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Zum Autor:

Der Autor Claude LeRouge, Jahrgang 1948, wohnt in Greven. Er studierte Geschichte und Französisch in Münster und Dijon und arbeitete anschließend über 35 Jahre als Lehrer am Gymnasium Dionysianum in Rheine. Nach seiner Pensionierung begann er seinen ehemaligen Beruf zum Hobby zu machen. Er schrieb zunächst einen historischen Roman, der im Heiligen Land in der Zeit nach dem ersten Kreuzzug spielt.

Danach folgten zwei Kriminalromane, die in Greven und Umgebung spielen, dazu jeweils noch in einer anderen Gegend: in Südfrankreich, im südlichen Brandenburg und in Dresden.

Der vorliegende vierte Roman, wiederum ein Kriminalroman, spielt hauptsächlich im Münsterland. Die Leserinnen und Leser, die „Bildersturm – Dresden 1989“ gelesen haben, werden einige der Handelnden wiedererkennen.

Weiteres unter www.claude-lerouge.de

Für
Christel

Claude LeRouge

Die Rache ist mein, spricht der Herr

Ein Greven-Krimi

© 2017 Claude LeRouge

1. Auflage 2017

Autor: Claude LeRouge

Titelbild: Angelika Lang, Greven

Verlag: tredition, Hamburg

ISBN: 978-3-7439-4622-4 (Paperback)

978-3-7439-4623-1 (Hardcover)

978-3-7439-4624-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Claude LeRouge

Die Rache ist mein, spricht der Herr

Ein Greven-Krimi

Kapitel 1

Montag, 8. August 2016, Greven

Es war warm in Greven und dazu noch trocken. Man verlangt ja nicht viel vom Wetter: Trocken und warm, das genügt. Wohlmeinende nennen das Sommer.

Rembert Mahldorf tat das, was er jeden Tag gegen 13.00 Uhr machte. Er ging zum Briefkasten am Eingang der Einfahrt zu seinem Haus an der Königstraße. Manche Einheimische behaupten, die Königstraße hieße Königstraße, weil hier die Könige von Greven wohnen. Das mag dem einen oder anderen schmeicheln, ist jedoch falsch. Richtiger ist, dass Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen, ein Titel, den er als wichtiger erachtete, zu Beginn des 20. Jahrhunderts hier mit dem Auto hergefahren war.

Normalerweise erledigte Rembert Mahldorf seine Aufgabe mit einem leisen Schimpfen über seinen Vater. Dieser Depp – wie er sich auszudrücken pflegte – hatte, als er volljährig wurde, nichts Besseres zu tun gehabt, als bei Gericht einen Antrag auf Namensänderung zu stellen. Diesem Antrag war ohne weiteres nachgekommen worden, da es sich lediglich um die Löschung des kleinen adeligen „von“ vor dem Namen Mahldorf handelte. So wurden aus den adeligen „von Mahldorf“ die bürgerlichen „Mahldorf“. Rembert war ansonsten mit dem ersten Teil seines Namens, dem Vornamen, völlig einverstanden. „Rembert“ war ungewöhnlich, außergewöhnlich sogar. Aber „Rembert Mahldorf“ war nichts, ein lautmalerischer Tiefschlag. „Rembert von Mahldorf“ hingegen war für ihn reinste Poesie. Als er sich dieser Tatsache bewusst wurde, wurmte es ihn, es wurmte ihn sogar gewaltig. Er hatte mit allen Tricks versucht, das kleine „von“ zurückzubekommen, jedoch vergeblich: Einmal adelig bedeutet immer adelig, einmal bürgerlich heißt immer bürgerlich.

Ansonsten hatte Rembert Erfolg im Leben gehabt, wirtschaftlichen Erfolg. Aber das war es nicht allein, was ihn stolz machte. Er war in der politischen Hierarchie aufgestiegen: Stadtrat, Kreistagsabgeordneter, zwei Legislaturperioden im Landtag. Die Politik hatte ihn dabei nur am Rande interessiert, obwohl er ein begabter Redner war, von denen es selbst in Düsseldorf nur wenige gab. Er konnte austeilen, wirkte aber auch immer wieder versöhnlich. Er sprach nie von politischen Gegnern oder sogar Feinden. Er nannte sie „meine anders denkenden politischen Freunde“. Gegen so einen Mann konnte man nichts haben. Auf diese Weise hatte Rembert im Laufe der Zeit ein Geflecht von Beziehungen geknüpft, das irgendwann begann, Ergebnisse zu zeigen. Es waren Ergebnisse finanzieller Art.

Grundstein seines Wirtschaftsimperiums war eine kleine Baufirma gewesen, die er aus einer Konkursmasse übernommen hatte. Viel Applaus hatte es damals für ihn gegeben, schließlich hatte er fünfzehn Arbeitsplätze gerettet. Geschickt sprach er selten von diesen Arbeitsplätzen. Er schob immer die Familien seiner Angestellten in den Vordergrund. Für diese habe er es getan. In der Presse nannte man ihn einen „sozialen Menschen“, manchmal sogar einen „Gutmenschen“ im wörtlichen Sinne des Wortes.

Mit der kleinen Firma hatte er eine kleine Wohneinheit mit Eigentumswohnungen gebaut, die er gewinnbringend verkaufte. Das war der Beginn eines Schneeballsystems, das mit der Zeit enorme Gewinne abwarf, besonders als er aus der Politik ausgestiegen war und er keine Rücksicht mehr auf mögliche Verquickungen von Privatem und Dienstlichem nehmen musste. Er vergaß allerdings immer zu erwähnen, dass bereits sein Vater ihm ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hatte. Jetzt war er reich, stinkreich wie er selbst manchmal sagte.

Heute ging er, trotz einer kleinen Schimpftirade auf seinen Vater, gut gelaunt zum Briefkasten. Heute erwartete er Post von verschiedenen Banken. Die Ergebnisse seiner Spekulationen kannte er bereits: Millionengewinne. Er hatte durch intensive Recherchen eine australische Aktie ausgemacht, die durch ungewöhnliche Kurssprünge auffiel: eine Zockeraktie. Eigentlich das, was die Amerikaner als Pennystocks bezeichnen, eine Aktie, deren Wert sich im Bereich von nur wenigen Cent bewegte, doch Kurssprünge von vier auf sechzehn Cent innerhalb einer Woche aufwies. Allerdings auch ähnliche Kursstürze. Keine sichere Gewinnmöglichkeit, da ein zu großes Risiko bestand. Broker handelten vierundzwanzig Stunden am Tag. Das hatte Rembert genutzt. Er hatte über vier Broker-Firmen jeweils eine Million Euro gesetzt. Durch ständiges Kaufen und Verkaufen hatte er aus vier Millionen Euro achtundzwanzig Millionen gemacht. Gut, Steuern würde er zahlen müssen. Aber da würde ihm auch noch etwas einfallen. Sozialer Wohnungsbau mit ungeahnten Förder- und Abschreibungsmöglichkeiten zum Beispiel.

Rembert öffnete das rückwärtige Türchen seines Briefkastens und entnahm diesem einen ganzen Stapel an Briefen. Bei dreien dieser Briefe erkannte er sofort den Absender: Banken. Die vierte würde sich wohl morgen melden. Das Ergebnis kannte er ja schon.

Ein Gedanke durchfuhr ihn: Was sollte er eigentlich mit dem ganzen Geld machen? Er war selbstkritisch genug, um zu erkennen, dass er in Dagobert-Duck-Manier lebte: Nur der Besitz zählt.

Er war siebzig, also kein junger Mann mehr, obwohl er sich manchmal noch verdammt jung fühlte. Besonders, wenn er mit seiner achtundzwanzigjährigen Haushälterin im Bett lag. Daniela hatte Qualitäten, die er bei anderen Frauen vergeblich gesucht hatte. Er hatte sie einfach gefragt, ob sie Lust und Interesse hätte. Sie hatte beides, denn das finanzielle Angebot war verlockend. Er stockte ihr Gehalt um zweitausend Euro auf. „Dann hast du auch etwas für die Rente“, hatte er gesagt. „Und jedes Mal, wenn wir zusammen sind, bekommst du je nach Leistung zwischen zweihundert und fünfhundert Euro.“ Spätestens hier würden alle Frauenrechtlerinnen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Für Rembert war es lediglich eine finanzielle Vereinbarung. Nicht mehr. Danielas Leistungen waren fantastisch, sie ging im Bett ab wie eine Rakete und fünfhundert waren ihr mehrmals im Monat sicher. Dazu war sie diskret, sehr diskret. Sie vernachlässigte ihre sonstigen Aufgaben nicht. Nur im Schlafzimmer duzte sie ihn. Ansonsten blieb es beim Förmlichen „Sie“. Für Rembert war diese Lösung einfach und bequem, wenn auch teuer. Aber Daniela war es wert. Er würde ihr etwas hinterlassen. Wie viel, das wusste er noch nicht. Aber eine Summe, die für sie sehr viel sein würde.

Wem sollte er sonst noch etwas hinterlassen? Seinem Sohn aus erster Ehe? Er würde ihm etwas hinterlassen müssen. Auch wenn dieser Sohn der größte Dummkopf war, den er kannte. Oft fragte er sich, ob er wirklich der Vater war. Er, Rembert, hielt sich selbst für ein durchaus gelungenes Exemplar der Spezies Mann. Sein Sohn war für ihn ein misslungenes Exemplar: dick, dumm und gefräßig. Dass das nur zum Teil stimmte, hatte Rembert nie bemerkt, da das Interesse an seinem Sohn minimal war. Rembert hatte ihn in eine seiner Firmen gesteckt, die sich mit Fahrbahnmarkierungen befasste. „Gerade Striche ziehen, das wird er schon können“, dachte er und hatte Recht.

Vater und Sohn sahen sich, obwohl beide kaum zwei Kilometer auseinander wohnten, nur wenn es unumgänglich war: an Geburtstagen und zu Weihnachten. Trotzdem gab es immer Streit. Remberts Sohn konnte sich nicht beherrschen, er war jähzornig, er schrie, pöbelte und prügelte sich. Rembert mochte ihn nicht. Möglichst wenig sollte er erben.

Seine erste Frau war bei der Scheidung abgefunden worden. Sie hatte keine Ansprüche mehr. Außerdem wusste Rembert nicht einmal, wo sie sich zurzeit aufhielt. Er hatte sie zu Beginn der Ehe geliebt, doch die Trennung war vorhersehbar. Es war zu viel geschehen.

Seine zweite Frau, eine lokale Schönheitskönigin, – Rembert hatte in der Jury gesessen – war sehr zielstrebig in die Beziehung gegangen. Noch in der Nacht ihrer Wahl hatte sie sich intensiv bei Rembert bedankt. Als sie nach sechs Monaten heirateten, wusste Rembert, auf wen er sich eingelassen hatte: eine Goldgräberin. Der Ehevertrag war bewusst so lang und so kompliziert, damit das schöne Dummchen den Durchblick verlor. Nach zwei Jahren stand sie mit nicht sehr viel mehr da als vor der Ehe. Kinder waren aus dieser Ehe nicht hervorgegangen.

Auch seine dritte Ehe scheiterte. Immerhin gab es eine Tochter, Laura. Diese hatte sich ihm entzogen. Rembert hatte sie zum letzten Mal kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag gesehen. Sie hatte gerade ihr Abitur gemacht und teilte ihm nur mit, dass sie in die USA gehen würde.

„Soll ich …?“, hatte er damals gefragt.

„Nein, das schaffen Mama und ich schon“, war die knappe Antwort gewesen.

Seitdem gab es keinen Kontakt mehr, weder zu Laura, noch zur Mutter. Das war jetzt acht Jahre her.

Was blieb ihm? Eine Stiftung? Oder doch eine größere Summe für Daniela? Aber das hielt Rembert für übertrieben. Nur wegen zugegebenermaßen exzellenter Leistungen im Bett? Nein! Vielleicht etwas mehr als gedacht, aber nicht zu viel.

Rembert war ins Haus zurückgekehrt und setzte sich in seinem Arbeitszimmer in einen gewaltigen Sessel. Er liebte es, Briefe mit dem Finger aufzureißen. Zunächst öffnete er so die Post der drei Banken. Ein breites Lächeln ging über sein Gesicht: „Rembert, du bist ein Genie. Du hast mal wieder alles richtig gemacht.“

Danach entsorgte er einige Reklamesendungen. Dann nahm er den letzten Brief und erstarrte, als er die Adresse sah: Herrn Rembert v. Mahldorf. Nie hatte er mit irgendjemandem über das „von“ gesprochen. Auch seine Bemühungen von damals, als es um die Wiederherstellung des alten Namens ging, waren sehr diskret gewesen. Jetzt stand dort dieses „von“, reduziert auf einen Buchstaben. Mit leicht zittrigen Fingern entnahm er eine gefaltete Briefkarte: Münster 1994, Eindrücke einer Stadt. Er öffnete die Briefkarte und sah nur einen einzigen Satz: „Die Rache ist mein, spricht der Herr.“ Rembert sank in seinem Sessel zusammen.

Kapitel 2

Greven, der gleiche Tag, 18.00 Uhr

Romuald Mahldorf nannte sich selbst immer Rom. Den Vornamen Romuald hielt er für eine Boshaftigkeit seines Vaters. Doch das stimmte nicht. Bei der Wahl des Vornamens hatte sein Vater noch eine vage Hoffnung auf das kleine adelige „von“ gehabt. Doch das wusste Romuald nicht und er würde es nie erfahren. Für Rom war klar, dass sein Vater ihn nicht mochte, nie gemocht hat. So ganz stimmt diese Annahme nicht, einmal, vor zweiundzwanzig Jahren, hatte er etwas für ihn getan und damit etwas in Gang gesetzt, was bis heute seine Auswirkungen hatte.

Danach hatte Rom angefangen zu trinken. Jetzt trank er jeden Abend eine halbe Flasche Schnaps, Gabiko wie man in Greven sagt: ganz billiger Korn. Dass seine Leber das noch aushielt sprach für die Qualität dieses Organs. Trotzdem war Rom kein klassischer Alkoholiker. Er trank nicht, weil er süchtig war, sondern um schlafen zu können. Um überhaupt schlafen zu können, hatte er es zuerst mit frei verkäuflichen Mitteln versucht. Aber er hätte dieses Zeugs wohl kiloweise schlucken müssen, damit es Wirkung gezeigt hätte. Ein Arzt hatte zu einem Abendspaziergang geraten. Die frische Luft würde das Einschlafen erleichtern. Rom musste sich sehr zusammenreißen, um den Arzt nicht zu verprügeln, schließlich hatte er bei seiner Arbeit den ganzen Tag frische Luft.

Seine Prügeleien waren ein Problem. Sobald er Widerspruch vermutete oder sich angegriffen fühlte, schlug er zu. Das hatte ihm mehrere Prozesse eingebracht, die zumeist mit Geldstrafen, einmal mit einer Bewährungsstrafe endeten. Der Richter hatte jedoch eine Auflage gemacht: Bewährung nur, wenn er einer Entziehungskur zustimmen würde. Wohl oder übel hatte er sich einer fast achtwöchigen Kur in Lengerich unterzogen.

Nebenbei hatte man dort alle möglichen Tests mit ihm gemacht. Einer dieser Tests hatte gezeigt, dass Rom lediglich über einen IQ von 80 verfügte, das heißt, er war nur bedingt zurechnungsfähig. Rom hatte gelächelt, als er das Ergebnis vernahm. Er hatte es diesen Schwachmaten gezeigt. Er wusste, dass er nicht der Intelligenteste war. Aber ein IQ von 80: Blödsinn. Die Ärzte hätten sich nur seine Schulzeugnisse ansehen müssen. Die sogenannte Mittlere Reife hatte er gepackt, ohne auch nur einmal sitzen zu bleiben. Mit einem IQ von 80 schafft man das nicht. Man sollte sich nicht nur auf Tests verlassen. Aber Rom war nun offiziell nicht mehr voll zurechnungsfähig. Das war es, was er gewollt hatte. Wenn er jetzt zuschlug, konnte ihm nicht mehr viel passieren.

Dieser Gedankengang war nicht ganz richtig. Rom hatte den Mund nicht halten können und so machte diese Nachricht in Greven die Runde. Rom fand nun niemanden mehr, den er solange provozieren konnte, bis es zur Schlägerei kam. Einmal war es dann doch passiert. Großzügig hatte Rom gesagt: „Gehen wir nach draußen. Das wird nachher kein appetitlicher Anblick sein.“ Es war auch kein appetitlicher Anblick. Rom war in eine Falle geraten. Draußen hatten drei weitere junge Männer gestanden, die Rom so gewaltig verprügelt hatten, dass er erst nach zwei Wochen das Krankenhaus verlassen konnte. Seitdem war er vorsichtiger geworden und trank mehr.

Roms Haus lag am Stadtrand von Greven, im äußersten Süden. Grevener nannten diesen Stadtteil auch „die Vogelwelt“, weil ein Teil der Straßen nach Singvögeln benannt war: Amsel, Drossel, Fink und Star fanden sich dort in den Straßenbezeichnungen wieder.

Der Garten von Roms Haus machte den Eindruck, als hätten verschiedene Saatgutproduzenten neue Unkrautsorten ausprobiert. Manchmal wurde es sogar Rom zu wild. Dann kämpfte er mit einer Motorsense gegen die Wildnis an.

Roms Vater behauptete immer, im Haus würde es aussehen, wie in einer Rumpelkammer. Das war untertrieben. Es sah eher aus wie auf einer Mülldeponie. Rom kam gewöhnlich gegen 18.00 Uhr nach Hause. Stocknüchtern. Während der Arbeit trank er nicht. Nie. Typische Alkoholiker trinken den ganzen Tag über. Rom nicht. Typische Alkoholiker decken ihren Kalorienbedarf hauptsächlich aus dem Alkohol. Rom nicht. Zwei Tiefkühlpizzen oder vier Curry-Würste mit Pommes waren sein normales Essen. Fastfood war Roms Leidenschaft und er hatte eine entsprechende Figur entwickelt: 150 kg bei 1,80 m Körpergröße.

Es war kurz nach 18.00 Uhr, als Rom sein Haus betrat. Ein Tritt gegen die am Boden liegende Post und der Weg in die Küche war wieder zu erkennen. Doch halt. Er erwartete eine Rechnung. Seine Heizung war ausgefallen, er hatte kalt duschen müssen. Er bückte sich und sammelte die Tagespost wieder auf. Die Reklame flog über seine Schulter auf den Boden zurück: Küchenprospekte von drei Möbelhäusern. Wer kauft sich eigentlich jährlich eine neue Küche? Dann entdeckte er den Brief vom Heizungsbauer. Er riss ihn auf und überflog die Rechnung. Fast 700 €. Damit hatte er gerechnet und er würde den Betrag überweisen. Dann war da noch ein Brief. Er öffnete auch ihn. Der Inhalt: ein Foto. Das Bild einer heftig zusammengeschlagenen Frau, einer jungen Frau, leicht zu erkennen, denn die Frau war nackt. Unter dem Foto: „Das warst du. Ich musste dafür büßen. Jetzt bist du an der Reihe.“ Rom rannte zum Kühlschrank, riss eine Schnapsflasche heraus, öffnete sie und trank sie zur Hälfte aus. Er wartete eine Weile und wollte nachdenken. Schließlich wollte er noch einmal aus der Flasche trinken, aber der Alkohol begann zu wirken. Der Schnaps floss ihm aus dem Mund, Rom schwankte und fiel der Länge nach hin. Der Alkohol ergoss sich über seinen Körper.

Kapitel 3

Greven, der gleiche Tag, 19.30 Uhr

Brigitte – genannt Biggi – Lagonda war trotz ihres Nachnamens waschechte Grevenerin. Ihren Nachnamen hatte sie einem italienischen Vorfahren zu verdanken, der vor weit über einhundert Jahren aus Norditalien nach Westfalen gekommen war, um beim Bau des Dortmund-Ems-Kanals zu helfen. Agenten waren damals durch ganz Europa gezogen, um Arbeiter anzuwerben. Handarbeit war noch sehr gefragt. Franco war stark, er konnte arbeiten, lange und ausdauernd. Er wurde schnell Vorarbeiter einer kleinen Gruppe von Italienern, denn er war der Einzige, der es schnell geschafft hatte, Deutsch zu sprechen.

Als diese Gruppe sich bis auf die Höhe von Greven vorgearbeitet hatte, sah Franco eines Abends im Schein der untergehenden Sonne eine junge Frau. Es war Liebe auf den ersten Blick, auch bei der jungen Dame. Ihre Eltern hatten nichts gegen diese Beziehung. Bei sechzehn Kindern war jeder Esser weniger ein Gewinn.

Biggi war nun die letzte dieser Familie. Sie war schon über vierzig, sah aber jünger aus, sehr viel jünger. Der Alterungsprozess war an ihr anscheinend spurlos vorübergegangen. Sie wohnte in einem Einfamilienhaus in Grevens Norden, das ihr aufgrund eines Gerichtsentscheids zugesprochen worden war. Finanziell ging es ihr gut, ausgesprochen gut sogar. Theoretisch war sie nicht einmal auf ihr Einkommen als Leiterin der Kosmetikabteilung in einem großen münsterschen Kaufhaus angewiesen, da sie über große Rücklagen verfügte. Sie liebte es aber, dort mit ihrem Alter zu prahlen. Ihr blendendes Aussehen führte sie auf die von ihr empfohlenen Pflegeprodukte zurück, was sehr verkaufsfördernd war.

Sie lebte allein. Als sie noch jünger war, hatte es einige Male die Möglichkeit gegeben, sich fest zu binden. Aber Biggi hatte eine Charakterschwächen: Sie nutzte Männer lediglich finanziell aus. Das sprach sich rum. Trotz ihres attraktiven Äußeren fanden sich schließlich keine ernsthaften Interessenten mehr. Seitdem wechselten ihre Beziehungen immer schneller. Und sie wurden jünger, eher ihrem Aussehen entsprechend als ihrem Alter. Biggi war nicht zufrieden mit diesem Zustand, aber wie sollte sie ihn ändern?

Als sie gegen 19.30 Uhr von der Arbeit zurückkehrte, öffnete sie wie immer vorsichtig die Haustür. Sie wollte die potentielle Post nicht beschädigen. Doch sie bekam selten Post, zumeist Reklame. Diesmal aber lag ein Brief auf dem Boden. Kein Absender. Sie öffnete den Brief, eine gefaltete Briefkarte: Impressionen der Grevener Kirmes von 1994. Auf der Innenseite ein kurzer Text: „Früher konnte man für 100 DM von dir fast alles bekommen, für 200 DM wirklich alles. Was kostet bei dir ein Mensch?“

Biggi schrie so laut sie konnte. Dann brach sie zusammen.

Kapitel 4

Am selben Tag, nachmittags in Münster, Geistviertel und Mauritzviertel

Der ehemalige Richter Ernst Gödden und der ehemalige Staatsanwalt Werner Scherzberger bekamen fast zeitgleich Post. Auch der Inhalt der beiden Briefe war identisch. Ein Bild des Gerichtsgebäudes auf dem Äußeren der Klappkarte und ein Text im Innern: „Was kostet die Freiheit? Ich bin zurück und fordere Gerechtigkeit.“

Die beiden ehemaligen hohen Beamten kannten sich. Vor langer Zeit hatten sie sich sogar sehr gut gekannt. Als jüngere Beamte hatten sie gemeinsam in einem Golfclub gespielt, sie hatten gemeinsam mit ihren Frauen aktiv am gesellschaftlichen Leben des Clubs teilgenommen. Später war etwas geschehen, was eigentlich nie hätte passieren dürfen. Dadurch hatten sie sich auseinandergelebt. Es hatte keinen Streit gegeben, nur sie konnten nicht mehr miteinander reden. Es gab für sie nur ein Thema und es war genau das Thema, über das sie weder reden konnten noch wollten. Also schwiegen sie sich an bis Ernst Gödden, ohne Werner Scherzberger zu informieren, den Verein verließ und sich einem anderen Verein anschloss. Beruflich hatten sie noch häufiger zusammen im Gerichtssaal gesessen, lustlos und wenig überzeugend. Später hatten sie es geschafft, nicht mehr im gleichen Prozess eingesetzt zu werden. Nach ihrer Pensionierung war der Kontakt völlig abgerissen, kein Kontakt seit mehreren Jahren.

Scherzberger saß wohl zwei Stunden in seinem Arbeitszimmer. Er hatte versucht, mit der Situation klar zu kommen. Doch ohne Erfolg. Dann griff er zum Telefon und tat das, was er eigentlich für immer hatte vermeiden wollen. Er rief Ernst Gödden an.

„Gödden.“

„Ich bin’s. Hast du auch Post bekommen?“

„Ja.“

„Ich dachte, er wäre tot.“

„Das dachte ich auch.“

„Und jetzt?“

„Wir müssen uns treffen.“

„Wann und wo?“

„Dort, wo niemand mithören kann. Übermorgen um 10.00 Uhr auf dem Waldfriedhof Lauheide.“

„Einverstanden.“

Kapitel 5

Greven, der gleiche Tag, 20.30 Uhr

Es hatte lange gedauert, bis Brigitte Lagonda wusste, was sie zu tun hatte. Es geschah allerdings nicht aus Überzeugung, sondern nur, weil sie sich nicht mehr zu helfen wusste. Gegen 20.30 Uhr nahm sie all ihren Mut zusammen und rief den Mann an, dem sie alles verdankte, ihr Vermögen und ihr schlechtes Gewissen, den sie aber seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr gesprochen hatte, obwohl er höchstens einen Kilometer Luftlinie entfernt wohnte. Solange sie mit anderen Menschen zu tun hatte, bei der Arbeit oder privat, war sie abgelenkt. Sobald sie aber alleine war, was immer häufiger vorkam, hatte sie nur einen Gedanken: Warum hast du das damals gemacht? Und sie kannte die Antwort: aus Geldgier.

„Mahldorf.“

„Lagonda. Ich habe Post von ihm bekommen.“

„Ich ebenfalls. Hat er Sie bedroht?“

„Nein. Er hat lediglich gefragt, was bei mir ein Mensch kostet.“

„Wieso diese Frage? Erinnern Sie sich an einen Zusammenhang?“

„Natürlich. Als er damals aus dem Gerichtssaal geführt wurde, wandte er sich noch einmal an mich und stellte mir diese Frage. Was will er?“

„Ich weiß es nicht.“

„Und was hat er Ihnen geschrieben?“

„Er hat meinen letzten Satz im Prozess zitiert: ‚Die Rache ist mein, spricht der Herr.‘ Ich erinnere mich noch sehr genau.“

„Ich dachte immer, er sei im Gefängnis gestorben. Das haben Sie mir vor etwa zwölf Jahren auf dem Wochenmarkt zugeflüstert.“

„Ich wollte Sie beruhigen.“

„Das ist Ihnen nur für einen kurzen Zeitraum gelungen. Die Erinnerung kommt aber immer wieder zurück. Und was machen wir jetzt?“

„Ich weiß es noch nicht. Wir müssen abwarten. Wenn er etwas will, muss er sich melden und seine Forderungen stellen. Ich habe genügend Geld, um für unsere Sicherheit zu sorgen. Aber zunächst müssen wir wissen, was er will.“

„War er vielleicht schon hier und hat uns beobachtet?“

„Der Gedanke ist mir auch schon gekommen, denn mein Brief wurde im Briefverteilungszentrum Reckenfeld abgestempelt.“

„Meiner auch. Warum aber kommt er jetzt erst zurück, nach zweiundzwanzig Jahren?“

„Darauf kann ich mir keinen Reim machen. Für mich ist das völlig unverständlich.“

„Nach so langer Zeit ist doch alles verjährt. Nur Mord verjährt nicht und so eine Schuld haben wir nicht auf uns geladen.“

„Warten wir einfach ab. Wir sollten aber mit niemandem darüber reden. Der Fall ist seit zweiundzwanzig Jahren abgeschlossen. Niemand denkt mehr daran. Und deshalb sollten wir keine schlafenden Hunde wecken.“

Kapitel 6

Dienstag, 9.8.2016, 6.00 Uhr, Greven