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Auf finsteren Pfaden


Horrorgeschichten aus dem Mittelalter

Herausgegeben von Tatjana Stöckler und Jana Hoffhenke 

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

ISBN 978-3-946531-23-7 (Print Ausgabe)

ISBN 978-3-946531-30-5 (Epub)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat | Korrektorat: Tatjana Stöckler | Jana Hoffhenke

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung | Coverillustration: Detlef Klewer

Buchblock-Illustration: Detlef Klewer

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

Der dunkle Wanderer - Vanessa Betti

 

Wilhelms Blick glitt an den Baumspitzen hinunter zu dem zitternden Mondlicht über der Saar. Bartstoppeln kratzen an seinen Handinnenflächen, als er sich das müde Gesicht rieb. In der Ferne erkannte er bereits die ersten Lichtpunkte, zuckende Kugeln auf dem Weg zu seiner Burg. Sie zogen zu dem kleineren Kastell weiter oben; die matten Gemäuer der geschleiften Montclair fielen ihnen, so Gott wollte, erst später ein. Dem Grafen blieb also genug Zeit, seinen Bericht abzuschließen. Hoffentlich. Sein Herz verkrampfte sich beim Gedanken an die blinde Wut, die sie hinauftrieb. Seine gesamten Aufzeichnungen würden der dörflichen Verständnislosigkeit zum Opfer fallen, ohne dass jemand die Warnung dahinter wahrnähme.

Während er zurück an seinen Arbeitstisch schlurfte, betrachtete er nochmals den leblosen Frauenkörper. Die hellen Locken hatten jegliche Strahlkraft verloren, wie abgestorbene Baumwurzeln überzogen sie den Steinboden und erinnerten ihn an all die finsteren Pfade, die er in den letzten Wochen betreten hatte – angestoßen durch Liebe, angefeuert durch Ehrgeiz, angekommen in Entsetzen. Liebe … das Wort floh von seinen Lippen und ließ ihn kurz aufhorchen.

Er stöhnte auf, als das Seziermesser seinen Oberschenkel berührte und tief in sein Fleisch schnitt. Die Stille der Kemenate durchbrach danach nur noch das Kratzen seines Federkiels, aus dem die Schuld in blutigen Lettern auf die letzten Seiten strömte.

 

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Kurz nach dem letzten Frost fiel Wilhelms Entschluss, als er nach langen Stunden aus dem Arbeitszimmer zu seiner Frau in das Schlafgemach kam.

»Hattest du wieder Ärger bei Handelsgeschäften?«, fragte ihre sanfte Stimme, während sie sich unter den Fellen näher an ihn drückte. Stumm umfasste er ihre Schultern und genoss den Rosenduft ihrer Haare. Von Nacht zu Nacht schien ihr Körper zu schrumpfen, als entwickle sie sich zurück zu einem Kind, um sich dann vor seinen Augen aufzulösen.

Kurz darauf fühlte er ihren bebenden Husten an der Brust. Die Entscheidung fiel in derselben Minute. Was nutzte ihm die Macht, der Reichtum und das Land, wenn er seine Liebe, für die er alles riskiert hatte, verlor?

Gleich am nächsten Tag traf er die nötigen Vorkehrungen: Er verlagerte sein Arbeitszimmer in die unbewohnte Montclair. Vor Jahrzehnten hatte einer seiner Vorfahren den Zorn des Erzbischofs auf sich gezogen. Diese Belagerung hatte ihre Zeichen hinterlassen: Rußgeschwärzte Türme blickten hinter einer Schutzmauer hervor, die an mehreren Stellen eingefallen war. Von einem der Türme reichte eine Brücke einige Meter weiter ins Leere, doch das Hauptgebäude war glimpflich davongekommen und passte gut zu seinem Vorhaben.

Gemeinsam mit seinem Kammerdiener Ulrich fing er sofort an, Phiolen, Gläser und Mineralien einzuräumen; selbst ein Ofen musste in die alte Ruine geschafft werden. Drei Nächte dauerte der Umzug, sechs Wochen die Experimente an den Wildtieren, die Suche nach dem ersten Opfer neun Nachmittage in der Stadt.

 

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Der Graf ließ den Federkiel in das Tintenfässchen zurückgleiten und griff in die Schublade des abgewetzten Arbeitstisches. Mit dem Daumen glitt er über die goldenen Rinnsale auf dem Stein. Feuriger Glanz ging von den Furchen aus, sodass sie sich wie pulsierende Adern über den Klotz zogen. Dabei handelte es sich um ein alchemistisches Experiment, Macht über die Gestalt der Materie zu gewinnen und damit die nächste Stufe des Wissens zu erreichen. Scharf atmete er die Luft zwischen den Zähnen, bevor er den Stein gegen die Wand warf. Er spürte heiße Tränen auf seinen Wangen. Wieder setzte er seinen Kiel an, wieder sog das Papier die Blutperlen ein.

 

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Nicht lange, nachdem er die Arbeit in die alten Ruinen verlegt hatte, fing er an, darüber Buch zu führen – über Fortschritte, doch meistens über Rückschläge. Dass die ersten Seiten seines Journals bereits den Untergang besiegelt hatten, wer vermochte das zu diesem Zeitpunkt schon zu erahnen?

Sobald es dämmerte, verzog er sich nun jeden Tag in die neue Arbeitsumgebung; den Fußmarsch zur alten Burg nutzte er stets zum Nachdenken. Das Gemäuer war feucht und zugig, doch das Ziel klar vor Augen saß er Nacht um Nacht in dieser Kemenate.

Die Erleuchtung brachten ihm nach all den Misserfolgen die verbotenen Schriften. Verschrien und verdammt – de Rais hatte trotzdem Recht: Nur Leben bringt Leben hervor. Tote Materie blieb tot, egal wie sehr man sie aufkochte, pulverisierte, destillierte und auflöste. Der Tod gab nichts zurück, er nahm sich alles unerbittlich.

Ulrich stand ihm bei seinem Vorhaben stets als treuer Begleiter zur Seite. Ohne Kritik und ohne Nachfragen half er bei jeglichen Versuchen, baute geeignete Fallen und kümmerte sich um die Entsorgung der Überreste.

All die Tage kehrte Wilhelm erst weit nach Mitternacht zu seiner Frau zurück. Im Mondlicht wirkte ihre Haut wie frischer Marmor, kalt, glatt und doch so zerbrechlich. In den ersten Sonnenstrahlen des Morgens erkannte er die Müdigkeit in ihrem Gesicht, die Krankheit, und beschloss, noch härter zu arbeiten – noch erbarmungsloser.

Zurück in seiner Kemenate sperrte er jegliches Mitgefühl in den hintersten Winkel seines Gemüts.

 

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Dort, wo es nun hervorbrach.

Die verängstigten Augen, welche die seinen gefangen hielten bis zum bittersten Ende, hatten sich in sein Hirn eingebrannt. Selbst jetzt, wo er alles niederschrieb, trieben sie ihm noch Fausthiebe in die Magengrube. Erneut setze er das Seziermesser an, nun an dem anderen Schenkel, und das Blut floss in sein Tintenfässchen.

Vögel erwiesen sich als komplett untauglich. Selbst die stattlichen Auerhähne brachten nicht genug Blut hervor. Hinzu kam der mangelnde Überlebenswille, der sie die Prozedur nicht überstehen ließ. Ein Schauer überkam ihn. Diese starren Augen der Vögel blinzelten nicht einmal im Angesicht des Todes, sondern blickten leer in den Raum, ziellos. An ein aqua vitae war hiermit nicht zu denken.

Füchse zeigten sich besser geeignet. Nachdem Ulrich jedoch beim ersten Experiment eine böse Bisswunde davongetragen hatte, fixierten sie die Tiere in einer Art Schraubstock. Wilhelm erinnerte sich noch genau an die Zeichnung davon. Er blätterte trotzdem zurück. Der Anblick weckte neue Bilder. Gehetzte Augen schossen Blicke zu den Menschen, voller Wut, dennoch erfüllt von Angst. Die Körper bebten, spitze Zähne schnappten in letzter Hoffnung nach seiner Hand. Er hatte gedacht, Tiere seien dem Menschen im Fühlen nicht ebenbürtig, jedoch belehrten ihn die Experimente etwas Besseren. Er hatte sich oft gewünscht, er müsste sie nicht töten, doch um Julie zu retten, ging er jeden Weg, selbst über sein Gewissen hinweg.

 

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Sein Zeigefinger strich über das dazugehörige Rezept. Wie einen Gral hielt er damals die Phiole mit dem Seelensud in das hereinfallende Mondlicht.

 

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Noch in derselben Nacht rüttelte er Julie wach.

»Was ist los?«, stottere sie in die Dunkelheit. Sie wich etwas zurück, als sie seinen Blick auffing.

»Trink davon, Liebes, neue Medizin.«

»Woher hast du die, Wilhelm? Woher kommst du überhaupt mitten in der Nacht?« Julie zog die Decke enger um die Schultern. Vorsichtig roch sie an dem Gefäß.

»Ich habe sie extra für dich aus Frankreich holen lassen, von den besten Ärzten, Spezialisten in der Herstellung moderner Medizinen. Der Bote ritt tagelang, mein bestes Pferd hat er zerschunden, nun trink, Liebes.«

Er schürzte die Lippen und beobachtete jeden ihre Trinkzüge. Als sie absetzen wollte, hielt er den Behälter höher, damit sie ja den letzten Tropfen aufnähme.

Mit geweiteten Augen leerte sie aus. Den Rest der Nacht lag er hinter ihr, lauschte ihren Atemzügen und war sich sicher, dass der Husten schon nachließ. Er ersehnte sich den Morgen herbei, um ihr belebtes Gesicht endlich anzusehen. Sanft strich er schließlich durch ihre Haare, bis er selbst einschlief in der Gewissheit, ein Held zu sein.

 

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Ein Held – allerhöchstens der Held der Schatten, die sich nun frei in den Gemäuern herumtrieben. Dieser Morgen hätte ihm die Augen öffnen und ihn stoppen sollen, doch der Ehrgeiz saß ihm bereits im Nacken und trieb ihn tiefer in eine Finsternis jenseits menschlichen Verständnisses.

Julie ging es durch seine Medizin nicht besser, im Gegenteil. Am anderen Morgen musste er ihr in die Waschkammer helfen und hilflos dabei zusehen, wie ihr Leib beim Erbrechen vor Krämpfen zitterte. Der Tod verhandelte nicht, er handelte nur, unaufhörlich.

 

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Der Federkiel hielt inne. Eine Brise trug die ersten dumpfen Stimmfetzen heran. Der Weg hinauf schreckte die Meute nicht mehr, nicht, nachdem sie diese Überreste gefunden hatten. Ein tiefer Seufzer entfuhr seiner Kehle. Ihm war selbst das Verständnis für seine Taten abhandengekommen, nun, wo er vor den Trümmern seiner Entscheidungen stand. Er schluckte das Schluchzen zusammen mit den Tränen hinunter, als er den Druck auf seiner Schulter spürte. Sofort wandte er den Blick wieder hinunter zu der Schrift, um die Klauen nicht zu sehen.

 

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An diesem Tag traf Wilhelm seinen Handlanger Ulrich bereits mittags bei den Stallungen.

»Der Herr, eine Idee«, erwiderte der Diener auf den flüchtigen Gruß seines Herrn. Ulrich rieb sich die Hände und versuchte, dem Blick des Grafen auszuweichen. Erste Fältchen bildeten sich um die tiefbraunen Augen, trotzdem umgab den Knecht etwas Kindliches. Nach langen Sekunden beendete Wilhelms kratzige Stimme die Stille:

»Dann sprich.«

»Unschuld, Herr«, brach es aus Ulrich heraus.

Ein gesunder Menschenverstand hatte noch niemandem geschadet, nicht einmal einem Kammerdiener. Er hatte schon alles vorbereitet: In der Kemenate hockte ein verängstigtes Kitz in einem Holzkäfig.

Lange betrachtete der Graf den zitternden Leib des Rehs. Das feine Fell glänzte, als hätte man es mit besten Seidentüchern geglättet. Dieser Fang durfte nicht mit herkömmlichen Experimenten verschwendet werden.

Er fügte eine neue Überschrift in sein Notizbuch ein: Kapitel 2 – Beschwörungen.

Das Wimmern hallte seitdem in seinem Kopf wider, ein grausames Echo der Versuche. Unter Schmerzen klagten Tiere wie Kleinkinder, das wusste er nun. Seit dieser Nacht verachtete er sein Spiegelbild. Die tiefe Scham darüber, sich über alle Gebote hinweggesetzt zu haben, umgab ihn wie ein eisiger Schleier, den er stets mit sich herumtrug.

Das Reh vergoss Tränen, als er den vorderen Beinstumpf ausbrannte, ohne jedoch die Hoffnung zu verlieren. Und als er nach Tagen erst den finalen Schnitt setzte, krochen die tiefschwarzen Augen in seine Seele und suchten nach einem Funken der Güte.

An seinem Unterarm stellten sich die Härchen auf, als blicke er gerade wieder in die glänzende Schwärze dieser Augen. Wie weit würde es ihn noch hinab führen? Er blickte herüber zu Julie, unter deren nackten Füßen noch immer der Drudenfuß auf dem kalten Stein zu erkennen war, den er damals mit dem dampfenden Blut hingeschmiert hatte.

 

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»Sie kommen, mein Freund, beende deine Schrift. Du hast noch einen entscheidenden Schritt vor dir«, raunte eine tiefe Stimme. Klauen umfassten erneut seine Schulter. Noch einen Moment hielt er inne, bevor er den Federkiel wieder eintauchte und weiterschrieb.

 

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In diesem Pentagramm hatte der Graf gesessen, das Papier mit den verbotenen Zeilen in der Hand. Die blutige Zeichnung auf dem Steinboden fing an zu leuchten, erst schwach, doch je entschlossener er die Verse betete, umso gleißender wurde das Licht, umschloss ihn, umfing ihn mit einer Wärme, wie er sie selbst im Sommer noch nie gekannt hatte. Als er das Herz des Rehs in dieses Strahlen hineinwarf, verschwand es wie ein Blitz. Zurück blieb lediglich ein fauliger Geruch.

In der Kammer rührte sich nichts. Kalte Enttäuschung breitete sich in seiner Magengegend aus, die zuvor vor Aufregung geschmerzt hatte. Gebeugt begab er sich zu seinem Tisch zurück, als ihn ein seltsames Kratzen vom Ofen her aufhorchen ließ.

Eine gebeugte Gestalt hockte dahinter, nicht größer als ein Zwerg, doch an Hässlichkeit kaum zu übertreffen. Ihre Haut wirkte wie altes Leder, jedoch viel faltiger. In ihren knochigen, langen Fingern hielt sie das Herz und nagte daran wie eine Ratte. Krampfartig zog sich Wilhelms Magen bei dem Anblick zusammen. Nur mit Mühe schluckte er die saure Flüssigkeit wieder hinab, um nicht zu erbrechen. So wie er sich ekelte, faszinierte ihn das Geschöpf in der düsteren Ecke, erfüllte ihn mit einer Art Vaterstolz – und unbändiger Freude.

Als er näher trat, fauchte die Gestalt ihn an und schob sich weiter hinter das heiße Metall des Ofens. Aufgeregt winkte Wilhelm seinen Diener herbei. Unschlüssig warf dieser einen Blick auf das Wesen, rutschte einige Schritte näher. Mit einem Besen versuchte er, es aus dem Versteck herauszutreiben, doch dieser verschwand mit einem Ruck hinter dem Ofen. Ein abgebrochener Stil flog heraus, traf den Diener am Kopf und ließ ihn taumeln. Wilhelm fasste schnell nach Ulrichs Schultern, um ihn zu stützen.

»Wie behandelt Ihr einen Fürsten, Sterbliche?«, raunte es plötzlich durch den gesamten Raum. Größer als zuvor stolzierte das fremde Tier aus seinem Versteck. Unsanft stieß Wilhelm gegen den massiven Tisch. Er tastete nach der Tischkante, schob sich daran vorbei, weiter nach hinten, bis die kalte Mauer ihm kein weiteres Zurückweichen mehr ermöglichte.

»Schaut mich nicht so an! Glaubt Ihr, der Höllenfürst persönlich würde sich Eurem – sagen wir mal – Novizenopfer hingeben? Ich bin Fene, der Wanderer. Mein Hoheitsgebiet findet sich in den hinteren Kreisen.«

Der Dämon starrte von Wilhelm zu Ulrich hinüber.

Noch ehe Wilhelm den Mund auftat, spürte er den aufziehenden Nebel. Wie eine Krankheit breiteten sich dunkle Schwaden in seinem Kopf aus, die zuerst seine Gedanken, dann seine stotternde Zunge lahmlegten, bevor sie seinen Körper beherrschten.

Als er wieder wach wurde, wärmten breite Sonnenstrahlen sein Gesicht. Sein Rücken und seine Glieder schmerzten, als sei er tagelang geritten, ohne dass er die Burg verlassen hätte. In seinem Kopf hingegen erschien klar sein Auftrag. Nur einen kurzen Moment zögerte er, dann schüttelte er die Zweifel ab. Für Julie, flüsterte er, für die Liebe, in Ewigkeit.

Ulrich sandte er zurück in die hellen Gemäuer der neuen Burg. Er sollte die Herrin beruhigen und alles Nötige in die Wege leiten, während der Graf in die Stadt ritt.

 

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Wilhelms Blick glitt wieder in die undurchdringbare Dunkelheit vor dem engen Fenster. Es schien, als breite sie eine Decke über die verfallene Burg, die ihren Namen nun sicher nicht mehr verdiente. Das Schnauben im Hintergrund trieb ihn wieder an das Journal. Der Wanderer stand am anderen Ende der Kemenate und saß ihm gleichzeitig im Nacken. Er blickte in die Schrift, überwachte seine Feder, während er stumm dasaß mit diesen geblähten Nüstern und tiefschwarzen Augen. Wilhelm musste sich nicht umdrehen, um die Fratze zu sehen, denn es gab keinen Augenblick, in dem sie ihn nicht begleitete.

 

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Die ersten Nachmittage unten in der Stadt waren ungewohnt. Das Treiben in den überfüllten Gassen, das Geschnatter und Quieken, Handeln und Feilschen machten ihn nervös. Wilhelm konnte zwar in den Massen untertauchen, fiel jedoch trotzdem auf wie ein bunter Hund. Er spürte die argwöhnischen Blicke der Marktleute, wenn er näher trat. Einige Kaufleute maßen die noble Kleidung von oben bis unten, sie würden sich bei Untersuchungen bestimmt an den Edelmann in der Stadt erinnern. Bereits am zweiten Tag lieh er sich die Kleidung seines Kammerdieners aus.

Ständig bei seinen Stadtbesuchen strich er über die Köpfe der Buben, welche sich zwischen den Erwachsenen durchquetschten in der Hoffnung, eine Münze zu erwischen, doch keiner wollte die Vorgaben erfüllen. Und wie sollte er ihn zur Burg befördern? Selbst am großen Markttag bot sich ihm keine Gelegenheit, eines der Kinder wegzulocken.

Jeden Abend ritt er wieder hoch zur Burg, die Schultern tiefer, das Haupt gebeugt, denn Enttäuschung erntete er in beiden Häusern. Während Julie immer trauriger schien, blühte ihr Gast in der alten Kemenate stetig auf, nährte sich an den Tieren, welche Ulrich unermüdlich beschaffte, doch forderte ständig mehr.

Die Haut des Dämons glättete sich, auch wenn sie ihren fahlen, grauen Ton nicht verlor. Die gebeugte Haltung verschwand ebenfalls zusehends, aber der Wunsch Wilhelms, die Genesung seiner kranken Ehefrau, hing nicht von der Kraft seines Gastes ab, sondern von dessen Willen – doch zuerst mussten seine Gelüste befriedigt werden.

Und diese krochen in Wilhelms Gedanken umher, wie Würmer wanden sie sich in seinem Kopf, drängten Bilder hoch, immer stärker, immer durchdringender, sodass er gehetzt über die Plätze der Stadt lief. Manchmal dachte er, sein Kopf würde zerspringen, denn selbst die Sehnsucht nach Julie konnte diese Bilder nicht durch ihr Antlitz ersetzen. Wollte er sie, die Gedanken an ihre Schönheit, zurück, musste er den letzten Schritt gehen.

Am neunten Tag kam der Moment. Gerade als er wieder niedergeschlagen hochreiten wollte, erblickte er den dreijährigen Knaben. Er saß mit einigen Gänsen unten an der Saar neben einem Wäschekorb, offenbar nur für eine Minute alleine gelassen. Die Hände griffen unbeholfen nach dem Treibstock und ließen die Tiere wütend aufschnattern.

Schnell sah Wilhelm sich um, ließ eine Handvoll Münzen ans Ufer fallen, schnappte das Kind und trieb den Schimmel hinauf zur Burg.

Sofort krochen die Bilder in seinen Kopf zurück, machten einem Flüstern Platz, das ihn rief und lockte. Er drückte seine Schenkel fester gegen den Pferderumpf, sodass die Hufe noch härter, noch schneller gegen den trockenen Waldboden schlugen.

Ulrich feuerte gerade den Ofen an, als der Graf die Tür aufstieß. Der Dämon saß in der dunklen Ecke quer gegenüber, ragte noch in dieser Position einen Kopf über den Kammerdiener. Wilhelm drehte sein Gesicht vor dem heißen Geruch des verdorbenen Atems weg.

Er konnte hören, wie der Dämon vor ihm die Luft einsog; wie ein Hund schnupperte er an dem Kind, das sich verängstigt gegen die Beine des Grafen presste. Seelenqualen durchfuhren Wilhelm, trotzdem schob er das Kind weiter in den Raum. Das Grauen, das er in dieser Nacht erlebte – Folter, Verstümmelung, das Fressen – der Tod war ein verlässlicher Vater mit grässlichen Dienern.

 

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Das war vor einer Woche gewesen. Sieben Tage des Friedens lagen hinter ihm, sieben Tage voller Wonne, Liebe und Wiederfinden seines Glücks. Träumerisch starrte Wilhelm hinaus in die Nacht. Ein Lächeln durchbrach die verhärmten Gesichtszüge, bevor die harte Klaue ihn wieder traf. Schnell tauchte er seine Feder in die purpurne Tinte.

 

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Elend und müde kehrte der Graf mit Ulrich zur Montclair zurück. Von Weitem konnte er die getünchten Mauern sehen, wie sie ihm Willkommen versprachen. Selbst in tiefster Nacht schienen sie ihren Glanz nicht zu verlieren, während die Ruinen hinter ihnen von Schatten bedeckt waren.

Stumm ritten die beiden Männer den gesamten Weg nebeneinander her. Keiner wollte an diesem Abend etwas zu den Geschehnissen sagen, über sie diskutieren oder auch nur darüber nachdenken. Ulrich saß gebeugt auf dem Pony, riss immer wieder Blätter von den Bäumen, bis er das Tier auf einmal anspornte und vortrabte.

Wilhelm wandte nichts ein, sondern schloss sich an. Trotz der Gräueltaten, zu der die Ausgeburt der Hölle sie angetrieben hatte, fiel jegliche Sorge von seinen Schultern, als er sein Schlafgemach betrat.

»Wo warst du wieder so lange?«

Erste Sonnenstrahlen flossen in den Raum, legten sich auf das Bett und bewunderten die Schönheit seiner Frau. Jegliche Krankheit schien von ihr abgefallen, sodass sie wieder in ihrer Jugendlichkeit erstrahlte. Um ihre Nase spielten einige Sommersprossen, die er nun küsste, wie er es so lange begehrt hatte. Er wollte sie mit Liebkosungen überschütten, um seinem hämmernden Herzen Linderung zu verschaffen. Seine Hände umschlossen ihre Taille, glitten über ihre weiblichen Formen, die zurückgekehrt waren. Während der ganzen Arbeit hatte er dieses Gefühl fast vergessen, es zusammen mit dem Mitleid verdrängt, doch in diesem Moment fiel alle Schwere von ihm ab.

»Lass es egal sein … alles soll uns nun egal sein, meine Liebe«, wisperte er, während er sie mit Küssen und Tränen überschüttete.

Am ersten Tag führte er seine Frau durch den Garten, den er durch die Hausdiener hatte weiterpflegen lassen. Er ließ ihr Rosen schneiden, als sie auf der Bank saßen, genau wie sie es sonst zu tun pflegten. In den nächsten Tagen genossen sie die Sonne an der Saar, vergnügten sich bei einem Fest im großen Saal und er ließ ihr eine Nachtigall fangen, um sie noch glücklicher zu machen. Er selbst war erfüllt von einer tiefen Zufriedenheit, wie er sie seit ihrem Hochzeitstag nicht mehr gespürt hatte. Allein ein Blick in ihre aufgeweckten Augen, die neugierig durch den Garten streiften, reichte, um ihn vor Freude strahlen zu lassen.

In den Nächten zog er nicht mehr fort, sondern schloss seine Geliebte in die Arme, als könne er sie jeden Moment wieder verlieren.

Wie konnte er nur geglaubt haben, der Knecht des dunklen Herrn gönne ihnen eine Verschnaufpause?

Trotz des Flüsterns, trotz der aufziehenden Nebelschwaden und der Bilder, die ihn schon nach kurzer Zeit wieder beherrschten, blieb er standhaft bei Julie und genoss sein Glück, bis sein Kopf erneut zu zerspringen drohte.

Am siebten Tag bedrängte ihn Ulrich zurückzukehren. Bereits im Eingangsbereich der Montclair war das Poltern im oberen Stockwerk deutlich zu vernehmen.

Wilhelm wollte seinen Augen nicht trauen, als er die Kemenate betrat. Der Dämon ließ einen Stuhl quer durch den Raum fliegen, sodass dieser an der Mauer zerbarst. Seine Augen leuchteten wie die einer Katze aus der Ecke hervor, bevor er nach vorne sprang und den Kammerdiener umwarf.

»Undankbarkeit zahlt sich nicht aus, Herr Graf«, zischte es ihm von der Seite entgegen. Das Wesen schien überall zu sein, und trotzdem nirgendwo. Ungewollt wurde Wilhelm in die Dunkelheit des Raumes gezogen.

»Für deine Abwesenheit musst du zahlen, mein lieber Herr, denn mein Hunger wurde größer und größer, bis er mich fast in den Wahnsinn trieb.«

»So wie du mich fast in den Wahnsinn treibst, Teufel?«, entfuhr es Wilhelm. Er drehte sich im Kreis, völlig orientierungslos. Die Stimme kam von links, dann unten, von hinten, schien ihn zu umfließen. Grässliche Dunkelheit umgab ihn. »Was willst du, damit du wieder gehst?«

»Es ist zu spät, Wilhelm, viel zu spät. Du willst nur das Glück – ohne die Arbeit, die damit verbunden ist. Selbstsüchtiger kleiner Tor! Doch Er schenkt nichts, nichts ist umsonst.«

Wilhelms Augen schmerzten, ständig zuckten sie durch die Dunkelheit, die nur schwärzer wurde, anstatt sich der Dämmerung zu beugen. Seine Hände tasteten nach der Tür, doch fanden nur Leere.

Auf einmal stieß etwas ihn zurück ins Licht. Er befand sich erneut in der Kemenate, die nichts mehr von der Zerstörungswut des Dämons aufwies, sondern aufgeräumt und warm um ihn lag.

Etwas weiter vor ihm lag ein Flugblatt. Eine dämonische Fratze lachte ihm davon entgegen. Erst als er es in den Händen hielt, erkannte er sich selbst darin. Die Überreste des Jungen waren offenbar aufgetaucht und man suchte den Mörder.

Im Gang hallten die schweren Tritte von Männern. Stimmengewirr drang herauf zu seiner Kemenate, es verriet ihm, dass es nun soweit war. Scharf sog er die Luft durch die Nase ein. Tiefes Grauen wühlte in seiner Magengrube, wenn er an die wutverzerrten Gesichter dachte, die sich zu ihm hochkämpften.

Ein Strick legte sich um seinen Hals, als er die letzten Worte niederschreiben wollte: Es tut mir …

Mit einem harten Ruck wurde sein Körper nach hinten gerissen. In der Ecke stand Julie, eine durchsichtige Gestalt hinter ihrer leblosen Hülle, die sie einst mit unvergesslicher Schönheit erblühen ließ. Nun fixierte ihn ihr hartes Gesicht, das sich angewidert abwandte. Trostlose Leere breitete sich in ihm aus. Seine Füße zuckten noch kurz, bevor alles um ihn verschwand.

 

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Die Feder setzte wie von Geisterhand erneut an, beendete die Schrift: Es tut mir nicht leid.

 

***

 

Über die Autorin

Vanessa Betti wurde 1988 geboren und lebt gegenwärtig in einer kleinen Stadt im Süden Luxemburgs. In ihrem Brotberuf als Deutsch- und Geschichtslehrerin an einer Gesamtschule begegnet sie jeden Tag vielen unterschiedlichen Charakteren, die sie abends beim Schreiben und Malen immer wieder inspirieren. Sie interessiert sich vor allem für Phantastik und Werke mit Zügen dunkler Romantik.

De Profundis - Detlef Klewer

 

»Ich fragte nach dem Ursprung des Bösen,

doch es fand sich kein Ausweg.«

Augustinus (Confessiones 7,7,11)

 

Der Gang wand sich eng und schwarz. Die Hitze in diesem düsteren Labyrinth tief unter der Erde ließ Atmen zur Qual werden. Ihm war heiß. Angstschweiß bedeckte seinen Körper und verströmte einen Geruch, der seine Verfolger magnetisch anzog. Sie geradezu in Raserei versetzte: der Geruch eines panischen Menschen. Sie … holten auf.

Weiß Gott, er hasste die Dunkelheit. Flackernder Fackelschein tanzte beunruhigend nahe über erdige Wände. Seine Verfolger waren dicht hinter ihm.

Eine hervorstehende Wurzel riss ihm die Haut auf. Die Wunde begann zu bluten – in seiner Angst bemerkte er es nicht. Der Lichtschein hinter ihm kam stetig näher, während die Finsternis vor ihm noch undurchdringlicher zu werden schien.

Der Erdtunnel wurde niedriger. Er sank auf die Knie und kroch rasch auf allen Vieren weiter.

Der Gang nahm nun eine abrupte Biegung, die ihn erneut gegen rieselnde Erdwände taumeln ließ. Wieder riss Wurzelwerk blutende Verletzungen in seine Haut. Er stürzte. Erschöpft keuchend rappelte er sich auf.

Bei Gott, sie … hatten ihn fast eingeholt …

Als er aus dem Augenwinkel Fackeln auftauchen sah, wollte er vor Entsetzen schreien, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst, und so blieb er stumm.

Stumm wie die grausigen Schatten hinter ihm, die ihn hetzten wie ein Tier.

Dann … endete der Gang.

Seine wie rasend nach einem Ausweg suchenden Hände ertasteten eine undurchdringliche Wand aus Wurzelwerk und Erde.

Vor Angst wimmernd versuchte er zurückzukriechen, doch schon spürte er schaudernd eine Berührung auf seiner nackten Haut. Etwas wie kalter, rauer Stein griff nach ihm.

Eisiges versuchte seine Gliedmaßen auseinanderzuspreizen, sodass sein Körper in die Form eines Pentagramms gezwungen wurde: eines fünfzackigen Sterns, dessen Spitzen seine Extremitäten bildeten. Ein Opfersymbol. Er schluchzte nun hemmungslos, wandte sein tränenblindes Gesicht und sah voller Grauen das Herannahen der blakenden Flammen – hinter ihnen dunkle Schemen. Augenlose Konturen.

Sie würden ihn … strafen! Dann drückte einer der Schatten diesen brennenden Stab zwischen seine Beine, aber diese Flamme war … kalt wie Eis. So kalt … wie der Tod.

Er schrie.

 

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Gellende Schreie hallten durch die Flure des Lateranpalastes. Mit sorgenvoller Miene schritt Clodomiro ruhelos auf und ab. Er, der Primicerus, erhoffte den Beistand der herbeigerufenen Optimates. Als erster Sekretär des Papstes hatte er diese Versammlung wichtiger Amtsträger einberufen, um zu beratschlagen, wie man dem unerklärlichen Leiden Donus´ begegnen sollte. Alle erwarteten nun die Ankunft des päpstlichen Leibarztes.

Bischof Dagoberto – klein und fett – nahm einen kräftigen Schluck Würzwein und umklammerte sein goldenes Brustkreuz besitzergreifend, als fürchtete er, einer der Anwesenden beabsichtigte, sein Pektorale zu stehlen. Gomberto, ein junger Mönch, der dem Bischof nicht von der Seite wich, schluchzte und hielt sich die Ohren zu.

»Der Heilige Vater … stirbt«, jammerte er.

Kardinal Lionardo nestelte mit seinen schlanken Fingern geistesabwesend in den scharlachroten Quasten seines Cingulums.

»Nicht, wenn wir es verhindern können«, fuhr Dagoberto grimmig auf. Der Kardinal hob amüsiert eine Augenbraue.

»Entschuldigt, aber wie wollt Ihr das verhindern?«, erkundigte er sich. »Selbst unser allseits geschätzter Guarniero ist mit seiner Weisheit am Ende.«

Dagoberto winkte verärgert ab. »Unser oberster Medico hat mit seiner eisernen Lanzette ein wenig zu oft Adern an den Unterarmen des Heiligen Vaters geöffnet. Dieses Gerede von üblen, verdorbenen Körpersäften, die seine Krankheit verursachen sollen, ist doch nur hilfloses Geschwätz! Ich bin kein Pharmacopolus oder Aromatarius, aber es ist doch wohl eindeutig, dass hier keine natürliche Ursache vorliegt. Meiner Meinung nach ist Gift im Spiel! Zumindest kenne ich keine Krankheit, die bewirkt, dass man über Wochen hinweg derart von Albträumen gequält wird, bis man vor Entsetzen schreit …«

Clodomiro schüttelte protestierend den Kopf und hob in abwehrender Geste die Hände. »Handelte es sich tatsächlich um Gift, dann wäre es durch das Entschlacken seines Körpers entfernt worden«, verteidigte der Primicerus die Ärzte. Der Bischof lachte bitter auf. »Entfernt? Guarniero verabreichte dem Heiligen Vater derart starke Brechmittel, dass er fast seine Eingeweide ausgespuckt hätte und gestorben wäre. Was, wenn dieses Gift nicht durch abführende Maßnahmen verschwindet? Kennt Ihr alle Schliche der Giftmischer? Nein, sehen wir der unschönen Wahrheit ins Auge: Unser gepriesener Leibarzt hat schlicht und einfach versagt.«

»Was schlagt Ihr also vor, Eure Eminenz?« Ehrliche Furcht um das Leben des Papstes stand dem Sekretär ins Gesicht geschrieben.

»Ich glaube, dass sich unser Heiliger Vater in der Gewalt von … Dämonen befindet«, erklärte Dagoberto mit besorgtem Seitenblick auf Gomberto, der erschrocken zusammenfuhr. »Kein ärztliches Heilmittel wird ihren Würgegriff lösen können, das vermögen allein Glaube, Hoffnung und Gebete.«

Ein markerschütternder Schrei ließ den verängstigten jungen Mönch erneut zusammenfahren und beendete das Gespräch abrupt. Kardinal Ermenegildo, der bislang geschwiegen hatte, seufzte. Er besaß eine würdevolle Ausstrahlung, sanfte Augen und eine lange Nase. Nur sein schmallippiger Mund verriet den Zyniker. Als er sich erhob, zog er die Blicke aller Anwesenden auf sich. Einen Augenblick genoss er die Macht, die er auf die Männer ausübte.

»Jemand muss ihn wecken!«, befahl er dann entschieden.

»Heiliger Vater!« Aus weiter Ferne drang der Ruf wie ein Echo an sein Ohr. Es gelang ihm nicht, diese Stimme einem Gesicht zuzuordnen. Er bemühte sich, die verklebten Augenlider zu öffnen und den bleischweren Kopf zu heben, doch er fühlte sich unendlich erschöpft und es wollte ihm nicht gelingen.

Scharfer Schmerz, der seinen Schädel zu spalten drohte, ließ ihn aufstöhnend auf sein Lager zurücksinken.

Er erinnerte sich an … einen Schrei. Jemand hatte geschrien. Vor Entsetzen. Jetzt allerdings war es merkwürdig still.

»Heiliger Vater!« Diesmal vernahm er die dringliche Stimme ganz nah an seinem Ohr. Eine besorgte Stimme. Er unternahm eine weitere Anstrengung, die Augen zu öffnen. Es gelang, doch durch den schmalen Schlitz drang wider Erwarten kein strahlendes Morgenlicht. Stattdessen lediglich der matte Schein zitternder Kerzenflammen. Wieder bohrte dumpfer Schmerz in seinem Hirn. Er zuckte zusammen, hielt sich den Kopf und stöhnte leise.

Wer hatte nur derart gequält geschrien? Was war geschehen?

»Wacht auf, Heiliger Vater! Ihr wart in einem Albtraum gefangen.« Nun endlich erkannte er die aufgeregte Stimme an seiner Schlafstätte: Gherardo, sein Cubicularius.

»Ihr habt geschrien!«

Dann war also dieser Entsetzensschrei, den er vernommen hatte, sein eigener gewesen. Mühsam brachte er ein paar krächzende Laute hervor, ehe es ihm gelang zu sprechen.

»Er … will … herein.« Donus´ Stimme klang so undeutlich, dass Gherardo vermuten musste, er rede im Schlaf und sei noch immer in seinem Albtraum gefangen. Langsam richtete er sich auf und presste die Hände an die schmerzenden Schläfen.

»Wasser …«, flüsterte er und spürte seine Zunge am trockenen Gaumen kleben. »Bitte, gib mir zu trinken …«

Augenblicklich spürte er den metallenen Rand des Silberbechers an seinen Lippen und kühle Flüssigkeit auf der ausgedörrten Zunge. Ein Labsal! Er schluckte und trank durstig mehr. Mit zitternden Händen ergriff er den Becher und leerte den Rest in einem Zug.

Was war es nur, das ihn dazu gebracht hatte, im Schlaf zu schreien?

Ein Traum. Im gleichen Augenblick überkam ihn die Erinnerung derart heftig, dass er erneut aufstöhnte.

Als er bemerkte, wie der gequälte Laut Gherardo zusammenzucken ließ, zwang er seinen verzerrten Mund zu einem Lächeln. Doch wirkte es bei Weitem nicht so beruhigend wie beabsichtigt. Sein besorgter Kammerdiener blickte ihn furchtsam an.

»Beruhige dich, mein guter Gherardo«, sagte Donus sanft. »Zünde noch ein paar Lichter an, es ist so dunkel hier.« Der Angesprochene nickte eifrig, nahm einen harzgetränkten Span, ließ ihn an einer der Kerzen aufflammen und entzündete ein halbes Dutzend Öllichter.

»Und dann schickt einen Boten in die Via Appia zur Benediktinerabtei Sancti Sebastiani. Er soll dem ostiarius dort sagen, ich wünsche Abt Theodoricus zu sprechen. Der Überbringer der Nachricht soll nicht vergessen zu erwähnen, es sei eilig. Sagt Theodoricus ich erwarte ihn umgehend.«

Der Kammerdiener verneigte sich und eilte hinaus, um den Auftrag zu erfüllen.

 

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»Glaubt Ihr, dass es noch Hoffnung für den Heiligen Vater gibt?«, fragte Clodomiro bang. Ehe Dagoberto antworten konnte, rief Kardinal Lionardo erregt: »Hoffnung? Das ist der Trost der Schwachen! Die Starken handeln!«

Kardinal Ermenegildo betrachtete ihn mitleidig lächelnd. »Und wie wollt Ihr handeln? Truppen nach Ravenna schicken? Truppen, die wir nicht haben?«

Dagoberto hob beschwichtigend die Hände. »Wir wissen doch nicht einmal, ob Ravenna hinter der Sache steckt.« Lionardo

schnaubte unwillig. Es kostete ihn offenbar große Willensanstrengung die Beherrschung zu wahren. »Ihr wisst sehr wohl, dass Exarch Theodoro dem Heiligen Vater nach dem Leben trachtet, seit ihr Erzbischof Reperato in den Schoß unserer heiligen Kirche zurückgekehrt ist. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Ravenna Giftmörder ausgesandt hat!«

»Gift? Das ist lächerlich!« Die schrille Stimme überschlug sich fast. Guarniero, der hagere und hakennasige Leibarzt des Papstes, war unbemerkt eingetreten. »Verzeiht, aber Ihr seid doch wohl kaum in der Lage, eine medizinische Diagnose zu stellen, Kardinal Lionardo«, verkündete er erbost. »Wenn Ihr Galenos Methodi medendi studiert hättet, so wüsstet Ihr, dass jede Krankheit aus einer fehlerhaften Mischung der Körpersäfte entsteht. Ich versichere Euch, nur mittels Aderlass und ausgewogener Nahrung kann der Heilige Vater geheilt werden.«

»Wenn Eure Behandlungsmethoden so großartig sind, warum sind sie dann nicht erfolgreich?«, erkundigte sich Kardinal Ermenegildo und verzog die schmalen Lippen zu einem ironischen Lächeln. »Eure Aderlässe und Brechmittel haben den Zustand Eures Patienten bisher nur verschlechtert.«

»Eine curatio benötigt Zeit«, zischte der Leibarzt empört. »Erst wenn die compositiones sive humores – der Schleim, die schwarze und gelbe Galle und das Blut – wieder ausgewogen sind, wird Besserung eintreten.« Wütend goss er sich einen Becher Mulsum ein und leerte den gegorenen, mit Honig verfeinerten Traubensaft in einem Zug. »Das schlechte Blut muss entfernt werden. Ebenso … wie die bösen Säfte ...« Seine hohe, aufgebrachte Stimme verebbte zögerlich. Laut geäußert klang seine Theorie irgendwie weit weniger überzeugend als in den medizinischen Schriften.

»Das Böse ist von mannigfaltiger Gestalt«, warf Dagoberto heftig ein. »Denkt an Papst Severinus´ Schicksal! Wer weiß schon, wie er zu Tode kam – gehängt und ausgeweidet in seinen verschlossenen Gemächern …« Er drehte nervös seinen Bischofsring am fleischigen Finger. »Lasst uns die Gebeine des Heiligen Petrus aus der Krypta holen und sie in die Gemächer des Heiligen Vaters bringen. Sie werden ihm sicherlich helfen zu genesen.«

Ermenegildo blickte ihn nachsichtig an. »Lieber Bruder Dagoberto, ganze Familien leben davon, tote Freunde in gekalkter Erde zu verscharren, die Knochen nach einiger Zeit wieder auszugraben, um sie dann im Feuer zu rösten – und einem naiven Kirchenfürsten als Reliquien berühmter Heiliger zu verkaufen. Ein geldgieriger Bischof zur Bestätigung der Echtheit dieser … Schätze … findet sich immer.« Er zwinkerte ihm zu.

»Das ist … Ketzerei!«, ereiferte sich Dagoberto nach Atem ringend. Der dicke Mann fuchtelte heftig und hektisch mit den Armen, ehe er sich mit hochrotem Kopf bekreuzigte.

»Nein, lieber Bruder, das ist leider die Wahrheit.«

Dagoberto wollte etwas erwidern, doch Ermenegildo unterband seinen Einwand mit herrischer Geste, die dem aufgebrachten Bischof die Worte auf der Zunge ersterben ließ. »Genug jetzt! Wir benötigen weder zweifelhafte Reliquien noch einen unfähigen Medico. Stattdessen sollten wir uns rechtzeitig Gedanken über einen Nachfolger des Heiligen Vaters machen.« Clodomiro starrte ihn entsetzt an.

Kardinal Lionardo nickte zustimmend. Es befriedigte ihn, dass – angesichts all der Angst und Verunsicherung – zumindest einer einen kühlen Kopf behielt …

 

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Theodoricus erwachte mit dem Gefühl, die Nacht habe nun ihre dunkelste Stunde erreicht. Ein Gefühl, das ihm gleichzeitig vermittelte, die Finsternis hielte eine Botschaft für ihn bereit. Es versetzte ihn in Unruhe, aber er konnte den Grund nicht benennen.

Etwas Bedrohliches hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, doch Theodoricus konnte sich nicht mehr daran erinnern. Er lag still, starrte in die heraufziehende Morgendämmerung und erwartete geduldig, dass sich ihm etwas offenbaren würde. Doch nichts geschah.

Bald würde das helle Glöckchen erklingen, das die Mönche zum Frühgebet rief.

Der Abt der Benediktinerabtei erhob sich von seinem Lager, wusch sich und legte seine Tunika an. Er streifte das Skapulier mit der Kapuze über und gürtete sein schwarzes Gewand mit einem ledernen Cingulum.

Es klopfte dringlich. Theodoricus öffnete die Kammertür. Der ostiarius der Abtei stand vor ihm und neigte schwer atmend den Kopf zum Gruß. Anscheinend war der Pförtner den langen Weg gerannt und wirkte ungewohnt aufgeregt.

»Entschuldigt, ehrwürdiger Abt, aber im Eingangsbereich wartet ein Bote. Der Heilige Vater hat ihn geschickt, denn seine Heiligkeit wünscht Euch umgehend zu sprechen«, erklärte der Pförtner atemlos.

Theodoricus nickte ihm zu. Das war also der Grund seiner Ruhelosigkeit. Er trat hinaus, schloss die Tür und folgte dem vorauseilenden Mönch.

 

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Theodoricus betrat unter misstrauischen Blicken der Wachen das Patriarchum. Marmorböden! Kunstvolle Mosaike! Er verabscheute den Pomp, mit dem sich die Päpste umgaben.

Schweigend schritt der Benediktinerabt durch das Labyrinth der Flure und Hallen des Lateranpalastes, bis hin zu den Gemächern des Papstes. Er stieg die Treppe zum triclinium maior, der großen Halle, empor. Die dort versammelte illustre Gesellschaft versetzte ihn in Erstaunen. Es musste etwas … Bedeutsames vorliegen! Er beschleunigte seinen Schritt. Nun war ihm klar, dass seine Unruhe berechtigt gewesen war.

Eine Wache öffnete ihm die Tür. Der behelmte Soldat fasste seinen Speer fester und begutachtete den ärmlich gekleideten Abt argwöhnisch. Theodoricus trat ein und erblickte Papst Donus auf dem Bett sitzend. Der Mangel erholsamen Schlafs zeichnete deutlich das blasse Gesicht, das so weiß wie der Marmorboden zu sein schien.

Donus wirkte hager, nahezu ausgezehrt im Vergleich zu den wohlgenährten Würdenträgern vor seiner Tür. Dunkle Augenringe verliehen ihm ein gehetztes und kränkliches Aussehen. Der Anblick des Kirchenobersten entsetzte Theodoricus.

»Wie fühlt Ihr Euch, Heiliger Vater?«, fragte er, legte Donus die Hand auf die heiße Stirn und blickte in dessen blutunterlaufene Augen. »Euer Bote sprach von schrecklichen Albträumen, die Euch quälen und Eure Lebensenergie aussaugen.«

Der Papst erhob sich mühsam und schritt gebeugt zu einem der großen Fenster. Schweigend blickte er hinaus auf die ewige Stadt und beobachtete die Menschen, die geschäftig hin und her hasteten: Adelige, gewandet in neue, reich bestickte byzantinische Importstoffe, einfache Menschen, gekleidet in graue Leinenkittel. Inmitten der Häuser kutschierten Händler hoch beladene Eselskarren. »Mein lieber Theodoricus, seht Ihr die Menschen dort draußen?«, fragte Donus. »Ich beneide sie alle … um ihre Unwissenheit.«

Die nun aufgehende Sonne hüllte die Silhouette der Stadt in orangefarbene Flammen. Ein Licht wie bei dem Großbrand, den einst Kaiser Nero entfacht hatte, um Rom zu zerstören. Ein Omen?

Donus wandte sich um, ließ sich auf einem Schemel in Fensternähe nieder und seufzte tief.

»Ich fühle mich … schwach.«

Theodoricus blickte nachdenklich auf die zerschnittenen Unterarme des Papstes.

»Aderlässe werden Euch nicht helfen. Ich werde Euch stattdessen von einem Krankenbruder einen heilkräftigen Kräutersud zubereiten lassen. Eine Mischung aus Ringelblume, Baldrian und Mandragora erscheint mir vielversprechend.«

Papst Donus schüttelte den Kopf. »Nein, nein, die Gunst, die ich von Euch erbitte, geht weit über medizinischen Beistand hinaus.« Schwankend erhob er sich, sank jedoch wieder auf den Stuhl zurück.

»Glaubt Ihr, wir … sollten uns vor der Wahrheit fürchten?«

Der Benediktinerabt dachte einen Augenblick nach. »Nein, das glaube ich nicht. Wie schrecklich die Wahrheit auch sein mag, der wir uns stellen müssen, wir dürfen nicht davor zurückschrecken. Sie wird nicht verschwinden, nur weil wir aus Angst weichen.«

»Ihr habt recht«, bekräftigte der Papst. »Furcht bewirkt eine Beeinträchtigung des Geistes, die uns zu falschen Handlungen verleitet.«

Ächzend stellte er sich auf die Füße, ging ein paar Schritte und stützte sich an einer Säule ab.

»Mein lieber Theodoricus, was ich Euch nun anvertraue, habe ich bislang niemandem erzählt. Ich beging einen furchtbaren Fehler, denn ich ließ das Monasterium Boetianum schließen, aus Furcht, die Nestorianer dort könnten das Andenken des Theologen Boethius schänden. Es handelte sich meiner Meinung nach um Sektierer. Diese syrischen Mönche wurden vertrieben.«

Theodoricus blickte ihn fragend an. »Ich kann daran keinen Fehler erkennen, Heiliger Vater. Die Nestorianer sind zwar harmlos, aber zweifellos fehlgeleitet. Daher erscheint mir ihre Verbannung aus Rom richtig.«

Donus seufzte tief. »Ihr habt einerseits recht, aber andererseits auch nicht. Was Ihr nicht wisst und was ich nicht ahnte: Ihre Aufgabe in dieser Stadt bestand darin, die Katakomben unter dem Kloster zu bewachen. Indem ich nun die tapferen Wächter vertrieben habe, öffnete ich den Höllenwesen die Tür.«

»Dämonen?« Der Abt fuhr zusammen.

»Dämonen!«, flüsterte Donus spürbar verzweifelt. »Sie sind es, die mich in meinen Träumen heimsuchen und quälen.« Er wies zu einem aufgeschlagenen Buch auf einem großen Tisch in Theodoricus´ Nähe.

»Ich erinnerte mich an eine Schrift, die im Scrinium Apostolica aufbewahrt wird. Ein zum rechten Glauben konvertierter Magier namens Clithanus verfasste vor vielen Jahren seine Bekenntnisse, seine Confessiones. In diesem Buch schwört er seinen alten Überzeugungen ab und prangert Magie als Teufelswerk an. Ich ließ also das Liber Diurnus Romanorum, unser Archiv, durchsuchen und mir das Buch bringen.« Theodoricus warf einen Blick auf das in Latein verfasste Werk.

»Wie erhofft fand sich ein Hinweis auf den besonderen Kult, der unter dem Kloster praktiziert wurde«, erklärte der Papst weiter. »Niogthaner nennen sie sich, denn die Gottheit, die sie anbeten, heißt Niogtha. Eine widerliche, formlos wabernde, schwarze Masse, die sich mit gleitenden Bewegungen nähert. Zahllose, tastende Auswüchse zucken daraus hervor und ziehen sich wieder zurück … eine Dämonenkreatur aus der Tiefe der Hölle, die mich in meinen Träumen martert und in den Wahnsinn treiben will.«

Theodoricus blätterte die Papyrusseiten des Buches um. »Ich habe noch nie von einem solchen Mysterienkult gehört«, sagte er überrascht.