Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Viertes Buch

IX

Inhaltsverzeichnis

Gustav hatte einen Freund. Jener Werner, der an dem schlimmen Abend damals in Quinta mit Armen und Worten umsonst an seine Ehre appeliert hatte, ärgerte sich so lange an dem unbegreiflichen Behrendt, bis er ihn liebgewann.

Gustav hegte schon lange eine heimliche Verehrung für den stolzen Kameraden, der der Stärkste war unter allen Tertianern. Es verdroß ihn, klein zu sein und zu kurzbeinig, um beim Barlauf so zu sausen wie jener. Es war Scham und Neid in seiner Verehrung für Werner, und so wußte er sich ihm nicht zu nähern.

Da sah ihm Werner einmal beim Turnen zu, wie er Klimmzüge am Reck machte. Anfangs lachte er über Gustavs Grimassen und meinte, seine Kräfte würden bald erschöpft sein. Als aber der Kleine, der mehr Kraft als Gewandtheit besaß, zum allgemeinen Erstaunen sich immer wieder langsam in die Höhe zog, bis sein Kopf über die Stange schaute, machte Werner große Augen.

Er fing den Herabspringenden auf und nahm ihn in einen Winkel hinter den Kletterstangen, streckte ihm seine große braune Hand hin und sagte: „Wir wollen Freunde sein, kleiner Behrendt.“

Froh wie noch nie kam Gustav diesen Abend nach Haus. Er hatte in seinem Zimmer, das er nun allein bewohnte, seit Rudolf in München studierte, mit einem Mal alle Gegenstände lieb, den großen Tisch mit dem nüchternen Wachstuch, die Ofenstukkatur, die einen Schäfer und sein Lamm vorstellte, die Troddeln am allzu rundlichen Sofa und in der Fensterecke das alte Pult, an dem er seit Jahren seine Schularbeiten machte und das ihm nachgerade etwas eng und niedrig geworden war.

Vorm Schlafengehen setzte er sich noch einmal an das Pult, schlug die Klappe hoch, die innen schon recht schäbig aussah von all den Rillen, die er mit dem Federmesser hineingeschnitten hatte, nahm den Band Schiller, in dem Don Carlos stand, vom Regal und las von den beiden Freunden, bis ihm die Augen zufielen.

Noch beim Zubettgehen war er glücklich, während ihn sonst immer das lästige Kleiderausziehen mißmutig gemacht hatte. — Er hätte sie lieber angelegt und abgeworfen, statt auf, und zuzuknöpfen. — Er glättete seine Sachen sorgsam und tat sie ordentlich übereinander. Und im Einschlafen wurde ihm der müde Takt der alten Wanduhr ein Lied.

Durch Werner kam in Gustavs Leben eine Periode der Rüstigkeit und Freude an Kraftanspannung. An der Seite des Freundes vergaß er alles, was ihn sonst grämte. Er schlief fest und traumlos und freute sich beim Erwachen auf Werner.

Als es Sommer wurde, trafen sich die beiden früh vor der Schule in einer Schwimmanstalt, die dicht am Walde im Weichbild der Stadt lag. Es war so schön, durch den kühlen Morgen und leere Straßen zu laufen, mit der ersten Trambahn, in der nur ein paar Arbeiter und Bäckermädchen saßen, hinauszufahren zu dem Freunde, der am Walde wohnte, und dann mit ihm, dem stärkeren, schöneren, um die Wette zu schwimmen, die Morgensonne auf seiner blanken Schulter spielen zu sehen, und wenn Werner ihn mit kräftigen Stößen eingeholt hatte und umklammerte, die köstliche Lust des Besiegten zu erleben.

Nachmittags erledigten sie rasch mit Arbeitsteilung die lästigen Schulaufgaben und fanden dann im Garten Werners oder in einem stillen Winkel des Tiergartens eine Bank, umeinander vorzulesen oder von dem Leben künftig in der Freiheit zu sprechen.

Werner wollte später in die deutschen Kolonien, um in vielen Abenteuern und Gefahren dem Vaterlande zu dienen. Jedenfalls wollte er zur Marine, wenn sein Dienstjahr käme. Und Gustav sollte mit ihm. Er wuchs ja jetzt und würde bis dahin auch groß und stark werden.

Werner erzählte von Norwegen, wo er als Kind gewesen war, und las Bücher über Nordpolreisen. Gustav interessierte sich mehr für die Nilquellen und Tibet. Aber jedenfalls würden sie alle ihre Entdeckungsfahrten zusammen machen.

Gustav sah den Freund im weißen Burnus des Arabers durch die Wüste reiten, in der schönen blauen Uniform des Seeoffiziers im Sturm auf der Kommandobrücke stehen. Die Lisa Petrowna war ganz vergessen. Die Jungen, die Backfischen nachgingen, verachtete er.

Im Herbst kam dann jener Abend, der zum Gipfel dieser Freundschaft führte und mit dem ihr Niedergang begann.

Die beiden waren lange an den Seen und Büschen des Tiergartens umhergezogen und hatten von den Brücken im Wasser zwischen Baumschatten ihr Doppelspiegelbild angeschaut. Sie kamen nach Westen auf lange Alleen und sprachen von ihren Wünschen und Sehnsüchten, wie die Jünglinge des achtzehnten Jahrhunderts, die einander „ihr ganzes Herz“ zu sagen pflegten.

Als sie dann zuletzt bei einfallender Nacht unter einem Baum am Wege saßen, dicht aneinander gelehnt, legte Wemer seinen Arm um die Schulter des Freundes und sagte: „Gustav, dir, meinem einzigen Freunde, muß ich ein Geheimnis anvertrauen.“

Und dann begann er ihm seine Liebe zu einer „höheren Tochter“ zu beichten, mit der er sich vor einigen Tagen heimlich versprochen hatte. Er und sie konnten sich bis jetzt nur selten und wenig sehen, aber sie wollten einander fürs Leben angehören. Alle Hindernisse, die die Welt zwischen sie stellte, wollten sie überwinden. „Sie wird mit uns durch die Meere reisen und Not und Gefahr teilen. Ich habe ihr viel von dir erzählt. Sie liebt dich auch, Gustav.“

Er zog eine Photographie aus der Brusttasche, die ein junges Mädchen im Konfirmationskleide, ein Kreuz auf der Brust, vorstellte. Sie sah dem Werner ähnlich. Darüber wollte Gustav sich freuen, aber er fühlte, daß es ihn im Innersten peinigte.

Der Arm des Freundes auf seiner Schulter wurde ihm mit einem Mal lästig, Werners Offenherzigkeit und Vertrauen berührte ihn wie eine heimliche Lüge. Alles, was der andre über seine Liebe zu dem Mädchen vorbrachte, die ganze Geschichte von Sehen und Wiedersehen, von Bekanntwerden und Begleitendürfen, von gemeinsamer Furcht und geteiltem Glück war ihm, er wußte nicht weshalb, zuwider. Er mußte bei manchen Worten des Freundes an den Abschnitt über Liebe in Schillers Glocke denken, den sie kürzlich auswendig gelernt hatten. Ihn überkam das eisige Gefühl: Hier liege ich neben einem ganz fremden, langen Jungen. Es fiel ihm ein, daß es Zeit war, nach Hause zu gehen.

IX

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Am andern Morgen verließ er die Stadt und trat eine Schweizer Reise an. Im Coupé schlief er ein paar Minuten ein: da hörte er ganz deutlich und nahe das Rauschen der vielen alten Brunnen. Und das blieb dann als Sinnbild dieses Frühlings und dieses Aufenthaltes in seiner Erinnerung: immer weiter rauschende Brunnen und Vergessenheit und Glück ohne Grund.

Als er in Basel ankam, fand er alle Hotels an der Bahn besetzt. Er ging lange Avenuen und Straßen voll Schokolade- und Leckerliplakaten stadteinwärts, fand auch die kleineren Gasthäuser überfüllt, und als er einmal verwundert fragte, was denn in Basel Außerordentliches zu sehen wäre, daß so viel Fremde kämen, sagte eine ehrenfeste Wirtin: „Ja, das sind doch die Herren Zionisten. Ist der Herr nicht auch Zionist?“

Schließlich fand er in einem kleinen Gasthaus — es hieß „zum Charon“ — ein Zimmerchen, in dem er eine Weile darüber nachdachte, ob er ein Zionist wäre oder nicht. Da er nun einmal hierhergeraten war, so beschloß er, immerhin den Kongreß zu besuchen. Er kam noch gerade zu einer Nachmittagssitzung zurecht.

Unter den vielen versammelten Stammesgenossen fielen ihm zwei Typen auf, die in mehreren seltsamen Individuen von der Masse der üblichen runden und spitzen Schädel abstachen. Die einen sahen aus wie Stiche und Daguerrotypien begabter politisch interessierter Jünglinge und Männer aus den vierziger Jahren. In Familienalben gab es bisweilen solch einen bedeutenderen Großonkel, von dem die Angehörigen zu rühmen wußten, daß er im Frankfurter Parlament eine Rolle gespielt hatte oder mit Lassalle oder Marx befreundet gewesen war. Zu diesen Köpfen gehörten eigentlich altfränkische breite Krawatten. Ihre moderne Tracht störte sein Auge.

Die andre Menschenart war ihm ganz neu: abgezehrte Gesichter, in denen die schmale Nase zwischen den Seitenlocken schmerzhaft vorragte, die Augen tief lagen und die Stirn voll Falten war über angestrengt hochgezogenen Brauen. Diese blassen Köpfe mit meist rötlichblondem Haar ragten aus rabbinischen Kaftanen. Sie mochten wohl aus ziemlich fernem Galizien und Rußland kommen. Ihr Anteil an dem Vortrag des Redners interessierte ihn besonders: zu jeder Nuance hatten sie eine billigende oder abwehrende Miene. Sie schienen unter irgend was Unhebräischem, mindestens Untalmudischen der Rede zu leiden, auf die Gustav sich nun zu konzentrieren bemühte.

Der Sprecher, ein berühmter Führer der Bewegung, trug genau den Kopf, den Gustavs Phantasie immer dem Moloch gegeben hatte: glühend karthagisch, Locken wie aus Bronze, Augen wie eingelegte Steine, schlürfende, schleudernde Lippen. Er hatte den Vorschlag einer europäischen Regierung zu vertreten, die heimatlosen Juden einstweilen in Afrika anzusiedeln, bis sie nach Zion heim konnten. Er beklagte es, nichts Besseres anzubieten zu haben, wollte aber wenigstens eine Untersuchungskommission wählen lassen, die dieses provisorische Zion bereisen sollte. Man merkte seinem mühsam strengen Ton an, wie stark er den Widerstand der echten Zivilisten fühlte. Aber es schien seine Pflicht, den Antrag vorzubringen.

Es wurde abgestimmt, Hände wurden emporgeworfen, Stimmen gesammelt. Viele sprangen rechts und links von Gustav auf. Und durch die bewegte Menge tönte plötzlich, erst scharf von wenigen angehoben, dann breit von vielen mitgesungen, ein fremdartiges und fremdsprachiges Lied. Und Gustav sah, wie eine ganze Reihe Kaftane und Röcke zu den Saalausgängen drängte. Durch das Geschiebe der Gestalten blitzten weiße Blicke des Entsetzens und Abscheus.

Noch ehe er ganz begriffen hatte, was eigentlich vorging, war seine Sympathie bei diesen Protestierenden. Ihre heftigen Bewegungen gefielen ihm wohl: das war nicht die verkümmerte Ghettogebärde; das gemahnte an Zeiten und Welten, in denen man Haar und Bart ausraufte, Asche aufs Haupt streute und sich an die Brust schlug.

In der Vorhalle betrachtete er einen blassen rothaarigen Rabbiner, der abseits stand und vor sich hinmurmelte. Er wäre gern zu ihm getreten, sich von ihm belehren zu lassen. Aber die strenge Schönheit des Fremden schüchterte ihn ein.

Nachdenklich ging er hinaus auf eine breite heiße Straße und hinunter zum Fluß. Auf der Rheinbrücke überlegte er, ob er bleiben oder gleich weiterreisen sollte ins Berner Oberland. Er war doch wegen der Alpen in die Schweiz gekommen. Aber noch hatte er keine Reiselust.

Er geriet in eine schmale Gasse, die abwärts führte, und blieb vor einem Spezereiladen stehn, in dessen Fenster ein Goldfischbassin zu sehen war und darüber auf einem Brett Holzspielzeug, Spagatrollen und Gläser voll bunter Bonbons.

„Wenn ich ein kleiner Bube wäre, könnte ich jetzt da hineingehn, dachte er, und mir für zehn Pfennige was kaufen. Warum bin ich denn erwachsen? Und seit wann?“

Und wieder besah er das liebe Allerlei der Auslage. Da waren noch Nudeln, gezackte und runde, neben Kinderbällen und Tuchproben, und weiter Behälter mit Lindenblütentee und Kamillen und Korinthen.

Als Kind wurde man in solch einen Laden geschickt, und da stand dann eine gute alte Frau im Umschlagetuch, die gab einem zu dem, was man einholen mußte, obendrein ein strotzendes Bonbon oder schwarze Lakritze oder ein Stück von dem schotenförmigen Johannisbrot, das eine so überraschende Folge von faden und beizenden Geschmäcken bietet.

Entschlossen ging Gustav in den Laden, kaufte Bonbons und wanderte mit seiner Düte glücklich durch die winkligen Gassen weiter.

Abends speiste er auf einer Terrasse überm Rhein, sah auf die Häuser und Gärten drüben am Ufer und dachte an alles andre als an Zion.

Da hörte er am Nebentisch ein paar Herren von einer Versammlung der Strenggläubigen sprechen, die spät in einem kleinen Gasthaus stattfinden sollte.

Da wird gewiß der blasse Rabbi von heut mittag sein, meinte er. Den wollte er gern noch einmal sehn, vielleicht mit ihm reden.

Er fand die Stätte: ein kahles Wirtszimmer voller Schwarzröcke und Kaftane. Er nahm seinen Hut ab, wofür er böse Blicke von den Nachbarn bekam. Da tat er ihn schnell wieder auf. Alle Männer umher hatten die Köpfe bedeckt.

Ein Arzt aus Kischinew stand auf dem Podium und sprach von dem Pogrom, dessen Erwähnung auf dem Kongreß unterdrückt wurde. Er schilderte in dem altertümlichen Deutsch der russischen Juden den Mord der Männer, die Schändung der Frauen, das Schlachten der Kinder. Er begleitete seinen Vortrag mit eindringlich beschreibenden Gesten. Gustav versuchte teilzunehmen und mitzufühlen, aber er war nur entsetzt und befremdet.

Er sah umher, ob er nicht irgendwo den Rabbi entdeckte, aber vergebens. — Wäre er hier, wäre ich neben ihm, vielleicht würde ich das alles mit erleben, die gemeinsame Sache würde auch meine Sache werden. O, dieser magre Asketenkopf mit den brennenden Locken und Augen war so schön, schöner als der Traum-Christus damals auf der Vorstadtwiese, wirklicher! Ich bin ein Schüler. Ich brauche einen Meister. Er würde mich lehren. Mit ihm würde ich vielleicht nach Zion reisen, statt morgen ins Berner Oberland. —

Er ging traurig fort und heim. Es war doch schrecklich, daß er nirgends hingehörte, daß ihm „die ganze Welt offen lag“, wie die Leute sagten.

Im Einschlafen fiel ihm wieder die winklige Gasse vom Nachmittag ein und der glückhafte Kramladen und dazu Kinderreime aus dem Wunderhorn.

Morgens überraschte es ihn, daß er weder in seinem Berliner Bett, noch im Freiburger Garten, zimmer aufwachte, sondern im „Charon“.

Mit einmal hatte er alle Lust aufs Berner Oberland verloren. Und er gab die ganze Schweizertour auf und reiste noch am selben Tage zu seinem Vater in das Nordseebad.

IX

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Vortrefflich also, daß Sie an die Bahn gekommen sind, lieber Gustav,“ sagte Dören, „wir hatten es kaum erwartet. Haben erst im letzten Moment telegraphiert.“

„Ja, vortrefflich, mein Verehrter“, sagte der lange Schwettau.

„Es wundert mich selbst, daß aus der Münchner Reise was wurde,“ fuhr Dören fort, „eigentlich sollte ich nach Budapest in väterlichen Geschäften. Na, die Sache ließ sich brieflich erledigen. Es wird genügen, wenn ich übermorgen Weiterreise. Und hier habe ich auch dringende Affären: Hier lebt nämlich eine Dame, die will sich also — von Zeit zu Zeit was antun. So eine Art Quartalweltschmerz. Da muß ich schnell nach dem Rechten sehn. Wir werden bei ihr wohnen. Übrigens eine famose Frau, geschieden und lebenslustig bis auf den zeitweiligen Weltschmerz. Kommen Sie nur gleich mit. Das wird Sie interessieren.“

Der Wagen fuhr die Maximilianstraße hinauf.

„Angenehme Stadt,“ sagte Dören, „Straßen etwas leer. Sieht immer noch so aus wie vor zehn Jahren, als ich zuletzt hier war. Da ist ja auch das talentvolle Palais.“

Schwettau fand es ähnlich den „Kulissenhäusern, die für Feuerwehrübungen aufgebaut werden.“

Bei der geschiednen Frau trafen die Herren viel Gesellschaft an. Frau Nier schenkte ihnen gleich Sekt ein. Sie war sehr groß und hatte ein blasses rundes Puppengesicht mit kleinen glänzenden Augen. Sie nahm Dören bereite in ein Nebenzimmer, um Ernstes mit ihm zu besprechen.

Ein alter Hofschauspieler unterhielt Schwettau von dem neugebauten Festspieltheater.

Eine dicke Sängerin fragte Gustav nach seinem Bruder Rudolf. „Er hat mir eine Komposition versprochen, ein Lied in meiner Lage. Er kennt meine Stimme gut. Ich habe damals seine Lieder kreiert. Wir hatten durchschlagenden Erfolg. Aber der Undankbare hat sein Versprechen vergessen. Schreiben Sie ihm, schreiben Sie ihm bald. Wir könnten ihm gleich alle eine Karte schreiben!“

Frau Nier erschien wieder und stellte einen jungen österreichischen Offizier vor. Der glaubte Gustav vom Sehen zu kennen. „Sie leben doch da draußen, schon fast am Land, nicht wahr, bei der geistvollen Dame, wie heißt sie doch? Mein Freund, der Lulu, kennt sie.“

Dadurch wurde die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf Gustav gelenkt. Man bat ihn, die Broderson mitzubringen zum nächsten Donnerstagtee. Man wollte ihr vorgestellt sein. Man bedauerte dann, daß sie jetzt gerade auf dem Land wäre.

„Sie soll ein so originelles Künstlerheim haben,“ sagte ein rundlicher Bankier, „man erzählt von einer indischen Wiege, die sie von der Weltreise mitgebracht habe.“

Man wollte gern die berühmte Sibylle kennen lernen. Ob die wirklich in Konstantinopel geboren wäre?

Ja, das wußte Gustav nicht. „Aber die Wohnung,“ sagte er, „ist sehr einfach. Ich wohne jetzt ganz allein darin.“

„Ach, das muß originell sein!“

Dören schlug vor, Gustav morgen zu besuchen in der originell einfachen Wohnung. Alle Welt war einverstanden. Man wolle ein Picknick veranstalten.

Dem Gustav graute ein wenig vor den vielen Leuten. Aber was sollte er tun?

Der österreichische Offizier bedauerte, daß sein Freund Lulu nicht von der Partie sein konnte. Das war ein so amüsanter Mensch. „Der unterhält Ihnen also ganz allein eine ganze Gesellschaft.“

Am nächsten Morgen wachte Gustav von einem Kuß auf. Sibylle saß auf seinem Bett und lachte. Gerda stand in der Tür. Sie war gekommen, einen durchreisenden Vetter in München zu begrüßen.

„O Gott,“ sagte Gustav, „Sie werden mir böse sein! Was habe ich angerichtet!“ Und er erzählte die bevorstehende Abendgesellschaft.

„Das paßt ausgezeichnet,“ sagte sie, „der Herr Vetter macht gern, was man ,Betrieb‘ nennt. Der wird sich mit Ihren Schauspielern, Leutnants und geschiednen Frauen gut verstehen. Stan kommt vielleicht auch noch. Der kann dann seine Kochkünste entwickeln.“

Am Spätnachmittag kam der Vetter, ein jovialer Landjunker. Er hatte einige Flaschen alten Bordeaux mitgebracht, der vor allem gleich gewärmt werden mußte. Am besten an einem richtigen Kamin. Aber das gabs ja hier nicht. Für Gasherd war das Weinchen eigentlich zu schade.

Eine Stunde später erschien Stan, begleitet von einer rothaarigen Engländerin, die sehr entzückt war, die Broderson kennen zu lernen. „O, ich habe soviel von Ihnen gehört, o ich bin froh, Sie zu sehn.“

„Wir haben Karpfen mitgebracht“, sagte Stan.

„O, er wird kochen“, rief die Miß. „Es wird sehr interessant sein.“

Stan wirtschaftete gleich in Hemdsärmeln am Herd im Flur. Die Miß lorgnettierte seine Hände, die die Karpfen abschabten. „O, wie ist es interessant!“ rief sie von Zeit zu Zeit aus.

Nun klingelte es alle fünf Minuten. Und alle kamen an. Damen, Schauspieler, Leutnant, Bankier, zuletzt Dören und Schwettau, beladen mit Paketen.

Zu dem hors d'œuvre wurde Sekt getrunken, zu den Karpfen des Vetters alter Bordeaux. In drei Zimmern waren Tische gedeckt.

Der Kommerzienrat bewunderte Sibylles Wiege, obwohl sie nicht indisch, sondern nur balkanisch war. Die geschiednen Frauen bestaunten bulgarische Stickereien. Dören und der Vetter redeten sachlich von Weinsorten.

Mit einmal war Lieschen da. Die wollte Gustav zum Kabarett abholen. Aber als sie so lustige Gesellschaft fand, zog sie es vor, zu bleiben und mitzutrinken. Schwettau interessierte sich gleich sehr für sie: und es dauerte gar nicht lange, so saß sie auf seinem Schoß. Er hielt sie eckig umschlungen und ließ sie durch sein Monokel in die Welt schauen.

Der Hofschauspieler suchte die Miß für seine Erfolge auf der neuen Bühne zu erwärmen. Aber sie sank immer wieder an Gerdas Brust, sah Stan mit verglasten Augen an und rief: „Oh, wie ist er interessant!“

Frau Nier legte ihren Arm dem jungen Leutnant um die Schulter und ließ sich von seinem Freund Lulu erzählen.

Um Mitternacht lud Stan die ganze Gesellschaft in sein Atelier ein. Es war ja nicht weit von hier, und bei ihm gab es türkischen Kaffee.

„Ich kann aber mein Kind nicht allein lassen,“ sagte Gerda. Gustav erbot sich, bei Sibylle zu wachen. Das fand man rührend.

So saß er denn mit einemmal allein neben Sibylles Bett in Gerdas Schlafzimmer, das er die ganze Zeit nicht betreten hatte. Er las bei einer Kerze, ohne zu verstehn, was er las. Der Vetter hatte die letzte Flasche Bordeaux vor ihn auf den Tisch gestellt. Davon trank er von Zeit zu Zeit einen Schluck. Dann neigte er sich wieder zu dem schlafenden Kind.

Als seine Flasche leer und das Licht heruntergebrannt war, schlief er mit dem Kopf am Fußende des Kinderbettes ein.

Im Traum saß er zu Füßen der Mutter auf der kleinen Fußbank, und Rudolf zeigte ihm in einem Bilderbuch alle die Gestalten von heut abend, die dann aus den Blättern hervorspazierten, lachten und tranken.

Er fuhr auf und sah Gerda vor sich stehn. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und küßte ihn.

Er wollte ihr soviel sagen, aber er brachte immer nur ihren Namen vor: „Gerda, Frau Gerda!“

„Sei nur still, guter Gustel,“ flüsterte sie, „du weckst ja das Kind auf.“

Er küßte ihre Hände und als sie sich ihm entzogen, ihr Kleid. Er war ganz selig vor lauter Unglück.

Sie suchte abzulenken, sie sprach von den andern. „Die meisten Menschen sind nur fidele Hühner“, resümierte sie.

Aber er wußte nur von ihr und sich und stammelte immer wieder: „Ich lebe gar nicht. Ach, gebt mir doch zu leben. Ich habe mich schon als Kind umgebracht. Wovon soll ich nun leben?“

Schließlich brachte sie ihn hinüber in sein Zimmer und legte ihn zu Bett wie ein Kind. Er phantasierte trunken weiter von der Mutter und Gott und ihr.

„Ich hätte ihm doch den guten Ball opfern sollen“, sagte er zuletzt und schlief unter Gerdas Händen ein.

Am andern Tage war er recht niedergeschlagen. Aber die gütige Frau behandelte ihn schonend und unbefangen.

Es war ein herrlicher Junitag. Stan kam sie abzuholen in den Englischen Garten. Er erzählte noch viel von den Gästen. Dören war mit der Miß an den Starnberger See gefahren. Schwettau wollte morgen nach Wien und das Lieschen sollte ihn begleiten.

Gustav durfte die Sibylle auf dem See rudern. Er sah verloren in ihr sonnengelbes Haar, das im Abendwind wehte.

Auf dem Heimweg gab es Sternschnuppen zu sehen. Sibylle jauchzte immer, wenn wieder eine fiel.

„Ach, Sibylle,“ sagte Gustav, „heute sehen die Sterne aus wie Glühwürmchen.“

Das Kind, das gerade anfing, Himmelskunde zu lernen, sagte nachdenklich: „Also leben wir auf einem Glühwürmchen.“

VI

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Aber Marianne kam und fragte nicht nach gestern. Sie nahm ihn mit auf die Oktoberwiese.

Es war einer der ersten Wiesentage. Viel Volk trieb umher, und die beiden wurden von der Menge mitgeschoben ins Zaubertheater.

Gustav war noch nicht recht wach. Er gab gar nicht acht auf die Zauberei. Er mußte immer das Bildnis des Gründers, des Herrn Schiestel senior, anstarren, dessen weiße Büste auf den Deckbalken überm Vorhang gemalt war. Der gemalte weiße Stehkragen, der doch zugleich einen Marmorkragen bedeutete, hypnotisierte ihn. Er hatte eine Zeitlang glücklich vergessen, daß Marianne neben ihm war. Da stand sie auf und zog ihn fort.

Draußen war noch Tag, aber durchbrochen von der scharfen Helle vieler Lichter. Eine dunkle Bude lockte. Drin stand ein gutes Weib in Stulpenstiefeln und Tressenrock und zeigte auf ihre russischen Wölfe und Schakale hin. Ein wilder Dunst stieg auf aus dem Halbdunkel, und schattenhaft bewegten sich die Unholde unter der Peitsche ihrer bunten Wärterin.

Aber mitten durch die Raubtierdünste fühlte Gustav nahe den matten Duft von Mariannes Nacken. Ihm wurde schwindlig wie vor einer Ohnmacht, aber ohne die Angst. Sterbensmüde lehnte er sich an seine Marianne, hörte aus weiter Ferne einen Walzer und sah mit einmal wieder den lächelnden Mund und die rosa geschminkten Wangen eines Mädchens aus einer Jahrmarktbude in der Heimatstadt. Ganz klein mußte er gewesen sein, als er das in Wirklichkeit sah. Die Hanne hatte ihn wohl mitgenommen. Neben dem Kopf waren die prahlenden Hände und Mienen dessen, der ihn abschlagen und wieder aufsetzen konnte. Gustav liebte das Lächeln des Mädchens so sehr. War es nicht trotz Schminke und Betrug dasselbe wie das Lächeln der Märtyrerin, die gern das Sterben leidet, weil sie dann das ewig selige Leben haben wird ?—Marianne mußte ihn am Arm rütteln. Die Vorstellung war ja zu Ende.

Vor der Reitbahn unter dem Plakat „Rendezvous der Lebewelt“ zwinkerte ihnen der Jockei galant zu und strich den gewichsten Bart. Sie aber gingen zu Daphne, der Blumenfee, die sich soviel verwandeln muß, in Lorbeerbaum und Blumenkorb, bis sie wieder wirklich wird in lila Trikot und frierend durchbrochnen Strümpfen, um mit einer Büste in der Hand dem hohen Landesherrn ihre Huldigung darzubringen.

Dann erlebten sie in einem Kinema eilig Londoner Diamantendiebstähle und Pariser Straßenecken, deren keilförmig vorgeschobene Häuserblöcke mit schuld wurden an mancherlei Zusammmenstoß und Unfall. Sie wurden durch Treppenhäuser verfolgt und retteten sich durch Dachluken, um in Moskauer Überschwemmungen zu versinken, ehe sie endlich in Eile über die Fabrikation des Eisens und den Tunfischfang belehrt wurden.

Dicht neben dieser neuesten Errungenschaft gab es aber ein tröstlich altertümliches Karussell. Die Decklichter staken in gemalten Damen, die Pferdchen nickten, die Wagen wippten unter wandernden Pailletten. Und gleich dabei war eine Kuchenbude, in der sich eine Schachtel mit Schokoladenplätzchen befand, die auf dem Rücken rote, grüne und weiße Graupen hatten. Die kaufte er, und sie nahm eine richtige Lutschstange.

Aber hinter dem nächsten Brett hoben vier Männer eine Riesenschlange aus ihrem Kasten auf die Schultern. Der Vorderste sagte neben dem Schlangenkopf, daß ihr Biß zwar nicht giftig wäre, aber die Kraft ihrer Muskeln stark genug, um den größten Büffel zu erdrücken. Die Direktion bot je, dem, der ein größeres Exemplar in Europa nachweisen konnte, eine hohe Summe.

„Rrah rrah,“ schrien die bunten Papageien in ihren Ringen hinter den Schlangenträgern vor einer gemalten Tropenlandschaft.

Und nun surrte und sauste die Stufenbahn und machte einem Hunger und Durst. Sie standen am Schanktisch, bekamen gebratene Hähndel und frisches Bier und sahen sich mit matten glücklichen Augen an.

Sie liefen wie Geschwister Hand in Hand unterm lauen tropfenden Regen durch viele Straßen und waren mit einmal im Park. Unter den Bäumen mußte Gustav die Augen schließen und blind an Mariannes Hand laufen, wie damals als Kind an des Vaters Hand.

Als sie nun in tiefer Nacht wieder auf die Straße kamen, faßte Marianne in die Tasche und hatte ihren Hausschlüssel vergessen.

„Wir wollen weiter,“ sagte sie.

Sie saßen in einem heißen überfüllten Café unter chorsingenden Studenten, hinter denen die Kellnerinnen mit Maßkrugmassen entlang schoben.

Dann gerieten sie in ein kleines Weinlokal. Ein magres Mädchen brachte grelle Römer, in denen ein dünner Trank schwamm. Die gewaltige Wirtin redete aus ihrer Ecke zu ihnen. Gustav nickte mechanisch zu ihren Worten. Marianne griff nach einem Blumenglas. Die blassen Blüten dufteten süßlich.

„Die sind am Ende noch vom Frühling,“ rief die Wirtin laut herüber.

„Wie unsre Liebe,“ dachte Gustav, fand diesen Gedanken abgeschmackt und wollte fort.

Sie kamen an Residenz und Theater vorbei und durch Torbogen in eine düstre Gasse.

Vorm Teesalon stand die Kellnerin mit dicken Schleifen im Haar und öffnete ihnen die bunte Glastür.

Vorn saßen junge Burschen mit frechen Schlipsen und schüchternen Augen, saßen um unberührt volle Kuchenschüsseln herum und legten mehlige Hände auf das rote Tischtuch. In der Ecke unter dem Flittergold der Wandstickerei häkelten ein paar alte Frauen.

Mit einmal stand Emanuel, den Gustav seit jener einen Nacht nicht mehr gesehen hatte, an ihrem Tisch. Marianne sah ihn groß und staunend an. Gustav erzählte von der Wiese. Emanuel sagte: „Ja, Sie haben es gern, das bunte Allerlei. Und daß es gespenstert, das ergötzt Sie noch.“

Ein lärmender Trupp kam herein, um einen taumeligen fetten Greis geschart, der Herr Professor genannt wurde. Diese Gesellschaft trank Grog.

„Die Sonne ist rauh,“ rief der Herr Professor und hob sein Glas.

Emanuel zeigte auf die Gruppe und sagte: „Das ist aus Silen geworden und aus den Genossen des Dionys diese magren und gedunsenen Grogtrinker, die Brillengläser tragen und witzig sind.“

„Und doch sitzen wir bei diesen,“ meinte Gustav.

Emanuel sagte mit dunklem Ernst in der Stimme: „Wir müssen bei den Göttern bleiben. Auch ihre erbärmlichste Fratze ist unsre Zuflucht vor den Gottlosen.“

Man ging auf den Bahnhof, in den Wartesaal dritter Klasse, der schon offen war. Die „Plattler“ lagen umher und schliefen. Leute in Oberländertracht saßen und tranken, und es war nicht recht zu erkennen, ob es echte Gebirgler oder maskierte Städter waren.

Marianne schaute umher mit ihrer Lorgnette und nahm einen alten Weißbart wahr. Der hatte den einen Schuh vom buntgestopften Strumpf abgezogen und flickte dran wie Sankt Peter vorm Himmelstor im Liede. Sie schaute auf seine greisen Hände und schlief darüber an Gustavs Schulter ein.

„Damals unter der Mariensäule hatten Sie fromme Augen,“ sagte Emanuel zu Gustav. „Heute sehen Sie zerstreut aus. Was ist mit Ihnen geschehn?“

„Haben Sie nicht zu mir gesagt: Sie wahren ihr Seelchen. Das tue ich nun nicht mehr, ich liebe.“

„Und doch merke ich es Ihnen an, daß Sie noch immer Ihr Seelchen wahren. Sie sehen ihr Liebchen von der Seite an und freuen sich, daß es da ist. Das ist noch keine Liebe.“

„Aber bisher das einzige, was mich beim Lieben glücklich macht.“

„Glück,“ rief Emanuel, „Glück ist, in dem andern die Liebe wachsen zu fühlen. Liebe muß schaffen. Sie müssen etwas machen aus diesem lieben Mancherlei von Locken und Lippen und Augen da neben Ihnen. Als Gott die Welt liebte, da schuf er sie.“

„Ach, ich liebe aber die Marianne gerade wie sie ist. Wenn ich ihr meinen Geist einbliese, dann wäre es am Ende nicht mehr die Marianne.“

„Ja, Sie lieben sie, wie Sie die Oktoberwiese lieben. Sie sind ein kleiner Sünder, lieber Gustav, Sie wollen Gott vergessen über seinem Werk.“

Von einem Tisch drüben stand ein junger Mensch im Arbeiterrock auf und machte ein paar Schritte auf Emanuel zu. Der erhob sich, reichte Gustav die Hand und ging.

Kaum war er fort, so schlug Marianne die Augen auf: „Wo ist der fremde Mann hin? Hat er Schlechtes von uns Frauen gesagt?“

„Nein, warum?“

„Ich glaube, er verachtet uns. Er ist sehr schön. Aber ich fürchte mich vor ihm.“ Und sie schmiegte sich näher an ihren Freund.

Draußen flüchteten sie vor der frühen Helle in einen dunklen Fiaker und zu ihm nach Hause.

Gustav bettete sie auf den Divan und zog ihr die Schuhe aus, die lieben mit den dicken Bändern. Er öffnete langsam das blaue Herbstkleidchen, das sie hier auf dem Boden geschneidert hatte. Es hatte seine Druckknöpfe an der Seite. Während er daran knöpfte, hatte sie schon ihr Haar aufgemacht. Das fiel ihm nun voll auf Gesicht und Hände. Aber ehe er noch recht in all dies Lichtblond hineinküssen konnte, hatte sie es wieder aufgenommen.

Sie saß und machte sich zwei Zöpfe, rechts und links für die Nacht.

„Warum nimmst du mir die Haare weg?“

„Damals im Walde wolltest du sie nicht küssen,“ sagte Marianne, „du Böser.“ Und sie nahm ihn zu sich her und schmiegte sich an und schloß die Augen. Und er fühlte die kühlen Spitzen der kindlichen Brüste an seiner Brust. Sie machte sich in seinen Armen ein Bett zurecht, in das sie sich schlafen legte.

Erst war er auch betäubt von ihrem Schlaf und glaubte miteinzusinken. Aber da fiel irgendein bleiches Licht, irgendein Abglanz auf ihre nackte Schulter, und er neigte sich her und küßte den Glanz. Und als ihr Kopf sich herdrehte, küßte er die erschrocknen Lippen. Und nun ließ er nicht ab und küßte von den Schultern herab den ganzen jungen Leib, der sich zitternd wegzog und herdrängte. Seine Augen waren geschlossen. Die Lippen fanden zu immer neuem Glück.

Aber da weckte ihn ein heller Schrei. Sie schrie auf wie ein verwundetes Tier. Und als der Küsser aufschaute, sah er ihr ganzes Gesicht voll Tränen.

„Marianne?“

„Du hast mich nicht mehr so lieb,“ schluchzte sie, „wie früher in den schönen Tagen. Du bist böse wie die andern. Warum hast du mich nicht mehr so lieb?“

Seine Gewalt war hin. Er konnte nichts erwidern. Irgendwie hatte sie auch recht. Er kniete auf den Boden neben dem Divan und küßte die Fingerspitzen ihrer herabhängenden Hand. Dann ging er nebenan zu Bett.

— Nun will ich weggehn von hier, dachte Gustav, ich lerne die Liebe doch nicht. — Und er schlief traurig ein, wie ein Kind, das seine Schulaufgabe am Abend nicht fertiggemacht hat.

Am Morgen dann ging er nicht hin, sie schlafen und aufwachen zu sehen, worauf er sich doch so gefreut hatte. Er zog rasch seine Kleider an und eilte fort.

Er lief durch den Park. Der war besonders schön heute, weil Gustav doch weg wollte von hier. Tau sprühte ihm von den Büschen in die Augen. — Die liebe Welt, dachte er, sie weint mit mir.

Als er heimkam und die Tür aufmachte, saß Marianne auf dem Schaukelstuhl. Sie hatte seinen langen blauen Schlafrock angezogen. Hals und Handgelenke schlüpften zierlich aus der breiten Hülle.

Sie hatte den Kopf zurückgelegt und sang das Weihnachtslied: „Es ist ein Reis entsprungen aus einer Wurzel zart.“

— Dachte sie schon an zu Hause, an den Weihnachtsbaum mit Äpfeln und Lichtern? Er mußte sich vorstellen, wie ihre matten Augen klein wurden, geblendet von den vielen Kerzen, wie sie die Hand vorhielt —. Ja, sie sollte nur heim. Sie hatte ja eine richtige Heimat.

Und als sie nun aufstand in dem blauen Rock, der hinter ihr rings am Boden schleppte, wie ein Madonnenmantel, mußte er vor sie hinknien und seinen Kopf an ihren Schoß lehnen.

„Marianne,“ sagte er, „ich will fortgehn von dir. Ich kann dich weder glücklich noch unglücklich machen. Es werden schon die kommen, die beides können. Aber ich —“

„Du bist mein guter Gustel,“ sagte sie und streichelte eifrig seine Wangen, „komm wir wollen in meinen Garten gehen.“

Am nächsten Abend kam sie mit schönen gelben Herbstblumen an sein Haus und erfuhr von der Hausmeisterin, daß Herr Gustav Behrendt morgens abgereist war.

Franz Hessel

Der Kramladen des Glücks