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Lotos,
orientalisches Symbol der Vollkommenheit

(Sämtliche Teile der Lotos-Pflanze werden im Osten als Arznei verwendet)

Ernst Stürmer

Schatzhaus China-Apotheke

Einstieg in die HeilKräuterKunde der TCM

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© 2017 Ernst Stürmer

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback ISBN 978-3-7439-3169-5

Hardcover ISBN 978-3-7439-3170-1

e-Book ISBN 978-3-7439-3171-8

Cover: Lotosblume (Foto: Ernst Stürmer)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Der Autor: Ernst Stürmer, geboren 1932 in Linz/Donau, studierte Geschichte und Romanistik in Graz, Wien und Paris und schloss 1958 seine Studien mit dem Doktorat der Philosophie ab.

Beruflich als Journalist und Sachbuchautor vertiefte er sich in die traditionellen Kulturen, Heilkünste, Religionen und Weisheitslehren Asiens, Lateinamerikas und Afrikas.

Mehrere Bücher hat er Gesundheitsthemen gewidmet, u.a. „Asiatische Heilkunst“, „Endlich richtig schlafen“, „Atme dich gesund“, „Geistig fit bleiben“, „Nie mehr wetterfühlig“, „Nuad“ (Die traditionelle Thai-Massage). „Gesunder Händedruck“ (Hand-Akupressur & Hand-Reflexzonenmassage), „Apotheke der Indianer“ und „Lebenskraft Lachen“.

Inhalt

Beipackzettel

I. FUNDAMENT

IM REICH VON YIN UND YANG

Der freie Fluss des „Tschi“

II. SCHATZKAMMER

SÜSSHOLZ / Gan Cao / Glycyrrhiza uralensis

Süßholzraspeln tut gut

GLÄNZENDER LACKPORLING/Ling Zhi/Ganoderma lucidum

Pilz der Zehntausend Jahre

JIAOGULAN / Gymnostemma pentaphyllum

Kraut der Unsterblichkeit

GOJI-BEEREN / Gou Qi Zi / Lycium barbarum

Beeriger Hochadel

SCHMETTERLINGSPORLING / Yunzhi / Coriolus versicolor

Quelle von PSK und PSP

CHINES. BEERENTRAUBE/ Wu Wei Zi / Schisandra chinensis

Beere der fünf Geschmäcker

CHINES. ENGELWURZ / Dang Gui / Angelica sinensis

Schutzengel für Xue

PU-ERH-TEE / Pu`er cha / Camellia sinsensis (Qingmao)

Schatz der Nation

GINSENG / Ren Shen / Panax Ginseng

Himmlische Arznei

VIELBLÜTIGER KNÖTERICH / He Shou Wu / Polygonum multiflorum

Der Herr mit den schwarzen Haaren

GINKGO / Bai Guo / Ginkgo biloba

Der unverwüstliche Ur-Baum

CHINES. TRAGANT / Huang Qi / Astragalus membranaceus

Der gelbe Senior

SHII TAKE / PASANIA-PILZ / Xiang Gu / Lentinula edodes

König der Pilze

GRÜNER TEE / Lucha / Camellia sinensis

„Tee“isten haben mehr vom Leben

WEISSE MAULBEERE / Sang Ye … / Morus alba

Der Seide wegen

REHMANNIA / Di Huang / Rehmannia glutinosa

Chinesischer Fingerhut

CHINESISCHER RAUPENPILZ/Dongchong Xiacao/Cordyceps

Winterwurm-Sommergras

GROSSKÖPFIGES SPEICHELKRAUT / Bai Zhu / Atractylodes macrocephala

Die Milz dankt

WÜSTENCISTANCHE/Rou Cong Rong/Cistanche deserticola

„Ohne Eile“

KLAPPERSCHWAMM / Maitake / Huai Su Gu / Grifola frondosa

Henne der Wälder

GUTTAPERCHA-RINDE / Du Zhong / Eucommia ulmoides

Baum der Senioren und Athleten

SANCHI-WURZEL / Sanqi / Panax notoginseng

Dank der Fee >Drei-Sieben<

AFFENKOPF-PILZ / Hou Tou Gu / Hericium erinaceus

Oder Löwenmähne

HIMMELSHANF / Tian Ma / Gastrodia elata

Roter Dämonenpfeil

INGWER / Gan Jiang / Zingiber officinale

Knolliger Wärmeschutzmantel

LOTOS / He Ye / Nelumbo nucifera

Mystische Majestät

ANHANG

Pflanzenregister

Beschwerdenregister

Bildquellen

Nützliche Adressen: TCM-Apotheken

Beipackzettel

Die Lektüre des Buches dient der Information über bei uns erhältliche Schlüssel-Heilpflanzen aus der Apotheke der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Das Buch ist aber keine Anleitung zur Behandlung einer ernsthaften Erkrankung. (Das muss der Autor schreiben, weil es ihm das Gesetz befiehlt, aber ich mache den Vermerk aus ehrlicher Überzeugung).

Denn das Studium des vorliegenden Skriptums befähigt Leserinnen und Leser leider noch nicht, zum „Dr. med. Ich“ promoviert zu werden. Fragen Sie also ruhig Ihren (natürlich mit der altchinesischen Medizin vertrauten) Arzt oder Apotheker. Die wissen zum Glück längst, dass nicht sie heilen, sondern die Natur heilt: der „Arzt in uns“. Es gilt also, die Selbstheilungskraft ― den „inneren Hausarzt“ ― zu mobilisieren.

Das spricht sich sogar allmählich in fortschrittlichen Kreisen der modernen Schulmedizin herum, wie der als „Hormonpapst“ titulierte Universitätsprofessor Johannes Huber, Facharzt für Frauenheilkunde, bezeugt: „Der Körper“, schreibt er, „ist ständig dabei, sich selbst zu therapieren. Die Medizin hat letzten Endes nur eine Assistenzrolle. Die dominierende Rolle, den Posten des Chefarztes, wenn man so will, kommt dem Körper zu, er muss diese Arbeit selbst erledigen. So gesehen, ist jeder Mensch sein eigener Primar“.

Die Schulmedizin scheint also durchaus lernbereit zu sein.

Zurück zur Buchanwendung: vorliegendes Buch vermittelt das Kleine Einmaleins der von Abermillionen chinesischen Patienten in Jahrtausenden getesteten Heilkräuterkunde, ein Grundwissen also, das gegen alltägliche Beschwerden wappnen kann.

Letztes Ziel der TCM ist es gar nicht einmal, Krankheiten zu behandeln, sondern abzuwehren, zu verhindern. In alten Zeiten wurde der Arzt nur bezahlt, solange der Patient gesund blieb.

Die Lebensvorgänge optimieren: das ist der Weg. Gesund alt werden: das ist das Ziel.

I.

FUNDAMENT

Im Reich von Yin und Yang

Der freie Fluss des „Tschi“

Im Westen denken wir bei Traditioneller Chinesischer Medizin gewöhnlich zuerst an Akupunktur. In der Volksrepublik werden aber in der TCM nur 10% aller Erkrankungen mit Akupunktur (Nadelbehandlung), 5% mit Tuina (Massage) und Qigong (Bewegungs- und Atmungstherapie) behandelt, aber 85% (!!!) mit Arzneimitteln.

Als der Autor in seinem Wiener Reisebüro einmal ein Flugticket nach Kunming bestellte, fragte der Chef, ein Chinese: „Ah, Sie gehen Kräuter sammeln?“ Denn die Provinz Yunnan wird "der Kräutergarten Chinas" und deren Hauptstadt Kunming "die Apotheke Chinas" genannt. Für die Chinesen ist Yunnan bzw. Kunming das Mekka der Heilkunde. Sie pilgern sogar aus dem fernen Peking oder Hongkong und aus Übersee hierher, um Heilmittel und Heilwissen zu erwerben.

Für Freunde der chinesischen Apotheke und Arzneimitteltherapie lohnt sich also ein Ausflug nach Kunming.

Das traditionsreiche Kunming, im 13. Jahrhundert schon von Marco Polo besucht, ist längst ein Magnet des Fremdenverkehrs, gepriesen als „Stadt des ewigen Frühlings“, auf 2000 m Höhe eingebettet in eine wilde Natur. Die unterhalb des tibetischen Plateaus liegende Provinz Yunnan, deren Herz Kunming ist, kultiviert mehr als die Hälfte der Kräuter der Volksrepublik und verdient den Ehrennamen „Königreich der Blumen“.

Kunming/Yunnan ist ein idealer Platz, um sich in die Geheimnisse der chinesischen Naturmedizin einweihen zu lassen, die in unseren Breiten mittlerweile boomt. Schon in uralten Zeiten war Yunnan das Goldland der Heilpflanzen, das dank seiner günstigen Boden- und Wetterbedingungen einzigartige Pflanzenarten hervorbringt.

Heute ist Yunnan Tummelplatz chinesischer, europäischer und amerikanischer Forscher, die Heilpflanzenwissen für die moderne Medizin erschließen. Dr. Caroline Weckerle, Ethnobotanikerin der Universität Zürich, bestätigt: „Yunnan gilt aufgrund seiner großen Biodiversität als Hotspot der Naturstoffforschung.“

Wer sich für die Entstehung, Entwicklung und Anwendung des chinesischen Heilmittelwesens interessiert, wird in Kunming bzw. Yunnan reichlich fündig.

Wir greifen drei Schwerpunkte heraus: (1) den Heilmittelmarkt, (2) die älteste und schönste Apotheke und (3) einen Garten der Medizinalkräuter.

Mehr als getrocknete Chrysanthemen

1. Heilmittelmarkt

Sich an der Hotelrezeption den „Medicinal Herbs Market“ in Juhua Cun, Dongjiao Rd. in chinesischen Schrifteichen aufschreiben zu lassen und den Zettel einem Taxichauffeur auszuhändigen, ist die einfachste Weise, ans Ziel zu kommen. Wer es abenteuerlicher will, benutzt vom Stadtzentrum aus die Autobuslinie 5 oder 11 bis Dong Zhan (jeweils Endstation) und steigt dort in den Bus 12 um ― bis „Juhua Cun“.

Der Name Juhua Cun bedeutet auf Deutsch: „Dorf der getrockneten Chrysanthemenblüten“, ein würdiger Name für das Reich der gesunderhaltenden und heilenden Wurzeln, Stängel, Rinden, Samen, Früchte, Blätter und Blüten, die auf dem berühmten Medizinalmarkt feilgeboten werden.

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Selbstbedienung auf dem Heilmittelmarkt in Kunming: Der Knirps „testet“ Tian Ma (Gastrodia Elata).

Leidet er an Nervenschwäche oder Rheuma oder schon an seniler Demenz?

Der Arzneimittelgroßmarkt, von dem die lokalen Apotheken sackweise ihre Waren beziehen, beliefert zudem einheimische chinesische wie internationale Märkte.

Der weltweite Export der renommierten Yunnan-Arzneien bringt der Volksrepublik wertvolle Devisen. Doch nicht nur Apotheker und Händler sind auf Kunmings Heilmittelumschlagplatz willkommen, sondern ebenso Privatkunden.

Wie viele von den rund 7000 gegenwärtig in der TCM gebräuchlichen Heilmitteln pflanzlicher, tierischer oder mineralischer Herkunft auf dem Markt von Juhua Village präsentiert werden, hat noch niemand gezählt, aber auf die Besucher wartet ein riesiges Arsenal an Mitteln zur Regulierung der Verdauung und des Blutdrucks, zur Stärkung der Lunge oder der Leber, zur Steigerung der Potenz, zur Stillung von Blutungen usw.

Dubioses und Seriöses

Ein chinesischer Heilmittelmarkt ist auch ein Kuriositätenkabinett mit skurrilen und dubiosen Rezepten aus der traditionellen Volksmedizin wie geriebene Schildkrötenpanzer zur Stärkung der Muskeln, gestößelte Tausendfüßler zur Linderung von Rheuma oder pulverisiertes Hirschgeweih gegen Lungenkrankheiten. Denn auf den Medizinmärkten des Fernen Ostens und der Chinatowns rund um die Welt herrscht wie eh und je rege Nachfrage nach getrockneten Seepferdchen, Bärengallen, Antilopenhörnern, Nashornsalben oder Tigerknochen.

Grässliche, aber alltägliche Marktszene: der Händler hängt eine lebende Schlange an einen Haken, schneidet dem Tier den Bauch auf und „melkt“ das Blut in ein Trinkglas. Dazu einen Tropfen Schlangengalle, und fertig ist der Cocktail für Manager und Bürochefs zur Steigerung ihrer Manneskraft.

Die Verarbeitung von Millionen und Abermillionen Wildtieren zu Pulvern, Salben und Tinkturen ist schockierend, weil sie die einfachsten Regeln der Tierliebe und des Naturschutzes sträflich missachtet und das internationale Artenschutzabkommen ignoriert. Neben den obskuren Präparaten werden auf dem Juhua-Heilmittelmarkt aber massenhaft seriöse, wertvolle und wohlerprobte Grundstoffe der traditionellen Medizin für jede Geldbörse und jeden Zweck offeriert, speziell Samen, Wurzeln, Rinden, Blätter, Blüten, Früchte ― und Pilze.

Image Klarstellung: Die bei uns im Westen angewandten Rezepte aus der chinesischen Apotheke schließen grundsätzlich obskure oder den Artenschutz verletzende Präparate aus.

Im Zeichen des Flaschenkürbis

2. Traditionelle Apotheken

Die Vorläufer der chinesischen Apotheker waren Arzneienhändler, die neben dem Portal ihres Ladens einen Flaschenkürbis als Erkennungssymbol aufhängten. Solche Heilkundige, die im Zeichen der Kalebasse Krankheiten diagnostizierten und Medikamente verkauften, gab es schon in der Han-Dynastie in den ersten Jahrhunderten nach Christus.

In Kunming gibt es ein Apothekenviertel und zahlreiche Apotheken und Kräuterhandlungen in allen Stadtteilen. Die modernen Apotheken und die Warenhäuser haben zumindest eine Abteilung für traditionelle Medizin.

In der typischen altertümlichen TCM-Apotheke, deren Eingang mit Holzschnitzereien verziert ist, liegt der Duft der Kräuter in der Luft. Nicht die Pharma-Industrie empfängt uns im Laden ― und nicht die Medizinalchemie, sondern die Natur. Reihen um Reihen hölzerner Schubladen sowie Keramikgefäße, Glasflaschen und Tiegel bergen die Naturschätze.

Der traditionelle Apotheker braucht nur wenige technische Hilfsmittel und Handwerkzeuge, wenn er die Rohdrogen pharmazeutisch aufbereitet: eine Trocknungsvorrichtung, den Abakus (antikes Rechenbrett), primitive Waagen, Schneidemesser und Mörser.

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Stammkunde in der Apotheke

Die Kunden können dem Apotheker auf die Finger schauen, wenn er die vom Arzt verschriebene Arznei auf einem altgedienten Tisch zubereitet: die Pillen, Salben, Tränke, Pulver und dergleichen. Er schneidet die Zutaten in Scheiben oder er pulverisiert sie. Pillen dreht er händisch, nachdem er die einzelnen Bestandteile zu feinem Pulver vermahlen und Bindemittel wie Honig oder Bienenwachs beigefügt hat. Für Arzneisäfte presst er frisch Kräuter unter Beimengung von etwas Wasser aus. Um medizinischen Wein zu erzeugen, werden die Substanzen zerkleinert und in einem Steingutgefäß in starken Alkohol eingelegt.

Im Allgemeinen werden in einer traditionellen Apotheke persönliche Medikamente verabreicht. Denn der untersuchende TCM-Arzt stellt ein individuelles Rezept aus, welches das Alter, das Geschlecht, die Körpergröße, die Verfassung, das Lebensmilieu und andere Einflussfaktoren des Patienten berücksichtigt. Westliche Medikamente werden nach feststehenden Formeln erzeugt, als ob es das Einheitsmodell Mensch gäbe. In der TCM wird jeder Patient als Unikat betrachtet.

Die TCM liebt das maßgeschneiderte Heilmittel, abgestimmt auf die individuellen Bedürfnisse jedes einzelnen Patienten. In der Regel wird ein chinesisches Rezept aus 4 bis 24 Stoffen komponiert.

Die Komponenten einer Rezeptur sind die > Kaiser- oder Herrscher-Arznei, die > Minister-Arzneien, die > Polizisten-Arzneien und die > Botschafter-Arzneien.

Der „Kaiser“ ist die Hauptarznei: sie bekämpft die Hauptursache der Krankheit.

Die „Minister“ assistieren dem Kaiser und unterstützen bzw. verstärken das imperiale Kraut.

Die „Polizisten“ (Assistenten, Adjutanten) sind Hilfsarzneien, die u.a. unerwünschte Nebenwirkungen korrigieren, also z.B. die überschießende Wirkung einer Rezeptur verhindern oder vermindern.

Die „Botschafter“ fungieren als Vermittler. Sie lenken die Wirkrichtung auf die gewünschten Energieleitbahnen und Organe.

Freilich werden auch in der traditionellen chinesischen Apotheke vorgefertigte Medikamente verkauft ― und das schon 7 Jahrhunderte früher als in Europa.

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Li Tieguai, einer der 8 Unsterblichen der daoistischen Mythologie, ist der Schutzpatron der Apotheken. Dargestellt wird er in der Regel mit einer eisernen Krücke

Ein Verkaufsschlager heutzutage ist z.B. das „Yunnan bai yao“, ein Mehrzweckmedikament. Der Hauptbestandteil des aus über 100 Arten von Kräutern zusammengesetzten Volksheilmittels ist Sanqi (Notoginseng), ein Kraut, das wir S. 281 vorstellen.

Die getrocknete Sanqi-Wurzel ist die Grundsubstanz des Bestsellers „Yunnan bai yao“, ein Produkt, das zur Standardausrüstung der chinesischen Spitzensportler gehört und den Bewegungsapparat mit seinen Gelenken, Muskeln, Sehnen und Bändern fit hält. Es wird vor allem gegen Blutungen, Quetschungen, Verstauchungen, Prellungen, Zerrungen, Schwellungen, Risse und Abnützungen eingesetzt.

Fu Lin Tang

Im Unterschied zu einer westlichen Apotheke beschäftigt eine alte chinesische Apotheke Ärzte als Angestellte. Jeder Kunde kann also in der Apotheke einen Arzt konsultieren, dessen Verschreibung gleich an Ort und Stelle besorgt werden kann.

Für ausländische Besucher ist eine ärztliche Untersuchung und Beratung durch Sprachbarrieren erschwert, denn nur wenige Ärzte der traditionellen Medizin beherrschen Englisch und wohl kaum einer Deutsch.

Ein Muss für TCM-Interessenten ist der Besuch der ältesten und schönsten Apotheke Kunmings: „Fu Lin Tang“. Das geschichtsträchtige Holzgebäude in der Altstadt Kunmings ist im eleganten Baustil der Ming- und Qing-Dynastie errichtet.

In 3 Etagen, die durch enge knarrende Holztreppen verbunden sind, entfaltet sich anschaulich das traditionelle Apothekenwesen Chinas. Die untere Etage ist der Verkaufsraum mit reichhaltigem Angebot. Die mittlere Etage ist der Arbeitsraum, wo in Holzschubladen an die 300 verschiedene Grundstoffe lagern, die ― sortiert und gewogen ― nach uralten Rezepten fachmännisch zu Arzneien vermischt werden. Keine am Fließband erzeugten chemischen Hämmer mit schneller Wirkung streben die traditionellen Apotheker an, sondern in langwierigen Prozessen hergestellte Medikamente, die in wochen- und monatelanger Therapie ihre nachhaltige Wirkung erzielen, abführend, vitalitätsfördernd, schmerzstillend, entzündungshemmend, keimtötend, libidosteigernd oder schweißtreibend, eben den jeweiligen Bedürfnissen und Beschwerden eines Patienten entsprechend.

Die Tradition der Kräuterheilkunde hat in China drei Methoden entwickelt, die Heilpflanzen aufzubereiten: mittels Feuer, mittels Wasser und ― die kombinierte Methode ― mittels Feuer und Wasser.

Die Feuer-Methode besteht im Trocknen, Dörren, Bräunen, Rösten, Braten, Absengen und Verbrennen (in der Moxibustion); die Wassermethode im Anfeuchten, Einweichen und Ausziehen durch Alkohol; die Feuer+Wasser-Methode im Dämpfen, Destillieren und Abkochen.

Die Abkochung ist in der Regel die Methode der Methoden, einerseits um Giftstoffe unschädlich zu machen und anderseits um Heilstoffe zu extrahieren.

Die obere Etage der „historischen“ Apotheke dient als Büro, das aber nicht mehr mit dem archaischen Rechenbrett, sondern mit modernen Computern arbeitet. Kunmings und Yunnans älteste Apotheke „Fu Lin Tang“ kommt nicht ohne digitale Buchhaltung aus, denn mittlerweile ist das 1857 als Familienbetrieb gegründete Unternehmen das Herzstück einer großen Apothekenkette mit über 100 Niederlassungen in Peking, Shanghai und in ganz China. Bilder an der Wand des Stammhauses zeigen die wechselhafte Geschichte der Musterapotheke mit ihren Höhen und Tiefen.

Aus den rund 7000 verfügbaren Arzneimitteln (pflanzliche, mineralische und tierische Stoffe) sind nur 600 bis 800 im praktischen ärztlichen Einsatz.

Die bevorzugten Darreichungsformen der chinesischen Apothekerwaren sind: 1. das Dekokt (die Rezeptbestandteile werden in kaltem Wasser eingeweicht und abgekocht) und 2. Granulate (Extrakte aus Rohdrogen in pulverförmigem Zustand: sie müssen nicht mehr gekocht werden, sondern können mit Wasser vermischt eingenommen werden).

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Li Shizhen mit Grabwerkzeug vor dem Medicinal Herb Garden

Paradies am Stadtrand

3. Garten der Medizinalkräuter (Medicinal Herb Garden)

Auf dem weitläufigen EXPO-Gelände (wo 1999 die 14. Welt-Gartenausstellung stattgefunden hat) wurde inzwischen ein beispielhafter Medizinalpflanzen-Garten angelegt, in welchem zirka 500 Gattungen hochwertiger Heilkräuter kultiviert werden. Der Weltgartenpark am Stadtrand ist nur 4 km vom Zentrum Kunmings entfernt. Ausstellungen auf dem Areal informieren über die Entstehung und Entwicklung der chinesischen Kräuterheilkunde und die Anwendung der Arzneien.

Gleich am Eingang des Medicinal Herb Garden wird der Besucher von der Statue des berühmtesten Kräutersammlers Chinas, Li Shizhen (1518-1593), empfangen. Der Arzt und Pharmazeut Li Shizhen wurde vom Volk zum Medizinkönig befördert, dem bis heute Tempelkult erwiesen wird. Er hat in lebenslanger Arbeit sein 1590 veröffentlichtes „Bencao gangmu“ (Enzyklopädie der Arzneien) geschaffen: das epochemachende und monumentale Standardwerk der altchinesischen Medikamente.

Li Shizhen beschreibt in seinem Lehrbuch nicht weniger als 1892 medizinische Pflanzen.

(Heute lässt sich die TCM natürlich von der modernen Naturwissenschaft bereichern und orientiert sich an der jeweils aktuellen Auflage der chinesischen Pharmakopöe, dem offiziellen Kompendium für Arzneimittel, das die Standard-Heilpflanzen nach dem neusten Stand der Forschung beschreibt.)

Galerien mit Schaubildern im Kunminger Garten der Medizinalkräuter bieten Einblicke in die TCM. Live erleben können die Gäste, wie die Heilpflanzen sorgfältig angebaut, gezupft, gesammelt, sortiert, gewaschen, getrocknet und gelagert werden.

Ein Blickfang im Garten der Medizinalkräuter ist der Pu-Erh-Tee (darüber S. 123 ff), Wenn ein Chinese „Kunming“ hört, denkt er an Pu-Erh-Tee, wenn er Pu-Erh-Tee hört, denkt er an Kunming.

Experten und Senioren

Studenten der Traditionellen Chinesischen Medizin der Universitäten Guangzhou und Hongkong sowie anderer Lehranstalten besuchen regelmäßig den Kunminger Medicinal Herb Garden zu Forschungszwecken.

Zu den Stammgästen gehören ferner Experten und Kapazitäten aus China und aus der ganzen Welt, die sich dem Studium der einzigartigen Wildpflanzen und der seltenen Kräuter widmen und auf der Suche nach Wirkstoffen gegen Krebs, Demenz und anderen Zeitübeln sind.

Man muss aber kein Wissenschaftler sein, um vom Garten der Medizinalkräuter zu profitieren. „Der Garten ist ein Hort des Wohlbefindens für die Kunminger“, erklärt Yang Ruoli, die Verantwortliche des Heilkräutergartens. „Viele Senioren kommen jeden Tag zuerst in unseren Heilkräutergarten, bevor sie im Park Sport treiben. Sie erfrischen sich am Geruch im Heilkräutergarten. Nach dem Sport kehren sie in den Heilkräutergarten zurück, um den erfrischenden Duft noch einmal einzuatmen. Danach haben sie Appetit und können gut schlafen.“

Nadelstecherei und Kneifen

Wir erinnern uns: Heute werden in der Volksrepublik China 85% aller Erkrankungen mit Arznei- und Lebensmitteln behandelt, 10% mit Akupunktur und 5% mit Tuina (Massage) und Qigong (Bewegungstherapie).

~ Akupunktur: Den Namen Akupunktur (lateinisches Wort für „Nadelstecherei“) haben katholische Missionare geprägt, als sie im 17. Jahrhundert in China der uralten Kunst der heilkundlichen Nadelung begegnet sind. Bei der Akupunktur werden spezielle Körperpunkte ― es gibt 361 klassische Punkte und rund 1000 Extrapunkte auf der Haut ― mit feinen Nadeln gereizt, um den Energiefluss im menschlichen Organismus zu regulieren. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO wirkt Akupunktur namentlich bei neurologischen Krankheiten (z.B. Hexenschuss und Migräne), orthopädischen Erkrankungen (Rückenschmerzen, Arthritis, Arthrose, Rheuma etc.), Hautkrankheiten (Ekzem), Allergien (Heuschnupfen), inneren Erkrankungen (wie Asthma, Bronchitis, Bluthochdruck, Gicht), Magen- und Darmerkrankungen (Verstopfung, Durchfall, Gastritis) und Schmerzen aller Art.

~ Tuina: Die Tuina genannte manuelle Technik der Traditionellen Chinesischen Medizin bedient sich der Massage- und Manipulationstechniken des Schiebens, Pressens, Knetens, Klopfens, Kneifens, Trommelns, Rollens, Reibens, Dehnens und Zwirbelns, um blockierte Leitbahnen der Lebensenergie durchlässig zu machen und den Energiekreislauf zu kräftigen. Die bewährte Heildisziplin Tuina hilft nicht nur bei Erkrankungen des Bewegungsapparates (Muskeln, Sehnen, Gelenke, Nervenbahnen), sondern ebenso bei grippalen Infekten, Husten, Schlafproblemen und Störungen der Ausscheidungsorgane.

~ Qigong heißt „Energie-Arbeit“ und ist eine chinesische Kunst der Gesunderhaltung und Lebensverlängerung. Qigong besteht aus einer Reihe von sanften meditativen Bewegungsabläufen, verbunden mit Atemübungen, die den Energiefluss im Körper harmonisieren und dadurch das Allgemeinbefinden stärken und der Krankheit entgegenwirken. Der Qigong-Praktikant erspürt durch Konzentration die Lebensenergie in seinem Körper, aktiviert sie, bewegt sie und lenkt sie in die von der Krankheit befallene Körperregion. Die geistig-körperlichen Übungen versprechen als Langzeitwirkung „die Geschmeidigkeit eines Kindes, die Gesundheit eines Holzfällers und die Gelassenheit eines Weisen“.

Ob Akupunktur, Tuina, Qigong ― oder eben Kräuteranwendung: verschieden sind nur die Wege, das Ziel ist ein und dasselbe: der freie Fluss des Qi. Das Qi muss fließen: das ist der Schlüssel zur Gesundheit in der TCM.

Wurzel des Lebens: Qi

Qi (sprich Tschi): das ist die kosmische Energie im Universum und die Lebenskraft im Menschen. Qi ist die allwirksame Urkraft, die die ganze Schöpfung durchpulst, weltengebärend und alles Leben tragend.

Die Chinesen unterscheiden 2 Qualitäten der Einheitskraft Qi: Yin mit negativer Ladung und Yang mit positiver Ladung. Die beiden polaren ― gegensätzlichen ― Kräfte ergänzen einander. Das ununterbrochene Zusammenspiel des vollendeten, ruhenden und festen Yin und des aktiven, bewegenden und sich entfaltenden Yang bestimmt alle Vorgänge im Mikro- und im Makrokosmos: alle Lebensabläufe und alle Naturerscheinungen des Himmels und der Erde.

Jede ärztliche Behandlung hat das Ziel: den freien Fluss des Qi im Menschen zu gewährleisten und die Yin- und Yang-Aktivitäten im Organismus in Einklang zu bringen. Die tausenderlei Beschwerden und Leiden der Schulmedizin haben in der TCM im Grunde also nur einen einzigen Namen: Qi-Störung.

Krank werden wir also nicht, weil ein Organ versagt. Das Organ ist hingegen das Opfer der Krankheit: nämlich des Versagens des Energiekreislaufs.

Im Menschen zirkuliert die Lebensenergie rhythmisch in einem Geflecht von Leitbahnen (= Meridianen), die wie ein Kanalsystem alle Bereiche des Körpers miteinander vernetzen. Neben den 12 Yin bzw. Yang zugeordneten Hauptmeridianen und 2 auf der Mittellinie der Körperhinterseite und der Körpervorderseite gelegenen Meridianen gibt es noch eine Vielzahl kleinerer Energieleitbahnen. Die Energieleitungen verteilen das Qi, das alle Organe versorgt und jede Zelle durchdringt.

Die Energiekanäle, durch die das Qi fließt, sind meist nach Organen benannt, die wir aus der westlichen Medizin bzw. Anatomie kennen: Herz, Lunge, Leber, Nieren, Milz, Dünndarm, Dickdarm, Gallenblase, Harnblase oder Magen.

Die Chinesen verstehen darunter aber nicht nur die physischen Organe, sondern die vitalen Funktionen, die sie den betreffenden Organen zuschreiben. Die chinesischen Funktionskreise von Herz, Lunge, Leber und Co. sind wesentlich umfassender als die von der Schulmedizin angenommenen Zuständigkeitsbereiche. Sie sind organübergreifende Netzwerke. Die TCM interessiert sich eben mehr für Funktionen und Prozesse als für Strukturen.

Nur drei beliebige Beispiele:

> Das „Herz“ ist in der TCM mehr als eine Blutpumpe. Es ist u.a. noch zuständig für Gedächtnis, Kreativität, Geistesgegenwart, Nervensystem, Stimmungen und psychische Störungen (etwa Beklemmungen). Oder: Brennen beim Urinieren, Zahnfleischbluten oder Stottern können mit Störungen der Herz-Funktion zusammenhängen.

> Die „Lunge“ kontrolliert die Haut und reguliert das Immunsystem. Wenn jemand an Haarausfall leidet, voll Selbstmitleid lamentiert oder sich arrogant benimmt ― so könnte das laut TCM unter Umständen auf eine Störung der Lungen-Funktion zurückzuführen sein

> Der „Leber“ werden die Muskeln, Sehnen und der Bewegungsapparat zugeordnet. Sie ist ebenso verantwortlich für die Augengesundheit oder für Finger- und Zehennägel. Auf psychischer Ebene können Fehlfunktionen der Leber-Energie beispielsweise Kleinmütigkeit, Unpünktlichkeit, Antriebslosigkeit oder Wut verursachen.

Also: wenn von Herz, Lunge, Leber etc. die Rede ist ― z.B. in Zusammenhang mit dem Herz-, Lungen- oder Lebermeridian ―, dann ist nicht das jeweilige Organ gemeint, sondern der Funktionskreis im Sinne der TCM.

Das Qi darf sich in den Verbindungswegen weder anhäufen noch verdünnen. Jedes Übermaß und jede Verminderung des Qi macht krank. Der Heilkundige kann je nach Bedarf Qi zuführen oder abziehen. Er kann die Energieströme schwächen, stärken, konzentrieren oder umleiten: durch Qigong, Tuina, Akupunktur, Heilkräuter und Diät.

Wandlungsphasen – nicht „Elemente“

Der kosmische Tanz von Yin und Yang läuft nach altchinesischer Naturphilosophie in fünf Phasen ab. Die sogenannten Fünf Wandlungsphasen (Wuxing) heißen Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Es handelt sich dabei nicht um Elemente im klassischen Sinn der abendländischen Philosophie („Elemente“ ist eine geläufige, aber falsche und irreführende Übersetzung), also nicht um reale Stoffe, sondern um Wandelzustände der Energie.

Kurzum: Wenn sich Yin und Yang im permanenten Wechselspiel mischen, entstehen je nach Mischungsverhältnis die Fünf Wandlungsphasen.

In einem positiven (erschaffenden) Kreislauf bringt eine Phase die andere hervor: das Holz das Feuer, das Feuer die Erde, die Erde das Metall, das Metall das Wasser und das Wasser das Holz.

In einem negativen (unterwerfenden) Kreislauf bezwingt eine Phase die andere: das Holz die Erde, die Erde das Wasser, das Wasser das Feuer, das Feuer das Metall und das Metall das Holz.

So vollzieht sich Werden und Vergehen.

„Hält man Yin und Yang und die Fünf Wandlungsphasen aus einer Beschreibung der chinesischen Medizin heraus“, meint der Taiji-Meister Chen Man-qing, „so ist das, als ob man über Mathematik spricht und Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division ignoriert.“

Für einen traditionellen chinesischen Arzt ist das System der Fünf Wandlungsphasen ein Kompass für Diagnose und Therapie. Das ist allerdings bereits das Große Einmaleins.

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Wuxing – die Fünf Wandlungsphasen bringen einander hervor und bezwingen einander

Die Wandlungsphasen sind verknüpft u.a. mit den Funktionskreisen: die Phase Holz mit den Funktionskreisen Leber und Gallenblase, die Phase Feuer mit Herz und Dünndarm, die Phase Erde mit Milz und Magen, die Phase Metall mit Lunge und Dickdarm und die Phase Wasser mit Niere und Blase.

Ein Beispiel: Nach dem Gesetz der Fünf Wandlungsphasen (Bezwingungsreihenfolge) führt eine schwere Störung des Funktionskreises Leber (Holzphase) auf lange Sicht zu einer Störung des Funktionskreises Milz (Erdphase). Eine Milz-Störung zieht eine Nieren-Störung nach sich, eine Nieren-Störung eine Herz-Störung, eine Herz-Störung eine Lungen-Störung, eine Lungen-Störung eine Leber-Störung und eine Leber-Störung eine Milz-Störung.

Als Unsinn gebrandmarkt

Krankheitsbilder sind, wie gesagt, energetische Entgleisungen, die nach chinesischer Gesundheitslehre in erster Linie durch 5 innere ― psychische ― Ursachen (Ärger/Zorn, Lust, Sorge, Traurigkeit und Grübeln) und durch 5 äußere ― klimatische ― Ursachen (Wind, Hitze, Feuchtigkeit, Trockenheit und Kälte) hervorgerufen werden.

Die in allen Geschöpfen strömende Urenergie heilt. Nicht der Arzt oder Apotheker kuriert also, sondern die dem Menschen innewohnende Regenerationskraft: der „innere Arzt“. Arzt und Apotheker sind in China nur Diener der Natur. Heilung ist das Werk der Lebenskraft. Kurzum: die altchinesische Medizin mobilisiert Qi ― die Selbstheilungskraft des Organismus.

Schwerpunkt der altchinesischen Medizin ist aber keineswegs die Kunst des Heilens, sondern die Kunst des Vorbeugens. Die sogenannte Präventiv-Medizin ist das Fundament des chinesischen Gesundheitswesens.

Schon der mythische Urkaiser Huangdi (2696-2598 v. Chr.), der laut Überlieferung die Chinesen in die Medizin eingeführt hat, prangerte es als Unsinn an, Arzneien erst zu verabreichen, wenn sich eine Krankheit schon entwickelt hat. Er argumentierte plausibel: Es ist zu spät, erst einen Brunnen zu graben, wenn man durstig ist oder erst Waffen zu schmieden, wenn der Kampf in vollem Gange ist.

Kurzum: Der Arzt muss die ersten Anzeichen für aufkommende Leiden erkennen und deuten können, noch bevor sich eine Krankheit manifestiert.

Ein chinesisches Sprichwort: „Um eine Krankheit zu behandeln, bedarf es keines großen Arztes, um die Gesundheit zu erhalten aber eines wahren Meisters.“ Im alten China wurde der Arzt nur honoriert, solange der Patient bzw. das Dorf gesund war.

Der traditionelle Arzt ist also bemüht, energetische Störungen frühzeitig zu entdecken.

Wie erfolgt eine „Befunderhebung“ auf Altchinesisch?

1. Visuelle Diagnose (Inspektion von Augen, Zunge und Gesicht).

2. Diagnose durch Hören und Riechen (Stimme, Atemgeräusch, Körpergeruch, Mundgeruch, Uringeruch des Patienten).

3. Befragende Diagnose (Krankheitsgeschichte = Anamnese, Appetit, Durst, Emotionen, Schlaf, Träume, Stuhlgang usw.).

4. Abtastende Diagnose (Schwerpunkt: Pulsfühlen). Der chinesische Arzt unterscheidet einen oberflächigen oder tiefen, einen schnellen oder langsamen, regelmäßigen oder unregelmäßigen, vollen oder leeren, dünnen oder breiten, kurzen oder langen, weichen oder harten sowie gleitenden oder gespannten Puls.

Der klassische Diagnostiker stützt sich also nicht auf EKG, Bluttest, Röntgenbilder und dergleichen. Er öffnet seine (geschärften und geschulten) Sinne.

Keine Diagnose-Maschine wie in der modernen Apparate-Medizin ersetzt das Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Befragen durch den Arzt. Eine chinesische Diagnose braucht also ihre Zeit. Aus dem Ordinationszimmer schallt daher nicht am laufenden Band die ärztliche Stimme: „Der Nächste bitte!“

Die einzelnen durch die 4 altchinesischen Diagnose-Verfahren gewonnenen „Daten“ sind Mosaiksteine, die der Arzt zu einem Bild zusammenfügt, das ihm ermöglicht, rechtzeitig energetische Entgleisungen zu erkennen und auszugleichen, so dass sein Klient keinen schweren Schaden zu erleiden braucht.

Was zeichnet den „Großen Arzt“ in China aus? Er muss innerlich ruhig sein, frei von Wünschen und Begierden und voll Mitgefühl. Er kümmert sich nicht um Rang und Reichtum des Patienten. Er hilft Freund und Feind mit ganzem Herzen. „Stets handle er so, als ginge es um ihn selbst.“

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Traditioneller Arzt in Fernost fühlt den Puls einer Patientin

Heiß oder kalt, süß oder salzig?

Temperaturausstrahlung: Die chinesische Heilkunde unterscheidet Heilpflanzen mit kühlem bis kaltem Charakter, mit warmem bis heißem Charakter und mit neutralem Charakter.

Die thermische Eigenschaft bezeichnet die grundsätzliche Wirkung, die die Arzneipflanze im Organismus entfaltet. Sie entspricht aber nicht unbedingt der subjektiven Temperaturwahrnehmung und ist nicht messbar mit dem Thermometer.

+ Die Kräuter mit kühlen & kalten Eigenschaften werden eingesetzt, um Patienten mit Symptomen „hitzigen und brennenden Charakters“ (fiebrige Krankheiten, Entzündungen wie rheumatoide Arthritis, Durst, gerötetes Gesicht, Nervosität, Überfunktionen etc.) zu behandeln.

Sie verlangsamen und beruhigen die vitalen Kräfte. Sie verdichten und verfestigen.

Kurzformel: Kühl/Kalt schützt und stützt das Yin und hält das Yang im Zaum.

+ Die Kräuter mit warmen & heißen Eigenschaften eignen sich zur Behandlung von Krankheiten mit Frösteln bzw. Schüttelfrost (wie z.B. Erkältungen, kalten Füßen) und werden zur Kräftigung bei allgemeiner Schwäche (z.B. Funktionsschwäche der Verdauungsorgane, der Blase oder der Nieren) angewandt. Sie dynamisieren das Qi und beschleunigen das Yang.

Sie regen die Durchblutung an. Sie machen uns wach und kommunikationsfreudig. Ein Zuviel davon erregt und stört den Schlaf.

Kurzformel: Warm/Heiß stützt und schützt das Yang und hält das Yin im Zaum.

+ Die Kräuter mit neutralen Eigenschaften normalisieren und stabilisieren die Körperfunktionen.

Geschmack:

Neben der „Temperatur“ gehört der „Geschmack“ zu den Grundeigenschaften eines Heilkrauts. Ist das Arzneimittel süß, sauer, bitter, scharf oder salzig? Das ist eine Kardinalfrage in der TCM, denn jede der fünf Geschmacksrichtungen spricht bestimmte Funktionen des Körpers, des Geistes und der Psyche an.

Scharf (zugeordnet der Wandlungsphase Metall) beeinflusst primär die Funktionskreise Lunge und Dickdarm. Eine scharfe Kräuterarznei wirkt u.a. schweißtreibend, auflösend, zerstreuend, ausleitend. Sie fördert die Sekretion, löst Stauungen und Blockaden auf und entlastet Blähungen. Zuviel Scharf laugt aus.

Süß (zugeordnet der Wandlungsphase Erde) beeinflusst namentlich die Funktionskreise Magen und Milz und fördert dementsprechend die Verdauung. Ebenso stillt es Schmerzen. Eigenschaften von Süß: es befeuchtet, entspannt, beruhigt und besänftigt, mildert Ärger und Ungeduld, harmonisiert. Ein Zuviel an Süß ermüdet und verschlackt.

Sauer (zugeordnet der Wandlungsphase Holz) beeinflusst speziell die Funktionskreise Leber und Gallenblase und wirkt fiebersenkend, zusammenziehend, bindend, einschnürend, verengend. Indem es das Körpergewebe zusammenzieht und verengt, wirkt es beispielsweise blutstillend. Sauer drosselt zudem die Verausgabung von Qi.

Bitter (zugeordnet der Wandlungsphase Feuer) beeinflusst hauptsächlich die Funktionskreise Herz und Dünndarm. Es stärkt Herz, Kreislauf und Gefäße. Die TCM schreibt bitteren Arzneien trocknende, verhärtende, festigende, anregende sowie dämpfende, beruhigende und ausleitende Eigenschaften zu. Bitter kann etwa Unruhezustände eindämmen oder Ausscheidungen über Darm und Blase fördern.

Salzig (zugeordnet der Wandlungsphase Wasser) beeinflusst die Funktionskreise Nieren und Blase. Es wirkt abführend, aufweichend, entschlackend, entwässernd, harntreibend und kühlend. Salzige Arzneien lösen beispielsweise Schwellungen und Verhärtungen auf.

Kaiser, Mönche und Genossen

Heilkräuteranwendung war schon in der archaischen Medizin Chinas Jahrtausende vor Christus bekannt: die Schamanen, die in der Vorgeschichte Chinas als Heiler fungierten, bedienten sich schon der Pflanzenmedizin, wie archäologische Ausgrabungen bezeugen.

Die alten Chinesen glaubten ihr Heilwissen den legendären Urkaisern des Goldenen Zeitalters zu verdanken: dem Gelben Kaiser (Huangdi) und dem Erhabenen Kaiser Shennong, die in der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. gelebt haben sollen.

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Shennong, Kaisergott und erster Kräuterarzt, kaut eine Heilpflanze

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Huangdi ― der Gelbe Kaiser

Der Gelbe Kaiser wird als Schöpfer der Akupunktur und Verfasser des ältesten erhalten gebliebenen Lehrbuchs der chinesischen Medizin „Huangdi Neijing“ (= Des Gelben Kaisers klassisches Buch der Inneren Medizin), der „Bibel“ der chinesischen Medizin, verehrt.

Als Vater der Pflanzenheilkunde gilt indes der Erhabene Kaiser Shennong. Ihm wird das Werk „Shennong Bencaojing“ (= Das Klassische Arzneibuch des Göttlichen Landwirts) zugeschrieben. Shennong heißt übersetzt „Göttlicher Landwirt“. Denn er lehrte die Menschen ― neben der Pflanzenheilkunde ― den Ackerbau. Er wird in China als einer der Begründer der Kultur als Gott verehrt.

Shennong, so wird überliefert, testete alle Kräuter im Selbstversuch. Der erste Kräuterarzt und Pharmakologe soll jeden Tag am eigenen Leib 100 Kräuter geprüft haben.

Shennongs Arznei-Klassiker charakterisiert 365 chinesische Arzneien, davon 252 pflanzliche, 67 tierische und 46 mineralische.

Im Licht der Geschichtsforschung entstand das dem Göttlichen Landwirt angedichtete Medizinwerk frühestens um 300 v.Chr. Vor der Niederschrift wurde das in ihm enthaltene Wissen aber jahrhundertelang mündlich überliefert. Das Shennong Bencaojing könnte ― nach Augenmaß ― um 200 v.Chr. niedergeschrieben worden sein.

Wie Übermenschen bewundert

Die Mönche des Daoismus (der eigenständigen Religion Chinas), die nach Langlebigkeit bzw. Unsterblichkeit strebten, haben die Philosophie der altchinesischen Heilkunde grundgelegt: Auf den Rhythmus der Natur hörend, erlebten sie sich in mystischer Schau als energetisches Gefüge, eingebettet in die kosmischen Zusammenhänge.

Ihre Erkenntnis: Gesund ist, der natürlichen Ordnung zu folgen. Die erstrebte Harmonie zwischen Mensch und Kosmos wurde der Grundpfeiler der chinesischen Medizin.

Arztkünstler wurden in China wie Übermenschen bewundert und in den Rang von Medizinkönigen erhoben, in Tempeln religiös verehrt und mit Opfern bedacht.

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Einer der berühmtesten Daoisten: der Apothekenpatron Li Tieguai. Er gehört zur Gruppe der Acht Unsterblichen.

Die Kunst, unsterblich zu werden, lehrte ihn die Göttin Xiwangmu

Um 1000 Jahre voraus