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Udo Rauchfleisch

Mord unter lauter netten Leuten

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Personen

 

Jürgen Schneider,

schwuler Kriminalkommissar, leitet die Untersuchung

 

Mario Rossi,

Partner von Jürgen Schneider, Inhaber einer Herrenboutique

 

Walter Steiner,

Psychologe in einer Ehe- und Familienberatungsstelle, „Hobbykriminalist“

 

Edith Steiner,

Frau von Walter Steiner, Prokuristin in einer Privatbank

 

Urs Braun,

Psychologieassistent in der Ehe- und Familienberatungsstelle, Mieter im Haus in der Laufenstraße in Basel

 

Heinrich Schulte,

Hausmeister im Haus in der Laufenstraße

 

Erna Schiesser,

Mieterin im Haus in der Laufenstraße

 

Karl Schiesser,

Ehemann von Erna Schiesser, Mieter im Haus in der Laufenstraße

 

Adelheid Feiner,

Lehrerin, Mieterin im Haus in der Laufenstraße

 

Claudia Kerner,

Krankenschwester im Universitätskinderhospital in Basel, Mieterin im Haus in der Laufenstraße

 

 

Martin Kerner,

Ehemann von Claudia Kerner, Mieter im Haus in der Laufenstraße

 

Paul Ehlert,

schwuler Krankenpfleger, Mieter im Haus in der Laufenstraße

 

Klaus Wagner,

Nationalökonom, Partner von Paul Ehlert

 

Rosi Mittermann,

Azubine in einer Drogerie, Mieterin im Haus in der Laufenstraße

1.

Kreischende Bremsen. Sekundenlange Stille. Dann ein vielstimmiger Aufschrei.

Zusammengekrümmt lag der Körper eines älteren Mannes auf der Fahrbahn, halb unter einem Lastwagen. Schnell bildete sich eine große Blutlache auf dem Asphalt. Die Menschen, die Zeugen dieses Unfalls geworden waren, standen bleich auf dem Gehsteig und starrten voller Entsetzen auf den Toten.

„Wie kann man auch nur so unvorsichtig sein?“, flüsterte eine ältere Frau einer anderen zu. „Das ist doch der Herr Schiesser aus dem Haus da drüben. Schon seit Monaten kann er sich kaum auf den Beinen halten und geht eigentlich nur in Begleitung seiner Frau raus. Und nun läuft er allein zwischen den Autos, die da am Straßenrand parken, hindurch auf die Fahrbahn. Total leichtsinnig ist das.”

Mit Blaulicht und Martinshorn waren wenige Minuten später ein Rettungswagen und ein Polizeiauto mit zwei Beamten vor Ort. Kurze Zeit später traf ein weiterer Polizeiwagen mit einem Beamten und einer Beamtin ein. Obwohl die Laufenstraße in Basel eine eher ruhige Seitenstraße ist, hatte sich innerhalb kurzer Zeit eine Gruppe von etwa 10 Schaulustigen gebildet, die jetzt von der Polizei zurückgedrängt wurden.

Der Fahrer des Lastwagens war zunächst wie gelähmt, war dann aber aus der Führerkabine gesprungen und hatte den auf dem Boden liegenden Mann anzusprechen versucht. Dieser hatte jedoch nicht reagiert. Die nun eingetroffenen Sanitäter untersuchten den vom Lastwagen angefahrenen Mann und stellten fest, dass für ihn jegliche Hilfe zu spät kam. Sie legten den Toten auf die Bahre, die sie mitgebracht hatten, und breiteten eine Decke über ihn.

Die Polizeibeamten hatten inzwischen begonnen, die Umstehenden zu fragen, wer von ihnen den Hergang des Unfalls beobachtet habe und Aussagen dazu machen könne. Doch alle zuckten mit der Schulter und schüttelten den Kopf. Niemand hatte bemerkt, wie der Mann offenbar zwischen den parkenden Autos hindurch auf die Fahrbahn getreten war. Die Passanten waren erst durch die kreischenden Bremsen des Lastwagens auf ihn aufmerksam geworden. Die einzige Information, welche die Beamten erhielten, war, dass es Herr Schiesser aus dem Haus gegenüber sei.

Mit einem Aufschrei drängte sich plötzlich eine ältere, groß gewachsene, stattlich wirkende Frau mit vollen grauen Haaren, die sie zu einem Knoten zusammengebunden hatte, durch die Menschenmenge. „Nein, das darf nicht wahr sein!“, schrie sie fassungslos. „Was ist mit ihm? Lassen Sie mich durch! Das ist mein Mann.“

Die Umstehenden wichen zurück, und eine Polizeibeamtin hielt die Frau auf, die zu dem Unfallopfer eilen wollte. „Bitte warten Sie“, sagte die Beamtin beruhigend. „Sind Sie die Frau des Verunglückten? Ich muss Ihnen leider sagen, dass der Unfall tödlich für Ihren Mann ausgegangen ist. Bitte kommen Sie mit mir zu unserem Wagen, damit ich in Ruhe mit Ihnen sprechen kann.”

„Lassen Sie mich zu meinem Mann“, schrie die Frau verzweifelt. „Er kann doch nicht tot sein! Eben haben wir doch noch miteinander gesprochen. Vielleicht ist es ja gar nicht mein Mann. Ich will ihn sehen!”

„Bitte warten Sie. Sie können ihn später sehen“, redete die Beamtin ihr beschwichtigend zu. Sie fasste die ältere Frau beim Arm und führte sie zu einem der Polizeiautos, in dem eine Sitzbank und ein Tisch waren. Die ältere Frau sank auf die Bank und brach in ein verzweifeltes Weinen aus. Die Beamtin sprach ihr tröstend zu und wartete, bis die Frau sich etwas gefasst hatte.

„Eine Passantin, die den Unfall gesehen hat, hat uns gesagt, der Verstorbene sei Herr Schiesser. Dann sind Sie Frau Schiesser?“, begann die Beamtin das Gespräch.

Die ältere Frau brachte kein Wort heraus, und nickte nur.

„Waren Sie mit Ihrem Mann zusammen, als sich der Unfall ereignet hat? Oder haben Sie gesehen, was genau passiert ist? Das konnte uns bisher nämlich niemand sagen.”

„Wir wollten einkaufen. Mein Mann ist schon vorgegangen, ich kam kurze Zeit später aus dem Haus“, sagte Frau Schiesser mit tonloser Stimme. „Seit etlichen Wochen war ihm immer wieder schwindlig, und er hatte große Probleme beim Gehen. Ich habe ihm immer wieder gesagt, er solle nicht allein auf die Straße gehen. Weil ich das Portemonnaie vergessen hatte, bin ich schnell noch einmal ins Haus gegangen und habe es geholt. In dieser Zeit muss er versucht haben, die Straße zu überqueren. Warum das? Warum hat er das nur gemacht?”

„Dann haben Sie den Hergang des Unfalls also auch nicht gesehen?“, fragte die Beamtin.

„Nein. Als ich aus dem Haus kam, hörte ich das Kreischen der Bremsen und sah die Menschen, die sich an die Straße drängten. Dann erst habe ich gesehen, dass mein Mann auf dem Asphalt lag.” Ein neuerlicher Weinkrampf schüttelte Frau Schiesser.

Tröstend legte die Beamtin ihr die Hand auf den Arm. „Kommen Sie, Frau Schiesser, ich fahre jetzt mit Ihnen ins Krankenhaus. Die Sanitäter werden Ihren Mann jetzt dorthin bringen und dann können Sie Ihren Mann sehen. Sie müssen ihn ja auch noch identifizieren. Meinen Sie, Sie können das durchhalten? Oder soll Ihnen der Arzt zuerst ein Beruhigungsmittel geben?”

„Danke, es geht schon. Ich will meinen Mann jetzt sehen.”

Die Beamtin nahm Frau Schiesser beim Arm und führte sie zum Polizeiauto, mit dem die beiden in das nahegelegene Universitätshospital fuhren.

2.

Im Haus in der Laufenstraße lehnte sich Adelheid Feiner kreidebleich, schwer atmend an die Wand des Treppenhauses und sank dann auf eine der steinernen Treppenstufen, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie war eine unscheinbare, grau wirkende Lehrerin undefinierbaren Alters, die man niemals für 45 Jahre gehalten, sondern als wesentlich älter eingeschätzt hätte.

„Mein Gott“, murmelte sie, „nun ist es doch passiert. Ich hatte also doch Recht mit meiner Befürchtung!”

In diesem Moment kam Urs Braun, ein junger, sportlich gekleideter Mann, der vor einigen Monaten sein Psychologiestudium an der Basler Universität abgeschlossen hatte, die Treppe herunter. Er war erst vor drei Wochen in eines der Appartements im Dachgeschoss eingezogen.

„Was ist denn mit Ihnen los?“, fragte er bestürzt. „Haben Sie sich wehgetan, Frau Feiner? Kann ich Ihnen helfen?“

Beunruhigt betrachtete er die Frau, die dort in ihrem grauen Mantel zusammengesunken auf den Treppenstufen saß.

„Ich habe es ja gewusst, dass es so kommen würde“, murmelte sie und schaute Urs Braun ängstlich an.

„Was meinen Sie damit? Was haben Sie kommen sehen?“

„Erinnern Sie sich denn nicht, Herr Braun, dass ich Ihnen bei unserem ersten Zusammentreffen gesagt habe, dass es in diesem Haus einen Mord geben wird? Nun ist es passiert! Der arme Herr Schiesser. Er ist das erste Opfer. Und wer weiß, ob es nicht noch mehr Opfer geben wird. Wäre ich nur nie in dieses schreckliche Haus gezogen! Ich habe vom ersten Moment an gespürt, dass hier das Böse lauert.”

Frau Feiner schraubte ihre Stimme auf ein Flüstern herunter und schaute sich misstrauisch um: „Dieser unheimliche Hausmeister hat mir vom ersten Moment an Angst eingejagt. Ich bin mir sicher: Er ist der Mörder.“

„Nun mal langsam, Frau Feiner. Ich verstehe überhaupt nicht, wovon Sie reden. Wieso soll der Hausmeister, Herr Schulte, ein Mörder sein? Und warum sagen Sie, Herr Schiesser sei sein erstes Opfer?“

„Haben Sie denn nicht gehört, was passiert ist?“, unterbrach Frau Feiner ihn. „Herr Schiesser ist von einem Lastwagen überfahren worden.“ Ein Weinkrampf schüttelte sie.

„Das ist wirklich schrecklich“, erwiderte Urs Braun. „Aber Sie sagen ja selbst, dass Herr Schiesser von einem Lastwagen überfahren worden ist. Dann ist es doch kein Mord, sondern ein Unfall, wie er leider tagtäglich vorkommt“, fügte er bedauernd hinzu. „Da müssen Sie sich doch auf jeden Fall keine Sorgen machen, hier laufe ein Mörder herum.”

„Das ist nie und nimmer ein Unfall gewesen!“, rief Frau Feiner und schaute Herrn Braun hilfesuchend an. „Das Verbrechen ist sehr geschickt ausgeführt worden, so, dass wir alle denken sollen, es sei ein Unfall gewesen. Ich bin jedoch sicher, dass es Mord ist!”

„Wissen Sie denn, wie der Unfall passiert ist?“, fragte Urs Braun Frau Feiner, um sie von ihrer fixen Idee eines Mordes abzubringen. Er hoffte, wenn sie ihm die Umstände des Unfalls schilderte, würde sie vielleicht selbst merken, dass es ein banaler Unfall und kein Mord war.

„Ja, ich habe alles in Erfahrung bringen können“, antwortete sie, wobei ein gewisser Stolz in ihrer Stimme mitschwang. „Ich war wie vor den Kopf geschlagen, als ich nach Hause kam und von den Nachbarn, die auf der Straße waren, hörte, was passiert ist. Auf der Treppe bin ich dann Frau Schiesser begegnet. Ich habe ihr natürlich mein Beileid ausgesprochen und habe sie gefragt, wie es geschehen ist. Sie hat mir berichtet, dass sie mit ihrem Mann einkaufen gehen wollte, dann aber kurz zurück in die Wohnung musste, weil sie ihr Portemonnaie vergessen hatte. In dieser Zeit muss Herr Schiesser versucht haben, über die Straße zu gehen, was bei seinen Gleichgewichtsproblemen, unter denen er seit Wochen litt, natürlich heller Wahnsinn war. Frau Schiesser hat beim Herauskommen aus dem Haus ihren Mann blutüberströmt auf dem Boden liegen sehen“, fuhr Frau Feiner fort. „Später habe sie von der Polizei erfahren, er sei offenbar zwischen zwei parkenden Autos hindurch plötzlich auf die Fahrbahn getreten und sei von einem Lastwagen überfahren worden. Frau Schiesser und die Polizei mögen ja glauben, dass es ein Unfall gewesen ist. Ich aber weiß, dass es Mord war, Herr Braun! Verstehen Sie: Mord!“, flüsterte Frau Feiner und schaute ihn beschwörend an.

„Ich verstehe gut, dass diese Nachricht auch für Sie ein Schock war, Frau Feiner“, versuchte Urs Braun sie zu beruhigen. „Auch ich finde es schrecklich, dass der arme Mann verunglückt ist. Es spricht aber doch rein gar nichts für einen Mord! Er ist am hellen Tag, mitten unter vielen Menschen, die in der Nähe waren, zwischen zwei Autos hindurch auf die Fahrbahn getreten und überfahren worden. Das passiert leider relativ häufig, meist bei Kindern. Die Autofahrer haben dann keine Möglichkeit mehr, rechtzeitig zu bremsen, weil sie die Passanten erst wahrnehmen, wenn sie bereits auf der Fahrbahn sind.”

„Es ist gut von Ihnen gemeint, Herr Braun, dass Sie mich beruhigen möchten. Wir dürfen uns jedoch nicht täuschen lassen. Gerade jetzt, wo der erste Mord verübt worden ist, müssen wir doppelt vorsichtig sein. Sprechen Sie bitte einmal mit dem Hausmeister. Er hat mich vor einiger Zeit gewarnt, es werde etwas Schreckliches in diesem Haus passieren. Aber er wollte mir nichts weiter dazu sagen. Vielleicht ist er jetzt, wo tatsächlich etwas passiert ist, eher bereit, sich zu äußern.“

Da Frau Feiner am ganzen Körper zitterte und bleich war, bot Urs Braun ihr an, sie in ihre Wohnung zu begleiten.

„Das wäre wirklich reizend von Ihnen“, bedankte sie sich. „Darf ich mich auf Ihren Arm stützten, mir ist ganz schwindlig vor Aufregung.“

Als sie im zweiten Stock ankamen, wo Frau Feiner wohnte, schloss sie die Tür zu ihrer Wohnung auf und ließ Urs Braun eintreten. Er kam in eine kleine, geschmackvoll eingerichtete Diele, von der aus eine Tür in einen großen, hellen Wohnraum führte, der allerdings recht kärglich eingerichtet war. Er ist in seiner Kärglichkeit eigentlich ein Abbild seiner Bewohnerin, dachte Urs.

In der rechten Hälfte des Raumes stand ein großer Esstisch, auf dem einige Hefte, Blätter und Stifte lagen. Sitzmöglichkeiten boten vier einfach Holzstühle. An der Wand sah Urs einen großen Schrank. Sicherlich ist darin alles in perfekter Ordnung, dachte er, und nicht wie bei mir ein heilloses Durcheinander.

In der linken Hälfte des Raumes standen ein kleiner Couchtisch und eine dunkelgrüne Sitzgruppe mit einem Sofa und zwei Sesseln. Auf dem Boden lag ein dünner, grauer Teppich, der dem Raum den Eindruck einer gewissen Trostlosigkeit verlieh.

Mit einer einladenden Geste bot Frau Feiner Urs einen Platz in einem der Sessel an. Sie selbst setzte sich auf die Couch ihm gegenüber.

„Ich bin froh, dass wir uns noch kurz sprechen können, damit ich Ihnen noch genauer erklären kann, um was es mir geht“, begann sie das Gespräch.

„Ich hatte Ihnen ja vorhin schon anvertraut, dass Herr Schulte mir gesagt hat, es würden in diesem Haus merkwürdige Dinge vor sich gehen. Dieser Mann war mir von Anfang an unsympathisch und auch unheimlich. Mehrmals ist er plötzlich vor mir auf einem Treppenabsatz oder im Keller aufgetaucht, ohne dass ich ihn hätte kommen hören. Er hat mich dann jeweils, ohne ein Wort zu sagen, misstrauisch angeschaut und ist wieder davongeschlurft. Ich habe mich mitunter, wenn er plötzlich, wie aus dem Nichts auftauchend, vor mir stand, entsetzlich erschrocken und habe schließlich vermieden, überhaupt in den Keller zu gehen.”

Frau Feiner stockte und wurde noch eine Nuance bleicher, als sie fortfuhr: „Das alles hätte ich ja noch hingenommen. Aber stellen Sie sich vor, was ich gestern mit ihm erlebt habe: Ich hatte am Nachmittag nur zwei Stunden wahlfrei Latein zu geben – Sie wissen vermutlich, dass ich Lehrerin am Gymnasium am Münsterplatz bin. Deshalb kam ich schon gegen vier Uhr nach Hause. Als ich im Parterre an der Wohnung des Hausmeisters vorbeikam, öffnete er plötzlich die Tür, kam direkt auf mich zu und zischte mir zu: ‚Nehmen Sie sich in diesem Haus in acht! Hier wird ein Mord geplant. Jeder von uns kann das Opfer sein!’ Sie können sich sicher vorstellen, Herr Braun, dass ich vor Schreck fassungslos war. Ehe ich noch ein Wort sagen konnte, war Herr Schulte schon wieder in seiner Wohnung verschwunden, und ich hörte, wie er zweimal abschloss und drinnen noch eine Sicherheitskette vorlegte.”

Frau Feiner zitterte jetzt am ganzen Körper und stieß unter Tränen hervor: „Was soll ich denn nur tun? Zuerst dieser unheimliche Herr Schulte. Und nun auch tatsächlich der Mord an Herrn Schiesser!“ Sie begann hemmungslos zu schluchzen.

„Nun beruhigen Sie sich, Frau Feiner“, versuchte Urs Braun sie zu trösten. „Sie wissen doch, dass der Hausmeister ein extrem ängstlicher und misstrauischer Mensch ist, der überall Gefahren wittert. Deshalb will er ja auch, dass wir immer alle Türen abschließen. Aber das sind doch nur Hirngespinste. Es besteht nicht die geringste Gefahr für Sie oder irgendjemanden in diesem Haus. Wie ich Ihnen vorhin schon gesagt habe, ist Herr Schiesser auch nicht ermordet worden, sondern Opfer eines tragischen Verkehrsunfalls.”

„Es ist aber unerhört, dass der Hausmeister Sie mit seinen eigenen Ängsten in Panik versetzt“, fügte Urs Braun hinzu. „Solange er nur Türen abschließt, geht es ja. Wenn er nun aber mit seinen Fantasiegeschichten auch noch die Mieter in Schrecken versetzt, ist der Bogen eindeutig überspannt!”

Urs Braun hoffte, dass seine Entrüstung wenigstens einigermaßen überzeugend klang. Tatsächlich beunruhigte ihn das, was Frau Feiner ihm berichtet hatte, ziemlich. Sollte sich in diesem Haus wirklich etwas Gefährliches zusammenbrauen?

„Ich verspreche mir eigentlich nichts von einem solchen Gespräch“, gab Urs Braun zu bedenken. „Erstens ist dieser Mann immer sehr abweisend und zugeknöpft. Und außerdem ist doch gar kein Mord verübt worden“, fügte er mit Nachdruck hinzu.

„Bitte sprechen Sie mit ihm“, bat Frau Feiner ihn nochmals inständig. „Ich habe so schreckliche Angst. Herr Schulte hat mir damals ausdrücklich gesagt, ich solle mich in Acht nehmen. Also droht vielleicht auch mir Gefahr. Helfen Sie mir doch bitte!”

Frau Feiner schluchzte wieder hemmungslos und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

„Also gut“, willigte Urs Braun ein, um sie zu beruhigen. „Ich werde mit Herrn Schulte sprechen. Vielleicht äußert er sich mir gegenüber ja tatsächlich etwas präziser als in dem Gespräch mit ihnen.”

Seine Worte beruhigten Adelheid Feiner offensichtlich, und sie drückte Urs Braun dankbar die Hand, als sie ihn zur Wohnungstür begleitete. Er versprach ihr, ihr, sobald er mit dem Hausmeister gesprochen habe, zu berichten, wie das Gespräch verlaufen sei. Außerdem bot er Frau Feiner an, sie könne ihm jederzeit Bescheid geben, wenn sie sich durch irgendetwas bedroht fühle.

3.

Nachdenklich ging Urs Braun zu seiner Wohnung, die im gleichen Stock lag. Er wohnte erst seit drei Wochen in diesem Haus. Urs war in Basel geboren. Seine Eltern waren dann aber mit ihm und seinem jüngeren Bruder nach Karlsruhe gezogen, weil sein Vater dort eine Stelle in einem Ingenieurbetrieb angenommen hatte. Urs hatte in Karlsruhe die Schulen besucht, war aber nach dem Abitur wieder nach Basel zurückgekommen, um an der Basler Universität Psychologie zu studieren.

Nach Abschluss des Studiums hatte Urs in der Ehe- und Familienberatungsstelle in Basel eine Assistentenstelle bekommen und hatte dem Leiter, Walter Steiner, erzählt, dass er eine preisgünstige Wohnung suche. Nicht erwähnt hatte er damals, dass er sich gerade von seinem Freund, mit dem er zwei Jahre zusammengewohnt hatte, getrennt hatte. Herr Steiner hatte ihm daraufhin den Tipp gegeben, sich mit einer Immobilienfirma in Verbindung zu setzen. Er habe kürzlich zufällig in einer Anzeige gelesen, dass in der Laufenstraße im Dachgeschoss ein Appartement frei geworden sei.

Urs Braun erinnerte sich noch gut daran, dass er ziemlich entsetzt gewesen war, als er bei dem Haus angekommen war, in dem eine der drei Dachwohnungen zu vermieten war. Er hatte sich ein großes, helles Mehrfamilienhaus vorgestellt und sah sich nun einem alten, verwahrlost wirkenden Haus gegenüber. Im Haus selbst war es düster gewesen. Durch die kleinen Fenster war nur spärliches Licht in das Treppenhaus gefallen, das einen noch verwahrlosteren Eindruck gemacht hatte als das Äußere des Hauses. Die blassgrüne Farbe der Wände war an vielen Stellen abgeblättert, und obwohl es scharf nach einem Putzmittel roch, hatte alles ungepflegt und unsauber gewirkt.

Der Angestellte der Maklerfirma hatte seinen entsetzten Blick bemerkt und hatte ihn mit dem Hinweis, das Haus werde sicher „demnächst einmal“ renoviert, zu beschwichtigen versucht. Sie waren die knarrende Treppe bis zum zweiten Stock hinaufgestiegen, und Urs Braun war eigentlich fest entschlossen gewesen, das Appartement auf keinen Fall zu nehmen.

Beim Hinaufsteigen hatte er bemerkt, was ihm neben dem schäbigen Eindruck am meisten zusetzte: Es war ein unangenehmer Essensgeruch, um nicht zu sagen Gestank, wie von abgestandenem Kohl und ranzigem Fett, der bei ihm fast Übelkeit ausgelöst hatte. Es war pure Höflichkeit von ihm gewesen, nicht auf der Stelle kehrt zu machen, sondern dem Angestellten der Maklerfirma bis ins Dachgeschoss zu folgen. „Keine zehn Pferde werden mich in dieses Haus bringen!“, hatte er bei sich gedacht.

Als sein Begleiter eine der Wohnungstüren im Dachgeschoss geöffnet hatte, war Urs Braun völlig perplex gewesen. Sie waren in einen großen, hellen, holzgetäfelten Wohnraum getreten, mit einem herrlichen Blick über das Gundeldingerquartier in Basel. Etwas so Schönes hatte er nach dem Gang durch das schäbige Treppenhaus hier oben niemals erwartet. Auch das kleine Schlafzimmer war hell, mit einem schönen Blick über Basel. Der Angestellte hatte über den verblüfften Gesichtsausdruck von Urs Braun geschmunzelt und hatte ihn voller Stolz in ein ganz in rosa gehaltenes kleines Badezimmer geführt.

„Vielleicht gefällt Ihnen die Wohnung ja nun doch“, hatte er lächelnd gemeint, „zumal sie mit 400 Franken preislich sehr günstig ist. So etwas bekommen Sie in Basel so schnell nicht wieder.”

Urs Braun hatte ihm Recht geben müssen und hatte gleich am folgenden Morgen in der Maklerfirma den Mietvertrag unterschrieben. Dabei hatte ein anderer Angestellter nur beiläufig erwähnt, sie würden Herrn Schulte, dem Hausmeister, Bescheid geben, dass Herr Braun am ersten März einziehe. Herr Schulte sei „kein ganz Einfacher. Aber Sie werden schon mit ihm zurechtkommen.“

„Nun wohne ich seit drei Wochen in diesem Haus“, murmelte Urs, als er die Tür zu seinem Appartement aufschloss und, wie jedes Mal, wenn er seine Wohnung betrat, überwältigt war von dem herrlichen Blick über das Quartier.

Tatsächlich war der Hausmeister Heinrich Schulte kein „Einfacher“, wie der Angestellte der Maklerfirma es umschrieben hatte. Urs Brauns Wohnungsnachbarin Rosi Mittermann, eine 21jährige junge Frau, die eine Lehre in einer Drogerie machte, hatte ihm bei ihrem ersten Gespräch anvertraut, dass die Hausbewohner sich, sobald Herr Schulte sich im Treppenhaus sehen ließ, so schnell wie möglich in ihre Wohnungen zurückzögen.

„Er ist so etwas von unfreundlich und irgendwie geradezu unheimlich! Das kannst du dir kaum vorstellen“, hatte sie gesagt. „Wenn man ihm begegnet und ihn grüßt, bringt er entweder nur ein ärgerliches ‚Mh’ hervor und schlurft, ohne einen anzuschauen, weiter. Oder er fängt an - und das passiert am häufigsten -, einen mit einer Flut von Vorwürfen zu überhäufen.”

In den Wochen, seitdem Urs Braun in diesem Haus lebte, hatte er von den anderen Bewohnern die wildesten Geschichten über Heinrich Schulte gehört. Offenbar hatte er sich vor vielen Jahren wegen seines Asthmas vorzeitig pensionieren lassen müssen und war dann Hausmeister in diesem Haus geworden. Seine Frau sei ihm nach nur dreijähriger Ehe davongelaufen. Sie habe seine dauernde Nörgelei nicht mehr ertragen. „Sie war klug genug, reißaus zu nehmen und ihn im eigenen Saft schmoren zu lassen“, hatte eine Frau aus dem Nachbarhaus Urs Braun zugeflüstert, als eines Tages das Gespräch auf Herrn Schulte kam.

Der Hausmeister lebte nun schon viele Jahre allein in seiner Drei-Zimmer-Wohnung im Parterre. Keiner von den Hausbewohnern oder Nachbarn hatte diese Wohnung je betreten, und es rankten sich manche Gerüchte darum, wie es dort wohl aussehe. Einige Nachbarinnen aus dem gegenüberliegenden Haus meinten gesehen zu haben, dass Herr Schulte die Möbel mit weißen Tüchern abgedeckt habe und nur einen Stuhl in der Küche und das Bett im Schlafzimmer benutze. Andere flüsterten sich zu, die Wohnung sei voll mit altem Gerümpel und es herrsche dort das totale Chaos.

Urs Braun war eigentlich egal, was der Hausmeister in seiner Wohnung machte und wie es dort aussah. Aber auch er war, wie die anderen Hausbewohner, froh, wenn er ihm nicht begegnete. Herr Schulte war ihm schlicht und einfach unsympathisch.

Gesprochen hatte Urs Braun mit dem Hausmeister eigentlich nur einmal, und zwar am Tag, als er eingezogen war. Er war noch mit Freunden beschäftigt, die Möbel und die Kisten mit Büchern, Geschirr und Küchengerät in die Wohnung im zweiten Stock hinaufzutragen, als er Heinrich Schulte ächzend die Treppe hinaufsteigen hörte.

„Immer diese verfluchte Treppensteigerei“, schimpfte der Hausmeister vor sich hin. Nach jeder dritten Stufe machte er Halt und versuchte seinen rasselnden Atem zu beruhigen.

„Kommen Sie runter!“, hatte der Hausmeister gerufen, „ich laufe Ihnen doch nicht bis in den zweiten Stock nach!”

Als Urs Braun dann in den ersten Stock heruntergekommen war, sah er sich einem kleinen, vierschrötig wirkenden Mann mit schütterem Haar undefinierbarer Farbe und gedrungenem Körperbau gegenüber, den er nie und nimmer auf sein wahres Alter von 53 Jahren, wie er es später von seiner Wohnungsnachbarin Rosi Mittermann erfuhr, geschätzt hätte. Urs Braun hatte den Hausmeister gut und gerne für 10 Jahre älter gehalten. Heinrich Schulte wirkte körperlich verbraucht und verbreitete um sich herum eine missmutig-gereizte Atmosphäre.

Als sie sich im ersten Stock getroffen hatten, hatte der Hausmeister ihn durchdringend angeschaut und ihm, ohne ein freundliches Wort zur Begrüßung zu sagen, ein Schlüsselbund gegeben. „Geben Sie Obacht, dass kein Schlüssel verloren geht. Dafür haften Sie!“ Daraufhin hatte er sich umgedreht und war wieder unter Schnaufen und Schimpfen die Treppe hinuntergestiegen.

Mit Schrecken stellte Urs Braun mit einem Blick auf seine Uhr fest, dass es schon fast 16 Uhr war. Es war Samstag und er musste unbedingt noch Einkäufe für das Wochenende machen. Er griff seine COOP-Einkaufstasche mit dem aufgedruckten Korb mit Obst und Gemüse und stieg die Treppe hinunter. Gerade als er im ersten Stock an der Wohnung von Kerners vorbeikam, öffnete sich die Tür und Claudia Kerner kam heraus.

„Hallo, Urs,“, begrüßte sie ihn freundlich.

Claudia Kerner war eine 25jährige kleine, sportlich gekleidete Frau mit kurzen schwarzen Haaren, die als Krankenschwester im Kinder-Universitätsspital arbeitete. Sie war erst seit einem guten halben Jahr mit ihrem Mann Martin, einem 28jährigen Büroangestellten, verheiratet. Die beiden bewohnten im ersten Stock die größere der beiden Wohnungen. Wie er von einer Einladung bei Kerners her wusste, hatten Claudia und Martin bisher nur die wichtigsten Möbel angeschafft und waren dabei, nach und nach ihren Haushalt zu vervollständigen. Wahrscheinlich haben sie eine so große Wohnung genommen in Erwartung der Kinder, die sie planen, Fragen, mit denen ich mich als schwuler Mann glücklicherweise nicht auseinandersetzen muss, hatte Urs damals gedacht.

Urs Braun hatte den Abend bei Kerners sehr anregend gefunden und hatte bei diesem Anlass die anderen jüngeren Hausbewohner kennengelernt. Claudia und Martin hatten nämlich außer ihm noch Paul Ehlert, einen 37jährigen schwulen Krankenpfleger, der in der zweiten Wohnung im ersten Stock wohnte, und seinen allerdings nicht mit ihm zusammenlebenden Partner Klaus Wagner, einen bei einer Versicherung arbeitenden Nationalökonomen, sowie die Nachbarin von Urs im zweiten Stock, Rosi Mittermann, eingeladen.

Das im Parterre wohnende Ehepaar Schiesser, er 74 Jahre und sie 68 Jahre alt, und die kurz vor Urs Braun in die Wohnung im zweiten Stock eingezogene Lehrerin Adelheid Feiner waren nicht mit von der Partie gewesen. Sie lebten offenbar ziemlich zurückgezogen und pflegten mit Kerners keinen privaten Kontakt. „Das Ekel“, wie Claudia und Martin den Hausmeister Heinrich Schulte nannten, der wie Schiessers im Parterre wohnte, war natürlich ebenfalls nicht eingeladen.

„So, du musst auch noch für das Wochenende einkaufen?“, meinte Claudia, während sie mit Urs zusammen die Treppe hinunterging. „Ich habe auch noch etliches zu besorgen“, fuhr sie, ohne seine Antwort abzuwarten, lebhaft fort. „Martin sitzt wieder mal an seinem Computer und surft im Internet umeinander. Er sagt, er müsse irgendwelche Wirtschaftsinformationen zusammensuchen, die er für eine Sitzung am Montag braucht. Ich bin aber ziemlich sicher, dass er wahrscheinlich schon längst in Facebook ist oder bei seinen Computerspielen gelandet ist. Er ist ganz angefressen davon. Bist du auch so ein Computerfreak?”

„Nein“, gestand Urs fast schuldbewusst. „Ich habe ziemlich wenig Ahnung von Computern. Im Studium habe ich zwar gelernt, mit dem Computerschreibsystem zu arbeiten. Vor einiger Zeit habe ich auch mal einen Internet-Kurs besucht. Eigentlich interessiert mich die Computerwelt aber, um es ehrlich zu sagen, wenig.”

Hoffentlich sieht mir Claudia nicht an, dass dies nicht ganz wahr ist, dachte Urs, da er mitunter stundenlang in Gay-Chaträumen zubrachte.

„Dafür musst du dich doch nicht entschuldigen“, lachte Claudia und klopfe Urs tröstend auf die Schulter. „Ich kann mit der Kiste zwar umgehen, finde sie aber entsetzlich langweilig. Es gibt doch, weiß Gott, interessantere Dinge im Leben als Computerschreibsysteme, Internet und E-Mails.”

„Da hast du Recht, Claudia“, stimmte Urs ihr, wenn auch halbherzig, zu. „Sag Martin einen Gruß. Bis bald. Ciao.”