Die Klinik am See – 7 – Für alle war's ein Wunder

Die Klinik am See
– 7–

Für alle war's ein Wunder

Zwei Leben standen auf dem Spiel

Britta Winckler

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-112-5

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Der Unfall war vorprogrammiert. Das Schreckliche würde noch in dieser Nacht eintreten. Und niemand würde es begreifen können, würde es sinnlos finden.

Es zeigte sich wieder einmal wie gut es ist, daß man nicht in die Zukunft schauen kann. Hätte der Mensch diese Fähigkeit, würde sie ihm nur Unglück und Trauer bescheren.

Marion und Gerhard Günther waren von Regensburg nach Bad Tölz gefahren, um Marions Eltern zu besuchen. Sie hingen ganz besonders aneinander, denn Marion war ihr einziges Kind, das sie immer mit aller Liebe umgeben hatten, derer sie fähig waren. Und Maria und Peter Sebastians Herzen waren angefüllt mit Liebe, Liebe und noch einmal Liebe, die sie wie selbstverständlich auch auf Gerhard übertrugen.

Natürlich waren die beiden alten Leute gehörig eifersüchtig auf Gerhard gewesen, als Marion ihn zu einem Wochenende mit nach Bad Tölz brachte und ihnen erklärte, das sei für sie der Mann fürs Leben, und sie wolle sich nie, nie wieder von ihm trennen.

Es war auch selbstverständlich gewesen, daß sie Gerd auf Herz und Nieren überprüft hatten. Sie hatten sich sogar diskret über eine Auskunftei nach ihm erkundigt. Und als wirklich, wie Maria sich später lachend ausdrückte, kein Haar in der Suppe zu finden war, obwohl man sich doch bei der Suche sehr angestrengt hatte, da hatten sie Gerd nicht nur akzeptiert, sondern ihm auch gezeigt, daß sie sie im Grunde genommen sehr mochten.

Gerd hatte schon in jungen Jahren nach dem Tod seines Vaters das Immobilien-Geschäft übernommen und es in kurzer Zeit immer weiter ausgebaut, klug und umsichtig gewirtschaftet und vorsichtig investiert. Heute hatte er in einem respektablen Hochhaus eine ganze Etage für seine kleine Gesellschaft, die mittlerweile auch Treuhandaufgaben übernahm. Es war eine sehr eindrucksvolle Etage, mit mausgrauem Teppichboden, einer Empfangsdame, die einem Modekatalog entstiegen zu sein schien und trotzdem sehr tüchtig und freundlich war. Wenn man den alten Knispel mitzählte, der das Faktotum war und eigentlich gar nicht zu arbeiten brauchte, weil er eine gute Rente hatte, hatte Gerhard siebzehn Angestellte. Und jeder von ihnen wäre für den Chef durchs Feuer gegangen. Ganz besonders aber Vater Knispel, der alte Mann mit der guten Rente, der sich bei Sohn und Schwiegertochter nicht wohl, sondern ausgenutzt fühlte und eigentlich in ein Altenheim hatte gehen wollen, bis er Gerd kennengelernt hatte. Heute hatte er in einer Seniorensiedlung seine eigene kleine Wohnung, die, wie er immer schmunzelnd betonte, seine Zufluchtsstätte war. Vater Knispel behauptete heute noch, daß er sein Glück nur Gerhard Günther zu verdanken habe, der ihm den Vorschlag mit der Seniorensiedlung machte. Dort war man sein eigener Herr, konnte tun und lassen, was man nur wollte, und konnte sich zurückziehen, wenn einem danach war.

Es gab überhaupt keinen einzigen Menschen, der Gerd und Marion Günther etwas Schlechtes gewünscht hätte – und doch kam das Unheil schon mit Riesenschritten auf sie zu.

Im Augenblick saßen sie alle beisammen auf der hübschen Terrasse des gemütlichen alten Hauses in Bad Tölz, in dem Marion aufgewachsen war. Maria Sebastian hatte wieder einen ihrer herrlich lockeren Sandkuchen gebacken, die niemand so gut machte wie sie, wenn man ihrem Schwiegersohn glauben konnte.

Plötzlich stellte Marion ihre Kaffeetasse hin und lehnte sich zurück. Mit strahlendem Lächeln sah sie sich in der Runde um und lächelte wie ein Kind am Weihnachtsabend, wenn es erkennt, daß das Christkind alle, aber auch wirklich alle Wünsche erfüllt und keinen einzigen vergessen hatte.

Maria sah ihre schöne Tochter, die sich gerade das schwarze widerspenstige Haar nach hinten strich, an und sagte erwartungsvoll: »Du siehst aus, als hättest du etwas sehr Schönes erlebt.«

»Du bist nahe dran, Mutti. Aber du hast es nicht ganz getroffen. Ich habe nicht etwas Schönes erlebt, sondern bin gerade dabei, es voll auszukosten. Aber ich möchte es weitergeben an euch und euch teilhaben lassen.«

Nun wurden Gerhard und Peter aufmerksam, Gerhard, der neben Marion saß, legte seine Hand auf die ihre und strahlte sie an. Da nahm Marion die Hand ihres Mannes und legte sie sich gegen die Wange, als sie klar und deutlich erklärte: »Ich bekomme nämlich ein Kind, müßt ihr wissen.«

Zuerst war es einmal ganz still am Tisch. Und dann schienen alle auf einmal sprechen zu wollen. Nur Marion saß da und strahlte, war glücklich und fühlte sich sichtlich wohl.

Gerd endlich nahm seine Frau fest in die Arme, zog sie zu sich empor und fragte besorgt: »Seit wann weißt du es? Und – ist es auch wirklich so? Ist kein Irrtum möglich?«

»Ich weiß es seit gestern.« Marion lächelte wie ein Engel. »Und es ist kein Irrtum möglich. Ich war vorgestern beim Arzt und habe heimlich den Test machen lassen. Und gestern morgen habe ich ihn noch einmal angerufen, um ganz sicher zu sein. Und er hat mir versichert, daß…«

Weiter ließ Gerd seine Frau gar nicht sprechen. Er verschloß ihr den Mund mit seinen Lippen und ließ sie auch nicht los, als er tief Luft geholt hatte.

»Ich durfte ihn am Sonnabend morgen anrufen, weil er Bereitschaftsdienst hatte und mir wohl am Freitag meine Unsicherheit angemerkt hatte. Ich – ich war so erschüttert, daß ich an mein Glück kaum glauben konnte.«

»Da ergeht es mir ebenso«, flüsterte Gerd und legte das Gesicht in Marions weiches dunkles Haar. »Ich kann es noch gar nicht fassen.«

Maria Sebastian weinte vor Glück und stieß schluchzend immer wieder hervor.

»Oh, daß ich das noch erleben darf! Daß ich das wirklich noch erleben darf!«

»Jetzt hör schon auf, so etwas zu sagen. Du bist doch noch keine alte Frau, Maria!« protestierte Peter Sebastian lachend. »Mit achtundvierzig Jahren ist man doch im besten Alter. Du wirst eine wundervolle Großmama sein!« Er sah sie neckend an und fügte hinzu: »Als du so alt warst wie Marion, war sie schon zwei Jahre und lief schon herum, um jedermann mit Fragen zu löchern.«

»Ach, ich könnte die ganze Welt umarmen«, stieß Maria Sebastian schluchzend hervor, nahm einfach eine der hübschen Kaffeeservietten vom Tisch und fuhr sich damit über die tränennassen Augen. Dann ging sie zu Marion hinüber, nahm sie fest in ihre Arme und küßte sie auf beide Wangen.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis die vier glücklichen Menschen sich so weit gefaßt hatten, daß sie sich wieder ruhig an den Kaffeetisch setzen und normal miteinander unterhalten konnten.

Maria war wild entschlossen, die Baby-Ausstattung ganz allein zu bestreiten, indem sie häkeln und stricken würde, was das Zeug hielt. Jedenfalls erklärte sie das voller Energie, als sie einen Schluck Kaffee genommen hatte. Ihr Mann versprach für die Kindermöbel aufzukommen, und Gerd protestierte endlich lachend, indem er fragte: »Besser, ihr sagt nicht, was ihr alles für das Baby tun wollt. Es wäre richtiger, wenn ihr uns sagen würdet, was wir, als die Eltern, dafür tun dürfen. Immerhin sind Marion und ich doch auch beteiligt und betroffen, wie ihr zugeben müßt, egal, ob euch das nun gefällt oder nicht.«

»Du hast natürlich völlig recht«, gab Maria zu und versuchte, ein zerknirschtes Gesicht zu machen, was ihr aber nicht gelingen wollte. »Da sitzen wir hier und reden und reden und denken gar nicht an Marion, die ja schließlich die Hauptperson ist.«

Gerd schien die Hand seiner Frau nicht mehr loslassen zu wollen. Er sah sie eindringlich an und fragte dann besorgt: »Fühlst du dich auch wirklich wohl, Marion? Ich möchte nicht, daß du dir zuviel zumutest und…«

»Siehst du, gerade das habe ich befürchtet!« rief Marion lachend aus.

»Ich habe gewußt, daß du versuchen wirst, mich in Watte zu packen, wenn ich das nicht von Anfang an verhindere.«

»Aber ich will doch nur nicht, daß du dich übernimmst, Liebling!« sagte Gerd beleidigt. Marion lachte ihn einfach aus.

»Hör zu, ich sage dir jetzt wortwörtlich, was Dr. Montag mir gesagt hat. Eine Schwangerschaft ist keine Krankheit. Und es ist grundfalsch, wenn man eine Schwangere wie eine Schwerkranke behandelt. Sie soll ein ganz normales Leben führen, nicht trinken und nicht rauchen. Und mit beidem habe ich keine Probleme, weil ich nie geraucht und nie getrunken habe. Nicht, weil ich prüde bin, sondern weil es mir einfach nicht geschmeckt hat. Ich werde mein normales Leben weiterleben, irgendwann, wenn Dr. Montag meint, es sei an der Zeit, zur Schwangerschaftsgymnastik zu gehen und mich nach dem neuesten Stand der Medizin auf das Baby vorbereiten. Ich wäre glücklich, wenn du bei der Geburt dabeisein könntest. Aber das hat doch alles noch Zeit. Ich wollte nur betonen, daß ich ganz normal weiterleben werde. Das kann ich aber nur, wenn ihr mich laßt.«

»Recht hat sie«, stimmte Peter Sebastian energisch zu und warf ihr einen anerkennenden Blick zu, als wollte er ihr damit sagen, daß er stolz auf sie war. Sie war eben seine Tochter, ein Mensch, der sich nicht hängen ließ und in jeder Lage neugierig war, wie es weitergehen würde.

Aber dennoch wurde nur über das Baby gesprochen, das ihr Leben verändern würde, das noch mehr Glück für sie bedeutete und ihrem Leben einen ganz anderen Sinn geben würde, als es bisher gehabt hatte.

Es war auch ganz klar, daß Marion und Gerd nicht, wie sie eigentlich vorgehabt hatten, gleich nach der gemütlichen Kaffeestunde aufbrechen würden. Sie blieben bis nach dem Abendessen. Als sie endlich zur Heimfahrt aufbrachen, ging die Sonne blutrot unter und tauchte alles in warmes und angenehmes Licht. Maria und Peter Sebastian standen Arm in Arm am Gartentor und blickten dem davonfahrenden Wagen nach. Erst, als sie ihn nicht mehr erkennen konnte, als es den Anschein hatte, er sei im blutroten Feuer der untergehenden Sonne verschwunden, wandten sie sich ab und gingen miteinander in den schönen großen Garten.

Es war eine stille, friedvolle Stunde, eine von jenen Stunden, die im Leben der Menschen etwas ganz Kostbares bedeuten. Und es war eine Stunde, wie sie sie so schnell nicht wiedererleben würden, weil das Schicksal schon ausgeholt hatte und nur noch ein wenig zögerte, bevor es zuschlug.

*

Marion und Gerd genossen die Fahrt. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelegt und fühlte sich geborgen und zufrieden wie schon lange nicht mehr.

»Sie waren reineweg wie aus dem Häuschen«, sagte Marion lachend. Gerd nickte und erwiderte: »Dazu hatten sie doch allen Grund. Ich war es ebenso, ich bin es immer noch. O Marion, ich kann mir das alles noch gar nicht so richtig vorstellen. Ich als Vater. Ich könnte verrückt werden vor lauter Freude.«

»Meinst du, mir würde es anders ergehen? Was wünscht du dir eigentlich? Einen Sohn oder eine Tochter?«

Das war eine Frage, die ihn verunsicherte. Er überlegte eine kurze Weile, bis er ehrlich zugab: »Ich glaube, darüber sollte man sich wirklich keine Gedanken machen, Liebes. Ein Kind, egal, ob Junge oder Mädchen, wird uns immer glücklich machen. Ich wünsche mir nur, daß das Kind gesund ist und zu einem fröhlichen, lebensbejahenden Menschen heranwachsen kann.«

»Ich wußte, daß du so denkst. Manche Männer versteifen sich auf einen Sohn und nehmen es ihren Frauen übel, wenn es ein Mädchen geworden ist. Das finde ich dumm, denn beide, Mann und Frau, sind doch beteiligt, nicht wahr? Nein, mir ist es ganz gleich, ob Sohn oder Tochter. Hauptsache, es ist ein gesundes Kind.«

Sie küßte ihn auf die Wange.

»Ich wußte, daß du so denkst, aber ich gebe auch ganz ehrlich zu, daß ich es noch einmal bestätigt haben wollte. Ich liebe dich, Gerd. Ich liebe dich so sehr, daß es beinahe schon weh tut.«

Er rieb seine Wange an ihrem weichen Haar und erwiderte lächelnd und voller Glück: »Und damit sprichst du haargenau das aus, was ich empfinde.«

Sie schwiegen wieder, weil das Glück, das sie beide empfanden, keine Worte brauchte. Man spürte es, und das war eigentlich genau das, was es ausmachte.

Marion lächelte vor sich hin. Sie spürte eine angenehme Müdigkeit in sich emporkriechen. Es würde gut sein, ein wenig zu schlafen, eng an Gerd gelehnt, und sich seiner Nähe und Wärme so bewußt sein zu können. Noch ehe sie diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, war Marion schon eingeschlafen. Es war ein Schlaf, aus dem sie viele, viele Monate nicht mehr würde aufwachen können.

Gerd lächelte in sich hinein. Seine Marion! Er hatte sie vom ersten Augenblick, da er sie sah, geliebt. Und diese Liebe hatte nicht nachgelassen, sie war immer größer und stärker geworden. Und jetzt, das wußte er, gab es nichts auf der Welt, das ihr schaden könnte, gar nichts.

Im Lichtkegel der Scheinwerfer erschien ein Reh. Gerd wollte bremsen, wußte aber, daß es dazu zu spät war. Er riß das Steuer nach links herum, weil er dem Tier ausweichen wollte. Und doch wußte er mit aller Gewißheit, daß alles vergebens sein würde. Er sah den Lichtmast auf sich zukommen, sah, daß er ihm nicht mehr ausweichen konnte, und hätte am liebsten vor Angst und Entsetzen laut aufgeschrien.

Das alles spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Gerd starrte durch die Windschutzscheibe und hörte den Aufprall, das Splittern von Glas und das ohrenbetäubende Kreischen von Blech und Beton. Dann war alles still.

Eine Schrecksekunde lang saß Gerd Günther unbeweglich, dann wandte er sich zu Marion, die wie leblos in ihrem Gut hing. Er stieg aus und lief um den zerbeulten Wagen herum auf Marions Seite, riß die Tür auf und löste den Gurt, hob sie vorsichtig heraus und legte sie auf das feuchte Gras. Er klopfte ihre Wangen und rief ihren Namen.

»Marion! Ich bitte dich, Liebes, wach auf und sag mir, daß du auch mit dem Schrecken davongekommen bist!«

Aber Marion reagierte nicht auf seine flehentlichen Bitten. Sie lag ganz stumm und bewegungslos da und schien sich auch nicht um die Angst zu kümmern, die in ihm emporstieg und immer größer wurde, so daß er bald das Gefühl hatte, sie nicht mehr ertragen zu können.

Noch ehe er sich überlegen konnte, was nun zu tun war, erfaßten ihn die Scheinwerfer eines herankommenden Wagens. Gerd stand mit hängenden Armen da und starrte dem Licht entgegen. Der Wagen hielt an. Und dann sah Gerd zwei Polizeibeamte aussteigen und auf ihn zukommen. Da endlich atmete er tief auf.