Cover

ÜBER DIESES BUCH

Als Josys Opa stirbt, hat er im Testament völlig überraschend seine Enkelin zur zukünftigen Besitzerin des Bienenstocks bestimmt. Die Großstädterin Josy möchte die Bienen unbedingt behalten. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfährt sie, was es bedeutet, für eine Sache zu brennen. Als jedoch an einem Sommertag ein großer Schwarm Bienen abgeht, Josy inmitten einer Bienenwolke steht und dann auch noch die Feuerwehr anrückt, ist für Josys Mutter klar: Die Bienen müssen weg! Josy beginnt, um ihre Bienen zu kämpfen.

DIE AUTORIN

Petra Postert, geboren 1970 in Stuttgart, studierte Journalistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Eichstätt und Ohio/USA. Danach arbeitete sie als Redakteurin und Autorin für den SWR-Hörfunk. Heute schreibt sie Kinderbücher und -geschichten fürs Radio. Petra Postert lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Düsseldorf.

DIE ILLUSTRATORIN

Katja Spitzer arbeitet seit 2009 überwiegend für Magazine und Buchverlage. Ihre Arbeiten wurden international ausgestellt und mehrfach prämiert. Katja Spitzer lebt und arbeitet als Illustratorin in Berlin.

INHALT

Dezember

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Impressum

DEZEMBER

Sie waren eng zusammengerückt. Wirklich eng und nicht nur so: Schulter an Schulter, Rücken an Rücken. Nicht wie Leute in der Straßen-bahn. Nein, so nicht. Enger. Viel enger. Noch enger als -eigentlich möglich. Doch, das geht. Über- und untereinander, kein Anfang, kein Ende. Also unglaublich eng und dicht, ja, genau so. Und gerade deshalb warm. Und weich. Ein Knäuel. Ein warmes, weiches, lebendiges Knäuel, dauernd in sanfter Bewegung. In einer Kiste aus Holz. Dunkel. Schon seit vielen Wochen. Und in der Mitte die Königin. Die hatte es richtig gut, ließ sich von ihren Töchtern Tag und Nacht mit Nahrung und Wärme versorgen. Die Bienen heizten, indem sie die Muskeln, die sie sonst zum Fliegen brauchten, summend zittern ließen.

Als Josys Großvater, Ottmar Heinzmeier, am Dienstag vor Heiligabend starb, saß Josy in der Schule und schrieb eine Mathearbeit. Bruchrechnen. Im Prinzip hatte Josy alles verstanden. Im Prinzip. Wenn die Zahlen an diesem Morgen nur nicht so groß gewesen wären! Fünfundzwanzig Zweihundertfünfundsiebzigstel. Achtzehn Einhundertachtel. Sechzig- Siebenhundertzwanzigstel.  Und so weiter. Die Zahlen begannen, vor Josys Augen zu tanzen. Eigentlich ging es beim Bruchrechnen ja immer nur darum, Torten zu teilen. So hatte Opa Ottmar es Josy noch am vergangenen Sonntag mit schwacher Stimme erklärt. Überhaupt war alles an ihm, wirklich alles, sogar die Farbe seiner Augen und eben auch seine Stimme, von Jahr zu Jahr, Monat zu Monat und in letzter Zeit sogar von Woche zu Woche schwächer und blasser geworden. Was allerdings merkwürdig war: Sein Hunger auf Torte, Schwarzwälder Kirschtorte vor allem, war ungebrochen groß geblieben. Und so hatte er sich von Josys Mutter, seiner Tochter, am vergangenen Sonntag auch wieder ein drittes Stück Schwarzwälder Kirschtorte auf den Teller hieven lassen.

»Am besten stellst du dir das Bruchrechnen an genau so einer Torte vor«, hatte Opa Ottmar gesagt und sich noch eine Kirsche mit Sahne in den Mund geschoben, bevor er durch diese Kirsche und die Sahne hindurch genuschelt hatte. »Die Zahl unter dem Bruchstrich …«

»Heißt Nenner!«, hatte Josy gerufen.

Der Großvater hatte den Kopf geschüttelt und sich mit der Hand wie in Zeitlupe über den Mund gewischt. »Die Zahl unter dem Bruchstrich sagt dir, wie viele Stücke die Torte hat. Und die Zahl über dem Bruchstrich …« An dieser Stelle hatte der Großvater eine lange Pause gemacht, weil er ein paarmal hatte fest durchatmen müssen.

»Die heißt Zähler«, hatte Josy gemurmelt. Ihre Mutter hatte eine Hand auf Josys Arm gelegt und ihr dabei fest in die Augen gesehen. Sei still, hieß das. Lass ihn reden, bitte. Josys Großvater hatte nie viel gesprochen, auch früher nicht, vielleicht klang deshalb seine Stimme immer merkwürdig ungeübt. Manchmal hatte er tagelang geschwiegen. Josys Mutter hatte das erzählt. Zum Verrücktwerden sei das gewesen, aber eben nicht zu ändern.

»Die Zahl über dem Bruchstrich«, hatte der Großvater von Neuem begonnen und die Wörter mehr ausgeatmet als ausgesprochen. »Die Zahl über dem Bruchstrich sagt dir, wie viele Stücke du dir nehmen darfst.« Pause. »Verstanden?« Josy hatte stumm genickt und der Großvater gestrahlt.

Wie jeden Sonntagnachmittag waren sie zu ihm in die winzige Wohnung mit den riesigen Möbeln gefahren, wie immer eine Schwarzwälder Kirschtorte im Kofferraum, nicht selbst gebacken, sondern aus dem Supermarkt, tiefgekühlt, über Nacht im Kühlschrank aufgetaut. »Hauptsache Schwarzwälder Kirsch. Torten backen kann ich nicht auch noch«, sagte Josys Mutter manchmal, wenn sie die Torte zum Auto trug. Es klang wie eine Entschuldigung, als habe die Mutter ein schlechtes Gewissen. Dabei hatte der Großvater sich noch nie beschwert.

Wie immer hatten sie auch an diesem Sonntag alle wieder um den runden Sofatisch herumgesessen, die Eltern auf dem klobigen Sofa mit dicken Kissen im Rücken und Josy und der Großvater in den beiden Sesseln gegenüber. Eine Stunde. Mal etwas mehr, mal etwas weniger, je nachdem. Die Besuche bei Opa Ottmar dauerten nie länger als etwa eine Stunde. Das hatte drei Gründe: Erstens wurde der Großvater sehr schnell müde, was kein Wunder war bei seinen 84 Jahren. Zweitens passte alles, was es so zu erzählen gab, ziemlich exakt in diese eine Stunde. Und drittens hätte es Josys Mutter nicht viel länger als eine Stunde in der Wohnung ausgehalten, ohne zu schmelzen. Zumindest behauptete sie das. Denn egal zu welcher Jahreszeit, egal bei welchen Temperaturen, in der Wohnung war es immer unerträglich warm. Jetzt war Dezember, draußen lag Schnee, es herrschte klirrende Kälte und den Kindern froren die Nasenflügel fest, wenn sie morgens auf dem Weg zur Schule waren. Natürlich hatte der Großvater am Sonntag die Heizkörper wieder bis zum Anschlag aufgedreht und das Gesicht von Josys Mutter schon nach einer Viertelstunde geglüht.

An die Zeit, als ihr Opa Ottmar noch jünger gewesen war, konnte Josy sich fast gar nicht mehr erinnern. Als er die Ärmel immer hochgekrempelt trug, als er wie ein Bär hatte zupacken können, als er am Stadtrand noch ein eigenes kleines Haus im eigenen großen Garten besessen hatte. Beides war ihm aber von einem Tag auf den anderen wie ein schwerer Klotz am Bein vorgekommen. Josy war vier Jahre alt gewesen, als er Haus und Garten an eine junge Familie verkauft und den fremden Leuten schweren Herzens die Tulpen und Narzissen überlassen hatte, die Hortensien, Dahlien und Anemonen, die Kirschen im Juni und im August und September die Äpfel, die Alkmene und Rubinette hießen. Nur ein paar wenige Möbel hatte er mitgenommen und die Bienen. Natürlich seine Bienen. Jemand hatte sich bereit erklärt, sie bei den eigenen Bienen im Garten aufzunehmen, wo der Großvater sich weiter um sie kümmern konnte. In einer Stadtwohnung im vierten Stock – zwar mit Aufzug, aber ohne Balkon – ließen sich Bienen nun mal nicht halten. Fünf Bienenvölker hatte er damals noch besessen. Acht Jahre war das schon her. An manchen Sonntagen hatte der Großvater in knappen Sätzen von seinen Ausflügen zu den Bienen berichtet, aber Josy hatte es nicht interessiert. Ihre Eltern auch nicht. Nur das Glas Honig, das der Großvater ab und zu für sie bereitgestellt hatte, das hatten sie gerne mit nach Hause genommen.

Am vergangenen Sonntag war der Großvater noch früher als sonst, schon nach einer halben Stunde, im Sessel eingeschlafen. Josy und ihre Eltern hatten wortlos den Tisch abgeräumt, den Rest der Torte in den Kühlschrank gestellt, den Abwasch gemacht und das Geschirr so leise wie möglich zurück in die Schränke geräumt. Josy hatte die blassblaue Decke mit Häkelrand vom Tisch genommen und aus dem Fenster geschüttelt. Zum Schluss hatte die Mutter dem Großvater noch eine Wolldecke über die Beine gelegt und ihm die Brille, die ihm bis zur Nasenspitze gerutscht war, behutsam abgenommen. Josy war der im Sessel versunkene, leise schnarchende, schmächtige Großvater fast wie ein Kind vorgekommen, wären da nicht die Hände auf den Armlehnen gewesen, die falben, faltigen Hände mit den vorstehenden Adern, die sich unter der dünnen Haut bläulich abzeichneten. Zum ersten Mal war Josy der Gedanke gekommen, dass der Großvater vielleicht gerade dabei war, durchsichtig zu werden. Erst durchsichtig, um dann irgendwann ganz zu verschwinden.

Einhundertfünfzig Dreihundertsechzigstel. Das war die Zahl, mit der es Josy in ihrer Mathearbeit gerade zu tun hatte. Josy versuchte, sich die dazu passende Torte vorzustellen. Das war gar nicht einfach, denn diese Torte musste 360 Stücke haben, von denen sich Josy 150 nehmen sollte. 360 Stücke! Wie konnte das gehen? Josy seufzte innerlich, schob das Aufgabenblatt ein Stück weg von sich und sah nach vorn zur Tafel. Dort saß sehr aufrecht Herr Guntram, ihr Mathelehrer. Wie ein aufmerksames Erdmännchen ließ er seinen Blick durch die Reihen wandern. Er war ein junger, klein gewachsener Typ, mit Turnschuhen und einer Tasche aus Lastwagenplane. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Josy mochte Herrn Guntram, aber sie konnte ihn jetzt nicht fragen. Er antwortete grundsätzlich nicht auf Schülerfragen während -einer Klassenarbeit. Außerdem hatte er das Bruchrechnen nie mit Tortenstücken erklärt.

Schnell drehte Josy ihren Kopf zur Seite und sah aus dem Fenster. Über Nacht hatte es noch einmal geschneit. Jetzt schien die Sonne, und die Schneedecke kam ihr vor wie Sahne, die ein Konditor dick und perfekt über die Landschaft gestrichen hatte. Josy fragte sich, ob überhaupt irgendjemand in der Lage wäre, eine Torte in 360 Stücke zu schneiden. Damit ging es ja schon mal los. Und weiter: Selbst wenn es jemandem gelänge, würden diese Stücke doch niemals von selbst stehen bleiben. Sie würden umfallen und auf den Teller klatschen. Möglicherweise aber würden 150 dieser unglaublich schmalen Stücke zusammengenommen ein ganz passables, standfestes Tortenstück ergeben. Leider war das in dieser Aufgabe aber nicht gefragt. Und trotzdem überlegte Josy noch weiter. Würde das Schneiden der Stücke wohl einfacher werden, wenn der Durchmesser der Torte wuchs? Wie sah wohl ein dreihundertsechzigstel Stück einer Torte aus, die groß war wie ein Autoreifen? Oder, noch besser, groß wie ein Trampolin? Und wer würde dann in der Lage sein, ein solches Trampolintortenstück zu verdrücken?

Josy wanderte mit ihren Gedanken hinaus aus dem Klassenzimmer, weit und noch weiter, und sie lächelte, als sie an ihren Großvater dachte.

Hätte in diesen Tagen jemand den Schnee vom Dach der Bienenbehausung gewischt und es abgenommen, und hätte er danach ein Thermometer tief in das große Knäuel aus Bienen hineingeschoben, langsam und vorsichtig natürlich und bis ungefähr dorthin, wo die Königin saß, dann hätte er festgestellt, dass es im Inneren des Knäuels, der Wintertraube, warm war, richtig warm, wie im Frühling, 20 Grad. Und hätte dieser Jemand dann noch an anderen Stellen gemessen, zu den Rändern hin zum Beispiel, dann hätte er sich gefragt, wie die Bienen, die ganz außen saßen, diese Kälte bloß aushielten. Denn die Bienen dort bekamen den Winter ordentlich zu spüren. Aber nur so lange, wie es sich gerade eben so aushalten ließ, so lange, bis die gewärmten Bienen aus der Mitte des Knäuels sie ablösten. Somit bekam keine von ihnen dauerhaft ein kaltes Hinterteil.

Die Königin war die Einzige, die ihren Platz mittendrin behalten durfte. So warm und satt hätte sie eigentlich vom Frühling träumen können, von den hellen, milden Tagen und vom lockenden Leuchten der Blüten. Aber natürlich träumte eine Biene nicht. Auch keine Königin. Und selbst wenn sie es gekonnt hätte, dann hätte sie ganz sicher nicht von Blüten geträumt, denn noch nie in ihrem Leben war sie in einen Blütenkelch hineingekrochen, noch nie hatte sie Pollen oder Nektar nach Hause getragen. Das Leben einer Bienenkönigin war Enge und Dunkelheit.

Nur ein einziges Mal war sie bisher draußen gewesen und auch das war schon lange her. Gerade mal sieben Tage war sie damals alt gewesen. An jenem sonnigen, windstillen Tag im Frühling war sie durchs Flugloch hinausgekrabbelt und hatte sich, ohne zu zögern, zügig aufgemacht zu ihrem Ziel. Sie wusste genau, wohin sie fliegen musste, dabei war sie noch nie dort gewesen. Und als sie den Ort schließlich erreichte, wurde sie sofort von einer Horde großäugiger, männlicher Bienen verfolgt, den Drohnen. Sieben von ihnen machten schließlich das Rennen. Ihnen gelang es, sich mit der Königin in der Luft zu paaren. Aber keiner der Glücklichen überlebte den Paarungsakt. Einer nach dem anderen fiel tot vom Himmel. Die junge Königin dagegen kehrte wohlbehalten von ihrem Hochzeitsflug nach Hause zurück. Von nun an tat sie Tag für Tag, wochen- und monatelang das, wofür sie bestimmt war, und bis Ende September hatte sie Abertausende Eier gelegt. Im kommenden Frühling würde sie gleich wieder von Neuem damit beginnen.

Jetzt überwinterte das Volk, wohlig warm und mit einer Vorratskammer, die mit Honig und eingedicktem Zuckersaft reich gefüllt war. Und wenn die Bienen nun auch nicht träumten vom Frühling, so warteten sie doch auf ihn, leise ihr Winterlied summend, Tag und Nacht.

JANUAR

An diesem Tag machte Josys Mutter die Schwarzwälder Kirsch-torte ausnahmsweise einmal selbst. Dabei war gar nicht -Sonntag, sondern Mittwoch. Aber sonntags wurde nun mal niemand beerdigt.

»Wer soll die eigentlich essen?«, fragte Josy vorsichtig, als sie die fast fertige Torte auf dem Küchentisch stehen sah. Ihre Mutter, die gerade dabei war, die letzten Schokostreusel auf die Torte zu streuen, sah auf und wischte sich mit dem Unterarm kurz übers Gesicht. Hatte sie geweint? Ihre Stimme klang wie immer, als sie sagte: »Nach der Beerdigung haben sicher alle Hunger.«

Eine halbe Stunde später folgte Josy ihrem Vater aus dem Haus, der die mit einer Plastikhaube geschützte Torte zum Auto trug. Sie ging hinter ihm und guckte auf den grauen Wollmantel des Vaters und die dunklen Hosenbeine, die daraus hervorragten, und sie fand, dass ihr Vater heute sehr elegant aussah. Josy trug Dunkelblau, Ton in Ton, sogar die Mütze. Es war nicht mehr ganz so kalt, wie noch vor einigen Tagen, und es hatte angefangen zu tauen. Josy glitschte ihrem Vater hinterher, der mit kleinen Schritten durch den Schneematsch ging.

»Mach doch mal bitte auf«, sagte er über die Schulter und Josy griff in seine Manteltasche und zog den Schlüssel heraus. Dann öffnete sie den Kofferraum und ihr Vater stellte die Torte hinein.

»Was wird das?«, fragte Josy. »Etwa ein Tortenpicknick auf dem Friedhof?«

Ihr Vater lachte kurz auf. »Kein Picknick, Josy. Wir sind nachher mit allen noch im Café.«

Josy wollte fragen, wen nun auch ihr Vater mit »allen« meinte. Aber da sah sie ihre Mutter durch die Tür kommen, mit Hut und langem Mantel, und Josy verschlug es die Sprache, weil ihre Mutter tiefschwarz gekleidet war.

Wie sich wenig später auf dem Friedhof herausstellte, waren »alle« sehr viele. Josy kannte aber nur ein paar wenige, nur zwei Gäste, um genau zu sein: Andreas, Mamas viel älterer Bruder, und seine Frau Dörte. Während der Pfarrer am Grab sprach, sah Josy sich die vielen fremden Leute in aller Ruhe an. Alte Frauen und Männer waren das. Sie waren dick und dunkel eingepackt und standen wie große Tannenzapfen dicht gedrängt unter hohen Bäumen, von deren Wipfeln der Winter tropfte. Einmal zog Josy ihre Mutter am Ärmel und fragte leise, wer die Leute seien. Aber ihre Mutter presste nur den Finger auf die blassen Lippen und schüttelte entschuldigend den Kopf.

Später, als sie zum Auto zurückgingen, nahm Josy ihren Vater am Arm. »Meinst du, wir haben genug Kuchen für alle?«, raunte sie ihm zu. »Die sehen aus, als könnten sie was vertragen.«

»Ganz sicher haben wir genug«, sagte ihr Vater.

Bis zum Café war es nicht weit. Und bald schon drängten die Leute durch die schmale Tür ins Warme. Die Schwarzwälder Kirschtorte, die war ein echtes Prachtstück geworden und thronte nun, umgeben von flachen Blechkuchen, auf einem ellenlangen Tisch. Die Mutter fasste Josy von hinten an den Schultern und dirigierte sie zu einem freien Platz an der Kaffeetafel. Josy wartete, bis ihre Eltern links und rechts von ihr saßen, erst dann setzte auch sie sich hin. In der Vase vor ihr steckten bunte Stoffblumen, die weißen Tischdecken waren ganz steif und sicher frisch gewaschen, und als alle saßen, bemerkte Josy erleichtert, dass die schwarzen Röcke der Frauen und die schwarzen Hosen der Männer unter den Tischen verschwunden und fast nur noch weiße Blusen und weiße Hemden zu sehen waren und nur hier und da eine schwarze Krawatte oder ein schwarzes Jackett. Die Kerzen brannten. Die Perlenketten der Frauen glänzten. Und die Gesichter der Leute schienen schon heller als eben noch. Überhaupt die Gesichter. Die hatten Falten und Furchen. Und dem Mann, dem Josy gegenübersaß, wuchsen eindrucksvolle Brauen über den Augen, unfassbar dicht, unfassbar kräftig und wohl unfassbar schwer zu bändigen. Er hatte ihnen vielleicht deshalb einen echten Schnitt verpasst. Und nun standen sie wie zwei kleine Bürsten in seinem Gesicht, Wurzelbürstchen, die er jederzeit zur Hand nehmen und sich damit die Nägel schrubben konnte.

Josy lehnte sich an ihre Mutter und reckte den Mund an ihr Ohr. »Wer sind diese Leute?«, fragte sie noch einmal und kaum hörbar.

Die Mutter blickte in die große Runde von einem zum anderen. »Keine Ahnung«, wisperte sie. »Opas Freunde, vielleicht?« Opas Freunde. Aha. So viele? Was hatte er mit ihnen gemacht, mit ihnen unternommen? Torte gegessen? So wie die Leute gerade zulangten, konnte Josy es sich zwar gut vorstellen, aber damit ließen sich doch keine Tage füllen. Josy stocherte stumm an ihrem Kuchen herum. Es war ihre erste Beerdigung gewesen und der Friedhof ging ihr nicht aus dem Kopf.

»Ein gutes Leben hat der Ottmar gehabt«, sagte da der Mann mit den Bürstenbrauen zu seinem Nachbarn. »Ein richtig gutes Leben.« Josy horchte auf.

»Ja, ja. Und so einen schönen Tod«, sagte der andere. »Ab ins Bett, Licht aus und weg. Einfach nicht mehr aufwachen.« Josy fragte sich, was schön daran war, im Schlaf zu sterben. Und gab es das überhaupt, einen schönen Tod?

»Nicht mal umfallen musste der«, sagte der Mann mit den Bürstenbrauen und kicherte wie ein Zwerg. »Er lag ja schon!« Der andere lachte und schlug vor Vergnügen mit der flachen Hand auf den Tisch. Und dann beugte er sich zu seinem Nebenmann und erzählte alles noch mal. Wie einen Witz, wie Stille Post. Schallendes Gelächter. Andere hoben neugierig ihre Köpfe und wollten wissen, was so witzig war. Und auf einmal lachte der ganze Saal. Josy sah unsicher zu ihrem Vater, der ein breites -Grinsen im Gesicht hatte und ihr aufmunternd zunickte. Josy lachte zwar nicht, aber die Tränen, die seit dem Friedhof in ihrem Hals gesteckt hatten, waren mit einem Mal verschwunden. Und der Mann Josy gegenüber ließ seine verrückten Augenbrauen lustig tanzen, und die Bedienung kam herein und stellte frisch gefüllte Kaffee-kannen auf den Tisch und für Josy eine Cola.

Josys Mutter war überrascht, dass ihr Bruder und seine Frau als eine der Ersten das Café verließen. Josy war es egal, sie kannte die beiden kaum. Und wenn sie ehrlich war, wäre sie auch gerne nach Hause gegangen. Längst waren alle satt, die Kerzen halb heruntergebrannt, die Tischdecken reichlich mit Kaffeeflecken verziert. Was wollten die alle noch hier?

»Für mich ’n Schnaps!«, rief da der mit den Bürstenbrauen, und noch viele andere hoben die Hand und die Bedienung eilte folgsam in die Küche.

Josy war müde und sie langweilte sich. Sie zog ihr Handy heraus, aber bevor sie es richtig in der Hand hielt, hatte es ihre Mutter schon bemerkt. Erst schüttelte sie missbilligend den Kopf, aber dann lächelte sie verständnisvoll.

»Ich weiß, das alles hier ist anstrengend für dich«, flüsterte sie. »Ich bin auch ganz erledigt. Aber wir haben es fast geschafft. Wir gehen gleich nach Hause, ja?«

»Na gut«, murmelte Josy und steckte das Handy weg. Dann stand sie auf und ging langsam in Richtung Toilette.

Die Cafétoilette war eine düstere, braun gekachelte und fensterlose Angelegenheit. Sie befand sich im Keller, nur eine kleine Lampe funzelte gelb von der Decke. Als Josy sich die Hände wusch, stand neben ihr am Waschbecken eine Frau, die sich die Lippen nachzog. Orange. Gehörte die auch zu ihnen? Die Frau lächelte in den Spiegel, und dabei wanderten ihre Augen zu Josy, die sich nicht sicher war, ob die Frau nur die Wirkung ihres Lippenstifts testen wollte oder ob das breite knallfarbene Lächeln ihr galt. Deshalb guckte sie schnell wieder auf ihre Hände unterm Wasserstrahl.

»Du bist die Enkelin. Josy. Habe ich recht?«, sagte die Frau. Sie hatte eine tiefe, warme Stimme. Josy sah auf, aber nur in den Spiegel, und nickte stumm. Die Frau wartete, bis Josy ihre Hände abgetrocknet hatte, dann streckte sie ihr die Hand hin. Josy nahm sie zögernd und blickte der Frau nun richtig ins Gesicht. Wie überhaupt alles an dieser Frau war auch ihr Gesicht groß und kräftig und es war von unzähligen grauen Locken eindrucksvoll umspielt. Noch nie hatte Josy bei jemandem in dem Alter so viele und so wilde Locken gesehen. Die fremde Frau sah Josy jetzt weich an.

»Ich bin Alma. Otti hat von dir erzählt.«

Da waren gleich zwei Dinge, die Josy komplett verwirrten. Otti. Das war das Erste. Wieso nannte die Frau ihn so? Otti. Das war doch albern. Und das Zweite: Der Großvater hatte von ihr erzählt? Ah ja. Alter Stockfisch hatte ihre Mutter ihn manchmal genannt, wenn sie sich wieder mal über sein Schweigen aufgeregt hatte. »Wie alt bist du, Josy?«, fragte die Frau.

»Zwölf.«

Die Frau überlegte einen Moment. »Fünfte, sechste Klasse?«

»Sechste.«

»Und sonst? Deine Hobbys? Für was interessierst du dich so?«

»Dienstags gehe ich schwimmen, mittwochs tanzen, und ich spiele Gitarre«, sagte Josy. »Immer freitags spiele ich Gitarre. Ach nein …« Sie lachte kurz auf. »Natürlich spiele ich auch an den anderen Tagen. Ich muss ja üben. Und freitags habe ich Unterricht. Nur freitags, eine Stunde. Und ich lese gerne. Und früher habe ich mal Flöte gespielt. Aber nur ganz kurz. Mama meinte, Gitarre passe besser zu mir.« Josy hätte nicht sagen können, warum sie das jetzt alles bereitwillig erzählte. Ob es daran lag, dass sie eben lange stumm am Tisch gesessen hatte, oder ob es an dieser Alma lag, die sie gerade aufmerksam und interessiert aus ihren grünen Augen ansah. Josy hatte schon ein paarmal die Erfahrung gemacht, dass alte Frauen Kinder ausfragten. Und diese Frau hier war alt, zwar nicht so alt wie der Großvater, der war uralt gewesen, aber alt war sie schon. Und sie fragte Josy aus. Das war ganz offensichtlich.

»Schwimmen, Tanzen, Gitarre«, wiederholte die Frau jetzt und zählte mit den Fingern nach. »Noch was?« Sie wackelte mit ihrem Ringfinger.

»Lesen«, sagte Josy. »Ich lese viel. Und, ach ja, im Winter laufe ich gerne Schlittschuhe. Das auch.«

Die Frau sah Josy an, als warte sie auf noch etwas. Als aber Josy nicht weitersprach, fragte sie: »Und was ist mit Tieren, Josy? Magst du Tiere? Mädchen in deinem Alter mögen doch Tiere.« Josy nickte. Und die Frau neigte ihren Kopf zur Seite. »Hund, Katze, Wellensittich?«

»Na ja. Wennschon, dann einen Hund. Einen Hund hätte ich gerne.«

»Einen Hund.« Guckte die Frau enttäuscht?

»Ja, einen Hund. Oder eine Katze«, sagte Josy. »Eine Katze wäre auch in Ordnung.«

Die Frau hob ihre Augenbrauen. »Aber?«

»Mama möchte nicht.«

Um den Mund der Frau herum zuckte es. »Und dein Papa?«

Josy überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Ich glaube, der auch nicht.«

»Und was ist mit Bienen, Josy?« Es klang wie eine sehr wichtige, alles entscheidende Frage. Josy wusste überhaupt nichts damit anzufangen.

»Wieso Bienen?«, fragte sie deshalb nur.

»Wieso keine Bienen?«, fragte die Frau zurück.

»Mein Opa hatte welche.«

»Eben drum. Geliebte Bienen.«

In diesem Moment hätte Josy vielleicht schon ahnen können, dass da noch was war, dass da noch was kommen würde. Später. Und sie hätte jetzt schon fragen können, wer sich denn nun eigentlich um die Bienen des Großvaters kümmerte, wo er doch tot war. Sie hätte sich denken können, dass sich jemand um die Tiere kümmern musste. Aber Josy überlegte nicht und sie fragte nicht, weil sie Bienen überhaupt nicht interessierten. Sie wunderte sich nur, wie diese Frau bloß auf Bienen gekommen war.

Zurück im Saal, beobachtete sie die Frau aus den Augenwinkeln. Sie saß auf der gegenüberliegenden Seite, weit weg von ihr. Wie hieß sie noch gleich? Gerade führte sie ihre Tasse zum Mund, während der Mann neben ihr auf sie einredete. War diese Frau Opas Freundin gewesen? Beste Freundin vielleicht? Josy versuchte, sie sich neben dem Großvater vorzustellen, diese ungewöhnlich große Frau neben dem kleinen schmächtigen Großvater. Es passte nicht. In diesem Moment sah die Frau unvermittelt zu Josy herüber und winkte ihr auch noch zu. Josy erschrak, tat, als hätte sie es nicht bemerkt. Sie griff schnell nach ihrem Glas, drehte den Kopf zur Seite und trank das Glas in einem Zug leer.

Als Josy wenig später wieder in dieselbe Richtung sah, war der Platz der Frau leer. Josy konnte sie auch nirgendwo sonst entdecken. Da tickte sie jemand von hinten an. Josy fuhr herum. Hinter ihr stand die fremde Frau und streckte Josy die Hand hin.

»War nett, dich kennenzulernen.« Josy nahm die Hand. »Tschüss. Und bis bald.« Josy murmelte irgendwelche Worte.

Nachdem die Frau sich auch von Josys Eltern verabschiedet und den Saal verlassen hatte, lief Josy schnell ans Fenster und spähte durch die grobmaschigen Gardinen und die üppigen Topfpflanzen hindurch nach draußen. Josy konnte sehen, wie die Frau mit weiten Schritten die Straße überquerte. Sie trug einen dunkel karierten Mantel, der aussah wie ein übergroßer Bademantel. Bis bald? Das hatte die Frau doch gerade gesagt.

Tock. Tock. Erst klang es wie ein freundliches Anklopfen. Guten Tag. Jemand zu Hause? Tock. Tock. Tock. Ein Klopfen hier, ein Klopfen da. An der Vorderseite der Holzkiste, an der Rückseite, auch an den Seiten. Dann wurde das Klopfen stärker. Hinten links. Immer an derselben Stelle. Drängend und fordernd. Sehr laut. Tock. Tock. Tock. Tock. Natürlich reagierten die Bienen nicht darauf. Sie hatten Wichtigeres zu tun. Sie heizten. Dann ein Klopfen wie ein Trommelwirbel. Holz krachte. Holz splitterte. Axt. Meißel. Zange. Ein dünner Lichtstrahl fiel in die Kiste. In die Wand war ein Loch geschlagen. Und plötzlich stieß etwas langes Hartes, gefährlich Spitzes durch das Loch. Ein Schnabel! Und eine unglaublich lange dünne Zunge sauste auf die Bienentraube zu. Eine Zunge wie eine Harpune, klebrig und mit Widerhaken an der Spitze. Die Biene hatte keine Chance. Sie wurde gepackt und direkt verspeist, genau wie ihre fünf Schwestern, die kurz darauf an der Reihe waren. Die anderen Bienen taten weiter, was sie die ganze Zeit schon getan hatten. Sie drängten sich eng zusammen und heizten. Was blieb ihnen auch anderes übrig?

Gegen Mittag wurde es mit einem Mal wieder stockdunkel in der Bienenwohnung. Dabei schien die Sonne. Aber es war dunkel und es blieb dunkel. Und es klopfte auch niemand mehr an. Etwa 7000 Bienen zählte das Volk im Januar. Es war ein starkes und gesundes Bienenvolk. Es würde den Winter gut überstehen.

FEBRUAR

Die Mittagssonne schien warm auf das Dach aus Blech, als sich die erste Biene aus der Wintertraube löste und Richtung Flugloch krabbelte. Die Zeit war gekommen, wieder einmal vor die Tür zu treten und zu fliegen. Endlich wieder zu fliegen! Außerdem musste sie dringend mal. Über viele Wochen hinweg hatte sie, wie ihre Schwestern, den Kot in ihrer Kotblase gesammelt, die nun randvoll war und beinahe den ganzen Hinterleib einnahm. Jetzt hatte die Biene das Flugloch erreicht und steckte ihren Kopf nach draußen. So hell! Dann traute sie sich ganz hinaus. So warm! Sie spannte die Muskeln und hob summend ab, gleich gefolgt von einigen ihrer Schwestern. Die Bienen flogen erst kleine Runden, später dann größere. Sie mussten sich neu orientieren, sich neu einprägen, wo genau ihr Zuhause stand, damit sie jederzeit wieder zurückfanden. Vielleicht würden sie heute schon den ersten Pollen sammeln, im Garten, oder vielleicht auch am Bach, mal sehen, der Bach war ja nicht weit.