Kommissar Marquanteuer ermittelt: Ein Killer in Marseille

Alfred Bekker

Published by Alfred Bekker, 2017.

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Ein Killer in Marseille

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Ein Killer in Marseille

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Ein Pierre Marquanteur Krimi

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 133 Taschenbuchseiten.

Eine Reihe von Morden erschüttert Marseille. Alle werden auf dieselbe Art begangen. Das Tatmuster ist den Kommissaren Pierre Marquanteur und Francois Leroc nicht unbekannt, denn es gehört zu einem Täter,  der seit Jahren nicht mehr in Erscheinung getreten ist. Haben die Kommissare es wirklich mit diesem mysteriösen Unbekannten zu tun zu tun oder mit einem Nachahmungstäter?

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.

© by Author

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Personal

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Kommissar Pierre Marquanteur - ein Ermittler bei der Kriminalpolizei von Marseille.

Kommissar Francois Leroc - Marquanteurs Kollege.

Monsieur Jean-Claude Marteau - Chef der Kriminalpolizei von Marseille und Kommissar Marquanteurs Vorgesetzter.

Siddi Noureddine - ein algerisch-stämmiger Kollege bei der Kriminalpolizei Marseille.

Emile - hat einen Bären erledigt.

Georges Lenoir - wurde erstochen.

Papa Marquanteur - bedauert es, dass die OAS de Gaulle nicht umbringen konnte.

Maman Marquanteur - liest >La Provence< und wohnt in >Le Trou<.

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Ich war an diesem Wochenende zu meinen Eltern gefahren. Raus aus Marseille in ein kleines Dorf, dessen Namen keiner Erwähnung wert ist.

>Un trou<, wie man auf Gut-Französisch so sagt.

Ein Loch.

Aber es lag idyllisch an einem Fluss. In der Provence gibt es viele solcher Orte. Und das Besondere an diesem war, dass man einen beeindruckenden Blick auf ein altes Römer-Aquädukt hatte. Irgendwie hatte es dieses Bauwerk geschafft, all die Jahrhunderte zu überdauern. Vandalen, Goten, Hunnen und was es sonst noch an Katastrophen gegeben hatte - nichts schien diesem steingeworden Symbol der Dauerhaftigkeit etwas anhaben zu können. Und es passte zu diesem trou, diesem Ort, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien.

“Kommissar bist du also jetzt”, sagte mein Vater, nachdem er sein zerlesenes Exemplar der Zeitung >La Provence< zusammengefaltet hatte. Immerhin das hatten Marseille und >Le Trou<, wie ich dieses Dorf insgeheim immer nannte, gemeinsam. Man las überwiegend diese Zeitung: >La Provence<.

“Ja, Kommissar bin ich”, bestätigte ich.

“Kommissar bei der Kriminalpolizei in Marseille.”

“Genau. Das bin ich.”

“Das bist du - immer noch”, sagte er.

“Papa!”, entfuhr es mir und ich gab mir große Mühe nicht genervt zu klingen. Maman blieb in solchen Fällen strikt neutral. Aber das Gespräch zwischen meinem Vater und mir war gewissermaßen die Wiederholung einer Serienepisode. Da wechselt höchstens die Platzierung der Werbeblöcke - größer waren die Variationen in diesem Fall auch nicht. Ich wusste schon genau, wie es weitergehen würde, noch bevor einer von uns auch nur den Mund aufgemacht hatte.

Ich kam mir vor, wie in einer Zeitschleife.

“Wieso hat man dich noch nicht befördert?”, fragte er. Er schüttelte den Kopf. “Verstehe ich nicht.” Er sah Maman an. “Verstehst du das?“

“Hör mal, Chèri...”

Maman versuchte ihn zu beschwichtigen und dem Thema die Brisanz zu nehmen.

Am besten, man redete nicht drüber.

Das war Mamans Methode.

Eine Methode, der mein Vater in seinen fortgeschritteneren Jahren immer weniger auf den Leim ging.

Und genau deshalb wurden die Besuche bei meinen Eltern in >Le Trou< mit den Jahren auch immer weniger gemütlich.

Mein Vater hob die Augenbrauen.

“Ich verstehe es nicht. Punkt.”

“Wenn man ihn so oft befördert hätte, wie du dir das vorstellst, wäre er längst Chef der Polizei in Marseille”, meinte Maman.

“Ja, und warum ist er das dann noch nicht?”, fragte mein Vater.

“Was?”

“Na, Chef der Polizei? Wieso ist unser Sohn noch nicht Chef der Polizei?”

Er sah mich dabei an.

Er wollte darauf wirklich eine Antwort.

Auch zum zehnten Mal.

Oder zum hundertsten.

Das spielte offenbar keine Rolle.

Ich kam um diese Antwort einfach nicht herum.

Ich wählte einfach die Antwort, die ich dann immer gab. Einmal hatte ich es mit einer Variationen versucht. Das hatte in einem familiären Eklat geendet. Also ließ ich das in Zukunft bleiben.

Man kann nicht sagen, dass mein Vater unter Altersstarrsinn leidet.

Er war immer so.

Und weder ändere ich ihn noch, noch schafft er das bei mir.

Ich sagte: “Ich bin zufrieden, Papa.”

“Dir fehlt der Ehrgeiz, Junge.”

“Der Junge ist inzwischen schon fünfzig.”

“Ja, eben!”

“Wenn du mehr Ehrgeiz hättest, könntest du schon weiter oben sein.”

“Aber ich sagte doch: Ich bin zufrieden. Und wenn ich weiter oben wäre, würde ich nur noch im Büro sitzen.”

“Und dann wärst du nicht zufrieden?”

“Genau.”

“Obwohl du mehr Geld verdienen würdest und mehr zu sagen hättest.”

“Ja.”

Jetzt mischte sich Maman ein. Das tat sie immer, an dieser Stille. Einfach, damit es nicht zu ungemütlich wurde. Irgendwie hatte sie einfach wohl das Gefühl, für eine bessere Stimmung sorgen und etwas Positives sagen zu müssen. Und das machte sie dann auch.

Sie sagte: “Sei froh, dass wir einen Sohn haben und keine Tochter. Denn wenn wir eine Tochter hätten, wäre es in dem Alter, in dem Pierre ist, jetzt vorbei mit der Aussicht auf Enkelkinder. Aber bei Pierre können wir ja noch hoffen.”

“Ja, ja”, murmelte mein Vater.

Sie fuhr unmittelbar darauf fort: “Wolltest du Pierre nicht von dem Bären erzählen?”

“Von dem Bären?”

“Ja, du wolltest ihm von dem Bären erzählen.”

“Das stand doch auch in >La Provence< - und die liest man ja auch in Marseille.”

“Aber nicht den Lokalteil aus unserer Gegend.”

“Ich wollte nichts von dem Bären erzählen. Aber wenn du was davon erzählen willst, dann mach da doch.”

“Was ist denn nun mit dem Bären?”, fragte ich - nicht, weil mich der Bär interessierte, sondern weil es eine willkommene Gelegenheit war, das Thema zu wechseln.

Diese Steilvorlage lässt sich Maman nicht nehmen. Sie reißt jetzt das Wort an sich. Und mein Vater verzieht das Gesicht, weil er weiß, dass Maman das Wort so schnell nicht wieder abgeben wird.

Keine Chance.

Kein Unterbrechen möglich.

Es war ein reißender Strom der Worte. Fast so reißend wie der kleine Fluss, über den das Aquädukt führte, der im Frühjahr immer zu einem reißenden Strom anschwoll, wenn das Schmelzwasser aus den Bergen kam.

“Es stand in >La Provence<, aber ich weiß nicht mehr ob in dieser oder in der vorherigen Ausgabe - oder in der, in die ich die Fische eingepackt habe.”

“Ist auch egal”, meinte ich. “Was ist denn passiert?”

“Es ist ein Bär aus einem Zoo ausgebrochen. Und der trieb sich jetzt hier in der Gegend herum. Tja, und Emile Duval, hier aus dem Ort, war beim Angeln. Da hat das Tier in überrascht.”

“Das klingt nicht gut.”

“Ist aber gut ausgegangen.”

“So?”

“Emile hat den Bär erstochen.”

“Aha, ja.”

“Mit einem Messer.”

“Dann hat er aber Glück gehabt.” Ein bisschen kennt man sich als Kriminalbeamter mit der Wirkung von Waffen ja aus. Auch wenn es um die Wirkung auf Menschen und nicht auf Bären geht, was ja nochmal ein Unterschied ist. Jedenfalls wusste ich, dass es nahezu unmöglich ist, mit einem Messer einen Bär zu töten.

Das ging nur im Film. In der Realität funktionierte das nichtmal mit einem großen Jagdmesser.

Und genau genommen funktionierte es auch nur in alten Filmen. Denn wer immer sowas heutzutage in Szene setzte, bekam es gleich mit Tierschützern und Aktivisten aller Art zu tun.

Aber ich kann mich auch täuschen.

Vielleicht sind einfach auch nur deshalb keine solchen Filme mehr gedreht worden, weil in Frankreich einfach so verdammt wenig Bären herumlaufen.

“Er hatte wirklich Glück”, meinte Maman. “Aber es hatte nicht nur mit Blick zu tun, dass der gute Emile das überlebt hat. Ich meine, Emile ist Metzger und ziemlich kräftig. Und vor allem weiß er natürlich mit einem Messer umzugehen. Aber das war nicht der springende Punkt.”

“Was war denn der springende Punkt?”, fragte ich.

“Na, das Messer selbst! Es handelte sich nämlich um ein besonderes Messer. Wie hieß das noch? Ich hab’s gleich. Dieses... Dingens! Weißt du es es noch?”, sprach sie ihren Mann an.

“Wenn du es nicht behalten hast, war es auch nicht wichtig”, meinte er.

“Doch, es war wichtig”, widersprach Maman. “Es war sogar sehr wichtig.”

“Also ich habe den Artikel nicht gelesen.”

“Ein Gasmesser!”, entfuhr es ihr plötzlich. “Es war ein Gasdruckmesser. Wenn man damit zusticht, gibt es in dem Monster, dass eine angreift eine Art Explosion.”

“Ich habe mal davon gehört”, gestand ich.

Viel hatte ich darüber allerdings nicht gehört. Gasdruckmesser waren für Jäger. Vorzugsweise in Gebieten, wo es große und gefährliche Tiere gab. Grizzley-Bären in Nordamerika oder Eisbären in der Arktis zum Beispiel. Was ein angelnder Metzger in der Provence damit wollte - naja, es hatte wohl jeder so seine Geheimnisse und Eigenheiten. Ich kannte Emile gut. Ich war mit ihm zur Schule gegangen. Er war sowieso schon kräftig gewesen und außerdem noch ein Jahr älter als die anderen, weil er sitzengeblieben war. Aber wegen Emile hatten wir fast immer gewonnen, wenn wir uns mit den Jungs der Parallelklasse zum Fußball trafen. Ihn konnte einfach niemand aufhalten.

“Emile ist ein Feigling”, sagte mein Vater.

“Wie kannst du so etwas sagen!”, entfuhr es Maman. “Er hat einen Bären besiegt, der ihn angegriffen hat! Ohne Schusswaffe!”

“Ich sage, er ist ein Feigling!”

“Aber, nun sag mal!”

“Ja, ist er!”

“Wieso denn?”

“Wegen dem Messer! Das ist eine unfaire Waffe, so ein Gasdruckmesser. Selbst gegenüber einem Bären. Sowas verachte ich.”

“Aber hörmal! Emile hat trotzdem noch einiges abgekriegt!”

“Also damals in Algerien habe ich Araber mit einem ganz normalen Kampfmesser abgestochen und aufgeschlitzt. Dazu hätte niemand von uns Fallschirmjägern ein Gasdruckmesser gebraucht!”

“Die gab es damals noch nicht”, sagte ich.

Ich hätte besser nichts sagen sollen.

Ich hätte besser nichts sagen und mich beherrschen sollen.

Aber das sagte sich leichter, als es dann tatsächlich war.

Aber ich machte immer wieder denselben Fehler.

Algerien war ein heikles Thema. Und Papa kam immer wieder darauf zurück, auch wenn man sich stets nur darüber wundern konnte, welche inhaltlichen Schleifen er dafür nahm.

Er sagte: “Man hätte uns damals freie Hand geben sollen! Dann wären Algier und Oran heute noch französische Städte. Aber stattdessen hat man uns verraten! De Gaulle war es! Der hat uns verraten. Die OAS hätte de Gaulle damals erschießen sollen, aber das haben diese Dilettanten nicht hingekriegt! Aber wenn es so gewesen wäre, dann wäre heute manches anders.”

Ja, anders wäre dann sicher vieles, dachte ich.

Nur ganz bestimmt nicht besser.

“Willst du noch ein Stück Kuchen, Pierre?”, fragte Maman.

“Nein, danke”, sagte ich. “Das war schon das vierte und ich platze sonst gleich.”

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Als ich später nach Marseille zurückfuhr, hörte ich im Radio einen Bericht über die Sache mit dem Bären. Darin auch ein Originalton von Emile, in dem er die Ereignisse schilderte.

Er redete immer noch so wie damals, als wir in der Schule waren.

Er lispelte.

Da hatte er sich offenbar in all den Jahren nicht abgewöhnen können.

Ein Reporter fragte ihn, weswegen er ein Gasdruckmesser bei sich getragen hätte. “Ja, mein weiß ja nie, was so kommt”, lautete Emiles Antwort. “Oder?”

Da hatte er wohl recht.

Man wusste nie, was kam.

Manchmal eben ein Bär.

Und manchmal etwas viel Schlimmeres.

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Zur gleichen Zeit, an einem anderen Ort...

Merde!, dachte er. Scheiße! Ich bin komplett am Ende!

Er atmete einmal tief durch.

Oder besser: Er versuchte es.

Das war allerdings nicht so einfach.

Er hatte das Gefühl, dass ihm irgendetwas die Luft abschnürte. Und dazu breitete sich das lähmende Gift der Furcht mehr und mehr in ihm aus. Es war nur eine Frage der Zeit, wann es ihn vollkommen beherrschen würde. Er zitterte leicht.

Verflucht nochmal, wie hatte er nur in diese Lage kommen können?

So oft hatte er sich diese Frage schon gestellt.

In seinem Kopf hämmerte es hinter seinen Schläfen. Es war kaum zum Aushalten.

Eine vernünftige Antwort schien es auf diese Frage nicht zu geben.

Hier in Marseille hast du keine Zukunft!, dachte er – aber in diesem Moment wusste er noch nicht, wie gnadenlos zutreffend diese Aussage war.

Und anderswo wird es auch nicht besser für dich laufen, erkannte er dann. Ein deprimierender Gedanke. Aber so verdammt wahr.

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Georges Lenoir lockerte die Krawatte. Das Revers seines Jacketts war mit Champagner bekleckert und sein Gang wirkte unsicher, als er >Le Club Explosive< in der Avenue d'Orange verließ.

Champagner, obwohl es eigentlich nichts zu feiern gab. Aber wenn er sich schon betrank, dann wenigstens stilvoll. Seine Firma war pleite, der Job weg und der Porsche gehörte mehr seinen Gläubigern als ihm. Schlimmer konnte es wohl nicht mehr kommen, so dachte er.

Nein, schlimmer konnte es nicht kommen.

Schließlich hatte er schon alles verloren.

Mehr ging doch nicht.

Tiefer konnte man nicht fallen.

Ein Irrtum, wie er feststellen sollte.

Aber das war, bevor er das Messer zwischen seinen Rippen spürte.

In diesem Moment hätte er das noch nicht geglaubt.

Aber hinterher ist man ja immer schlauer.

Georges Lenoir hatte allerdings das Pech, dass er nichts mehr davon hatte.

So kann’s einem eben gehen.

Gott und die Politik versprechen Gerechtigkeit. Aber im wirklichen Leben existiert die offenbar nicht.

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Soll ich Ihnen nicht besser ein Taxi rufen?“, fragte der Türsteher vor dem >Le Club Explosive< noch, aber Georges Lenoir drehte sich nur um und zeigte ihm den Mittelfinger.

„Du kannst mich mal!“, rief er.

“War ja nur eine Frage!”, meinte der Türsteher.

Lenoir rief: „Ihr könnt mich alle mal!“

“Ja, ja, schon gut!”

“Gar nichts ist gut.”

“Kein Streit, okay!”

“Merde!”

Und dann wankte Lenoir die Straße entlang. In diesem Teil von Marseille reihte sich ein Nachtclub an den nächsten. Die besten Nobeldiscotheken der großen Hafenstadt am Mittelmeer waren hier zu finden.

Die gut gekleideten Passanten wichen dem vor sich hin murmelnden Mann aus.

Aber Lenoir brabbelte weiter vor sich hin.

Ein Mann, in dem die Wut immer wieder aufkochte.

Ein kleiner Vulkan, der einfach keine Ruhe gab.

Er rief: „Ja, ihr glaubt auch alle, dass ihr es geschafft habt! Dass euch nichts geschehen kann! Und dass ihr immer auf der Sonnenseite bleibt!”

“Was ist denn mit dem?”, fragte ein Mann im Smoking.

“Vorsicht, der ist betrunken”, meinte jemand anderes.

“Oder er hat was genommen.”

“Man ist auch nirgendwo mehr sicher”, meinte eine Frau in einem enganliegenden schwarzen Kleid und tiefem Ausschnitt, der die ausladenden Brüste spektakulär in Szene setzte.

George Lenoirs Blick verzog sich.

Sein Gesicht wurde zu einer Grimasse.

Einer irren Fratze.

Furchteinflößend.

Verstörend.

Verrückt.

Bedrohlich.

“Ihr Scheißkerle! Ihr hattet nur Glück!“, rief Georges Lenoir. “Ja, genau so ist es: Ihr hattet nur ein Scheiß-Glück!”

Verständnislose Blicke.

Angstvolle Blicke.

Empörte Blicke.

„Gehen wir!“, ermahnte eine andere, schon etwas ältere gut gekleidete Frau ihren Mann, der trotz Smoking und Fliege wohl nicht abgeneigt gewesen wäre einen Streit anzufangen.

Georges Lenoir erreichte die Einfahrt zu einer Seitenstraße. Er blinzelte.

Nein, er war nicht wirklich klar im Kopf.

Er fühlte sich...

...eigenartig.

Das war der einzige Begriff, mit dem sich dieser Zustand einigermaßen treffend beschreiben ließ.

Eigenartig.

Auf jeden Fall stimmte etwas nicht mit ihm.

Alles schien anders zu sein als sonst.

Ganz anders...

Die Gedanken waren durch den Einfluss des Alkohols irgendwie verlangsamt. Er versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, ob er den Porsche hier, in dieser Seitenstraße abgestellt hatte oder ob das noch eine Einfahrt weiter die Avenue d'Orange entlang gewesen war.

Sein Kopf war leer.

Die Erinnerung schien nicht mehr abrufbar zu sein. Wie der Inhalt eines gelöschten Speichers. Einfach weg. Als hätte es den Inhalt nie gegeben.

Lenoir zögerte.

Aber dann bog er einfach ein.

Folge deinem Instinkt, dachte er.

Was bleibt dir auch anderes?

Hier war es sehr viel dunkler, als in der von Neonlicht erhellten Avenue d'Orange.

Eine Gruppe von Jugendlichen kam ihm entgegen. Sie sprachen Arabisch, wechselten dann ins Französische. Offenbar deshalb, damit er ihre Beleidigungen auch mitbekam.

„Hey Mann, sieh dir die Schnapsnase an!“, sagte einer von ihnen.

Sie lachten.

Georges Lenoir lallte etwas vor sich hin, was kein Mensch verstehen konnte, und die Jugendlichen lachten noch mehr. Sie konnten sich gar nicht mehr einkriegen.

„Halt die Klappe, das ist ein Kunde von Alain!“, sagte schließlich einer von ihnen. Plötzlich waren alle still.

“Echt?”

“Ja!”

„Du spinnst!“

„Doch, wenn ich's sage! Ich habe doch Augen im Kopf!“

„Und ein Loch im Hirn!“

„Sehr witzig!“

Sie gingen davon.

'Djihad Kid' stand auf dem Kapuzenshirt, das einer von ihnen trug.

Die Buchstaben waren verschnörkelt.

Sollten wohl an arabische Schriftzeichen erinnern.

Das erkannte Georges Lenoir noch, als die Gruppe durch den Schein der Straßenbeleuchtung ging.

Selbst bei den Kokain-Dealern hatte sich wohl schon herumgesprochen, dass bei Lenoir nichts mehr zu holen war. Jemand, der keine Achtzehn-Stunden-Tage hinter sich bringen musste, brauchte dieses Zeug auch nicht wirklich, dachte er. Zumindest nicht in den Mengen wie früher. Abhängig würde er wohl bleiben.

Schließlich fand er seinen Porsche.

Er riss an der Tür, dann fiel ihm auf, dass er erst aufschließen musste.

“Merde!”, knurrte er.

Zum wievielten Mal dieses Wort jetzt schon über seine Lippen gekommen, wusste er gar nicht mehr.

Manchmal ging eben alles, aber auch wirklich alles daneben.

Dann fiel ihm der Schlüssel auf den Boden. Schließlich bekam er es doch noch zurecht, schloss auf und stieg ein. Umständlich klemmte er sich hinter das Steuer und zog die Tür hinter sich zu. Jetzt nur nicht den Flics auffallen, ging es ihm durch den Kopf. Ärger hatte er schließlich schon mehr als genug.

Mehr, als er im Moment gebrauchen konnte.

Er wusste, dass er in seinem Zustand eigentlich besser nicht mehr fahren sollte.

Er wusste aber nicht, dass die Flics sein kleinstes Problem sein würden...

Die schattenhafte Gestalt, die jetzt aus einer der Türnischen herausschnellte, bemerkte er nicht.

Die Tür seines Porsche wurde aufgerissen.

Lenoir konnte nicht schnell genug reagieren und die Zentralverriegelung betätigen.

„Was soll das?“, krächzte er.

Aber da hatte er schon die Klinge im Körper.

Es ging ganz schnell.

Ein Stich und ein Schmerz, der ihn förmlich zerriss.

Merde!, war dann auch sein letzter Gedanke.

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Es war ein Morgen wie viele andere auch.

Ich holte meinen Kollegen Francois an diesem Morgen wie üblich ab.

Ich war spät dran. Francois’ mahnender Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk sagte schon alles.

„Ja, ich weiß“ sagte ich.

„Was ist los? Ärger mit dem Wagen?“

„Nein, der läuft wie geschmiert.“

“Das hört man gerne.”

“Stimmt.”

“Was ist dann los?”

“Ach, egal!”

“Nun sag schon.”

“Ich sagte doch: Es ist egal.”

“Wenn jemand das sagt, meint er, dass es keineswegs egal ist, Pierre.”

“Und wenn jemand sagt, dass es nicht egal ist, meint er dann auch das Gegenteil von dem, was er gesagt hat, Francois?”

“Das kommt drauf an, Pierre.”

“Worauf kommt es denn an?”

“Jetzt weichst du aus, Pierre.”

“Nein, komm schon, dass sollten wir mal klären, Francois. Läuft es darauf hinaus, dass am Ende immer nur du zutreffend beurteilen kannst, was tatsächlich gemeint ist? Ist das so, ja?”

Francois zuckte mit den Schultern.

“Warum fragst du noch, wenn du doch die Wahrheit schon kennst, Pierre?”

“Francois, ich lass mich nicht so gerne verarschen. Auch nicht von dir.”

“Du verarschst dich gerade selber, Pierre. Du machst dir etwas vor. Und ich dachte, du willst vielleicht darüber reden.”

“Lass es, Francois.”

“Wie du willst.”

“Ich will es so.”

“Na, gut.”

Dann war erstmal Ruhe.

Zum Glück, dachte ich. Francois ist mein Dienstpartner. Und er ist außerdem wirklich ein guter Freund. Aber es kommt vor, dass er einfach zu viel quatscht und nicht versteht, dass man manchmal einfach die Klappe halten muss.

In so einem Fall muss man meinem Verständnis nach dann durch ein paar mehr oder weniger deutliche Worte nachhelfen, bis er es kapiert.

Manchmal ist er dann beleidigt.

Aber nie lange.

Das ist das Gute an Francois.

Wenn er beleidigt ist, dann nie lange.

Das Wochenende in >Le Trou< saß mir irgendwie noch in den Knochen. Warum fuhr ich überhaupt dorthin?, fragte ich mich nicht zum ersten Mal.

Aus Verpflichtung?

Vielleicht.

Jedenfalls tat ich es.

Und bekam immer wieder dasselbe zu hören. Nur die Geschichte von Emile und dem Bären und dem Gasdruckmesser - die war neu gewesen. Und neu war für mich auch, dass es unfair war, einen Bären mit einem Gasdruckmesser abzustechen, aber durchaus ehrenwert, einen Algerier mit mit einem normalen Kampfmesser aufzuschlitzen.

Ist vielleicht eine Generationenfrage.

Ich trat auf das Gaspedal, um noch die Grünphase der nächsten Ampel zu erwischen.

Aber die Sache mit meinen Eltern in >Le Trou< war nicht das Einzige, was mir in den Knochen saß.

Damit war das missglückte Wochenende für mich nämlich noch nicht zu Ende gewesen.

„Ich war gestern Abend noch in einer Snack Bar, um etwas zu essen“, berichtete ich. „Eigentlich dachte ich daran, in fünf Minuten einen Hot Dog herunterzuwürgen und mich dann in meine Wohnung zum Schlafen zurückzuziehen.“ Ich versuchte vergeblich ein Gähnen zu unterdrücken.

Ja, auch wenn manche Leute das kaum glauben können: Entgegen allen Klischees gibt es auch Franzosen, die Fast Food zu sich nehmen und Hot Dogs oder Hamburger essen. Und ich wette, neunzig Prozent dieser kulinarisch unpatriotischen Franzosen sind bei der Polizei angestellt. Der Schichtdienst und die knappe Zeit führt dazu, dass man sich so etwas angewöhnt.

Leider.

Francois hob die Augenbrauen.

„Und? Wieso hat das nicht geklappt? Wenn du bis zum Morgengrauen auf deinen Hot Dog warten musstest, würde ich da nicht mehr hingehen!“

“Ja, ja....”

“Und um ehrlich zu sein Pierre: An einem Wochenende würde ich da sowieso nicht hingehen.”

“Geschenkt, Francois.”

“Zumindest nicht an einem freien Wochenende, was es ja Gott sei Dank ab und zu noch gibt.”

„Ich bin in eine Drogenrazzia der Polizei von Marseille geraten“, sagte ich.

“Die Kollegen also...”

„Es ging um ein paar Jugendliche. Kleine Dealer, die sich ausgerechnet diese Snack Bar ausgesucht hatten, um ihre Lieferung in Empfang zu nehmen.“

„Und auf diesen Schweinehund, der halbe Kinder als Drogendealer losschickt, hatten es die Kollegen wahrscheinlich abgesehen“, vermutete Francois.

„Richtig. Walid Abdulmajid hat ein entsprechendes Vorstrafenregister und die Kollegen haben ihn wohl schon länger im Visier gehabt. Nach der Aktion gestern wird er wohl einige Jahre im Knast abbrummen müssen.“

„Gut so.“

„Aber das hat sich eben hingezogen, die Befragungen, das Protokoll und so weiter. Und diesmal war ich Zeuge, nicht untersuchender Beamter. Also konnte ich auch nichts tun, um die Sache irgendwie zu beschleunigen. Und mal ehrlich, ich hoffe, dass alle Aussagen und Beweise so wasserdicht sind, dass dieser Abdulmajid nicht durch die Maschen des Gesetzes schlüpft!“

„Na, da hast du ja richtig ein gutes Werk getan, Pierre!“

„Jedenfalls bin ich heute hundemüde.“

Ich hatte sowieso ein Schlafdefizit, weil wir in letzter Zeit eine Reihe von nächtlichen Observationen im Umkreis des organisierten Verbrechens durchzuführen gehabt hatten. Eine Weile kann man sich daran gewöhnen, aber heute schien bei mir der Punkt erreicht gewesen zu sein, wo sich mein Körper einfach geweigert hatte aufzustehen.

Trotz Wecker.

Ich hatte ihn schlicht und ergreifend überhört.

Naja, kann passieren, oder?

Ich hatte allerdings einigen Anlass zu der Annahme, dass Monsieur Marteau - mein Vorgesetzter - kein Drama draus machen würde.

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Wir erreichten die Präsidium.

Es überraschte mich nicht, dass Francois und ich die letzten waren, die zu der von Monsieur Marteau einberufenen Besprechung kamen. Der Chef des Kriminalpolizei Marseille sah uns beide mit unbeweglichem Gesicht an und enthielt sich jeden Kommentars zu unserer Verspätung.

Genau das war eines der Dinge, die es so angenehm machten, unter ihm zu arbeiten. Er wusste auch so, wie peinlich es mir war, zu spät zu kommen. Wozu also noch Worte darüber verlieren?

Außer Francois und mir waren noch die Kommissare Stéphane Caron und Siddi Noureddine im Raum, sowie unser Innendienstler Victor Stahl und Davide L. Richelieux, unser Experte für betriebswirtschaftliche Fragen.

Dass Davide dabei war, bedeutete wohl, dass es um irgendeine knifflige Angelegenheit ging.

Sein Hauptjob war es, illegale Geldströme aufzuspüren, die so etwas wie der Lebenssaft des organisierten Verbrechens waren.

Folgte man dem Geld, dann hatte man meistens auch sehr schnell ein präzises Bild von der Hierarchie mafiöser Organisationen. Und sehr oft ließen sich aus diesen Geldflüssen wertvolle Rückschlüsse ziehen, die dann schließlich auch zu Festnahmen führten.

„Heute Nacht ist ein Mann namens Georges Lenoir in einer Seitenstraße an der Avenue d'Orange erstochen worden“, erklärte Monsieur Marteau. „Lenoir war in einer Investment-Firma tätig, hat Millionen verdient, aber offenbar auch wieder ausgegeben und ein Leben auf der Überholspur geführt. Der letzte große Crash in der Kreditwirtschaft hat ihn wie so viele andere auch mit in den Abgrund gerissen. Seitdem ist er arbeitslos und muss zusehen, dass er sich von den Anlegern, deren Geld er mit seinen zweifelhaften Geschäften vernichtet hat, fernhält, weil die ihn wahrscheinlich sofort lynchen würden. Mehrere Verfahren wegen Betruges laufen, in weiteren Fällen wird ermittelt. Finanziell war Lenoir ruiniert.“

Francois vermutete: „Offenbar hat es einer von Lenoirs ehemaligen Kunden geschafft, ihn ausfindig zu machen.“

Monsieur Marteau hob die Augenbrauen.

Eine kurze, dramatische Pause folgte.

Sehr kurz und sehr dramatisch.

Selbst für Monsieur Marteaus Verhältnisse.

Eins musste man unserem Chef lassen.

Solche Feinheiten des Vortrags hatte er besser raus als manch einer, der auf eine Schauspielschule gegangen ist. Das kann er richtig gut.

Gehört heutzutage wohl zu dem, was man Führungsqualität nennt. Vielleicht war es in den alten Zeiten, als mein Vater in Algerien kämpfte, mal so, dass einfach gehorcht wurde und niemand die Vorgesetzten und ihre Entscheidungen hinterfragte.

Aber heute ist das wohl lange vorbei.