sittenwächter-Ambitionen entwickelt wurde, sondern von einem in Damaskus geborenen Gelehrten und Professor für Internationale Beziehungen an der Uni Göttingen: Bassam Tibi.

In seinem Buch Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft entwickelte Tibi die Idee einer europäischen Leitkultur, und er definierte schon damals, 1998, sehr konkret, was er darunter versteht. »Es ist wichtig, genau anzugeben, welches die verbindlichen Werte einer Leitkultur in westlichen Gesellschaften sind«, schreibt Tibi und zählt im Einzelnen auf: Demokratie, eine säkulare Gesellschaftsordnung, Menschenrechte, das Primat der Vernunft über den Glauben, eine selbstbewusste Zivilgesellschaft und gegenseitige Toleranz. Laut Tibi sind diese Werte erstmals in den demokratischen, rechtsstaatlichen und säkularen Nationalstaaten verwirklicht worden, wie sie die westliche Welt in den vergangenen zweihundert Jahren hervorgebracht hat. Für den Wissenschaftler hat eine solche »Leitkultur« aber nur Sinn, wenn sie eine »europäische« ist. Alles andere ist für ihn künstlich verengt.

In der hitzig geführten politischen Debatte hatte sich für die Definition des Professors aus Göttingen niemand interessiert. Schade. Denn die klugen Gedanken von Bassam Tibi hätten es verdient, dass man sich genauer mit ihnen beschäftigt.

Ich kann mich der Definition von Leitkultur, so wie sie Bassam Tibi vornimmt, in großen Teilen anschließen. Und doch meine ich, dass wir uns nicht mit einer Bestimmung europäischer Werte zufriedengeben können. Gleichzeitig kann ich verstehen, dass sich einige von dem Begriff »deutsche Leitkultur« abgeschreckt fühlen. Sie würden vielleicht lieber von einer »kulturellen Orientierungsfibel« sprechen. Aber wir dürfen uns nichts vormachen. Es geht darum, unsere Werte und Traditionen festzuschreiben und einzufordern. Allerdings besteht kein Grund zur Beunruhigung. Jedes Unternehmen hat einen Verhaltenskodex, in den Parlamenten und Ministerien wird auf strenge Einhaltung der Geschäftsordnung geachtet. Etwas Vergleichbares brauchen wir auch für unsere Gesellschaft.

Unser Land braucht einen moralischen und kulturellen Rahmen, der allgemeingültig für alle Mitbürger vorgegeben ist, und zwar für Neuankömmlinge genauso wie Alteingesessene. Denn eine Demokratie misst sich immer daran, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. In dieser Logik schützt die Leitkultur die Vielfalt und das Anderssein in einer pluralistischen Gesellschaft. Was Tausende von wutschäumenden Pegida-Demonstranten allmontäglich in Dresden veranstalten, hat mit deutscher Leitkultur rein gar nichts zu tun. Diese Leute verstoßen gegen die deutsche Leitkultur. Genauso wie dies islamistische Hassprediger oder Autos abfackelnde Linksextremisten tun.

Bei seinen wegweisenden Überlegungen hat sich Bassam Tibi von einem der größten Denker der arabischen Welt inspirieren lassen: Ibn Chaldun. Der Gelehrte, geboren 1332 in Tunis und gestorben 1406 in Kairo, war in der mittelalterlichen Welt Nordafrikas so eine Art Mischung aus Macchiavelli und Émile Durkheim, also halb unbestechlicher Machtanalytiker, halb sensibler Soziologe. Auch heute können wir von Ibn Chaldun noch viel lernen. Ronald Reagan wusste das. Als Präsident der Vereinigten Staaten zitierte er Ibn Chaldun und führte seine Politik explizit auf Überlegungen des islamischen Gelehrten zurück. Aber soweit ich weiß, stand er in der Politik damit als Einziger da. Für die deutsche Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel war er ein bedeutender Vorläufer der modernen Soziologie und für den österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter ein Ahnherr der modernen Wirtschaftswissenschaft. Kurzum, es lohnt sich nachzulesen, was der Mann zum Verhältnis von Werten und der Stärke einer Gesellschaft geschrieben hat. Für Ibn Chaldun hängt beides unmittelbar zusammen. In seinem Hauptwerk, der Muqaddima, beschreibt er den ewigen Zyklus von Aufstieg und Verfall von Gesellschaften. Für Ibn Chaldun ist klar: Nur wenn eine Gemeinschaft tugendhaft und von Werten geleitet ist, steigt sie auf oder kann ihre hohe Position halten. Doch sobald der moralische Anspruch nachlässt, wird die Gesellschaft schwächer und schwächer bis schließlich andere stärkere Völker ihren Platz einnehmen. Zum moralischen Verfall einer Gesellschaft kommt es für Ibn Chaldun, sobald der Gemeinsinn einer Gesellschaft nicht mehr funktioniert und nur noch jeder an sich selbst denkt. Wenn Habgier, Egoismus und Verrohung der Sitten die Menschen prägen, wenn die Herrschenden ihr Volk unterdrücken und ausbeuten. Wenn der Staat immer neue Schulden aufnimmt, wenn die Herrschenden einen dekadenten Lebenswandel führen, wenn sie nur noch an sich selbst denken und das Volk es den Mächtigen nachtut, dann ist der Niedergang des Staates nicht mehr weit. Mit seinen Ausführungen zeigt der große Denker, wie wichtig die moralische Ausprägung einer Gesellschaft ist. Denn es geht nicht nur um Gesetze, um Recht und Ordnung. Eine Gesellschaft funktioniert nur dann und hat nur dann eine Zukunft, wenn sie auf einen Gemeinsinn orientiert ist. Wenn es etwas Gemeinsames gibt, etwas Verbindendes. Etwas, wofür es sich lohnt zu kämpfen, wofür man das eigene Vorteilsdenken zurückstellt. Dieses Verbindende wird in den modernen Gesellschaften künstlich herzustellen versucht, durch das Prinzip der Nation. Nur wenn die Angehörigen einer Nation es für erstrebenswert halten, sich für die Gemeinschaft, sich für den anderen einzusetzen, wird es vorangehen. Als emotionaler Kitt dient der Patriotismus.

Für mich ist Patriotismus nichts Schlechtes. Der Schriftsteller George Orwell hat Patriotismus einmal als »Liebe zu einem bestimmten Ort und seiner Lebensart« bezeichnet. Es geht also um ein Gefühl. Liebe hat nichts mit der Befolgung von Gesetzen zu tun. Liebe bedeutet, dass wir etwas benennen müssen, was uns so sehr am Herzen liegt, dass wir es lieben können.

Mir gefällt die Definition von George Orwell. Wir sollten keine Angst vor einem solchen Patriotismus haben – einem offenen und einladenden Patriotismus. Ich selbst kann sagen, dass ich Deutschland liebe. Ich bin auch stolz auf mein Heimatland. Die Offenherzigkeit meiner Mitbürger, als im Sommer 2015 Tausende von Hilfesuchenden nach Deutschland kamen, hat mich mit Stolz erfüllt. Ich bin auch stolz darauf, dass Deutschland in Umfragen immer wieder auf Spitzenplätze gelangt, wenn es darum geht, welches Land international besonders beliebt ist. Das ist ein bisschen so, wie wenn unsere Berliner Fußballklubs – Hertha BSC Berlin und Union Berlin – gewinnen. Ich freue mich, dass meine Heimat von anderen gemocht wird, dass unsere Fußballklubs erfolgreich sind.

Im Frühjahr 2014 veröffentlichte der Sender BBC das Ergebnis einer Umfrage. 25000 Personen waren weltweit befragt worden, unter anderem danach, welches Land ihrer Meinung nach den »größten positiven Einfluss auf die Weltgemeinschaft« habe. Auf Platz eins landete Deutschland. Und das war vor der großen Flüchtlingswelle, in deren Verlauf die Bundeskanzlerin Hunderttausende Hilfesuchende ins Land ließ und dafür mit Selfies, auf Plakaten und auf Titelseiten gefeiert wurde.

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