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Für Sönke

Holger Schulz

1975

Umbrüche in Politik, Kultur und Gesellschaft

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© 2015 Holger Schulz

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback 978-3-7439-1166-6
Hardcover 978-3-7439-1167-3
e-Book 978-3-7439-1168-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Über dieses Buch

1. Die Gesellschaft – grau und bunt

2. Die bestimmenden politischen Themen 1975

2.1. Die Annäherung von Ost und West

2.2. Vietnam - Die Medien und der Krieg

2.3. Terrorismus - Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik

3. Zwanzig Jahre Bundeswehr - etabliert, aber rückwärtsgewandt

4. Parlamentarische Auseinandersetzungen – Zwei Kontrahenten

5. Die DDR - Das andere Land

5.1. Totale Überwachung

5.2. DDR-Medien - Beifall für die Erfolge der SED

5.3. Der Blick aus dem Westen - Ausblendung der Realität

5.4. Spione

6. Die Europäische Gemeinschaft

7. Kultur

7.1. Film und Fernsehen - die Glanzpunkte

7.2. Bücher - Erfolgreich und umstritten

7.3. Neue „Krankheiten“

7.4. Zeitungen - Die Qualitätsfrage

7.5. Musik - Große Stars

7.6. Theater - Die kaputte Bühne

7.7. Sport - Das große Geschäft

8. Beruf und Wirtschaft

8.1. Bildungspolitik

8.2. Wachstum

8.3. Arbeitslosigkeit - Die Rolle der Gewerkschaften

8.4. Öffentlicher Dienst - Noch einmal: die Gewerkschaft

8.5. Das Ende des Schlaraffenlandes - aber nicht für alle

8.6. Optimismus trotz der Wirtschaftsflaute

8.7. Die unbemerkte digitale Revolution

8.8. Linke Erfolgsrezepte - Wirtschaftslenkung und Subventionen

8.9. Netzwerke

8.10. Kreative Geldschöpfung - gepflegte Hilfsbedürftigkeit

9. Gesellschaft und Kämpfer

9.1. Verbände und revolutionäre Kämpfer

9.2. Die Kirchen - Ihr Einfluss geht zurück

9.3. Die richtige Gesinnung und richtiger Sprachgebrauch

9.4. Ein Portugiese und andere Ausländer

9.5. Die politischen Parteien

9.6. Die Frauenbewegung - Emanzipierte Kämpferinnen

9.7. Die demographische Entwicklung

9.8. Die neue Armut

10. Was bleibt?

11. Was wird sein?

Über dieses Buch

Mit dem Jahr 1975 beginnt das letzte Quartal eines Jahrhunderts, in dem die Menschen Umbrüche erleben mussten, die zu Beginn dieses Jahrhunderts unvorstellbar waren. Stefan Zweig hat in seinem Buch „Die Welt von Gestern“ für die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts die „handliche Formel“ gefunden: „Es war das goldene Zeitalter der Sicherheit, alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit.“ Es ging friedlich voran: Die Menschen wurden schöner, kräftiger, gesünder, die soziale Sicherheit war gewährleistet, die Justiz wurde linder und humaner gehandhabt, schreibt Zweig und ergänzt: „Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft.“1

Im Jahr 1975 liegt das Ende des zweiten der verheerenden Weltkriege im 20. Jahrhundert gerade dreißig Jahre zurück und es scheint auf den ersten Blick Konsens bei vielen Bürgern der alten Bundesrepublik Deutschland, dass jetzt wirklich ein Zeitalter der Vernunft angebrochen wäre und alles Radikale, alles Gewaltsame unmöglich wäre.

In diesem Buch versuche ich zu aufzuzeigen, wie sich die Verhältnisse im Land, sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), zu dieser Zeit darstellen. Dabei kann ich nur einzelne Aspekte beleuchten, Momente, die keinesfalls auch nur ansatzweise einen repräsentativen Eindruck vermitteln, da ich sie zum einen subjektiv ausgewählt habe und zum anderen aus dem Rückblick mit dem Wissen um die Entwicklung bis heute sehe. Aber es wird hoffentlich deutlich, ob in diesem letzten Quartal des 20. Jahrhunderts wenigstens ein neues Zeitalter der Sicherheit seinen Lauf nimmt.

Welche Ereignisse 1975 von den Menschen als bedeutsam empfunden werden, lässt sich im Nachhinein nur unter Schwierigkeiten erkennen. Zahlreiche Geschehnisse sind in den Medien dokumentiert, aber die Sichtweise einzelner Medien auf aktuelle Begebenheiten ist sehr unterschiedlich. Wie andersartig sich die als wichtig erachteten Ereignisse in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR in der Berichterstattung widerspiegeln, wird aus einem kurzen Vergleich der Artikel auflagenstarker Zeitungen sowohl aus der Bundesrepublik Deutschland als auch der DDR ersichtlich. Die Titelseiten an drei zufällig ausgewählten Tagen aus dem Jahr 1975 geben einen Anhaltspunkt darüber, wie verschiedenartig über Gesellschaft und Politik am gleichen Tag in beiden Ländern berichtet wird. Hier sind die Aufmacher der Massenzeitungen „Bild“ und „Neues Deutschland“.

Die „Bild“-Zeitung, die Zeitung mit einer täglichen Auflage in der Bundesrepublik von über 4 Millionen Exemplaren, titelt am 20. Februar 1975: „Baader-Meinhof isst jetzt Kaviar in der Zelle“ und ergänzt: „Auch Lachs, Gänseleberpastete und echte Salami waren in den Freßpaketen.“ (Die individuelle Grammatik dürfte nur wenigen „Bild“-Lesern auffallen). Ob den „Bild“-Redakteuren hier ein tatsächlicher oder eher ein fantasiereicher Einblick in die Haftbedingungen des Terroristen Andreas Baader gelungen ist, erschließt sich im Nachhinein nicht, aber diese Meldung passt zu einer Anekdote, die der (spätere) Buchautor Gerd Koenen berichtet. Laut Koenen hat Baader einmal 22.000 DM aus einer Kommune-Kasse geklaut und sich davon einen weißen Mercedes gekauft, „mit dem er und sein jugendliches Gefolge bei Tag und Nacht herumrasten.“2

Am 4. April 1975 meldet „Bild“ als wichtigstes Ereignis: „Mann beim Abwaschen ertrunken!“ (mit Ausrufungszeichen und Foto des 42-jährigen Opfers aus Reichenbach bei Göppingen). Am 7. Juni 1975 können sich die Leser bei „Bild“ für 25 Pfennig an einem Foto von Romy Schneider erfreuen, das die Schauspielerin von hinten nackt im Mittelmeer vor St. Tropez zeigt. Die Titelüberschrift informiert: „Romy heiratet jetzt ihren Sekretär“ mit der weiteren Mitteilung: „Ich wünsche mir ein Kind von Daniel.“

Das „Organ der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“, die Zeitung „Neues Deutschland“ mit einer Auflage von über einer Million Exemplaren in der DDR berichtet am 20. Februar 1975 auf der Titelseite: „Hoher Leistungsanstieg ist Ziel der Berliner Wohnungsbauer“, die ihre Arbeitsproduktivität mit zwei Prozent über Plan erfüllt hätten. Am 4. April 1975 trauert das „Neue Deutschland“ um den Genossen Herbert Warnice: „Abschied von einem treuen Sohn der Arbeiterklasse“, der feierlich im Haus des Zentralkomitees der SED aufgebahrt worden ist. Und am 7. Juni 1975 titelt das „Neue Deutschland: „Gute Bilanz ist Grundlage für neue Erfolge auf unserem richtigen Weg“ mit der Unterzeile: „Politbüro des ZK der SED dankt im Bericht an die 14. ZK-Tagung allen Werktätigen für große Leistungen/Zur Lösung der Hauptaufgabe weiter alle Reserven für Intensivierung erschließen.“

Während die westdeutsche „Bild“-Zeitung unter dem Chefredakteur Günter Prinz 1975 ein „Mix aus Facts und Fiction, aus Politik, Verbrechen und Verbrauchertipps“ geworden ist, eine aus einem Groschenblatt entwickelte nationale Institution, wie Claus Jacobi anlässlich des 50. Geburtstages der „Bild“-Zeitung schreibt, 3 dient das „Neue Deutschland“ unter dem Chefredakteur Joachim Herrmann, Kandidat des Politbüros der SED, als wichtiges Propagandawerkzeug der SED.

Dieser kurze Blick auf die zwei jeweils in der Bundesrepublik und der DDR stark verbreiteten Zeitungen verdeutlicht die grundlegenden gesellschaftlichen Unterschiede in beiden Staaten. Die Unterschiede beschreibe ich ansatzweise im Buch, der Schwerpunkt des Manuskriptes liegt jedoch bei der Darstellung der Verhältnisse in der Bundesrepublik, denn die DDR tritt am 3. Oktober 1990 nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bei und beendet damit die eigene Staatlichkeit. Heute hat dieser ehemalige Staat für uns nur noch eine sehr eingeschränkte Bedeutung. In der Volkskammersitzung am 23. August 1990 beschließt das Parlament der DDR die Abschaffung des eigenen Staates.

Das westliche Europa ist um 1975 und in den folgenden Jahren durch die Übereinkunft der „Väter“ der europäischen Einigung geprägt, den Politikern Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi, die dieses Europa auf dem Erbe des christlichen Abendlandes aufbauen wollen. Die europäische Einigung findet jedoch entgegen dem Bestreben der drei treibenden Gründer vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet statt. Die grundlegenden Bindungen aus unserer gemeinsamen Kultur, die ihre Wurzeln vor allem in der christlichen Tradition hat, haben kaum Bedeutung.

Der Historiker Heinrich August Winkler sieht im Jahr 1975 eine Zäsur in der Nachkriegsgeschichte, nicht nur in der Bundesrepublik, sondern weltweit. In seinem Buch „Geschichte des Westens - Vom Kalten Krieg zum Mauerfall“4 fasst der Autor die Jahre von 1963 bis 1975 unter der Überschrift „Von der Konfrontation zur Entspannung“ und die darauf folgenden Jahre von 1975 bis 1985 unter der Überschrift „Von der Entspannung zur Konfrontation“ zusammen. Die Phase der Konfrontation, beginnend mit der Blockade West-Berlins durch die Sowjetunion 1948/1949, endet mit der Beilegung der Krise um Kuba im Oktober 1962, der versuchten Stationierung sowjetischer Raketen auf der Insel mit der Bedrohung der USA. Eine Zeit der Entspannung folgt nach der Beendigung der Kubakrise, die mit der Stationierung auf Mitteleuropa gerichteter sowjetischer Raketen ab 1976 und dem folgenden Beschluss einer Nachrüstung des Westens ihr Ende findet.

Auch wirtschaftlich ist die Zeit um 1975 eine Zeit des Umbruchs. Die hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten der Nachkriegsjahre enden, als die Organisation Erdölexportierender Staaten (OPEC) Ende 1973 die Rohölpreise deutlich erhöht. Die Staaten der Welt und ihre Bevölkerungen sind nicht auf den Konjunktureinbruch und die damit verbundenen Einschränkungen eingestellt. Beide, Staaten und Bevölkerungen, finanzieren den gewohnten Konsum über Kredite und beginnen den Marsch in den Schuldenstaat, der bis heute ungehemmt weitergeht.

Erstaunlich ist, dass es uns trotz der der drohenden Krisen und der düsteren Zukunft, die in den 1970er Jahren bei vielen Menschen befürchtet wird, heute ausgesprochen gut geht, auch wenn manche dies lautstark bezweifeln. Das Öl ist nicht aufgebraucht, die Umwelt nicht hoffnungslos zerstört, die Anarchie nicht ausgebrochen und der befürchtete Atomkrieg hat die Erde nicht verwüstet.

Ob die Zeit um 1975 eine Zeit des Umbruchs ist, kann erst im Nachhinein mit großem zeitlichen Abstand beurteilt werden. Beginnende große Umwälzungen werden häufig nicht sofort erkannt, wie Beispiele aus der Geschichte zeigen.

So schreibt Frankreichs König Ludwig XVI. am 14. Juli 1789 in sein Tagebuch: „rien“. Dieses „nichts“ kostet ihn im weiteren Verlauf der an diesem 14. Juli beginnenden Französischen Revolution das Leben. Am 21. Januar 1793 fällt sein Kopf unter der Guillotine auf der Place de la Concorde in Paris in den Korb.

Bei einem Attentat, wie es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht außergewöhnlich ist, findet der österreichische Thronfolger am 28. Juni 1914 den Tod. Die Beunruhigung in Europa hält sich in Grenzen. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. geht mit seiner Yacht „Hohenzollern“ erst einmal auf Nordlandtour und sein englischer Cousin George V. zieht es vor, Fasanen zu jagen. Fast 20 Millionen Menschen verlieren im Ersten Weltkrieg, der in Folge dieses Attentats am 28. Juli 1914 ausbricht, ihr Leben.

Als weiteres Beispiel für einen grundlegenden Umbruch, der zum Zeitpunkt eines bestimmten Ereignisses nicht ohne weiteres erkennbar ist, kann der September 2001 gelten. Bis zum 10. Tag dieses Monats ist dem Islamismus nur geringe weltweite Aufmerksamkeit gezollt worden, einen Tag später, nach verheerenden islamistischen Terroranschlägen in New York und Washington mit tausenden Toten, gerät der militante Islamismus in den Focus der Weltöffentlichkeit mit bis heute nicht absehbaren Folgen weltweiter militärischer und kultureller Auseinandersetzungen.

Eine Folge der Auseinandersetzungen sind anschwellende Flüchtlingsströme nach Europa, die die Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederum an einem einzigen Tag, dem 4. September 2015, verstärkt, indem sie im Alleingang kurzerhand das deutsche Grundgesetz und die deutschen und europäischen Asylgesetze außer Kraft setzt und Flüchtlinge ermuntert, nach Deutschland zu kommen. Wie wird dieser Tag in hundert Jahren kommentiert werden? Als Beginn des Endes der europäischen Kultur? Spätere Historiker werden es schwer haben, die Vorgänge dieses Tages zu analysieren, denn es gibt keine Akten über die Entscheidung. „Im Aktenbestand des Kanzleramts konnten ‚keine einschlägigen Dokumente ermittelt werden‘“, schreibt der „Spiegel“ unter der bissigen Überschrift, die Bundeskanzlerin ironisch zitierend („Wir schaffen das“): „Wir schaffen das, ohne Akten.“5

Ereignisse eines einzigen Tages können eine Weichenstellung für die politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung vieler Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte bewirken.

1975 sind aus der Sicht der Zeit einzelne Tage mit dieser Bedeutung nicht erkennbar. Und dennoch wird in diesem Jahr mit der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki am 1. August 1975 der Grundstein für eine fundamentale Neuorientierung der künftigen politischen Entwicklung Europas gelegt. Auch für Deutschland eröffnen sich neue, an diesem Tag noch undenkbare Möglichkeiten der Veränderung.

1975 gehört es, abgesehen von gelegentlichen Sonntagsreden erzkonservativer westdeutscher Politiker, nicht zum allgemeinen Vorstellungsvermögen, dass es jemals eine Vereinigung beider deutscher Staaten geben könne. 15 Jahre später wird diese Vereinigung unter „Abschaffung der DDR“ (Gregor Gysi) auf friedlichem Wege Realität. Und weitere 15 Jahre später ist, undenkbar im Jahr 1975, eine Frau, Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, eine Frau, die bis zur Wiedervereinigung in der DDR gelebt hat. Und auch der spätere Bundespräsident, Joachim Gauck, hat bis zum Ende der DDR in jenem Land als Pastor gearbeitet. Die Karrieren dieser beiden Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland sowie die Entwicklungen der Bundesrepublik und Europas sind 1975 zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte noch nicht zu ahnen.

Die Helsinki-Konferenz findet breite Aufmerksamkeit in den Medien. Andere bahnbrechende Entwicklungen werden 1975 von engagierten Visionären ohne mediale Begleitung vorangetrieben. Junge Entwickler neuer Datentechniken, wie Steve Jobs, Steve Wozniak oder Bill Gates verändern die Welt der Elektronischen Datenverarbeitung (IT) maßgeblich. Die Bedeutung dieser Computer-Visionäre mit handfesten praktischen Fähigkeiten wird anfangs kaum erkannt, denn das Verharren der etablierten Computerunternehmen in der bewährten Technik von Großrechnern erschwert den Start neuer IT-Techniken mit kleinen persönlichen Rechnern. Bald jedoch wird der Persönliche Computer, der PC, trotz aller Widerstände die Datenverarbeitung revolutionieren.

Eine Vielzahl einzelner Ereignisse oder Entwicklungen aus der Zeit Mitte der 1970er Jahre hat bis heute Einfluss auf unsere Gesellschaft. Einige der Episoden, Einschnitte, Marksteine oder Geschehnisse sollen in diesem Buch beleuchtet werden. Vielleicht wird am Ende der Lektüre dieses Buches deutlich, dass Hans Magnus Enzensberger mit seiner Einschätzung der Zeit schief liegt, der 1978 in einem Gedicht („Andenken“) geschrieben hat: „Also was die siebziger Jahre betrifft, kann ich mich kurz fassen (…). Widerstandslos, im großen und ganzen, haben sie sich selber verschluckt, die siebziger Jahre (…). Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, wäre zuviel verlangt.“6

Wir gedenken der siebziger Jahre dennoch mit Nachsicht und auch mit ein wenig Wehmut.

Hamburg, im April 2017

Holger Schulz

1. Die Gesellschaft – grau und bunt

Aus dem heutigen Rückblick ist das Leben in der Mitte der 1970er Jahre manchmal in optischer Hinsicht grau verschwommen, die Zeitgenossen jedoch empfinden es als bunt akzentuiert.

Dieser Gegensatz erklärt sich vor allem dadurch, dass die Zeit vielfach in Schwarzweiß-Fotos konserviert worden ist und die farbigen Fotos, inzwischen verblasst, häufig nur noch Bilder ohne deutliche Konturen übermitteln. Dabei geht es tatsächlich Mitte der 1970er Jahre auch bunt zu. Beginnen wir mit der schwarz-weißen Sicht der Dinge.

Schwarz und weiß vermischen sich zu grau.

Der Fotograf Thomas Henning kauft sich 1975 eine Packung TRI-X Schwarzweiß-Filme in Aluminiumdosen, legt den ersten Film in seine Nikon F Photomic ein und beginnt, das Leben in Hamburg in diesem Jahr 1975 zu dokumentieren.7

Thomas Henning fotografiert einen etwa 60-jährigen Straßenmusiker in der Spitaler Straße am Hauptbahnhof, der mit inbrünstig gen Himmel verklärtem Blick Musik auf seiner Ukulele spielt. Obwohl der Musiker mit einem Jackett und schwarzer Hose bürgerlich bekleidet ist, macht er mit seiner zotteligen Frisur und leicht glasigen Augen einen heruntergekommenen Eindruck. Er hat sicherlich bessere Zeiten erlebt. Auch für die im Eingang zum Hauptbahnhof an der Kirchenallee fotografierte Straßenmusikerin trifft diese Einschätzung ihrer früheren besseren Zeiten vermutlich zu. Das Orchester der Musikerin besteht aus zwei Sägen und einem Akkordeon. Mit einer Säge musiziert sie gerade, auf einem Klappstuhl sitzend, vor sich hinstarrend. Es regnet. Ihr Sammelteller für Geldspenden ist leer.

Besser sieht es am Steindamm vor „Henry´s Sex Shop“ aus. Das Gebäude in der Straße Steindamm, das im Krieg zerstört worden ist, besteht nur noch aus dem Erdgeschoß und einem mit Brettern vorgetäuschten ersten Stock. „Henry´s“ überlebensgroß in den Schaufenstern auf Bildern gezeigten spärlich bekleideten Damen versprechen Live Shows und 32 Videoprogramme. Das Geschäft geht offensichtlich gut, denn vor dem Etablissement parken eine vierzylindrige Honda CB 500 Four mit Beiwagen und ein exotisches offenes Beach Car mit breiten Hochgeschwindigkeits-Reifen, Fahrzeuge, die auf einen unkonventionellen gehobenen Lebensstandard der Eigentümer hinweisen.

Der Stadtteil St. Georg jedoch, den der Steindamm durchläuft, zeigt, obwohl im Zentrum Hamburgs gelegen, große Brachflächen, auf denen zweifelhafte Autohändler ihr undurchsichtiges Gebrauchtwagengeschäft betreiben. „Ankauf-Export-Verkauf“ steht auf dem Dach einer verschlossen wirkenden Baracke in der Baumeisterstraße. Der Einblick in die Baracke wird durch Vorhänge verwehrt. Der bis auf wenige Autos im Hintergrund leere Platz vor und hinter der dem Schuppen lässt vermuten, dass der Autohandel nicht sonderlich floriert, vielleicht auch nicht das Ziel hat, Autos zu kaufen und zu verkaufen, sondern vor allem dem Waschen von Schwarzgeld dient.

Ein weiteres Foto zeigt einen teilweise mit Unrat bedeckten, aber sonst leeren Platz, an dessen Ende ein verrußtes Haus steht. An der Hauswand verkündet ein schief hängendes Schild „Autoreparaturen aller Art“. Eine Steinmauer, deren Putz an vielen Stellen abgebröckelt ist, begrenzt den Platz. Mehrere eng zusammen stehende Wohnblöcke unterschiedlicher Bauart und Bauhöhe, aber alle mit zahlreichen Schornsteinen für die Ofenheizung und mit abbröckelnden Fassaden, unterstreichen im Hintergrund das Elend dieses zentralen Hamburger Stadtteils. Die Spuren des Krieges sind dreißig Jahre nach Kriegsende immer noch offen sichtbar.

Auch im Karolinenviertel und auf der Sternschanze, zwei weiteren zentralen Stadtteilen Hamburgs, ist eine auffällige Tristesse vorherrschend. An der Straße Schulterblatt säumen Einzelhandelsgeschäfte in Baracken den Weg, die Fensteröffnungen in den Mietwohnungen sind teilweise zugemauert, die Rahmen vieler Fenster notdürftig repariert. Und auch hier bröckeln die Fassaden. In einem kleinen Eckladen in der Glashüttenstraße ist für den wichtigsten Bedarf der Kunden gesorgt: Tabak, Zigarren, Zigaretten („Juno bitte“), Eis („Mili Eiskrem“) und Zeitungen. Die „Morgenpost“ im Schaufenster titelt: „Die Sowjets spionieren unsere Computer aus!“, die Zeitschrift „Konkret“ warnt vor Atomkraftwerken, „Bravo“ lockt die (insbesondere männliche) Jugend mit einer leicht bekleideten Dame, „Phantom“ verspricht neue Comic-Abenteuer und die am Eingang des Geschäftes in Plastikhüllen hängenden Zeitschriften „Neue Post“, „Das Neue Blatt“, „Echo der Frau“ und die „Praline“ berichten über die neuesten Ereignisse um Prinz Charles oder Stars und Sternchen. Der Zigarettenverkauf läuft rund um die Uhr: Zwei Zigarettenautomaten versorgen die Raucher zu jeder Zeit.

Ebenfalls in der Glashüttenstraße gelegen, zeigt ein einstmals mit einem dekorativen Eckeingang sich öffnendes Backsteingebäude, dass die früheren glanzvollen Zeiten vorbei sind. Die Steinornamente am Eingang sind noch vorhanden, aber der Eingang ist vergittert. „Warner´s Corsets“, der kunstvoll in kalligrafischer Schrift über den Eingang gesetzte Firmenname des US-amerikanischen Miederherstellers („Corset und Büstenhalter vereint“) ist noch vorhanden, aber das Gebäude wirkt leblos. Ein offensichtlich provisorisch an der Hausfront befestigtes Regenrohr soll Wasserschäden verhindern, ein verrostetes Verkehrsschild vor dem Gebäude und Plakatreste am Eingang verdeutlichen den maroden Eindruck. Dabei ist dieses Gebäude aus dem Jahr 1908 eine konstruktive Meisterleistung im Eisenbeton-Skelettbau, dessen Fassade an ein Kontorhaus mit profilierten Pfeilern erinnert, aber tatsächlich eine profane Fabrik im Inneren beherbergt.

Am Ende der Straße steht die Volksschule aus kaiserlichen Zeiten von 1889. Vor dem Haus vegetieren einige Sträucher vor sich hin, Papierfetzen, vom Wind herangeweht, sammeln sich in ihnen. Eine Pflege gibt es hier nicht. Hinter der Straßenkreuzung ist das Kraftwerk „Karoline“ der Hamburgischen Electricitäts-Werke zu sehen, ein kohlebetriebenes Kraftwerk, das zwar in Teilen erneuert und auch erweitert, aber immer noch seit jetzt (1975) schon fast 80 Jahren den Stadtteil mit Ruß und Rauch kontaminiert. Der Kraftwerksleiter, der aus seinem Büro über einen Spiegel am Fenster mit Blick auf die Schornsteine die Entwicklung der Rauchgase beobachtet, versucht zu verhindern, dass allzu schwarzer Rauch aufsteigt und das Karolinenviertel einqualmt. Nach einem Griff zum Telefon und einer Verbindung in die Warte des Kraftwerks wird die Anlage auf Anordnung des Kraftwerkleiters dann zurückhaltender „gefahren“, wenn gar zu schwarzer Rauch aufsteigt. Den Klagen der Bewohner des Viertels über die extremen Umweltbelastungen soll auf diesem unkonventionellen, allerdings völlig unzureichenden Weg entgegengekommen werden. Noch weitere 13 Jahre, bis zum Jahr 1988, wird das Stadtviertel vom Kraftwerk „Karoline“ eingerußt werden.

St. Pauli wirkt am Tage ebenfalls grau.

Auf der Reeperbahn steht der Thier-Bräu-Lieferwagen mit dem Biernachschub für den „Club 88“, der legendären Discothek (mit „c“), die nachts ein beliebter Treffpunkt der Halbwelt des Amüsierviertels ist. Daneben, vor dem „Moulin Rouge“, lädt der Zulieferer das Bier aus dem voll bepackten Bierwagen für die kommende Nacht aus. Ein älteres korpulentes Paar, weit über geschätzte 70 Jahre alt, geht Hand in Hand am „Club 88“ vorbei, ohne einen Blick zur Seite zu werfen. Die Telefonzelle neben der Bushaltestelle vor dem Club, nachts von einer langen Menschenschlange belagert, ist jetzt menschenleer. Aus der Telefonzelle werden nicht nur Ortsgespräche für jeweils 20 Pfennig geführt, sondern auch häufig berufliche Fern-Gespräche nach Albanien, denn Albaner beherrschen jetzt das Geschäft mit Drogen und Prostituierten.

Im Vordergrund dieser Fotografie von Thomas Henning wendet sich eine ältere Frau, gestützt auf einen Spazierstock, mit einem geblümten Kittel bekleidet, freundlich lächelnd mit einer Handbewegung einladend an den Fotografen, seinem Metier nachzugehen. Offensichtlich hat sie gerade den Bürgersteig vor dem „Moulin Rouge“ von den Überresten der vergangenen Nacht gesäubert, denn die Fliesen vor dem Gebäude glänzen noch nass und zeigen Reste von Seifenschaum.

Auf den Türen von kleinen übereinander gestellten, mit Vorhängeschlössern gesicherten Containern am Rand der Straße werben die „St. Pauli Nachrichten“ mit Plakaten für die Zeitung. Eine lediglich mit einer kurzen Bluse bekleidete blonde Dame lächelt den Betrachter von der Seite an, ihr Busen lugt aus der Bluse. Im Hintergrund der Plakate zeigen Kontakt-Kleinanzeigen („Seid nett aufeinander“), quer überschrieben mit der Nachricht: „Jeden Donnerstag neu!“, welche Klientel die Zeitung ansprechen will. Die Plakate kleben schon länger an den Containern, denn sie sind an den Rändern teilweise eingerissen, die Blätter wirken vergilbt. Tatsächlich geht es allmählich nach sehr erfolgreichen Jahren mit wöchentlichen Auflagen bis zu 1,2 Millionen Exemplaren mit den „St. Pauli Nachrichten“ im Jahr 1975 stark bergab. Die einstmaligen Redakteure dieser Zeitschrift, Henryk M. Broder und Stefan Aust, die später die Medienwelt deutlich beeinflussen werden, sind schon nicht mehr für die „St. Pauli Nachrichten“ tätig.

Der Stadtteil St. Pauli zeigt deutlich, wie marode die Bausubstanz aus dem vorigen Jahrhundert Mitte der 1970er Jahre vielfach geworden ist. Aus dem Fenster der legendären Kneipe „Zum Silbersack“ („solide Preise“), einer Kneipe in einem Behelfsbau, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf einem Ruinengrundstück entstanden ist, macht der Fotograf Hinrich Schultze eine Fotografie, die das Elend dieser Gegend dokumentiert. Die Straße vor dem „Silbersack“ ist unregelmäßig und uneben mit unterschiedlichen Arten von Kopfsteinpflaster belegt, eine Mauer, bröckelnd, schief, weitgehend ohne den früheren Putz, begrenzt die gegenüberliegende Straßenseite. Auf einer Plakatwand vor der Mauer sind noch die Reste großflächiger Werbung zu sehen. Ein nur noch in Teilen vorhandenes Plakat wirbt mit einem lachenden Jungen in Badehose für „Neckermann + Reisen“, einem Reise-Unternehmen, das „Vertrauen von M…“, mehr ist nicht mehr zu lesen, genießt. Ein schräg neben der Mauer in den Angeln hängendes Holztor ohne Farbe verschließt den Blick in den dahinter liegenden Hof. Im Hintergrund stehen heruntergekommene mehrstöckige Mietskasernen, in denen zu wohnen mit erheblicher Beschwernis verbunden sein muss. Kein Baum oder Strauch ist zu sehen, nur Steine. Die Trostlosigkeit wird dadurch unterstrichen, dass als einziger Mensch lediglich eine einsame Frau in langem Mantel am Rande der Mauer steht, ihren Hund an der Leine haltend. Den Betrachter fröstelt es.

Auch kühne Farbzusammenstellungen übertünchen das Graue nicht.

In einer Kneipe wie dem „Silbersack“ jedoch, die gerne von Prominenten wie Curd Jürgens, Heinz Rühmann oder Hildegard Knef besucht wird, geht es bunt zu, auch wenn fast undurchdringlicher Zigarettenqualm die Sicht beschränkt. Hildegard Knef trinkt immer Bommerlunder, berichtet später die Wirtin Erna Thomsen, die seit 1949 hinter dem Tresen steht und das Flaschenbier der durstigen Kundschaft zuteilt. Rot ist die „Astra“-Werbung hinter dem Tresen, bunte Lichter flackern in der Musikbox, aus der immer wieder „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ ertönt, das Lied von Hans Albers, der Jahrzehnte zuvor auch in dieser Kneipe häufig zu Gast gewesen ist, und manchmal, wenn er zu viel getrunken hat, sagt die Wirtin, das Bezahlen vergessen hat.8

Bunt sind die Autos auf den Straßen. Auf der Internationalen Autoausstellung 1975 (IAA) in Frankfurt am Main dominieren Autos in gewagter Lackierung: hellblau (Audi Ro 80), rot (Audi 80 GTE und Audi 100)), gelb (Audi 50 LS), grün (BMW 320), pink (BMW 5er), gelb (Mercedes 200), blau (Mercedes 450 SEL 6.9) oder grün Mercedes 350 SE). Der neue Opel Manta GT/E leuchtet quietschgelb, die Motorhaube kontrastiert in mattschwarz. Auch der rote Porsche Carrera 3.0 ist auffällig. Die Motorisierung der Autos ist üppig, unter 100 PS wagt sich kaum ein Autohersteller auf die IAA. Mehr PS sind vermutlich mit mehr Lebensfreude verbunden. Und große Lebensfreude signalisieren auch die mehr oder weniger, im Regelfall weniger bekleideten Models, die zwar den Blick der vorwiegend männlichen Kundschaft auf die vorgestellten Autos im wahrsten Sinne des Wortes erregen sollen, aber eher von den technischen Raffinessen der Fahrzeuge ablenken und die Gedanken abschweifen lassen.

Der Fotograf Langdon Clay hat in New York und New Jersey zwischen 1974 und 1976 Autos fotografiert, die noch aufregender aussehen als diejenigen auf der IAA. Ein riesiges Oldsmobile Cutlass Supreme, zweifarbig in elfenbein und braun, steht einsam in Hoboken auf der Straße, ein noch größeres Cadillac Coupe De Ville, auch zweifarbig in grünblauer Metallic-Lackierung mit schwarzem Dach, leider ein wenig ramponiert nach intensivem Kontakt mit einem anderen Auto, parkt vor dem St. Vincents Hospital an der Ecke 13th und 7th Avenue, ein Buick Electra, ebenfalls ein Coupe von beeindruckender Straßenkreuzer-Größe, in mutigem Pink lackiert, hat seinen Platz neben zerbeulten offenen Mülltonnen gefunden. Ein Buick Electra 225, eine Limousine im West Village, ist sogar dreifarbig lackiert, in türkis, elfenbein und lindgrün. Das Auto wirkt mit seiner stromlinienförmigen Karosserie, als würde es gleich zu einer Fahrt zum Mond abheben.

Mit diesen Fotos hat Langdon Clay prägende Bilder der Zeit dokumentiert, einer Zeit, in der die Designer in den USA eine Großzügigkeit in Form und Farbe ausleben dürfen. Der geforderte Pragmatismus heute, zum Beispiel im Hinblick auf die Energieeffizienz, lässt die vierzig Jahre später entworfenen Autos langweilig aussehen, da sie alle im Windkanal designt werden.9

In Deutschland rüstet selbst die Polizei farblich auf. „Minz-Grün und Weiss heissen die neuen Farben für Polizeifahrzeuge, die durch eine technische Kommission der Innenminister und unter Mitwirkung von Farbpsychologen und Sicherheitsexperten entwickelt wurden“, berichtet die Zeitschrift „Farbe + Design“ 1975. Das helle Grün hebe das Ansehen der Polizei, weil es modern und freundlich wirke. Allerdings würde die Farbe Verkehrssünder und Terroristen nur wenig ansprechen, stellt die Zeitschrift sarkastisch fest.10

Die Mode ist ebenso farbenfreudig. Der „Quelle“-Katalog („Europas größtes Versandhaus“) zeigt für das Frühjahr 1975 auf der Titelseite zwei weibliche Models in langen kostümähnlichen Kleidern mit einer intensiven Farbmischung zwischen rot und orange, auf der Herbst-Katalog-Titelseite haben die Damen dunkelblau leuchtende Kleider gewählt. Die Farben ihrer Hüte korrespondieren mit der jeweiligen Kleidung. Die „Burda“-Modehefte zeigen Kleider in aggressivem Orange, Kleider in Cyan von orangenen und grünen Streifen unterbrochen, Kleider mit bunten Blumen auf farbintensivem Untergrund, in Waldmeistergrün oder durchdringendem Violett. Den Betrachter schwindelt es. Der Schwindel wird auch in den Wohnungen nicht geringer, denn kühnste Farbzusammenstellungen und beunruhigende Muster prägen die Wände der Wohnungen oder die Möbel.

Der Maler Gerhard Richter jedoch kann in den Städten, aber auch in den Alpen, keine Farbe entdecken und malt Städte und Berge in grauweiß. Selbst die Hamburger Grindel-Hochhäuser, erst in der Nachkriegszeit auf freigeräumten Trümmergrundstücken mit gelber Klinkerfassade und umgebendem großzügigen Grün errichtet, sieht der Künstler in grauweiß. Kunstinteressierte teilen offenbar Richters Sicht, denn sein Stadtbild von Hamburg wird 2004 bei Christie´s für gut eine Million US-Dollar versteigert. Auch die Stadtbilder von München oder Paris lässt Richter in grauweiß. Jedoch reizen ihn „diese toten Städte und Alpen, beidesmal Geröllhalden, nichtssagendes Zeug“ erklärt der Maler, ohne auf den Widerspruch in seiner Bemerkung, dass ihn nichtssagendes Zeug reize, einzugehen.11

***

Das Äußere im Jahr 1975 ist heute, rückblickend mehr als vierzig Jahre danach, diffus. Es ist auch nur von nachrangiger Bedeutung. Wesentlich dagegen ist das gesellschaftliche Umfeld in der damaligen Zeit, das den Keim für Veränderungen in sich trägt. Bahnbrechende Neuerungen durch unabsehbare politische Entwicklungen, technische Erfindungen oder gesellschaftliche Umbrüche finden 1975 statt, werden jedoch von nur Wenigen erkannt. Das ist heute nicht anders.

2. Die bestimmenden politischen Themen 1975

2.1. Die Annäherung von Ost und West

„3 geteilt? niemals!“

Wie in der „Welt von Gestern“ Stefan Zweigs vor dem ersten Weltkrieg ist die Welt um 1975 eine geordnete Welt, in der klare Abgrenzungen gelten. Deutschland ist zweigeteilt: Die Bundesrepublik Deutschland ist eng in die westliche Welt eingebunden, die Deutsche Demokratische Republik abhängig von der Sowjetunion. Diese feste Einteilung der Machtblöcke der Welt in West und Ost bietet eine gewisse Sicherheit für beide Seiten.

Im Westen Deutschlands sind Ende der 1960er Jahre allmählich die Plakate und Emailleschilder aus den vergangenen Jahrzehnten verschwunden, die mit der Aufschrift „3 geteilt? niemals!“ den Anspruch auf die ehemals deutschen Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie, den nach dem zweiten Weltkrieg Polen und der Sowjetunion zugeteilten Gebieten, betont haben. Sogar in kleinsten Dörfern in Westdeutschland hat das „Kuratorium Unteilbares Deutschland“ Plakate und Schilder mit der Parole der Nicht-Akzeptanz der Teilung Deutschlands angebracht. Allmählich werden auch die Atlanten im Schulbetrieb den tatsächlichen Verhältnissen angepasst, indem darauf verzichtet wird, den Osten Deutschlands in den Grenzen von 1937 als „Unter sowjetischer Verwaltung“ und „Unter polnischer Verwaltung“ zu bezeichnen. Und die „Sowjetische Besatzungszone“ SBZ, wird im Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland allmählich zur „Sogenannten DDR“, dann zur „DDR“ in Anführungszeichen und schließlich zur DDR ohne Anführungszeichen. Eine scheinbare Unabwendbarkeit, die Existenz der DDR, wird, zumindest in großen Teilen der Bevölkerung, anerkannte Realität.

Einige Steine auf dem Weg zu einer klaren friedlichen Abgrenzung zwischen Ost und West hat der erste sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, aus dem Weg geräumt, indem er 1970 die Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze anerkennt und es versteht, erhebliche Widerstände in der Bundesrepublik, aber auch in Polen, zu meistern. Franz Josef Strauß, 1970 Oppositionspolitiker und Kritiker der sozialliberalen Koalition, charakterisiert diese Politik mit den kraftvollen Worten: „sozialistisch-kommunistische Internationale“ („Spiegel“ 19/1970), ohne aber den nachhaltigen Erfolg dieser neuen Politik schmälern zu können. Ein halbes Jahrzehnt später zeigt sich in Helsinki auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, dass der von Brandt beschrittene Weg tatsächlich zu mehr Sicherheit für die Erhaltung des Friedens in Europa beiträgt.

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150 Orden, Medaillen und Ehrenzeichen trägt Erich Honecker, Helmut Schmidt kommt ohne Orden aus.

Die Lebenswirklichkeit der beiden deutschen führenden Politiker aus der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, Helmut Schmidt und Erich Honecker, die auf der Konferenz von Helsinki zusammentreffen, zeigt große Kontraste. In ihrem Anspruch auf persönliche Anerkennung sind sich beide jedoch sehr ähnlich.

Erich Honecker ist 63 Jahre alt, als er sich 1975 auf der Sicherheitskonferenz in Helsinki erstmals international aufgewertet fühlen darf. Zwar kann er sich (angeblich) mit 150 Orden, Medaillen und Ehrenzeichen schmücken, aber das gilt wenig im Vergleich mit seinen führenden Genossen in der DDR, zumal Erich Mielke, Chef der Staatssicherheit der DDR, mit 274 Orden einen deutlichen Vorsprung hat. Der Beginn der Karriere von Erich Honecker in der DDR ist insbesondere durch seine Tätigkeit als Berufsjugendlicher in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) geprägt, deren Vorsitzender er selbst noch im fortgeschrittenen Alter von 43 Jahren bis 1955 gewesen ist. 1971 hat er es geschafft: Honecker wird Erster Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei der Deutschen Demokratischen Republik.

Und lange hält er in dieser Position durch, obwohl es mit der DDR wirtschaftlich immer weiter bergab geht. Erst 1989 wird Honecker gestürzt werden, von den eigenen Genossen im Nachhinein mit wenig schmeichelhaften Attributen bedacht: Er halte sich für den größten lebenden Führer des internationalen Sozialismus, für einen der Größten von Weltgeltung überhaupt, so groß sei seine Eitelkeit (Werner Krolikowski, SED-Politbüro-Mitglied) und er halte sich für die Nummer eins im Sozialismus, wenn nicht sogar in der Welt (Michail Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der Sowjetunion).12

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Helmut Schmidt, 57 Jahre alt, ist seit 1974 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der fünfte Kanzler der Bundesrepublik. Vorher, in der Zeit von 1969 bis 1974, war er erst Verteidigungsminister, danach Finanzminister. In seiner Partei, der SPD, genießt er, der Realpolitiker, zeitlebens nur geringen Rückhalt. Mit Honeckers Orden kann Schmidt nicht mithalten, er kann aber zahlreiche Ehrendoktorwürden und Ehrenbürgerschaften aufweisen. Die Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik mit Stern und Schulterband lehnt Schmidt ab, denn die Hamburger Bürger, von denen Schmidt einer mit Herz und Seele ist, lehnen seit dem 13. Jahrhundert Auszeichnungen fremder Herren ab.

Mit einem Anflug von Spott wird Schmidt als „Weltökonom“ bezeichnet, eine hohe Ehrung für den Politiker, die seinem Selbstverständnis sicher nicht entgegensteht. Helmut Schmidt „war nicht nur wirtschaftlich kenntnisreich. Er konnte von sich behaupten (und tat das auch ungeniert), auf nahezu allen Feldern der Politik bewandert zu sein“, schreibt der „Spiegel“ nach dem Tod Schmidts im Jahr 2015.

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„Ein freundliches Wort zur Familienzusammenführung“, mehr erwartet die Bundesregierung nicht von der Helsinki-Konferenz.

Jetzt, im Jahr 1975, kommt es zu der denkwürdigen Begegnung zwischen Helmut Schmidt und Erich Honecker. Honecker trägt einen imposanten Titel, repräsentiert aber einen heruntergekommenen Staat, der nur im Namen die Bezeichnung „demokratisch“ trägt, in Wirklichkeit aber der Gewalt einer Ein-Parteien-Diktatur unterliegt. Schmidt hat eine bescheidene Amtsbezeichnung, ist jedoch Regierungschef eines demokratischen, international anerkannten, wirtschaftlich erfolgreichen Staates.

Im Plenum der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) sitzen beide Politiker in der selben Reihe und unterhalten sich angeregt über einen zwischen ihnen liegenden Gang hinweg. Das Foto, das Schmidt und Honecker im Juli 1975 während der Konferenz zeigt, symbolisiert eine vorsichtige Annäherung beider Staaten. Als am 1. August 1975 die KSZE-Schlussakte unterzeichnet wird, sitzen beide Politiker aufgrund der alphabetischen Sitzordnung nach französischer Staatenbezeichnung („Rep. Fed. d´Allemagne", „Rep. Dem. Allemagne“) nebeneinander, jedoch mit ernster Miene. Auf dem Foto, das diesen Moment der Unterzeichnung zeigt, unterschreibt Erich Honecker die Schlussakte, während Helmut Schmidt, scheinbar teilnahmslos mit seinem Schreibgerät spielt und seinen Nachbarn keines Blickes würdigt. Umgekehrt blickt Honecker gleichgültig in die Ferne, als Schmidt die Akte unterzeichnet.

Die Gespräche zwischen Schmidt und Honecker aber beleben die künftigen innerdeutschen Beziehungen, da Fragen zu den Verkehrswegen, des Zahlungsverkehrs und des Mindestumtauschs von Westgeld in Ostgeld bei Besuchen Westdeutscher in der DDR besprochen werden können. Von westdeutscher Seite ist nicht einmal dies erwartet worden, denn in einem Vermerk des Bundeskanzleramts vom 4. Juli 1975 zur Vorbereitung des Gesprächs mit Honecker wird lediglich erwartet, dass ein allgemeiner Meinungsaustausch stattfinden könne und sich „ein freundliches Wort zur Familienzusammenführung“ anbiete, „umso mehr als sonst wohl kein positiver Punkt gefunden werden kann.“13

Auch der Karikaturist H. E. Köhler hat von der Helsinki-Konferenz keine großen Erwartungen und liegt daher in seiner Einschätzung auf der Linie des Bundeskanzleramtes. „Helsinki - der Gipfel der Unverbindlichkeiten“ nennt er seine Karikatur, die am 30. Juli 1975 in der FAZ erscheint: Auf dem zu einem Kartenhaus zusammengefalteten Vertrag von Helsinki stehend, lassen sich die Staats- und Regierungschefs Helmut Schmidt, Valéry Giscard d´Estaing, Harold Wilson, Leonid Breschnew und Gerald Ford feiern. Zu Böllerschüssen, großem Feuerwerk und wehenden Fahnen strahlen die Politiker, sich eng umfassend, um die Wette. Im Vordergrund der Karikatur macht ein Clown mit Zipfelmütze und karierter Hose Handstand und grinst den Betrachter an. Es ist zu erwarten, dass das Kartenhaus in der Karikatur bald zusammenklappen wird.

Trotz aller Skepsis ist diese Konferenz ein historischer Moment, da die beiden deutschen Staaten zum ersten Mal international gemeinsam auftreten, wenn auch in unterschiedlichen Lagern. Eine Gemeinsamkeit der Zielsetzungen ist jedoch keinesfalls gegeben, da die Bundesregierung am Ziel der deutschen Einheit festhält, die DDR dagegen die deutsche Teilung festigen will.

Honecker ist über die internationale Anerkennung der DDR in der Schlussakte von Helsinki begeistert, verkennt jedoch, dass jener Teil der Schlussakte, der die Empfehlungen über die gegenseitige Zusammenarbeit der 35 Teilnehmerstaaten bei menschlichen Kontakten sowie beim Informations-, Bildungs- und Kulturaustausch regelt, auf längere Sicht Risiken enthält, die die Stabilität des SED-Regimes in der DDR in Frage stellen. Auch ist die friedliche Veränderung von Grenzen in Europa in gegenseitigem Einvernehmen und in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht ausdrücklich möglich.

Der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Leonid Breschnew, hat die Gefahr erkannt und vor dem Aufweichen des Sozialismus in der DDR gewarnt. Er sieht die hohe jährliche Besucherzahl Westdeutscher in der DDR als Gefahr, da mit den Besuchern die westliche Ideologie in die DDR gebracht werde.14 Auf einem Foto aus der Konferenz zeigt sich ein zweifelnder, nachdenklicher Generalsekretär Breschnew, neben ihm sitzt der sowjetische Außenminister Andrei Gromyko, grimmig blickend. Gromyko, Außenminister der Sowjet-Union für fast 30 Jahre bis 1985, sieht auf nahezu allen Fotos unwirsch aus und trägt daher seinen Spitznamen Grim Grom zu Recht.

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In der Gesamtsicht zeigt sich, dass der Teil des KSZE-Vertrages, der sich mit den Menschenrechten befasst, entscheidend für die langfristige Entwicklung in Osteuropa ist. Viele Menschenrechtsorganisationen, wie die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, die Solidarność in Polen oder die Charta 77 in der Tschechoslowakei berufen sich auf den Vertrag von Helsinki und tragen schließlich zum Zusammenbruch des Ostblocks und damit zum Ende des Ost-West-Konflikts bei. Die Umbrüche verlaufen weitgehend friedlich.

Am 1. August 1975 ahnen wohl nur wenige, welche Kraft der Helsinki-Vertrag entfalten wird und das Leben nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt verändern wird. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der von ihr abhängigen sozialistischen Staaten wird sogar das „Ende der Geschichte“ (so der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama) ausgerufen, weil sich der Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft endgültig weltweit durchsetzen werde. So weit ist es allerdings am Ende bisher nun doch nicht gekommen.

Aber diese Konferenz, an der 15 NATO-Staaten, 7 Staaten des Warschauer Pakts und 13 neutrale Länder teilnehmen, bildet den Auftakt für die Annäherung von Ost und West. Bei einem Gipfeltreffen der Staatsund Regierungschefs in Paris im November 1990 erklären die Teilnehmer die jahrzehntelange Teilung Europas für beendet. Die KSZE wird 1995 umbenannt in die „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit“ OSZE. Sie ist 40 Jahre nach dem Treffen in Helsinki mit 57 Teilnehmerstaaten die einzige sicherheitspolitische Organisation, in der alle europäischen Länder, die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die USA und Kanada vertreten sind.

2.2. Vietnam - Die Medien und der Krieg

Der Krieg in Vietnam, der Krieg zwischen dem kommunistischen Norden des Landes gegen den von den USA unterstützten Süden Vietnams, entwickelt sich weit weg von Deutschland. Europäische Staaten sind (diesmal) nicht in die Kriegshandlungen verwickelt. Die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika als Kriegsteilnehmer in dem südostasiatischen Land wird in Deutschland jedoch sehr kritisch gesehen. Der Vietnamkrieg beeinflusst daher zumindest indirekt unsere gesellschaftliche Entwicklung fundamental.

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Huyn Cong Út, genannt Nick Út, ist Fotoreporter für die Agentur Associated Press (AP). Am 8. Juni 1972, der Tag, der ihn weltberühmt machen soll, ist er 21 Jahre alt. Er ist mit einem Kleinbus mit einem vietnamesischen Fahrer auf der Nationalstraße Nr. 1 unterwegs zu dem Dorf Trang Bàng in Vietnam, 25 Kilometer von Saigon entfernt. Seine Ausrüstung umfasst eine schusssichere Weste, einen Stahlhelm und eine Uniform mit der Aufschrift „Bao Chi“ (Presse) sowie einen Fotoapparat, eine Leica M2.

Seit dem Morgen dieses Tages warten mehrere Journalisten etwa zweibis dreihundert Meter vor dem Dorf auf der Nationalstraße, denn südvietnamesische Truppen haben das Dorf umstellt, in dem sie nordvietnamesische Kämpfer vermuten. Der Kommandeur der südvietnamesischen Truppe fordert die Unterstützung der Luftwaffe an, und gegen Mittag wirft das erste von zwei südvietnamesischen Flugzeugen eine Bombe und weitere vier Napalmbomben-Kanister ab, die am Rand des Dorfes und auf der Straße einschlagen. Schüsse aus Maschinengewehren unterstützen den Angriff.

Nach dem Bombenabwurf laufen verängstigte Bewohner des Dorfes auf die wartenden Journalisten zu, die das Geschehen mit Film- und Fotokameras dokumentieren. Ein Foto von Nick Út zeigt eine flüchtende Gruppe von fünf Kindern auf der Nationalstraße, im Hintergrund Rauchschwaden des vorausgegangenen Napalm-Angriffs. Das Mädchen in der Mitte der Kindergruppe auf dem Foto ist Kim Phúc. Das Mädchen, nackt, schreit vor Schmerzen, die Haut ist vom Napalm verbrannt.

Dieses Foto veröffentlicht die „New York Times“ am nächsten Tag auf der Titelseite. Es findet weltweite Resonanz, bis heute. Allerdings zeigt sich im Jahr 2016 ein besonderer Nachhall, den niemand im Jahr 1972 für möglich halten würde: Facebook löscht einen Zeitungsartikel der größten Norwegischen Zeitung „Aftenposten“, der das Foto von Nick Út erneut zeigt. In der Begründung zur Lösch-Aktion fordert Facebook den Chefredakteur der Zeitung, Espen Egil Hansen, dazu auf, das Foto bei erneuter Veröffentlichung entweder zu verpixeln oder ganz auf das Foto zu verzichten. Facebook will damit der besonderen Verantwortung nachkommen, die Verbreitung von Nacktfotos zu verhindern. Der Unterschied einer Veröffentlichung eines kinderpornografischen Fotos oder eines weltbekannten Kriegsfotos bleibt Facebook verschlossen.15