Robert Berg


Pech für den Puppenspieler





Berlin-Schöneberg-Krimi







Prolibris Verlag





Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Auch die Figuren entstammen der Phantasie des Autors. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.




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E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-160-0
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-146-4

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Für meine Frau,
mit großem Dank für ihre Unterstützung

Kapitel 1
Das Hämmern der Schlagbohrmaschine schmiss mich um zwei Uhr von der Couch, und nur dadurch wurde ich in die Geschichte verwickelt. Hätte der Nachbar früher losgelegt, ich wäre, von dem Lärm genervt, längst aus der Wohnung geflüchtet und hätte den Besucher verpasst. Wäre der Heimwerker aber erst um drei zur Tat geschritten, hätte ich das Klopfen an der Tür gar nicht gehört, sondern weiter ungestört den Klängen aus meinem Kopfhörer gelauscht.
Aber so wie die Dinge lagen, begann das Bohren um zwei. Vielen Dank, lieber Nachbar!
Es lief gerade »Somebody To Love« von Jefferson Airplane. Den Song hatte mein Vater gespielt, als ich ihn bei seiner damaligen Freundin Karo besuchte. Da war ich sieben.
Wir saßen in der Küche ihrer WG in der Potsdamer Straße, und Karo weinte. Dann gingen mein Vater und ich zur Gleiswildnis, dem Ödland zwischen Schöneberg und Kreuzberg mit seinen überwucherten Gleisen. Zwar war das Betreten verboten, aber der Zaun war alt und voller Löcher.
Ich fragte meinen Vater, warum Karo geweint hatte, und er sagte, das könne ich nicht verstehen, weil ich zu klein sei. Dann baute er mir einen Flitzebogen.
Zwei Wochen danach war er aus Berlin verschwunden, und es vergingen einige Geburtstage, bis ich wieder von ihm hörte. Damals wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Ich weiß es heute noch nicht. Und welchen Grund könnte es geben, über dreißig Jahre später noch darüber nachzudenken? Das hatte Katja mich auch oft gefragt. »Warum denkst du über Kram nach, der lange vorbei ist?« Immer wieder wollte sie das von mir wissen.
Aber nun war Katja selbst lange vorbei.
In diese Erinnerung bohrte sich mein Nachbar mit Maschinengewalt. Die Bohrmaschine ging los, genau an der Wand, an der ich lag und brachte mich zurück in die Gegenwart, ins Jahr 2012. Das war ein Schock. Noch bevor mein Verstand so richtig durchschaut hatte, was da passierte, war ich von der Couch gesprungen, um von dem Lärm wegzukommen, so weit wie möglich. Aber sogar in der Küche, am anderen Ende der Wohnung, war es zu laut. Unschlüssig stand ich dort und überlegte, wie ich auf die Situation reagieren sollte. Ich setzte Wasser für Tee auf, da klopfte es an der Tür.
Unangemeldeter Besuch ist nicht immer lieber Besuch. Deshalb warf ich erst mal einen vorsichtigen Blick durch den Türspion. Als illegaler Untermieter muss man jederzeit darauf gefasst sein, dass plötzlich jemand von der Hausverwaltung vor der Tür steht. Wo ist der Hauptmieter dieser Wohnung? Oder: Sie sind doch gar nicht hier gemeldet. Wer sind Sie eigentlich? Und vergleichbar heikle Fragen kann und will ich nicht beantworten.
Das war auch gar nicht nötig, denn vor der Tür stand Tom. Ich hatte lange nichts von ihm gehört. Wahrscheinlich hing das damit zusammen, dass er mir eine ganze Menge Geld schuldete. Wie auch vielen von unseren gemeinsamen Freunden.
Warum war er nun da? War sein Konto wieder einmal leer, und er wollte mich erneut anpumpen? Möglicherweise wäre es doch besser, nicht aufzumachen. Andererseits war er einer meiner besten Freunde. Wir kannten uns schon, seitdem wir Babys waren; Toms und meine Mutter hatten zusammen in einer WG gelebt. Also öffnete ich.
Tom strahlte mich an und rief: »Ed, alter Fischkopp! Wie geht es?« Er boxte mir gegen den Arm. Ich bin zwar in Berlin geboren, habe aber von meinem zweiten bis zu meinem sechsten Lebensjahr in Kiel gewohnt. Deshalb tun einige meiner Kumpel trotzdem so, als wäre ich kein Berliner.
Ich boxte zurück und antwortete: »Mensch Tom, wie kann es sein, dass ein gebürtiger Bülowstraßler in deinem Alter immer noch nicht im Knast sitzt?«
»Ich hatte halt Glück«, meinte Tom. Und wir beide wussten, dass das kein Spruch war. In der Stadt groß zu werden, ist manchmal schwierig, und manche unserer Kinderbuddys waren dabei vom rechten Weg abgekommen.
Der Wasserkessel pfiff, und ich winkte Tom rein. Er setzte sich an den Küchentisch, und ich goss heißes Wasser in die Teekanne.
»Hast du Hunger?«, fragte ich und öffnete den Kühlschrank.
Das Leben eines Barkeepers ist gelegentlich unberechenbar. Man besucht nach Feierabend noch Kollegen in einer anderen Bar, übernachtet dann irgendwo und geht eventuell am nächsten Abend direkt zur Arbeit. Manchmal bin ich längere Zeit gar nicht oder nur zum Wechseln meiner Klamotten zu Hause und es ist mir nicht einmal bewusst. Der Zustand meines Kühlschrankes deutete darauf hin, dass es mir anscheinend gerade so ergangen sein musste. Er war leer, bis auf eine halbe Scheibe Toast und einen Litereimer Joghurt. Offenbar hatte ich schon länger nicht mehr hier gegessen.
Ich überlegte, wie ich die Essenseinladung möglichst elegant zurücknehmen konnte, und drehte mich zu Tom um. Mein Blick fiel auf einen Stapel 50-Euro-Scheine auf dem Küchentisch.
Tom grinste und sagte: »Eigentlich wollte ich dich zum Essen einladen. Wie wäre es mit asiatisch?«
Ich wohne in der Erdmannstraße, nahe dem Kleistpark in Berlin-Schöneberg. Von dort sind es zu Fuß bis zur Akazienstraße oder der Goltzstraße mit ihren vielen Restaurants fünf bis zehn Minuten, je nachdem, wie eilig man es hat. Zum Supermarkt gehen, einkaufen, zurückgehen und kochen dauert länger. Und mein leerer Magen verlangte danach, ihn unverzüglich mit Essen zu füllen. Also zog ich mich kurz ausgehfertig an, während Tom noch schnell auf der Toilette verschwand.

Zwar wäre es übertrieben gewesen, zu sagen, dass ich gerade dringend eine Finanzspritze benötigte, aber mein Konto war auch nicht satt im Plus. Deshalb freute ich mich über diese Rückzahlung, zumal ich die Kohle eigentlich schon längst abgeschrieben hatte. Doch als wir so zusammen die Grunewaldstraße runtergingen, beschlichen mich Zweifel. Wieso hatte Tom plötzlich so viel Geld? Hatte er es sich eventuell auf krummen Wegen verschafft? Falls ja: Machte man sich strafbar, wenn man es annahm, ohne nachzufragen, woher es kam? Ich beschloss, es zu lassen und dass Nichtwissen vor Gericht wahrscheinlich die beste Verteidigung war. Aber meine Neugierde machte diese Strategie zunichte. Beim Asiaten angekommen rutschte mir zwischen zwei Bissen Huhn mit Reis doch die gefährliche Frage raus: »Sag mal, woher hast du eigentlich so viel Geld?«
Tom grinste. »Du wirst es nicht glauben. Ich hatte eine Ausstellung in Sankt Petersburg, und die neureichen Russen waren verrückt nach meinen Skulpturen. Drei habe ich verkauft, und wahrscheinlich werde ich noch mehr los.«
Diese Antwort überraschte mich. »Deine Schaufensterpuppen?«, fragte ich.
Toms Gesichtszüge verzerrten sich. »Nenn sie nicht Schaufensterpuppen!«, schrie er und sprang auf. »Es sind Skulpturen.«
Die anderen Gäste sahen uns an.
Aber die Skulpturen waren eigentlich Schaufensterpuppen. Tom kaufte sie billig auf, wenn Läden sie ausmusterten oder pleitegingen. Dann veränderte er sie. Er setzte ihnen Perücken auf und bearbeitete die Gesichtszüge mit Plastilin und Schminke. Sie bekamen neue Kleidung und Requisiten, wie zum Beispiel Werkzeug. So schaffte er es, die Puppen zu Ebenbildern tatsächlich existierender Menschen zu machen. Dabei reichte die Palette von Berühmtheiten über Freunde und Bekannte bis hin zu Personen, die er mal in der U-Bahn gesehen hatte. Immer war die Ähnlichkeit wirklich verblüffend, nur war es ihm bisher nie gelungen, die Skulpturen zu einem halbwegs anständigen Preis zu verkaufen. Meistens sagten die Leute: »Das ist ja ganz lustig, aber ist es Kunst?«
Allerdings frage ich mich bei moderner Kunst oft, ob sie vielleicht gar nicht im Werk selbst liegt, sondern darin, es erfolgreich als Kunst anzupreisen. Und wenn Tom wollte, dass man die Puppen Skulpturen nannte, konnte ich ihm den Gefallen gerne tun, zumal er mich gerade zum Essen eingeladen hatte.
»Tut mir leid«, sagte ich und versuchte, dabei so überzeugend wie möglich zu klingen. »Ich habe mich versprochen. Deine Skulpturen natürlich.«
Tom setzte sich wieder hin. Langsam entspannte sich sein Gesicht. Er nahm einen Schluck Wasser, schob sich einen Löffel Reis in den Mund und sprach kauend weiter.
»Passt natürlich super, dass ich gerade jetzt was verkauft habe. Wegen dem Kleinen und so.«
»Welchem Kleinen?«, fragte ich.
Tom ließ die Gabel sinken. »Haben wir uns so lange nicht gesehen? Nele und ich haben ein Baby.«
Ich hatte mir gerade eine Gabel Fleisch genommen, es blieb mir im Hals stecken, ich verschluckte mich und fing an zu husten. Es dauerte eine Weile, bis es mir möglich war, ein »Herzlichen Glückwunsch« rauszuquetschen.
Toms Sohn hieß David und war fünf Wochen alt. Ich erstarrte vor Ehrfurcht. Katja und ich hatten zwar theoretisch auch Kinder haben wollen, aber wir waren unserem Gefühl nach immer zu jung dafür gewesen, bis es dann zu spät war. Dass Tom und Nele sich das mit einundvierzig und vierzig Jahren noch getraut hatten, quasi in letzter Sekunde war toll.
Wir saßen fast zwei Stunden im Restaurant, während mir Tom von den Freuden, ein Vater zu sein, und von Sankt Petersburg erzählte. Dann gingen wir in eine Kneipe und flipperten. Es war ein guter Start in den Nachmittag, leider musste ich irgendwann zum Mädchenzimmer, so heißt die Bar, in der ich arbeite. Deshalb trennten sich unsere Wege. Als ich später in einer Pause auf meinem Smartphone Toms Mail las, dass es ein wunderbarer Tag gewesen sei, so schön wie die Sommertage 1994, war ich geneigt, ihm zuzustimmen, auch wenn ich mich nicht mehr so genau an diese speziellen Tage erinnern konnte.
Kapitel 10
Abends schien sich meine Einschätzung zunächst zu bestätigen. Es wurde später und später, aber sie kam nicht.
Allerdings hatte ich wenig Zeit über Vanessa und die möglichen Perspektiven einer Beziehung mit ihr nachzudenken. Es gab sehr viele Gäste, und die Kellnerin war krank. Das Mädchenzimmer ist eher klein. Eine Theke mit zwölf Barhockern und fünf kleine Tische, das war’s. Man kann den Laden schon alleine schmeißen, aber wenn er voll ist, macht das keinen großen Spaß.
Irgendwann, es war mittlerweile etwas leerer geworden, war sie plötzlich da. Saß einfach so an der Theke, ohne dass ich bemerkt hatte, wie sie hereingekommen war. Eigentlich sah ich sie erst, als sich auf meinem Weg zurück von den Tischen ein Arm um mich schlang und ich mich zur Seite drehte, neugierig, wer mich umarmte. Und da drückte sie schon ihren Mund auf meinen. Da ich ein Tablett mit leeren Gläsern trug, konnte ich ihre Umarmung nicht erwidern. Sie löste ihre Lippen von meinen und brachte sie ganz nah an mein Ohr.
»Hallo Ed«, flüsterte sie und knabberte dann an meinem Ohrläppchen.
Ich spürte eine starke Hitze und war mir nicht darüber klar, ob das aus mir kam oder von ihr oder beides. Ein Klimpern warnte mich gerade noch rechtzeitig vor der gefährlichen Schieflage, in die mein Tablett geraten war. In letzter Sekunde konnte ich verhindern, dass die Gläser runterpurzelten.
»Hallo Vanessa«, antwortete ich. »Ich komme gleich.«
Als ich aufsah, traf sich mein Blick mit denen von Christian und Patrick, deren Augen zwischen mir und Vanessa hin und her schwenkten. Den Ausdruck in ihren Gesichtern konnte ich zunächst nicht deuten. Erst später wurde mir klar, dass es Neid war.
Mein Vorhaben, schnell das Allerdringendste zu erledigen, um dann kurz etwas Zeit für Vanessa zu haben, ließ sich leider nicht umsetzen. Die Bar war immer noch voll genug, um eine Person gut zu beschäftigen. Ich sah, dass Vanessa sich wieder mit Christian und Patrick unterhielt, konnte mich aber nicht in das Gespräch einschalten.
Aus der Entfernung schien mir, dass speziell Patrick ihr ziemlich dicht auf die Pelle rückte. Einmal legte er ihr sogar die Hand auf das Bein. Sie wischte sie mit einer beiläufigen Bewegung weg, als wäre es ein Stäubchen, und noch bevor ich meiner doppelten Pflicht als Barkeeper und eventueller Freund von Vanessa nachkommen und einschreiten konnte. Das geschah mit einer Selbstverständlichkeit und einem Selbstbewusstsein, dass es Patrick offensichtlich den Schneid nahm. Er rückte sofort deutlich von ihr ab. Möglicherweise hatte er auch gemerkt, dass ich Zeuge seiner Aktion geworden war. Jedenfalls beschloss er, nachdem ich zwei Mal nicht auf seinen Ruf nach einem frischen Bier reagiert hatte, nach Hause zu gehen.
Ab halb drei leerte sich die Bar plötzlich sehr schnell und ich konnte mich endlich zu Vanessa und Christian stellen. Die beiden sprachen über Kunst. Davon verstehe ich gar nichts. Merkwürdige Namen wie Fluxus und Land Art fielen, und ich war etwas außen vor. Erst als sie auf Fotografie und Plattencover kamen, hätte ich was dazu sagen können. Aber da waren sie schon die letzten Gäste, und es war Zeit, die Bar aufzuräumen.
Schließlich zahlte Christian und ging. Ich brachte ihn zur Tür und schloss hinter ihm ab. Als ich mich wieder umdrehte, sah ich, dass Vanessa sich auf einen der Tische gelegt hatte, und gerade ihren Rock hochzog.
Sehr viel später an diesem Abend brachen wir zu mir auf und machten dort an der Stelle weiter, wo wir in der Bar aufgehört hatten. Danach schlief sie ein, aber ich war plötzlich irgendwie wach.
Meine Wohnung liegt, wie gesagt, im obersten Stock und hat gegenüber keine Nachbarn, die mir reinschauen könnten. Deshalb habe ich in meinem Schlafzimmer auf Vorhänge verzichtet und genieße von meinem Hochbett aus den schönen Blick auf den Himmel.
An diesem Abend war der Mond fast voll und die Nacht ohne Wolken. Das Mondlicht schien hell durch das Fenster und so konnte ich Vanessa gut sehen. Sie lag halb auf der Seite, ihre Beine in meine verknäult. Der Oberkörper war größtenteils mir zugewandt, ihr Gesicht schaute jedoch zur Decke. Die Bettwäsche war eigentlich rot, aber bei dieser Beleuchtung wirkte sie schwarz. Vanessas Haut war sehr hell, vor dem dunklen Hintergrund sah sie praktisch weiß aus. Wir hatten es beim Ins-Bett-Gehen so eilig gehabt, dass sie sich nicht mehr hatte abschminken können, und die Kajalstriche waren zu dunklen Schatten um ihre Augen verwischt. Ihre hochstehenden Haare bildeten einen Kreis um ihren Kopf. Es sah fast aus, wie ein dunkler Heiligenschein. Besonders gefiel mir ihre Nase. Sie war klein und etwas aufwärtsgerichtet. Eine Himmelfahrtsnase. Irgendwie niedlich.
Plötzlich fing ich an, mir Gedanken zu machen. Vanessa schien perfekt zu sein. Und es ging alles so schnell. Doch das hatte nichts zu bedeuten. Es würde auch schnell wieder vorübergehen. Als Kind aus einer kaputten Beziehung hatte ich selbst immer nur kaputte Beziehungen gehabt, außer zu Katja. Obwohl, das war ja letztendlich auch nicht gut ausgegangen.
Wie lange ich so dagelegen hatte, kann ich nicht sagen, aber irgendwann steckte ich plötzlich in einem Traum. Ich war ein Baby, und Nele hatte mich im Arm. Sie sah müde und krank aus und saß in der Küche meiner Mutter. An der Tür stand mein Vater und erklärte, dass er leider weggehen müsse und irgendwas machen. Doch wenn er damit fertig wäre, dann hätte er endlich Zeit für uns. Nele fing an zu weinen, und mein Vater verschwand. Tom als siebenjähriges Kind kam herein und sprach mich mit piepsiger Kinderstimme an.
»Ed«, sagte er, »wie lange kennen wir uns jetzt?«
»Seitdem wir ein Jahr alt waren«, antwortete ich mit meiner normalen Erwachsenenstimme, obwohl ich doch immer noch ein wenige Monate altes Baby war.
»Du musst mir ein Versprechen geben«, piepste Tom. »Wenn mir etwas passiert, hilf Nele und dem Kleinen. Ich möchte nicht, dass sie so alleine sind, wie deine und meine Mutter. Sei ein Vater für meinen Sohn.«
»Das kann ich nicht versprechen«, antwortete ich. »Ich weiß gar nicht, was ein Vater so macht. Wie soll ich da einer sein?«
Tom begann plötzlich zu wachsen. Sein Gesicht veränderte sich, und er wurde mein Vater. »Also, da kann ich dir nicht helfen. Das musst du alleine entscheiden.« Er sah auf seine Uhr. »Oh, so spät schon. Dann ist es Zeit zu gehen. Ich rufe dich mal an.« Er nahm seinen Koffer und ging.
Ich fing an zu weinen wie ein Baby. Und ich war ja auch eins. Nele begann, mich hin und her zu wiegen. Dabei sang sie ein Hippie-Lied. Unter den Klang ihrer Stimme mischte sich ein bohrendes Geräusch, das überhaupt nicht dazu passte. Nele verblasste, und ich wachte so langsam auf. Wenn ich an diesem Morgen gewusst hätte, welcher Nachbar es war, der mich so oft mit seinen Heimwerkgeräuschen störte, ich wäre hingegangen und hätte ihn umarmt. Denn ich war froh, dem Traum entkommen zu sein.
Das Erwachen war sehr abrupt und schnell gegangen, aber das Gefühl der Hilflosigkeit hielt noch eine Weile an. Es hatte in mir eine Traurigkeit ausgelöst, die mit körperlichen Schmerzen in fast allen meinen Zellen einherging. Regungslos blieb ich mit geschlossenen Augen liegen und versuchte, mich etwas zu beruhigen.
Es dauerte ziemlich lange, bis die Erinnerung an die vergangene Nacht zurückkam. Langsam drehte ich den Kopf zur Seite und machte nun doch vorsichtig die Augen auf. Es war Tag, und der Platz neben mir war leer.
»Der Alptraum ist vorbei, und es ist nicht alles gut«, sagte ich.
Aber dann sah ich Vanessas Rock und Leggings über dem Geländer des Hochbettes hängen. Ich horchte, doch außer dem Geräusch der Bohrmaschine konnte ich nichts hören.
Etwas zögernd erhob ich mich, rutschte rüber zur Leiter und stieg hinunter. Die Tür zum Wohnzimmer war angelehnt. Ich öffnete sie und trat ein.
Vanessa saß, bekleidet mit meinem Rage-Against-The-Machine-T-Shirt, vor Toms Skulptur von mir. Sie schien völlig versunken in die Betrachtung.
»Hallo«, sagte ich und Vanessa drehte ihr Gesicht zu mir.
»Guten Morgen«, erwidert sie lächelnd. Doch das Lächeln verschwand schnell.
»Gott, wie siehst du denn aus? Geht es dir nicht gut?«
»Nein«, antwortete ich. »Ich habe geträumt, ich wäre ein Baby und bräuchte die Hilfe meines Vaters. Aber er ließ mich einfach sitzen.«
»Ach, mein Kleiner«, sie öffnete die Arme. »Komm her, ich tröste dich«. Ich setzte mich zu ihr, und sie umarmte mich und legte meinen Kopf an ihre Brust. »Es war ja nur ein Traum«, sagte sie.
»Nein«, antwortete ich. »Das ist wirklich passiert.«
Da fing sie an, mich hin und her zu wiegen. Das war mir dann doch zu viel, und ich versuchte, mich aufzurichten. Aber Vanessa ließ mich nicht los, und so saßen wir zusammen da und schauten meine Skulptur an.
»Das bist du, oder?«, fragte Vanessa. »Ziemlich gut getroffen.«
»Ja«, ich nickte, »Tom war gut.«
Vanessa drehte den Kopf und sah mich an. »War?«
»Er ist tot. Unfall.« Warum sagte ich das? Glaubte ich noch an die Unfalltheorie? »Ist erst ein paar Wochen her.«
Vanessa lehnte ihren Kopf an meine Schulter und fing an, mein Bein zu streicheln. »War er ein guter Freund von dir?«
»Ja, mein bester.« Ich merkte, wie meine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen, obwohl mir eigentlich gar nicht danach war.
»Erst vor Kurzem hat er in meiner Küche gesessen und war gut gelaunt. Und dann plötzlich höre ich, er ist noch am selben Tag gestorben.« Vielleicht war das doch zu privat für dieses frühe Stadium unserer Beziehung. Ich konnte spüren, wie sie sich verkrampfte.
»Er hat viele solcher Skulpturen gemacht. Die stehen jetzt in seinem Atelier und bei seiner Galeristin, und wir wissen nicht, wohin damit. Du kannst welche haben, wenn du willst.«
»Ich würde sie auf jeden Fall gerne mal sehen«, antwortete Vanessa.
Kapitel 11
Noch lange, nachdem Vanessa gegangen war, ließ mein Traum mir keine Ruhe. Ich wusste nicht, was ich mit Toms Auftrag anfangen sollte. Einerseits weiß jeder, dass man ein Kind durchaus allein großziehen kann. Aber ich vermute, es ist einfacher, wenn man die Verantwortung teilt. Speziell dann, wenn das Kind sich nicht bemüht, es einem leichter zu machen. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass Tom und ich nie versucht haben, es unseren Müttern leicht zu machen. Nicht dass wir absichtlich fies zu ihnen gewesen wären. Aber wir waren ziemlich wild, und wenn Kinder so allein durch die Stadt streifen, geraten sie halt immer wieder in Versuchung, Quatsch zu machen.
Andererseits konnte ich nicht wirklich beurteilen, welchen Unterschied es machte, ob man ein Kind eines allein erziehenden Elternteils war oder einer sogenannten intakten Familie. Tatsächlich waren alle meine Freunde vaterlos aufgewachsen, bis auf einen. Aber bei dem war die Mutter abgehauen.
Es stimmte wirklich, was ich Tom im Traum gesagt hatte. Ich wusste gar nicht, was ein Vater so machte. Wie also konnte ich Toms Auftrag erfüllen?
Wenn mein Vater mich besucht hatte, damals, bevor er Deutschland endgültig verließ, dann waren wir Eis essen gegangen. Oder wir waren durch die Wildnis an der Yorkstraße gestreunt. Er hatte mir gezeigt, wie man auf Bäume klettert und Pfeil und Bogen baute. Das war alles, woran ich mich erinnerte. Es schien mir jedoch wahrscheinlich, dass zum Vatersein sehr viel mehr gehörte.
Wer konnte mich dabei beraten? Ein paar meiner Freunde aus Kinderzeiten hatten inzwischen Familien gegründet. Soweit mir bekannt war, sogar recht erfolgreich. Nicht alle hatten geheiratet, um Kinder zu bekommen, aber bisher war kaum einer von ihnen geschieden oder getrennt. Zu den meisten hatte ich jedoch in den letzten Jahren wenig Kontakt gehabt. Deshalb reduzierte sich der Kreis der möglichen Ratgeber letztendlich auf eine Person. Ernsthaft infrage kam nur Erwin.
Ich überlegte, ob ich ihn anrufen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Er wohnte nur einen Spaziergang entfernt, an der Grenze zwischen Schöneberg und Friedenau. Ich würde einfach hingehen, so tun, als wäre ich zufällig in der Gegend gewesen, und meine Fragen ganz nebenbei stellen.
Zu Fuß ging ich die Hauptstraße runter und sah sie nach Toms Tod plötzlich mit ganz anderen Augen, denn sie war voller Erinnerungen an Tom und meine anderen Jugendfreunde. Ecke Vorbergstraße war früher ein Musikinstrumentenladen. Dort hat Volkan die Gitarre gekauft, die er bei seinem Top-Twenty-Hit spielte. Direkt daneben befand sich damals das legendäre Programmkino Notausgang, wo meine Freunde und ich Stammgäste waren. Kurz hinter dem Kaiser-Wilhelm-Platz gab es in den Achtzigern die Disko Empire International. Tom und ich können nicht älter als vierzehn gewesen sein, als wir hier das erste Mal hingingen. Ich war total aufgeregt, ob wir am Türsteher vorbeikommen würden, obwohl wir doch eigentlich zu jung waren, um eingelassen zu werden. Aber Tom blieb ganz cool und er hatte Recht. Wir schafften die Tür. Hier lernten wir auch Volkan kennen, mit dem zusammen wir dann unsere ersten Punk-Konzerte besuchten. Nach einem Gig der Schöneberger Combo »PVC«, beschlossen Tom und Volkan, selbst eine Band zu gründen. Hundert Meter weiter die Hauptstraße runter kommt das Stadtbad Schöneberg, wo Tom und ich als Kinder schwimmen lernten. Fast direkt dahinter liegt die Paul-Gerhardt-Kirche, in der wir beide konfirmiert wurden. Aus unserer Konfirmandenklasse rekrutierten Tom und Volkan die noch fehlenden Mitglieder ihrer Band, Peter, Stefan und Carsten, der später an einer Überdosis Heroin starb. So viele Erinnerungen, die nun zu schmerzen begannen.
An der Ecke Dominicusstraße bog ich in Richtung Westen ab und konnte das Rathaus Schöneberg am Ende der Straße sehen. Auf dem Platz davor hielt John F. Kennedy seine berühmte Ich-bin-ein-Berliner-Rede. Ich war damals noch nicht einmal geboren. Aus Fernsehdokumentationen weiß ich jedoch, dass sehr viele Leute dorthin gekommen waren. Tatsächlich behauptet auch fast jeder etwas ältere Berliner, seinerzeit dabei gewesen zu sein. Hört man dann zum hundertsten Mal so eine angebliche Zeitzeugengeschichte, hängt es einem irgendwann zum Hals raus. Und wenn man sich den Platz vor dem Rathaus mal anschaut, wird einem schnell klar, dass gar nicht alle Berliner darauf passen.
Südlich des Rathauses liegt die Nymphenburger Straße. Hier wohnte Erwin. Die offizielle Grenze von Schöneberg ist zwar der S-Bahn-Ring, aber tatsächlich sieht der schmale Streifen Schöneberg zwischen S-Bahn und dem Park schon sehr nach Friedenau aus. Die Straßen sind ungewöhnlich ruhig, und die Häuser wirken irgendwie herrschaftlich. Sie haben Skulpturen, zum Beispiel Flöte spielende Pan-Figuren, und aufwendigen Stuck. Davor finden sich kleine Vorgärten, die nicht von schlichten Holzzäunen oder Mauern begrenzt werden, sondern von schmiedeeisernen Zäunen die an steinernen Säulen befestigt sind, auf denen große Gipsvasen thronen.
Wenn man dort steht, ist es schwer zu glauben, dass nur ein paar Schritte weiter gerade Tausende von Autos auf der Stadtautobahn vorbeirasen. Obwohl, ein bisschen hört man sie schon. Aber nicht die Stadtautobahn würde mich stören, mir wäre es hier einfach zu spießig.
Ich klingelte, doch als der Lautsprecher der Gegensprechanlage anging, vernahm ich nicht Erwin, sondern das Schreien eines Kindes. Erst nach sechs oder sieben Sekunden glaubte ich, ganz leise eine männliche Stimme zu hören. Sie hatte möglicherweise einen fragenden Tonfall.
»Hey«, rief ich. »Hier ist Ed. Störe ich?«
Die Antwort ging im Geschrei unter, aber der Türöffner summte.
War man durch die Haustür eingetreten, kam man in eine großzügig geschnittene, mit Marmor, Stuck und Spiegeln bestückte Eingangshalle, von der mehrere Zugänge zu verschiedenen Treppenhäusern abgingen. Ich zögerte, da ich vergessen hatte, welches ich nehmen musste. Das Babygeschrei leitete mich richtig. Es war bis in die Vorhalle zu hören und kam von links. Ich folgte ihm bis in den dritten Stock. Dort klopfte ich und die Tür öffnete sich.
Das Geschrei steigerte sich zu einer Lautstärke, die mir menschenunmöglich schien. Hinter der Tür lag ein langer Flur und darin stand Erwin, seine jüngste Tochter Marlies auf dem Arm. Sie war die Quelle des Lärms.
»War gerade in der Gegend«, sagte ich. »Wenn ich störe, kann ich wieder abhauen.«
»Marlies kreischt mir direkt ins Ohr«, antwortete Erwin. »Ich verstehe kein Wort. Komm rein, sonst läuft Marlene raus.«
Ich machte einen Schritt hinein, da brüllte Erwin: »Halt!«
Eine Berührung an meinem Bein ließ mich nach unten schauen. Gerade noch konnte ich ein kleines Mädchen packen, das eben versuchte, sich an mir vorbeizuschlängeln. Sie sträubte sich und bemühte sich, meinem Griff zu entkommen und doch durch die Tür zu witschen. Ich drängte sie zurück in den Flur und drückte die Tür hinter mir zu.
Kaum hatte das Schloss geklickt, hörte das Mädchen auf, sich zu sträuben. Es stand plötzlich ganz ruhig da und sah mich an.
»Hallo, Marlene«, rief ich, um Marlies’ Geschrei zu übertönen. »Erinnerst du dich an mich? Ich bin Ed.«
Keine Ahnung, ob sie sich erinnerte, doch sie strahlte mich an. Erwin redete inzwischen auf Marlies ein. »Mein Schatz, ich mach ja fast alles, was du willst. Aber ich kann nicht zulassen, dass du auf den Tisch kletterst. Das ist zu hoch. Wenn du runterfällst, tust du dir weh.«
Wahrscheinlich war Marlies nicht überzeugt, denn sie schrie weiter. Tränen liefen ihre Wangen hinab, und sie versuchte, Erwin wegzustoßen.
»Willst du runter?«, fragte er. Vorsichtig ging Erwin in die Knie und stellte Marlies auf ihre Füße. Das Schreien hörte kurz auf. Erst zeigte sich auf dem Gesicht der Kleinen Verblüffung, dann Unentschlossenheit und schließlich öffnete sich der Mund weit und die Sirene heulte erneut. In einer Pause streckte Marlies Erwin ihre Ärmchen entgegen und schrie: »Arm.« Erwin nahm sie wieder hoch, und langsam wurde das Gebrüll leiser, der Wasserstand der Tränenbäche sank.
»Gehen wir in die Küche«, sagte Erwin und drehte sich um. Beinahe wäre er über das dritte Kind gefallen. Marvin hatte sich offenbar hinter seinem Vater versteckt. Erwin geriet etwas aus dem Gleichgewicht, als er seinen Sohn bemerkte und seinen Schritt zur Seite umlenken musste. Er atmete einmal tief durch, bevor er an Marvin vorbeiging. Der rannte hinter seinem Vater her, nachdem er einen kurzen ängstlichen Blick auf mich geworfen hatte.
Ich sah auf Marlene hinunter, die mich immer noch anlächelte. »Wollen wir auch?«, fragte ich und bot ihr meine Hand. Ohne zu zögern, griff sie zu, und wir gingen los.
Die Küche war ganz am Ende des Flurs. Erwin und seine Frau hatten das Berliner Zimmer zu einer großen Wohnküche umgebaut. Als Marlene und ich dort ankamen, war Erwin bereits dabei, Kaffee zu kochen. Marvin hielt sich an seiner Hose fest, und Marlies stapfte mit unsicheren Schritten herum.
»Setz dich«, sagte Erwin und machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung Küchentisch.
Während ich dieser Anweisung folgte, versuchte ich mich zu erinnern, wie alt die Kinder waren. Marvin musste etwa fünf sein, Marlene zweieinhalb und Marlies ein gutes Jahr.
»Schätze«, sagte Erwin, »Marlies kommt schon in die Trotzphase. Frauen sind ja bei allem immer ein bisschen früher dran.«
»Wie lang dauert die denn?«, fragte ich.
»Bei manchen hört sie nie auf«, meinte Erwin. Er sah mich an. »Und wie geht es dir?«
»Mittel«, antwortete ich. »Guten Freund verloren, neue Freundin gefunden. Welchen Wert auf der nach oben und unten offenen Skala ergibt das?«
Erwin holte Tassen aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch. »Es gibt keinen Zahlenwert, aber ich würde sagen, du stehst an der Marke Gefühlschaos. Ja, das von Tom habe ich gehört.«
»Das darfst du nicht machen, Marlies«, sagte er. »Die Flasche geht kaputt, und dann ist da erstens ein hässlicher Fleck an der Tapete, und zweitens wird alles voller Scherben sein. Daran kann man sich leicht verletzen.«
»Woher weißt du das?«, witzelte ich. »Hast du es je ausprobiert?«
Marlene hatte ausgenutzt, dass Erwins Aufmerksamkeit kurz auf Marlies gerichtet gewesen war. Mit ihren kleinen Händchen hatte sie eine riesige Schüssel mit schmutzigem Wasser aus der Spüle geholt. Erwin konnte gerade noch verhindern, dass sie sich die Brühe über den Kopf kippte.


»Leider gehört noch ein bisschen mehr dazu. Dabei ist dieses Immer-Hinterherlaufen schon anstrengend genug. Manchmal frage ich mich, ob Vatersein eine Vorstufe von Wahnsinn ist. Du solltest mal versuchen, ein geschäftliches Gespräch zu führen und gleichzeitig die Kinder zu beaufsichtigen.« Erwin hob die Hand ans Ohr und hielt sie, als wäre ein Telefon darin. »Ja, Herr Simon, Donnerstag sind die Arbeiten fertig. Geh runter von dem Stuhl, Marlies. Es fehlt praktisch nur noch der Feinschliff. Freitag kann die Übergabe stattfinden. Marlene, leg das Messer hin.« Er lachte. »Dabei nicht schizophren zu werden ist ganz schön schwer.«



Ich ließ ihn in Ruhe grübeln.
»Versteh mich nicht falsch. Ich meine nicht, dass man sie dauernd bespielt. Die müssen auch mal was alleine machen können. Aber du musst bereit sein, wenn sie dich brauchen.« Erwin nahm noch einen Schluck Kaffee und richtete seinen Blick dann wieder voll auf Marlene und Marlies.

Erwin zog die Mundwinkel runter und schnaubte. »Sicher. Oft! Aber zum Glück bin ich nicht alleine. Meine Frau ist ja auch noch da.«