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Dimitri Wolkogonow

Trotzki

Das Janusgesicht der Revolution

Aus dem Russischen

übersetzt von

Vesna Jovanoska

edition berolina

eISBN 978-3-95841-552-2

1. Auflage dieser Ausgabe

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

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Die Originalausgabe Lew Trotzki. Polititscheskij portrjet erschien 1992 by Nowosti, Moskau, eine deutsche Ausgabe 1992 by ECON Verlag GmbH, Düsseldorf.

Umschlaggestaltung: BEBUG mbH, Berlin

Umschlagabbildung: © bpk / Coll. Michel Lefebvre / adoc-photos

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»Ein persönliches Schicksal hat auch L. Trotzki,

und es ist sinnlos, dass er versucht,

die Bitternis dieses Schicksals zu verbergen.«

N. Berdjajew

Statt einer Einleitung
Das Schicksal
eines Revolutionärs

Der Sonderzug war auf dem Weg nach Kiew. Er brauste an den wenigen Stationen vorbei, um die Fahrgäste so schnell als möglich in die ukrainische Hauptstadt zu befördern. Es war Nacht. In einem der Waggons schlief man nicht. Es war ein großer Salon, eingerichtet mit einigen Sesseln und einem Diwan aus Leder, einem länglichen Tisch in der Mitte und einem kleineren in der Ecke, auf dem die Telefonapparate standen. Am Panzerglasfenster stand ein Mann mittleren Wuchses mit Oberlippen- und Kinnbart, der eine aufgeknöpfte Uniformjacke und Stiefel trug. Über seiner hohen Stirn wucherte üppiges Haar, das schon leicht ergraut war. Auf der charakteristischen römischen Nase saß ein feines Pincenez, hinter dessen Gläsern lebhafte hellblaue Augen funkelten. Der Mann, der aus dem Fenster schaute, hoffte vergeblich, einige Lichter in der Dunkelheit zu entdecken. Das riesige zerrissene Land lag nicht nur in Ruinen, sondern in völliger Finsternis.

Am Tisch, mit der Feder in der Hand, saß ein junger Mann im Soldatenhemd. Ringsherum lagen Telegramme der 3. und 5. Armee der Ostfront, die auf dem Vormarsch in Richtung des Flusses Tobol waren. Die südliche Gruppierung der Front hatte sich erfolgreich in Richtung Turkestan vorgekämpft. Die knapp gehaltenen Berichte bestätigten: Admiral Koltschak wird bald am Ende seiner Kräfte sein, und dann ist der Weg nach Osten frei. Doch es waren nicht diese Probleme, die den Mann im Eisenbahnsalon beschäftigten. Sein Sekretär notierte flink die Sätze, die er ihm vom Fenster aus zuwarf. »… Das Scheitern der ungarischen Republik, unsere Misserfolge in der Ukraine und unser möglicher Verlust des Schwarzmeer-Küstenstreifens sowie unsere Erfolge an der Ostfront verändern in entscheidendem Maße unsere internationale Orientierung. Das, was gestern zweitrangig war, hat heute Vorrang …«

Der Mann schwieg eine Weile, blickte seinen Sekretär bedeutungsvoll an und fuhr fort: »Die Lage wird sich anders darstellen, wenn wir unser Gesicht dem Osten zugewandt haben …« Diese Worte kamen aus dem Mund eines selbstbewussten Mannes, der, wie es schien, in der Lage war, durch den dichten, dunklen Vorhang einer Sommernacht weit hinter den Horizont zu schauen: »… Es besteht keinerlei Zweifel, dass auf den asiatischen Schlachtfeldern unsere Rote Armee eine unvergleichlich bedeutendere Macht darstellt als auf den europäischen. Unzweifelhaft eröffnet sich uns nun die Möglichkeit, nicht nur langfristig abzuwarten, wie sich die Ereignisse in Europa entwickeln werden, sondern auch an den asiatischen Frontabschnitten aktiv zu werden. Im Augenblick kann sich der Weg nach Indien für uns als durchlässiger und kürzer erweisen als der Weg nach Sowjet-Ungarn. Unsere Armee, die nach europäischen Maßstäben zurzeit keine große Bedeutung hat, kann das labile Gleichgewicht der Kolonialbeziehungen in Asien stören, dem Aufstand der unterdrückten Massen Antrieb geben und den Sieg eines solchen Aufstandes in Asien sicherstellen …«

Der Mann ging vom Fenster zur Mitte des Salons und setzte sich in einen Sessel. »Fügen Sie zum letzten Satz hinzu: ›Selbstverständlich setzen die Operationen im Osten die Schaffung und Stärkung einer mächtigen Basis im Ural voraus. All jene Kräfte, die wir für Arbeitersiedlungen im Dongebiet einsetzen wollten, müssen wir nun im Ural konzentrieren. Dorthin müssen wir unsere besten wissenschaftlich-technischen Kräfte schicken, unsere besten Organisatoren und Administratoren …‹«

Erregt von seinem großen Plan, konnte der Mann mit dem Pincenez seinen Redefluss kaum bremsen: »Wir müssen dorthin die besten Elemente der ukrainischen Partei schicken, die derzeit beurlaubt worden sind. Falls sie die Ukraine verlieren, dann sollen sie für die sowjetische Revolution Sibirien erobern …«

»Lew Dawidowitsch, bitte etwas langsamer, ich kann Ihnen nicht folgen«, unterbrach der Sekretär den Diktierenden und blickte ihn müde an.

»Wie? Langsamer? Nun, also langsamer …«

Das Diktat der »Aufzeichnungen an das ZK der RKP« ging weiter. Der Autor dieser Berichte äußerte hier nicht lediglich die grundlegenden strategischen Gedanken der Revolution, sondern er konkretisierte sie weitgehend: Er forderte die Schaffung eines »Reiterkorps (30 000 bis 40 000 Reiter), welches nach Indien zu werfen ist. Der Weg nach Paris und London führt durch die Städte Afghanistans, des Pandschab und Bengalens. Unsere militärischen Erfolge im Ural und in Sibirien müssen das Ansehen der sowjetischen Revolution im ganzen unterdrückten Asien außerordentlich erhöhen. Dieses Moment muss ausgenutzt werden, und irgendwo im Ural oder in Turkestan eine revolutionäre Akademie gegründet werden, ein politischer und militärischer Stab der asiatischen Revolution, der sich in allernächster Zeit als wesentlich handlungsfähiger als das Exekutivkomitee der Dritten Internationale erweisen könnte … Unsere Aufgabe besteht darin, rechtzeitig eine dringend notwendige Schwerpunktverlagerung unserer internationalen Orientierung vorzunehmen …«

»War das alles?«, fragte der Sekretär.

»Nein. Fügen Sie hinzu: ›Der vorgelegte Bericht sieht es als seine Aufgabe an, die Aufmerksamkeit des ZK auf das erwähnte Problem zu lenken.‹ So, das war alles. Nun setzen Sie darunter: ›Lew Trotzki, 5. August 1919.‹« (Zentrales Armeearchiv.)

Den Bericht an das ZK der RKP diktierte Lew Trotzki, Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrats der Republik, Volkskommissar der Verteidigung und Mitglied des Politbüros der Partei. Niedergeschrieben wurde dieser Bericht von seinem treuen Sekretär Nikolaj Sermuks. Während seines Lebens schrieb und diktierte Trotzki ca. 30 000 Dokumente, die in der Mehrzahl erhalten geblieben sind und sich in den unterschiedlichsten Archiven befinden. Die Auszüge aus seinen »Aufzeichnungen«, die ich oben anführte, sind äußerst charakteristisch für diese ungewöhnliche Persönlichkeit.

Beinahe alles, was Trotzki sagte und schrieb, hat eine Verbindung zur Revolution. Er war ihr Barde, ihr Orakel, wobei er bisweilen einen gewissen Hang zum Abenteurertum an den Tag legte. Die russischen Jakobiner hielten es für gesetzmäßig, für normal, für richtig, eine Revolution zu initiieren und ihr »die Sporen« zu geben.

Tausende, Millionen von Menschen wählten den revolutionären Weg und hinterließen tiefe Spuren auf der Erde. Die Spuren der meisten dieser Menschen sind von der Zeit ausgelöscht worden und unwiederbringlich verschwunden. Über Trotzki jedoch streitet und spricht man ebenso wie vor siebzig Jahren – hasserfüllt oder mit Hochachtung, feindselig oder begeistert. Der Mann mit dem ungewöhnlichen Schicksal lässt niemanden gleichgültig. Um es gleich am Anfang dieses Buches zu sagen: Ein Porträt Lew Trotzkis kann weder »weiß« noch »schwarz« ausfallen. Um ein Porträt dieses Mannes zu zeichnen, benötigen wir das gesamte Spektrum der Farben. Die öffentlichen Stellungnahmen und Urteile über den berühmten Revolutionär umfassen die ganze Bandbreite von der feierlichen Erhebung zum Führer der Weltrevolution bis zu Ächtung und Bannfluch – und endlich auch die objektive Würdigung einer bedeutenden, komplexen historischen Persönlichkeit.

Hier einige Urteile über Trotzki, die zu verschiedenen Zeiten geäußert wurden.

»Proletarischer Poet« heißt das Gedicht, welches N. W. Sarnizyn aus Nowgorod im Februar 1922 an die Moskauer Zeitungen und an Trotzki, »den Führer der Roten Armee und der Weltrevolution«, schickt:

»In Deiner Seele – so wie im lodernden Element –

Ist das Brausen des Sturmes, sind die wütenden Wogen der Empörung.

Du – proletarischer Sohn des entzürnten Russland,

In Deinen Worten klingt die donnernde Stimme der Kommune.

Paris, London, New York, Berlin –

Jede Hauptstadt kann Deine Worte hören.

Doch klarer erklingt die Melodie Deiner Rede

In Deinem heimatlichen Tal.

Dort, wo die Revolution purpurrot ist und prachtvoll!«

(Zentrales Armeearchiv.)

Derartige Verse, Artikel und Kommentare, die in den führenden Zeitungen Sowjetrusslands, den Organen der Roten Armee, aber auch in ausländischen Blättern (und ihrer waren viele) erschienen, drückten die Begeisterung vieler Menschen für den »Führer der Revolution« aus.

Die erste Biographie über den russischen Revolutionär dürfte die Arbeit G. A. Siws sein: Der ehemalige Schulkamerad veröffentlichte 1921 in New York das nicht sehr umfangreiche Buch »Trotzki«, das sich im Wesentlichen auf persönliche Erinnerungen stützt. Dann folgte eine offizielle Biographie: Auf Weisung des ZK (im Mai 1924) schrieb Bosch, ein Mitarbeiter des Istpart (der Kommission für Parteigeschichte), eine Biographie L. D. Bronsteins. Dem fünfseitigen Text wurde folgendes Parteibegleitschreiben beigefügt: »Die Biographie des Genossen Trotzki und die Liste seiner literarischen Arbeiten, die der Genosse Bosch auf Anweisung des Istpart erstellt hat, sind zur Aufbewahrung in einer Sonderabteilung des Istpart vorgesehen, von wo aus sie an wissenschaftliche Mitarbeiter vergeben werden.« (Zentrales Armeearchiv.) Diese ersten Biographien sind relativ oberflächlich. In ihnen werden äußere Fakten und Erscheinungen einer außergewöhnlichen Persönlichkeit beschrieben, aber man spürt in diesen Porträts des Revolutionärs nichts von dem scharfen, besessenen Intellekt Trotzkis.

Eineinhalb Jahrzehnte später wird Trotzki nicht mehr in hymnischen Versen besungen. Vor allem in den offiziellen Dokumenten erscheint das Bild Trotzkis als unheilvoll, widerwärtig, abstoßend. In J. W. Stalins Bericht vor dem Plenum des ZK der RKP vom Februar/März 1937 werden Trotzki und die »Trotzkisten« als eine »zügellose Bande von Saboteuren« charakterisiert. (Zentrales Parteiarchiv.)

In der sowjetischen Presse jener Jahre wird Trotzki als die Verkörperung aller Übel, Laster und Untugenden betrachtet, vom Spion bis zum Seelenverderber. Derartige Schmähungen, wie Trotzki sie während der letzten fünfzig Jahre erfuhr, wurden meines Wissens noch niemand anderem zuteil.

Erst in jüngster Zeit gibt es Versuche einer objektiven Würdigung von Trotzkis Persönlichkeit. Heute erkennt man, dass diese Persönlichkeit nicht nur den Radikalismus der kommunistischen Idee symbolisiert, ihre Kompromisslosigkeit, ihren utopischen Gehalt, sondern ebenfalls die Tragödie der Realisierung bolschewistischer Programme. Trotzki war an der Schaffung des sowjetischen Staates beteiligt, er war einer der Hauptarchitekten des bürokratischen Systems, dessen Demontage heute unter so schwierigen und schmerzhaften Bedingungen in unserem riesigen Lande vollzogen wird.

Das Schicksal hat es gewollt, dass Trotzki in sich den unerschütterlichen Glauben an kommunistische Ideale und die Unerbittlichkeit der proletarischen Diktatur vereinigte, er war einer der Inspiratoren des roten Terrors und sein Opfer zugleich. Ich glaube, dass Trotzki in dieser Hinsicht eine einmalige Erscheinung ist. Er verkörperte gleichzeitig die anziehendsten und abstoßendsten Eigenschaften eines russischen Revolutionärs.

Während ich plante, ein Triptychon der »Führer« zu schreiben – konkreter gesagt, drei politische Porträts von Lenin, Trotzki und Stalin –, war mir klar, dass sie alle sich historisch ergänzten. Lenin trat in der russischen revolutionären Geschichte als Inspirator auf, Trotzki war der Aufrührer und Stalin der Exekutor. Durch das Prisma der Schicksale dieser Persönlichkeiten betrachtet, sind die Konflikte, die Zickzackbewegungen, die Tragödie der russischen und der sowjetischen Geschichte plastisch erkennbar. Mir scheint, dass in diesem Fall die biographische Methode besonders dazu geeignet ist, durch das persönliche Gewebe des menschlichen Daseins tiefere Einsichten in eine ganze historische Epoche zu gewinnen.

Das ungewöhnliche Schicksal Trotzkis wirkt noch heute aktuell, aufwühlend, mitreißend. Trotzki wurde schon früh mit Ruhm und Ehre bedacht. Er hatte Gelegenheit zu streiten, sich zu begeistern, mit den herausragendsten Menschen seiner Epoche zusammenzutreffen: Kautsky, Plechanow, Adler, Parvus, Martow, Dan, Axelrod, Lenin, Frunse, Bucharin, Kamenew und anderen großen Persönlichkeiten, die für lange Zeit ihre Spuren auf den staubigen Stufen der Pyramide des historischen Fortschritts hinterließen.

Trotzkis größter Triumph war die Revolution im Oktober 1917, aber es war nicht der einzige. Ja, zeitweise schien es, als würde die Phase der Triumphe nie enden. Doch bald nach der Beendigung des Bürgerkriegs musste Trotzki sich wohl im Angesicht des grauen Alltags überflüssig fühlen. Überall hieß es: Dieser Mensch sei wie geschaffen für Umstürze, Explosionen, Katastrophen, für internationalen Ruhm. Doch die Weltrevolution »stolperte«. Nicht einmal die »asiatische« gelang. Die Tragödien nahmen ihren Lauf, und derart viele davon betrafen Trotzki, dass man glauben konnte, sie seien für eine ganze revolutionäre Legion bestimmt gewesen.

Der Verlust aller Ämter, die Verbannung, Deportation, das Umherirren zwischen den Kontinenten unseres Planeten waren begleitet von Ermordungen beinahe aller Verwandten und Freunde und zahlreicher Mitstreiter. Mit dem Brandmal »Trotzkist« starben nicht nur seine tatsächlichen Mitstreiter und Anhänger, sondern auch Millionen seiner Landsleute, die man verdächtigte, dass sie unloyal dem diktatorischen Regime gegenüberstanden. Wenn man bedenkt, wie groß Stalins Hetzjagd auf Trotzki angelegt war, ist es erstaunlich, dass es ihm gelungen ist, nach der Deportation noch ein ganzes Jahrzehnt zu überleben. Zwei Monate vor seiner tragischen Ermordung schrieb er: »Ich kann sagen, dass es nicht den Gesetzmäßigkeiten entspricht, dass ich noch unter den Lebenden weile, sondern dass es eine Ausnahme ist.« (B. O., Nr. 87, S. 5.) Das Schicksal dieses Revolutionärs ist märchenhaft, ein atemberaubender Flug zur Spitze des Weltruhms und ein langes Drama des Kampfs, der Verzweiflung, der Enttäuschung und der Hoffnung, das schließlich mit der letzten Tragödie in Mexiko endete.

Trotzki selbst, der in großen historischen Dimensionen dachte, hat sein Leben nicht als Tragödie gesehen. Zumindest nicht 1930, als er auf Prinkipo weilte.

»›Nun, wie sehen Sie Ihr persönliches Schicksal?‹, fragt man mich«, schreibt der Revolutionär. »… Ich messe den historischen Prozess nicht mit dem Metermaß meines persönlichen Schicksals … Ich kenne keine persönliche Tragödie. Ich kenne den Wechsel zweier Kapitel der Revolution.« (Trotzki, Moja shisn, S. 336.) Ich erlaube mir, dem Revolutionär zu widersprechen. Trotzki konnte, da er eine große historische Persönlichkeit war, mit Würde scheitern, ohne dabei die Hoffnung zu verlieren. Früh wurde ihm klar, dass seine Niederlage sich würdiger darstellen würde als der Sieg seiner Gegner.

Trotzki schrieb zahlreiche Bücher, Artikel, Essays, Manifeste, Reportagen. Seine Biographen können auf einen reichhaltigen Nachlass zurückgreifen. Wie sich Natalja Sedowa-Trotzkaja erinnerte, hatte Trotzki geplant, noch eine Reihe umfangreicher Bücher zu schreiben. Doch »der Druck der täglichen Ereignisse verwies diese Arbeiten auf den zweiten Platz. Die Arbeit über Stalin wurde ihm von äußeren Umständen diktiert: materiellen Gründen und dem Drängen seiner Verleger. Nicht nur einmal hatte Lew Davidowitsch geplant, ein ›gut gehendes‹ Buch zu schreiben, wie er sagte, um damit Geld zu verdienen und dann auszuruhen, um sich anschließend Themen zu widmen, die ihn interessierten. Aber das gelang ihm nicht, er war nicht fähig, ›gut gehende‹ Bücher zu schreiben …« (B. O., Nr. 87, S. 8.) Trotzki war einer der ersten Politiker, der das intellektuelle Potential seiner vielen Sekretäre, die sehr engagiert für ihn arbeiteten, optimal nutzte: Sermuks, Posnanski, Butow, Bljumkin, Klement, Weber, Hansen. Jeder seiner Auftritte, jede seiner improvisierten Reden, jeder Befehl – alles wurde mitstenographiert, niedergeschrieben, gedruckt. Nicht zufällig enthalten die 21 Bände seiner Werke, die in der UdSSR bis zum Jahre 1927 veröffentlicht wurden (wobei einige Bände ausgelassen wurden), hauptsächlich seine Berichte, Reden, publizistischen Arbeiten. Dies ist ein wichtiger Teil der Materialien, auf die sich ein Porträt über Trotzki stützen kann.

Der andere (wahrscheinlich sogar der wichtigere) Teil befindet sich in Archiven. Wahrscheinlich bin ich einer der sehr wenigen Wissenschaftler, denen es möglich war, in ausländischen und sowjetischen Archiven Dokumente Trotzkis einzusehen. Zu nennen wären hier besonders das Archiv der Houghton Library in der Harvard University (wo sich ca. 20 000 Dokumente Trotzkis, darunter 3000 Briefe befinden), das Internationale Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam (hier findet man mehr als tausend Briefe aus verschiedenen Lebensphasen, darunter auch den Briefwechsel zwischen Lenin und Trotzki), die große Sammlung B. Nikolajewski im Archiv des Hoover-Instituts und die Sonderabteilungen der sowjetischen Archive, deren Bestände bis vor kurzer Zeit nicht zugänglich waren. Dies waren vor allem große Komplexe im Zentralen Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus, des Zentralen Archivs der Oktoberrevolution, des Zentralen Staatlichen Archivs der Sowjetischen Armee, des Zentralarchivs des Ministeriums für Verteidigung, des Zentralarchivs des Komitees für Staatssicherheit und einiger anderer Archive. Ebenso hatte ich Gelegenheit, mich mit verschiedenen handschriftlichen Varianten einiger Bücher Trotzkis vertraut zu machen, was mir erlaubte, tiefer in das Laboratorium der publizistischen Schaffenskraft des Revolutionärs vorzudringen. Eine wichtige Quelle waren auch persönliche Stellungnahmen von Verwandten und Bekannten Trotzkis, die den Albtraum des Stalinismus überlebten. In diesem Zusammenhang möchte ich der Nichte Trotzkis, A. A. Kasatikowa, dem Großneffen W. B. Bronstein, der Frau seines jüngsten Sohnes Sergej, O. E. Grebner, und anderen Verwandten meinen Dank aussprechen. Interessante Berichte aus seinem Leben, Aussagen zu Charakter und Persönlichkeit lieferten mir N. A. Marennikowa, eine seiner Stenographinnen, A. P. Balaschow, einer der Sekretäre Stalins, sowie N. A. Ioffe, D. T. Schepilow, A. K. Mironow, W. M. Poljakow, N. G. Dubrowinski, D. S. Slatopolski, F. M. Nasarow, ferner I. I. Wratschew, Tamara Deutscher, die kürzlich verstorbene Frau Isaac Deutschers (des meiner Meinung nach größten Biographen Trotzkis) und einige andere Personen, denen ich ebenfalls zu großem Dank verpflichtet bin.

Ferner hatte ich Gelegenheit, mit wichtigen Funktionären und Wissenschaftlern der sowjetischen Organe für Staatssicherheit Kontakt aufzunehmen, die von der Tragödie des Revolutionärs nicht nur aus dritter Hand wussten. Stellvertretend nenne ich hier P. A. Sudoplatow, E. P. Pitowranow und N. A. Schelepin. Die Spezialabteilungen der UdSSR – die GPU (Staatliche Politische Verwaltung), die OGPU (Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung), das NKWD (Volkskommissariat für Inneres) – verfolgten Trotzki von den zwanziger Jahren an bis zu seinem Tod, den diese Organe ihm schließlich brachten. Das NKWD wusste über den Verbannten weitaus mehr, als sich der deportierte Revolutionär vorstellen konnte. Stalin wurde regelmäßig über alle Schritte des Führers der Vierten Internationale unterrichtet. Auf dem Schreibtisch des Generalsekretärs der KPdSU tauchten nicht selten Schriften Trotzkis auf, die noch nicht einmal veröffentlicht waren. Hier ein Auszug aus einem Dokument, der uns vor Augen führt, wie dicht das NKWD Trotzki auf den Fersen war:

»Streng geheim.

An die Genossen Stalin, Molotow.

Ich übersende Ihnen von uns beschlagnahmte Kopien zweier Artikel Trotzkis vom 13. und 15. Januar 1938 aus dem Briefwechsel Sedows … Erwähnte Artikel sind zur Veröffentlichung in der März-Ausgabe des ›Bjulleten Opposizii‹ vorgesehen.

Volkskommissar für innere Angelegenheiten der UdSSR

Generalkommissar für Staatssicherheit

28. Februar 1938 Jeshow« (Archiv des KGB.)

Außerdem hatte ich Gelegenheit, Berichte von Mitarbeitern des NKWD einzusehen, die sich in die persönliche Umgebung Trotzkis eingeschlichen hatten. Ich habe sogar mit einigen Personen gesprochen, die »auf Weisung des ZK der RKP(B)« die Liquidierung Trotzkis organisierten.

Während ich am Porträt Trotzkis arbeitete, machte ich mich mit dem größten Teil der biographischen Arbeiten über den Revolutionär vertraut, die im letzten halben Jahrhundert in Europa und Amerika veröffentlicht worden sind. Den größten Eindruck hinterließ bei mir die umfassende Arbeit Isaac Deutschers, der meiner Meinung nach die objektivste Biographie des russischen Revolutionärs schrieb. Beeindruckend sind auch die wissenschaftlichen Leistungen Juri Felschtinskis, der wesentlich dazu beitrug, dass die Öffentlichkeit sich mit den Arbeiten Trotzkis bekannt machen konnte. Eine große wissenschaftliche Monographie erstellte der Historiker Baruch Knei-Paz. Hervorzuheben ist auch die Forschertätigkeit von Dale Reed, Michael Jakobson, Joel Carmichael, Isaac Levine, Harold Nelson, Robert Tucker und Harry Shukman. Die Analyse des Lebens und des Wirkens Trotzkis als politischer Führer und Revolutionär in unserem Lande begann vergleichsweise spät. Die Arbeiten von Ju. I. Korablew, W. I. Starzew, N. A. Wasezki, Ju. A. Poljakow, P. W. Wolobujew und einigen anderen Wissenschaftlern haben hierbei einen bedeutenden Beitrag geleistet.

Ich möchte unterstreichen, dass ich mich schon seit langem mit dem Schicksal und der Rolle der drei Führer in der Geschichte unseres Landes und der Weltgeschichte beschäftigt habe. Allmählich und Schritt für Schritt begann ich mit dem Sammeln wenig bekannter Materialien, Fakten und Publikationen, ebenso persönlicher Zeugenaussagen in unserem Lande, aber auch im Ausland. Würde man der wissenschaftlichen Methodik folgen, so müsste man zunächst über Lenin, dann über Trotzki und schließlich über Stalin schreiben. Es kam jedoch ganz anders – und das war kein Zufall. Das Buch über den sowjetischen Diktator, der heute den historischen Misserfolg unseres Vaterlandes verkörpert, war bereits 1985 fertig. Damals war eine kritische Analyse der Rolle Lenins in unserem Land schlichtweg unmöglich. Eine solche Arbeit hätte keine Chance gehabt, veröffentlicht zu werden. Unabhängig von seinem Urteil über diese Biographie wird der Leser einräumen müssen, dass dies das erste Buch über Trotzki ist, welches sich auf sowjetisches und ausländisches Archivmaterial stützt.

Die Vorurteile gegen diesen Mann sind in der sowjetischen Gesellschaft auch heute noch außerordentlich groß. Und obgleich ich ständig bemüht bin, in meinen Publikationen lediglich die Wahrheit zu sagen, ein objektives Bild zu zeichnen, mich nur von Fakten und historischer Logik leiten zu lassen, so ist doch bei einem Großteil der Leser und Hörer meiner Vorträge allein das Vorhaben, ein Buch über Trotzki zu schreiben, mit dem Stigma der Abtrünnigkeit behaftet. In den Köpfen vieler sowjetischer Menschen spuken immer noch Vorurteile gegen Trotzki und das Feindbild des »Trotzkismus« herum, die durch langjährige Diffamierung erzeugt und genährt wurden. Noch immer ist nicht allen klar, dass die Ontologie des Marxismus in Russland sich in drei Grundlinien teilt: Leninismus, Trotzkismus und Stalinismus. Doch alle diese Zweige wuchsen aus einer Wurzel. Alle (obgleich sie sich stark voneinander unterscheiden) haben etwas gemein: Sie setzen auf gesellschaftliche Gewalt, sie sind überzeugt von der absoluten Wahrheit einer einzigen Ideologie, überzeugt davon, dass es rechtens ist, über das Schicksal von Millionen von Menschen zu entscheiden.

Dieses Buch über Trotzki ist keine politische Biographie, sondern ein politisches Porträt. Zwischen diesen beiden Genres sehe ich einen gravierenden Unterschied: Wenn der »Porträtist« sich streng an die historische Wahrheit hält, hat er das Recht, nach seinem Dafürhalten den Ereignissen und Prozessen eine Interpretation zu geben, die nicht nur ein Wissenschaftler sehen kann, sondern auch ein Künstler. Das politische Porträt unterscheidet sich also von der politischen Biographie wie die Fotografie vom Gemälde.

In meinem »Porträt« wollte ich auch zeigen, wie die Entwicklung von Freiheit zu Unfreiheit verlaufen kann. So kämpften alle Revolutionäre, unter ihnen auch Trotzki, vor der Oktoberrevolution für die Freiheit des Worts. Nachdem die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionäre die Macht erobert hatten, schien es zunächst so, als würden sie diesem Ideal treu bleiben. Jedoch ‒ es schien nur so. Als M. Gorki erklärte, dass die Herrschaft der Bolschewiki »ein Weg zur Anarchie, zum Untergang des Proletariats und der Revolution« sei, folgten sogleich harte Sanktionen vonseiten der Sieger, die sich nicht nur gegen die menschewistische Zeitung »Nowaja shisn«, wo Gorki seinen Appell »An die Demokratie« veröffentlichte, sondern gegen die gesamte freie Presse richteten.

Auf einer Versammlung des Rats der Volkskommissare im Dezember 1917 forderte Trotzki, man solle strenger »gegen die bourgeoise Presse und die schändlichen Verleumdungen über die Sowjetmacht vorgehen …« (Zentrales Parteiarchiv). Diese Versammlung, die dann auch Beschlüsse über strenge Maßnahmen verabschiedete, wurde von Lenin geleitet, anwesend waren außer ihm Teodorowitsch, Swerdlow, Jelisarow, Schlichter, Stalin, Glebow, Bontsch-Brujewitsch, Lazis. Während Trotzki und seine Mitstreiter für die Freiheit kämpften, schienen sie nicht zu bemerken, dass sie diese immer weiter einengten und damit die Bedingungen für ihre vollständige Vernichtung schufen.

Dieses politische Porträt L. D. Trotzkis spiegelt das gesamte Paradoxon des Bolschewismus wider. Während sie die Freiheit als Ziel ihrer Revolution priesen, taten die Bolschewiki alles, um sie dem Volk, den einfachen Menschen, die an sie glaubten, zu nehmen. Und diese Freiheit schenkten sie der Partei, die sich des Staates bemächtigt hatte, daraufhin dem bürokratischen Apparat und schließlich einem Diktator. Trotzki hat bis zum Ende seines Lebens nicht erkannt, dass viele Ausgangspunkte der marxistischen Theorie, die er niemals irgendwelchen Zweifeln unterzog, falsch sind. Und ebendiese zutiefst fehlerhaften fundamentalen Gedanken der Lehre über die Diktatur des Proletariats und des Klassenkampfs wurden zur Grundlage des Scheiterns. Die Verabsolutierung dieser Postulate (und diesen blieb Trotzki zeit seines Lebens treu) musste schließlich zum historischen Fehlschlag werden. Deshalb ist das Porträt Trotzkis ein Versuch, einen vertiefenden Blick auf das Schicksal der Freiheit in Russland zu werfen, welches zweifellos tragisch ist.

In diesem Zusammenhang ist es mir ein Anliegen, dem Leser den künstlerischen und philosophischen Ansatz bei der Arbeit an diesem Buch darzulegen. Über jedem Kapitel meines Buchs steht als Motto ein Zitat des herausragenden russischen Denkers Nikolaj Alexandrowitsch Berdjajew. Und auch im Text selbst wird der Leser nicht selten den Einschätzungen und Voraussagen dieses bemerkenswerten Philosophen und Historikers begegnen. Damit unternehme ich den Versuch, die Sichtweisen zweier völlig verschiedener, jedoch intellektuell herausragender Persönlichkeiten zu dem Problemkomplex Revolution – Moral – Mensch miteinander zu konfrontieren. In diesem Widerstreit, der Gegensätzlichkeit ihrer Gedanken zu Fragen des historischen Alltags, lässt sich der Kampf zweier Ausgangspunkte verfolgen: des klassenkämpferischen und des humanistisch-gesellschaftlichen. Es wird wohl kaum nötig sein zu erwähnen, welcher Seite die geschichtliche Entwicklung recht gegeben hat. Ich bin überzeugt davon, dass Berdjajews Gedanken sehr hilfreich sein werden, um Trotzki und das Phänomen des Bolschewismus zu verstehen.

Es drängt sich die Frage auf, ob Trotzki und Berdjajew einander persönlich kannten. Sie waren Zeitgenossen. Bislang ist es mir jedoch nicht gelungen, Dokumente ausfindig zu machen, die beweisen, dass diese herausragenden Persönlichkeiten jemals zusammengetroffen sind. Wir wissen, dass Trotzki entfernten Verwandten Berdjajews in Kiew begegnete.

Bekannt ist, wie diese beiden Männer übereinander dachten. In seinem Essay »Mereshkowski«, den Trotzki im Jahre 1911 schrieb, charakterisierte er N. A. Berdjajew als »koketten, philosophischen Müßiggänger«, der zu »Halbmystik und Mystik« neigt (Kiewskaja mysl vom 20. Mai 1911). Ähnliche beleidigend-herablassende Bezeichnungen finden sich auch in einer Reihe anderer Artikel Trotzkis.

Berdjajew blieb ihm nichts schuldig. Allerdings war er nicht besessen vom Dämon der revolutionären Zerstörung, sondern ruhig und besonnen. Seine Urteile über Trotzki sind klar und scharfsichtig. Bevor Berdjajew zusammen mit anderen herausragenden Kulturschaffenden auf Weisung Lenins, die vom Politbüro (also auch von Trotzki) unterstützt wurde, Russland verlassen musste, wohnte er ganz in der Nähe von Trotzki. Den Sommer 1922, so schreibt der russische Schriftsteller in seinem autobiographischen Buch, »verbrachten wir im Kreis Swenigorod, in Barwich, einem entzückenden Ort am Ufer der Moskwa, in der Nähe von Archangelskoe Jussupowitsch, wo damals Trotzki lebte« (Berdjajew, Samoposnanie, S. 263). Weiter erinnert sich Berdjajew: »Die Wälder um Barwich herum waren zauberhaft, wir sind oft zum Pilzesammeln gegangen. Darüber vergaßen wir das grauenhafte Regime, im Dorf spürte man es weniger als anderswo …« Während der russische Denker mit seinen Freunden »Pilze sammelte«, gab Trotzki ausländischen Journalisten ein Interview, dessen Inhalt das Schicksal nicht nur Berdjajews, sondern auch der künftigen Kultur des Landes bestimmen sollte: »Im Falle neuer militärischer Komplikationen … werden all jene unversöhnlichen und unverbesserlichen Elemente zu einer militärisch-politischen Agentur der Feinde, und wir werden genötigt sein, sie nach den Gesetzen des Krieges zu erschießen. Das ist der Grund, warum wir es vorgezogen haben, während der ruhigen Periode sie rechtzeitig zu verbannen, und ich hoffe sehr, dass Sie unsere Umsicht und Humanität anerkennen werden.« (Iswestija, 30. August 1922.) Über diese Art von »Humanität« lässt sich durchaus streiten.

Berdjajew litt unter der Revolution. Möglicherweise war dies der Grund, dass er erklärte: »Die russische Revolution ist widerwärtig. Nun, jede Revolution ist widerwärtig. Gute, würdige, begrüßenswerte Revolutionen hat es niemals gegeben und kann es nicht geben … Die Französische Revolution, welche als ›groß‹ betrachtet wurde, war ebenfalls widerlich und erfolglos … Die Revolution vergiftete Russland mit Bosheit und tränkte es mit Blut … Man muss die Revolution und die Bolschewiki mehr hassen, als man Russland und das russische Volk lieben muss …« (Nikolaj Berdjajew, Nowoe srednewekowje, S. 59, 68.) Intuitiv fühlte Berdjajew, dass im 20. Jahrhundert nicht Revolutionen, sondern eher Reformen positive Früchte tragen können.

Für das Verständnis des Bolschewismus, des bürokratischen Absolutismus, der sich bald in Russland entwickelte, und ebenso für das Verständnis der Persönlichkeit Trotzkis sind nicht nur die Bücher Berdjajews über die russische Revolution von Bedeutung, sondern auch seine unmittelbaren Stellungnahmen zu Trotzki. In diesem Zusammenhang möchte ich einige Urteile anführen, die Nikolaj Berdjajew über das »Orakel« der russischen Revolution geäußert hat.

Als im Jahre 1930 in Berlin Trotzkis Autobiographie »Mein Leben« erschien, verfasste Berdjajew sogleich einen nicht sehr umfassenden, aber erstaunlich tiefgründigen Artikel. »Das Buch soll Trotzki loben als einen großen Revolutionär, und mehr noch, es soll seinen Todfeind Stalin als einen armseligen Tropf und erbärmlichen Epigonen zeigen … Zweifellos ist L. Trotzki in jeder Beziehung den anderen Bolschewiki haushoch überlegen, wenn man Lenin nicht mitrechnet. Lenin ist selbstverständlich größer und stärker, er ist der Kopf der Revolution, jedoch Trotzki ist talentierter und glänzender …« Möglicherweise wird der Leser nicht mit allen Urteilen Berdjajews einverstanden sein. Aber ich glaube, dass diese Urteile durchaus nützlich sind für die »Einführung« in die Welt des Revolutionärs. »Das Leben Trotzkis«, schreibt Berdjajew weiter, »ist außerordentlich interessant und behandelt ein sehr ernsthaftes Thema – das Thema des dramatischen Schicksals eines revolutionären Individuums, das Thema der undankbaren Revolution, die ihre vormals gelobten Schöpfer verstößt und vernichtet.«

Berdjajew wollte wohl das Paradoxon der Persönlichkeit Trotzkis unterstreichen, als er Folgendes ziemlich überspitzte, ja abwegige Urteil formulierte: »Von ihrem ersten Auftauchen in Russland an wirkten die Bolschewiki hässlich und abstoßend, ihre Gesichter waren abstoßend, ihre Gesten waren hässlich, sie brachten hässliche Sitten und Gebräuche mit sich. Diese Hässlichkeit zeugt von ontologischer Verletzung … L. Trotzki ist einer der wenigen, die den Wunsch haben, das ›schöne Bild‹ des Revolutionärs zu erhalten. Er liebt theatralische Gesten, hat eine Schwäche für revolutionäre Rhetorik, in seinem Stil unterscheidet er sich von dem Großteil seiner Genossen …« (Nowy Grad 1931, 1, S. 9194.)

Wahrscheinlich ist dieses Urteil Berdjajews ziemlich kategorisch, doch man muss einräumen, dass Trotzki sich von den anderen Führern deutlich »unterschied«. So ging er in die Geschichte ein als der erste kommunistische Führer, der gegen die ungeheuerlichen Abscheulichkeiten des Stalinismus aufgetreten ist. Trotzki wird im Pantheon der Geschichte bleiben als kompromissloser Prophet der kommunistischen Idee und als ihr ewiger Gefangener. Sein Leben beweist – unabhängig davon, wie man zu ihm stehen mag –, dass er eine große Persönlichkeit mit Idealen war. Die Beschäftigung mit diesem Menschen, der in einer finsteren Zeit sterben musste, als unser riesiges Land noch weit davon entfernt war, sich vom Stalinschen Joch zu befreien, hilft uns, den Ursprung vieler Tragödien im Leben der sowjetischen Menschen zu begreifen. Der Trotzkismus selbst als Linie des Marxismus kann nicht ausschließlich als negatives politisches Gedankengut betrachtet werden. Der positive Aspekt dieser Ideen ist unzweifelhaft: die konsequente Ablehnung des Stalinismus als totalitäre Variante eines modernen Cäsarismus.

Andererseits hat der Trotzkismus als Ausdruck eines linksradikalen Marxismus von seiner Grundlage her keine Perspektive.