Kapitel 11
Noch lange, nachdem Vanessa gegangen war, ließ mein Traum mir keine Ruhe. Ich wusste nicht, was ich mit Toms Auftrag anfangen
sollte. Einerseits weiß jeder, dass man ein Kind durchaus allein großziehen kann. Aber ich vermute, es ist einfacher, wenn man die Verantwortung
teilt. Speziell dann, wenn das Kind sich nicht bemüht, es einem leichter zu machen. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben,
dass Tom und ich nie versucht haben, es unseren Müttern leicht zu machen. Nicht dass wir absichtlich fies zu ihnen gewesen wären. Aber wir waren ziemlich wild, und wenn Kinder so allein durch die Stadt
streifen, geraten sie halt immer wieder in Versuchung, Quatsch zu machen.
Andererseits konnte ich nicht wirklich beurteilen, welchen Unterschied es
machte, ob man ein Kind eines allein erziehenden Elternteils war oder einer
sogenannten intakten Familie. Tatsächlich waren alle meine Freunde vaterlos aufgewachsen, bis auf einen. Aber bei
dem war die Mutter abgehauen.
Es stimmte wirklich, was ich Tom im Traum gesagt hatte. Ich wusste gar nicht,
was ein Vater so machte. Wie also konnte ich Toms Auftrag erfüllen?
Wenn mein Vater mich besucht hatte, damals, bevor er Deutschland endgültig verließ, dann waren wir Eis essen gegangen. Oder wir waren durch die Wildnis an der
Yorkstraße gestreunt. Er hatte mir gezeigt, wie man auf Bäume klettert und Pfeil und Bogen baute. Das war alles, woran ich mich erinnerte.
Es schien mir jedoch wahrscheinlich, dass zum Vatersein sehr viel mehr gehörte.
Wer konnte mich dabei beraten? Ein paar meiner Freunde aus Kinderzeiten hatten
inzwischen Familien gegründet. Soweit mir bekannt war, sogar recht erfolgreich. Nicht alle hatten
geheiratet, um Kinder zu bekommen, aber bisher war kaum einer von ihnen
geschieden oder getrennt. Zu den meisten hatte ich jedoch in den letzten Jahren
wenig Kontakt gehabt. Deshalb reduzierte sich der Kreis der möglichen Ratgeber letztendlich auf eine Person. Ernsthaft infrage kam nur Erwin.
Ich überlegte, ob ich ihn anrufen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Er wohnte
nur einen Spaziergang entfernt, an der Grenze zwischen Schöneberg und Friedenau. Ich würde einfach hingehen, so tun, als wäre ich zufällig in der Gegend gewesen, und meine Fragen ganz nebenbei stellen.
Zu Fuß ging ich die Hauptstraße runter und sah sie nach Toms Tod plötzlich mit ganz anderen Augen, denn sie war voller Erinnerungen an Tom und meine
anderen Jugendfreunde. Ecke Vorbergstraße war früher ein Musikinstrumentenladen. Dort hat Volkan die Gitarre gekauft, die er bei
seinem Top-Twenty-Hit spielte. Direkt daneben befand sich damals das legendäre Programmkino Notausgang, wo meine Freunde und ich Stammgäste waren. Kurz hinter dem Kaiser-Wilhelm-Platz gab es in den Achtzigern die
Disko Empire International. Tom und ich können nicht älter als vierzehn gewesen sein, als wir hier das erste Mal hingingen. Ich war
total aufgeregt, ob wir am Türsteher vorbeikommen würden, obwohl wir doch eigentlich zu jung waren, um eingelassen zu werden. Aber
Tom blieb ganz cool und er hatte Recht. Wir schafften die Tür. Hier lernten wir auch Volkan kennen, mit dem zusammen wir dann unsere ersten
Punk-Konzerte besuchten. Nach einem Gig der Schöneberger Combo »PVC«, beschlossen Tom und Volkan, selbst eine Band zu gründen. Hundert Meter weiter die Hauptstraße runter kommt das Stadtbad Schöneberg, wo Tom und ich als Kinder schwimmen lernten. Fast direkt dahinter liegt
die Paul-Gerhardt-Kirche, in der wir beide konfirmiert wurden. Aus unserer
Konfirmandenklasse rekrutierten Tom und Volkan die noch fehlenden Mitglieder
ihrer Band, Peter, Stefan und Carsten, der später an einer Überdosis Heroin starb. So viele Erinnerungen, die nun zu schmerzen begannen.
An der Ecke Dominicusstraße bog ich in Richtung Westen ab und konnte das Rathaus Schöneberg am Ende der Straße sehen. Auf dem Platz davor hielt John F. Kennedy seine berühmte Ich-bin-ein-Berliner-Rede. Ich war damals noch nicht einmal geboren. Aus
Fernsehdokumentationen weiß ich jedoch, dass sehr viele Leute dorthin gekommen waren. Tatsächlich behauptet auch fast jeder etwas ältere Berliner, seinerzeit dabei gewesen zu sein. Hört man dann zum hundertsten Mal so eine angebliche Zeitzeugengeschichte, hängt es einem irgendwann zum Hals raus. Und wenn man sich den Platz vor dem
Rathaus mal anschaut, wird einem schnell klar, dass gar nicht alle Berliner
darauf passen.
Südlich des Rathauses liegt die Nymphenburger Straße. Hier wohnte Erwin. Die offizielle Grenze von Schöneberg ist zwar der S-Bahn-Ring, aber tatsächlich sieht der schmale Streifen Schöneberg zwischen S-Bahn und dem Park schon sehr nach Friedenau aus. Die Straßen sind ungewöhnlich ruhig, und die Häuser wirken irgendwie herrschaftlich. Sie haben Skulpturen, zum Beispiel Flöte spielende Pan-Figuren, und aufwendigen Stuck. Davor finden sich kleine Vorgärten, die nicht von schlichten Holzzäunen oder Mauern begrenzt werden, sondern von schmiedeeisernen Zäunen die an steinernen Säulen befestigt sind, auf denen große Gipsvasen thronen.
Wenn man dort steht, ist es schwer zu glauben, dass nur ein paar Schritte weiter
gerade Tausende von Autos auf der Stadtautobahn vorbeirasen. Obwohl, ein
bisschen hört man sie schon. Aber nicht die Stadtautobahn würde mich stören, mir wäre es hier einfach zu spießig.
Ich klingelte, doch als der Lautsprecher der Gegensprechanlage anging, vernahm
ich nicht Erwin, sondern das Schreien eines Kindes. Erst nach sechs oder sieben
Sekunden glaubte ich, ganz leise eine männliche Stimme zu hören. Sie hatte möglicherweise einen fragenden Tonfall.
»Hey«, rief ich. »Hier ist Ed. Störe ich?«
Die Antwort ging im Geschrei unter, aber der Türöffner summte.
War man durch die Haustür eingetreten, kam man in eine großzügig geschnittene, mit Marmor, Stuck und Spiegeln bestückte Eingangshalle, von der mehrere Zugänge zu verschiedenen Treppenhäusern abgingen. Ich zögerte, da ich vergessen hatte, welches ich nehmen musste. Das Babygeschrei
leitete mich richtig. Es war bis in die Vorhalle zu hören und kam von links. Ich folgte ihm bis in den dritten Stock. Dort klopfte ich
und die Tür öffnete sich.
Das Geschrei steigerte sich zu einer Lautstärke, die mir menschenunmöglich schien. Hinter der Tür lag ein langer Flur und darin stand Erwin, seine jüngste Tochter Marlies auf dem Arm. Sie war die Quelle des Lärms.
»War gerade in der Gegend«, sagte ich. »Wenn ich störe, kann ich wieder abhauen.«
»Marlies kreischt mir direkt ins Ohr«, antwortete Erwin. »Ich verstehe kein Wort. Komm rein, sonst läuft Marlene raus.«
Ich machte einen Schritt hinein, da brüllte Erwin: »Halt!«
Eine Berührung an meinem Bein ließ mich nach unten schauen. Gerade noch konnte ich ein kleines Mädchen packen, das eben versuchte, sich an mir vorbeizuschlängeln. Sie sträubte sich und bemühte sich, meinem Griff zu entkommen und doch durch die Tür zu witschen. Ich drängte sie zurück in den Flur und drückte die Tür hinter mir zu.
Kaum hatte das Schloss geklickt, hörte das Mädchen auf, sich zu sträuben. Es stand plötzlich ganz ruhig da und sah mich an.
»Hallo, Marlene«, rief ich, um Marlies’ Geschrei zu übertönen. »Erinnerst du dich an mich? Ich bin Ed.«
Keine Ahnung, ob sie sich erinnerte, doch sie strahlte mich an. Erwin redete
inzwischen auf Marlies ein. »Mein Schatz, ich mach ja fast alles, was du willst. Aber ich kann nicht
zulassen, dass du auf den Tisch kletterst. Das ist zu hoch. Wenn du runterfällst, tust du dir weh.«
Wahrscheinlich war Marlies nicht überzeugt, denn sie schrie weiter. Tränen liefen ihre Wangen hinab, und sie versuchte, Erwin wegzustoßen.
»Willst du runter?«, fragte er. Vorsichtig ging Erwin in die Knie und stellte Marlies auf ihre Füße. Das Schreien hörte kurz auf. Erst zeigte sich auf dem Gesicht der Kleinen Verblüffung, dann Unentschlossenheit und schließlich öffnete sich der Mund weit und die Sirene heulte erneut. In einer Pause streckte
Marlies Erwin ihre Ärmchen entgegen und schrie: »Arm.« Erwin nahm sie wieder hoch, und langsam wurde das Gebrüll leiser, der Wasserstand der Tränenbäche sank.
»Gehen wir in die Küche«, sagte Erwin und drehte sich um. Beinahe wäre er über das dritte Kind gefallen. Marvin hatte sich offenbar hinter seinem Vater
versteckt. Erwin geriet etwas aus dem Gleichgewicht, als er seinen Sohn
bemerkte und seinen Schritt zur Seite umlenken musste. Er atmete einmal tief
durch, bevor er an Marvin vorbeiging. Der rannte hinter seinem Vater her,
nachdem er einen kurzen ängstlichen Blick auf mich geworfen hatte.
Ich sah auf Marlene hinunter, die mich immer noch anlächelte. »Wollen wir auch?«, fragte ich und bot ihr meine Hand. Ohne zu zögern, griff sie zu, und wir gingen los.
Die Küche war ganz am Ende des Flurs. Erwin und seine Frau hatten das Berliner Zimmer
zu einer großen Wohnküche umgebaut. Als Marlene und ich dort ankamen, war Erwin bereits dabei, Kaffee
zu kochen. Marvin hielt sich an seiner Hose fest, und Marlies stapfte mit
unsicheren Schritten herum.
»Setz dich«, sagte Erwin und machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung Küchentisch.
Während ich dieser Anweisung folgte, versuchte ich mich zu erinnern, wie alt die
Kinder waren. Marvin musste etwa fünf sein, Marlene zweieinhalb und Marlies ein gutes Jahr.
»Schätze«, sagte Erwin, »Marlies kommt schon in die Trotzphase. Frauen sind ja bei allem immer ein
bisschen früher dran.«
»Wie lang dauert die denn?«, fragte ich.
»Bei manchen hört sie nie auf«, meinte Erwin. Er sah mich an. »Und wie geht es dir?«
»Mittel«, antwortete ich. »Guten Freund verloren, neue Freundin gefunden. Welchen Wert auf der nach oben
und unten offenen Skala ergibt das?«
Erwin holte Tassen aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch. »Es gibt keinen Zahlenwert, aber ich würde sagen, du stehst an der Marke Gefühlschaos. Ja, das von Tom habe ich gehört.«
»Das darfst du nicht machen, Marlies«, sagte er. »Die Flasche geht kaputt, und dann ist da erstens ein hässlicher Fleck an der Tapete, und zweitens wird alles voller Scherben sein.
Daran kann man sich leicht verletzen.«
»Woher weißt du das?«, witzelte ich. »Hast du es je ausprobiert?«
Marlene hatte ausgenutzt, dass Erwins Aufmerksamkeit kurz auf Marlies gerichtet
gewesen war. Mit ihren kleinen Händchen hatte sie eine riesige Schüssel mit schmutzigem Wasser aus der Spüle geholt. Erwin konnte gerade noch verhindern, dass sie sich die Brühe über den Kopf kippte.
»Leider gehört noch ein bisschen mehr dazu. Dabei ist dieses Immer-Hinterherlaufen schon
anstrengend genug. Manchmal frage ich mich, ob Vatersein eine Vorstufe von
Wahnsinn ist. Du solltest mal versuchen, ein geschäftliches Gespräch zu führen und gleichzeitig die Kinder zu beaufsichtigen.« Erwin hob die Hand ans Ohr und hielt sie, als wäre ein Telefon darin. »Ja, Herr Simon, Donnerstag sind die Arbeiten fertig. Geh runter von dem Stuhl,
Marlies. Es fehlt praktisch nur noch der Feinschliff. Freitag kann die Übergabe stattfinden. Marlene, leg das Messer hin.« Er lachte. »Dabei nicht schizophren zu werden ist ganz schön schwer.«
Ich ließ ihn in Ruhe grübeln.
»Versteh mich nicht falsch. Ich meine nicht, dass man sie dauernd bespielt. Die müssen auch mal was alleine machen können. Aber du musst bereit sein, wenn sie dich brauchen.« Erwin nahm noch einen Schluck Kaffee und richtete seinen Blick dann wieder voll
auf Marlene und Marlies.
Erwin zog die Mundwinkel runter und schnaubte. »Sicher. Oft! Aber zum Glück bin ich nicht alleine. Meine Frau ist ja auch noch da.«